Ernst Ellert, Infomail 1217, 22. März 2023
Vor den Kommunal- und Regionalwahlen im kommenden Mai erhebt sich in Spanien eine riesige Protestwelle gegen die Verschlechterung der medizinischen Grundversorgung.
Deren Speerspitze bildet die Hauptstadtregion. Hier regiert seit 2019 Isabel Diaz Ayuso (PP; Volkspartei). Die Konservativen stützen sich auf die neoliberalen Ciudadanos (Bürger:innen) und die ultrarechte Vox (Die Stimme). Am Sternmarsch im vergangenen November hatten sich 700.000 beteiligt. Am 12. Februar 2023 wurde ein neuer Rekord mit 1 Million erreicht. Am 1. und 2. März wurden die Notfallstationen bestreikt. Ayuso reagierte darauf, indem sie 100 % der Beschäftigten zur Minimalversorgung verdonnerte. Für den 26. März ist wieder eine Großdemonstration angesetzt.
Die Initiative „Grundversorgung für alle“ setzt auf zivilen Ungehorsam. Ihre Mitglieder ketten sich an Gesundheitsstationen. Die Pflegerin Cristina Sanz findet es nur richtig, dass sich die Bewegung explosiv ausbreitet. Verhandlungen hätten zu nichts geführt. Stattdessen sei eine Ausnahmesituation eingetreten, da Ayuso sogar das Sammeln von Unterschriften verbiete. Rosa López, Sprecherin der Gewerkschaft Summat, prüft eine Strafanzeige wegen Aushebelung des Streikrechts durch die Dienstverpflichtungen.
Im von Korruptionsskandalen geschüttelten Madrid zeigt sich das Missverhältnis im Gesundheitswesen besonders scharf. Der Hauptstadtfaktor führt dazu, dass es sich um die Region mit dem höchsten Durchschnittseinkommen handelt. Doch mit nur zehn Prozent des Budgets an Ausgaben für die Grundversorgung liegt sie abgeschlagen auf dem letzten Platz. Internationale Standards, die Ärzt:innen und Pfleger:innen durchsetzen wollen, sehen dagegen 25 % vor.
Einst verfügte Spanien gerade in einer funktionierenden Grundversorgung über ein relativ gut ausgestattetes und günstiges Gesundheitssystem. Nach Ansicht vieler Ärzt:innen soll dies geschleift werden mit dem Ziel, die Menschen in Privatversicherungen zu drängen. Zwar seien die Policen noch relativ günstig, aber nur, weil die Unternehmen bei Komplikationen oder in teuren Fällen die Behandlung doch wieder ans öffentliche Gesundheitswesen abgeben. So fahren die Versicherungsgesellschaften trotz vergleichsweise niedriger Tarife noch Gewinne ein, solange es noch funktioniert. Was eine Versicherung kosten würde, die auch teure Krebsbehandlungen und Operationen abdeckt, zeigt sich in den USA: monatlich mehrere hundert Euro.
Im Baskenland regte sich ebenfalls Widerstand gegen den seit 2010 eingeschlagenen Liberalisierungskurs. Am 24. Februar 2023 erlebten die Metropolen Bilbao, San Sebastián und Vitoria große Kundgebungen mit mehreren zehntausend Menschen. Den Hintergrund dafür bildet, dass die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung bei den Regionen liegt, so dass es überall Proteste gibt.
Manuel Ferran Mercadé, Berater der „Spanischen Vereinigung für Familien und Gemeinschaftsmedizin“ (semFYC) und Sprecher für den Bereich der Grundversorgung der Basisorganisation „SOS Bidasoa“ in Irun, merkte an, dass sich verhältnismäßig wenige junge Menschen an den Kundgebungen beteiligt hatten. Doch er hob auch hervor, dass alle Gewerkschaften mobilisierten. Allein im Gesundheitswesen gibt es eigene Gewerkschaften. Dazu kommen die allgemeinen. Normalerweise liegen die der Ärzt:innen und Pfleger:innen, die baskischen mit den spanischen miteinander im Clinch. Die baskischen ELA und LAB setzen eher auf Konfrontation, die spanischen CCOO und UGT auf Sozialpakte. Mit dem Vorgehen der Regionalregierung, die den Dialog scheut und nur Verlautbarungen und Ankündigungen abgibt, ist diese seltene Einmütigkeit zu erklären. UGT und CCOO haben in den baskischen Provinzen gegen die Politik der Bundesregierung mit demonstriert, in der die Baskisch-Nationalistische Partei und Sozialdemokratie den Ton angeben.
Das Baskenland rühmt sich, über das beste Gesundheitswesen im spanischen Staat zu verfügen. Trotzdem gehen auch hier Beschäftigte und Patient:innen auf die Barrikaden. Grund dafür ist die seit der Jahrtausendwende einsetzende brutale Unterfinanzierung, die mit der Zentralisierung im Gesundheitssystem zu tun hat. Zuvor gab es zwei Haushalte: einen für die Grundversorgung und einen für die Kliniken. Deren Integration setzte im Baskenland erst vor 10 Jahren ein. Es gibt auch hier jetzt nur noch einen Haushalt und eine:n Chef:in. Zulasten der Grundversorgung floss das meiste Geld in den stationären Bereich. Je stärker man die Grundversorgung ausbluten ließ, umso mehr Menschen landeten zur teuren Behandlung in den Krankenhäusern.
Bei den Gesundheitsausgaben liegt das Baskenland über, im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung unter dem Landesdurchschnitt. Es gibt zwar weniger Privatkliniken, wie Mercadé bemerkt, doch wird viel Geld für externe Beratung rausgeschmissen und Material gekauft, das kein/e Arzt/Ärztin bestellt hat.
Die langen Wartelisten werden mit dem Fehlen ärztlichen Personals begründet. In Bezug zur Bevölkerungszahl scheint es jedoch ausreichend. Spanien ist weltweit das Land mit der zweithöchsten Zahl medizinischer Fakultäten. Doch ein Gutteil der Ausgebildeten wandert in den privaten Sektor, nicht in den öffentlichen. Noch weniger finden sich in der Grundversorgung mit schlechten Arbeitsbedingungen und mieser Bezahlung. Angesichts der Ausbildungszeitdauer von durchschnittlich 11 Jahren bräuchte es eine vernünftige Planung in einem integrierten Gesundheitssystem, damit Mediziner:innen und Pfleger:innen abwechselnd auf allen Positionen und in allen Sektoren bei einheitlicher Ausbildung zum Einsatz kommen können. Die zweite Voraussetzung dafür: Abschaffung des privaten Gesundheitswesens!
In wenigen Jahren werden 30 % der Ärzt:innen in Rente gehen und Spanien wird vor einem großen Personalproblem stehen, das nicht durch kurzfristige Erhöhung der Studierendenzahl zu bewältigen sein wird. Auch „unsere“ Unternehmen klagen über Fachkräftemangel, ohne sich dabei an die eigene Nase zu fassen. Bei allen Unterschieden bilden in Deutschland wie Spanien die Kliniken das Einfallstor für den Einzug des Kapitals in den Gesundheitsbetrieb. In Spanien geht das zulasten eines rationalen Systems der Grundversorgung durch Integration, Zentralisierung und Privatisierung von Gesundheitsanbieter:innen wie Krankenversicherungen.
In Deutschland wurde der Krankenhausbereich schon in den frühen 1970er Jahren aus der öffentlichen Finanzierung durch die Gemeinden (Kameralistik) entlassen und auf ein duales Regime (Betriebskosten erstatten die Krankenkassen, Investitionen die Bundesländer) eingeführt. Schließlich wurde auf einen vollständigen inneren Markt (Fallpauschalen) umgestellt mit der Folge gesteigerten Personalmangels, zunehmender Arbeitshetze, Schließungen und Privatisierungen sowie übermäßig zunehmenden planbaren Operationen einer- und blutigen Entlassungen bei „unprofitablen“ Fällen andererseits.
Der Siegeszug des Neoliberalismus geht aber zunehmend dem einstigen Standbein des BRD-Gesundheitswesens an den Kragen – der niedergelassenen Ärzt:innenschaft und ihren Praxen, die wie Kleinbetriebe fungieren. In Gestalt der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), oft an Kliniken vor Ort angebunden, entsteht eine Konkurrenz, die an die Polikliniken der DRR erinnert. Allerdings werden die heutigen nur zum Zwecke größtmöglicher Rentabilität betrieben wie der ganze kranke Laden, der sich Gesundheitswesen nennt. Seine Rettung kann indes nicht im Zurück zur „Idylle“ der kleinen Praxen liegen.
Ein Vergleich der Krise des Gesundheitswesens in Spanien mit Deutschland wie mit praktisch allen anderen Ländern Europas verdeutlicht, dass wir es mit einem länderübergreifenden Phänomen zu tun haben. Das betrifft auch die Mobilisierung des Personals. Doch auch, wenn sie allesamt Resultat der kapitalistischen Krise und neoliberaler Angriffe, von Einsparungen und Privatisierungen sind, so werden die Kämpfe bislang nebeneinander, national oder gar lokal beschränkt geführt. Dabei schreien Forderungen wie die Verstaatlichung des gesamten Gesundheitswesens unter Kontrolle der Beschäftigten und Patent:innen, nach einem freien und garantierten Zugang für alle und nach ausreichender Finanzierung und Ausbau des Gesundheitswesens durch die Besteuerung des Kapitals geradezu nach einer gemeinsamen, international koordinierten Bewegung.
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