Arbeiter:innenmacht

Vor 100 Jahren: Gründung der Sowjetunion

Bruno Tesch, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Am 30. Dezember jährt sich der 100. Gründungstag der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz Sowjetunion genannt. Russland, Ukraine, Weißrussland und Transkaukasien (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) schlossen sich zu einem föderativen Staatenbund zusammen.

Gründungsvorbedingungen

Nach einem 4-jährigen Bürger:innenkrieg war die Konterrevolution im Lande trotz Unterstützung durch imperialistische Mächte militärisch besiegt. Die verheerenden Folgen dieses Krieges stellten die neu entstandenen Sowjetrepubliken aber vor gewaltige Aufgaben. Neben der gesamtgesellschaftlichen Aufbauarbeit musste auch die Isolierung seitens des Imperialismus durchbrochen werden.

3 Jahre zuvor war die Kommunistische Internationale ins Leben gerufen worden. Sie steckte sich die Internationalisierung des Klassenkampfes und der Ausweitung der sozialistischen Revolution zum Ziel. Tragischerweise band jedoch der Überlebenskampf der Revolution in Russland viele revolutionäre Kräfte und kostete etlichen erfahrenen Kadern das Leben.

Eine durch Bürger:innenkrieg und bereits einsetzende Bürokratisierung geschwächte Kommunistischen Partei hatte zwar gesiegt, stand aber zugleich unter dem Druck klassenfremder Elemente im eigenen Land und der Weltbourgeoisie. Der durch Krieg, Isolierung und Rückständigkeit bedingte taktische Rückzug auf die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) verstärkte diesen Widerspruch objektiv.

Zugleich sollte sich aber auch die politische Schlussfolgerung, die die Kommunistische Partei unter Führung Lenins zog, um diese Situation zu bewältigen, selbst als Teil des Problems erweisen. Die Einschränkung der Parteidemokratie und das Fraktionsverbot (1921) stärkten die beginnende Bürokratisierung, die sich im Staat schon vollzog, bildeten einen Nährboden für die kommende bürokratische Konterrevolution unter Stalin.

Verfassung 1924

Auch wenn niemand während der Diskussion um die Gründung der Sowjetunion und deren Verfassung die spätere Entwicklung vorhersehen konnte, zeigten sich schon damals Auseinandersetzungen um diese Frage.

Mit der Russischen Revolution hatten sich zunächst nicht nur in Russland, sondern auch in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Ukraine und Weißrussland Republiken mit eigenen politischen Machtorganen gebildet. Sie verfügten jedoch über eine gemeinsame Armee und einen ebensolchen Etat.

Im August 1922 wurde auf Initiative des Politbüros des Zentralkomitees der Russischen KP eine Kommission gegründet, die damit beauftragt wurde, den Entwurf für einen Vertrag zwischen den Sowjetrepubliken vorzubereiten.

Die Resolution über den Beitritt der Sowjetrepubliken zur Russischen Föderativen Republik, die von Stalin vorbereitet und von der Kommission verabschiedet worden war, stellte Lenin nicht zufrieden. Er erblickte darin ein Zeichen für den stärker werdenden großrussischen Chauvinismus in der Partei und im Land, wie er schon bei Ordschonikidses Vorgehen in Georgien deutlich wurde. Lenin charakterisiert dessen Vorgehen in „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung‘“ (Lenin, Werke, Band 36, S. 590 – 596) als „russisch-nationalistische Kampagne“, für die er Stalin und Dzierzynski politisch verantwortlich machte.

Daher auch Lenins massives Drängen darauf, dass der zukünftige Sowjetstaat kein um andere Republiken erweitertes Russland sein solle oder dürfe. Stattdessen schlug er vor, einen multinationalen Bundesstaat auf der Grundlage des Gleichberechtigungsprinzips seiner einzelnen Bestandteile zu gründen. Das Plenum des Zentralkomitees unterstützte diese Idee.

Die Vertreter:innen der anderen Sowjetrepubliken stimmten dem Vorschlag zu und nach Diskussion auf dem 2. Sowjetkongress 1923 und seiner Bestätigung trat die gemeinsame Verfassung 1924 in Kraft. Sie enthielt 11 Abschnitte und regelte sowohl die einzelnen konstitutiven und gemeinsamen Organe wie auch das Verhältnis der Föderativrepubliken zueinander und zur Union.

Der Unionsvertrag schrieb eine „symmetrische“ Struktur der Föderation fest: Jedes Föderationsmitglied verfügte – zumindest de jure – über die gleichen Rechte. Im Grunde genommen wurde ein Bundesstaat neuen Typs geschaffen, für den es keine historischen Vorbilder gab: Jede Republik erhielt das Austrittsrecht aus der Union.

Die Verfassung enthält zwar sehr detaillierte Anweisungen über Gliederungen und Zuständigkeiten der einzelnen Organe der Sowjetunion – angefangen von der Zusammensetzung des Zentralexekutivkomitees der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken aus Unions- und Nationalitätensowjet, bis auf die Ebene der Stadtsowjets, (1 Deputierte/r auf 25.000 Wähler:innen) und Gouvernementssowjetdeputierte (1 Vertreter:in auf 125.000 Einwohner:innen) –, lässt jedoch wichtige Mechanismen der Arbeiter:innendemokratie zur Kontrolle der bestimmte Funktionen ausübenden Gremien vermissen. Die unmittelbare Wahl von Vertreter:innen und deren Rechenschaftspflicht sowie die jederzeitige Abberufbarkeit aus den Ämtern bleiben unerwähnt.

Nationalitäten und Territorialfrage

Lenin betonte stets das Problem der Nationalitäten als Hinterlassenschaft der bürgerlichen Ordnung, die bei unterdrückten Nationalitäten Ambitionen auf die Bildung eines bürgerlichen Nationalstaates wecken konnte. Er drückte klar aus, dass dies einen Gefahrenherd auch für eine Sowjetrepublik darstellen könne und schlug deshalb als Lösung nicht nur die Gleichstellung innerhalb der Sowjetunion, sondern auch die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts bis hin zur Lostrennung aus dem Verband der Sowjetrepubliken vor, selbst um den Preis seiner territorialen Verkleinerung.

Diesen grundlegenden Gedanken entwickelte er in zahlreichen Schriften vor allem während des Ersten Weltkriegs. In der Diskussion um die Verfassung der Sowjetunion kommt Lenin darauf zurück. In der um die Gründung der UdSSR begreift er die Nationalitätenfrage als eine Schlüsselfrage für deren Ausgestaltung.

Die Erfahrungen in Georgien führten ihn zur Überzeugung, dass das bloße Recht auf freiwilligen Ein- bzw. Austritt aus dem Sowjetverband nicht reicht. Wenn der gesamte, vom Zarismus übernommene Staatsapparat im wesentlichen großrussisch geprägt ist, wenn alle wesentlichen Machtpositionen von diesem zentralisiert werden, droht das Recht auf Austritt aus der Union ein „wertloser Fetzen Papier“ zu werden, „der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten … “ (LW 36, S. 591)

Lenin bezieht sich hier auf den Staatsapparat Sowjetrusslands. Um zu verhindern, dass das Selbstbestimmungsrecht faktisch nur auf dem Papier besteht, schlägt er weitere Maßnahmen vor, darunter strenge Vorschriften zum Schutz des Rechts auf Gebrauch der nationalen Sprache in den nichtrussischen Republiken.

Vor allem aber geht er auf die Frage der Staatsapparatstrukturen der jeweiligen Republiken ein. Lenin wendet sich dabei gegen die Forderung, den Staatsapparat der gesamten Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu zentralisieren. Er erkennt zwar an, dass die Nichtvereinigung des Apparates der russischen Republik mit dem anderer Republiken auch Nachteile, Reibungsverluste und Ineffizienz mit sich bringen kann. Aber „der Schaden, der unserem Staat daraus entstehen kann, daß die nationalen Apparate mit dem russischen Apparat nicht vereinigt sind, ist unermeßlich geringer, unendlich geringer als jener Schaden, der nicht nur uns erwächst, sondern auch der ganzen Internationale, den Hunderte Millionen zählenden Völkern Asiens, dem in der nächsten Zukunft bevorsteht, nach uns ins Rampenlicht der Geschichte zu treten. Es wäre unverzeihlicher Opportunismus, wenn wir am Vorabend dieses Auftretens des Ostens, zu Beginn seines Erwachens, die Autorität, die wir dort haben, auch nur durch die kleinste Grobheit und Ungerechtigkeit gegenüber unseren eigenen nichtrussischen Völkern untergraben würden.“ (LW 36, S. 596)

Während sich Lenin in der Formulierung der Verfassung der Sowjetunion durchsetzen konnte, vermochten er und auch später die Linke Opposition nicht, die Bürokratisierung des Staates, schließlich die politische Machtergreifung einer bürokratischen Kaste zu verhindern.

Staatscharakter

Revolutionäres Ziel konnte natürlich nie die Errichtung eines voluminösen Staatsgebildes sein, sondern Voraussetzungen für das Absterben jeglichen Staatswesens, das immer eine Form des Gewaltapparats beinhaltet, zu schaffen.

Bereits Erfahrungen der Pariser  Kommune führten Marx dazu, die Zerschlagung, nicht Umwandlung und Übernahme der bürgerlichen Staatsmaschine, als Voraussetzung für eine sieg- und dauerhafte sozialistische Revolution zu postulieren, d. h. Enteignung der ausbeutenden Klassen und Beseitigung des sich über die Gesellschaft erhebenden bürokratischen Apparats, v. a. seiner unmittelbaren Gewaltorgane Polizei, stehendes Heer. Die Arbeiter:innenklasse braucht einen Staat, der von vorn herein die Möglichkeit zu seinem Absterben eröffnet, einen „Halbstaat“.

Dies kann nur erreicht werden durch proletarische Formen, die Verwaltungs- und Vollzugsaufgaben und deren Kontrolle durch die Masse der Bevölkerung übernehmen. Ein solcher Halbstaat war Sowjetrussland jedoch allenfalls in Ansätzen.

Bei Schaffung der Roten Armee verschmolzen reguläre Streitkräfte mit dem Milizsystem. Sie war ein der Existenzbedrohung der Revolution durch den Bürger:innenkrieg geschuldeter Kompromiss. Die Erbschaft des Zarismus, deren Armeebestände und Personal, musste in Ermangelung landesweit aufgebauter proletarischer Miltärstrukturen zunächst übernommen, aber deren Befehlshaberränge sollten durch Parteikommissar:innen einer Arbeiter:innenkontrolle unterzogen werden. Diese Armee sollte, v. a. auf Vorschlag Trotzkis, am Ende des Bürgerkriegs in ein allgemeines Milizsystem überführt werden. Aber dazu kam es nicht. Vielmehr folgert er: „Die Bürokratie (…) brauchte eine Kasernenarmee, losgelöst vom Volk.“ ( RM 24, S. 28, L. T., zit. nach WP/IWG Degenerated Revolution, S. 51)

Stalinistische Konterrevolution

War 1924 noch das klassische Modell einer Räterepublik  von 1917/18 Leitmotiv für die erste Sowjetverfassung, glichen sich spätere Umarbeitungen – als erste 1936 festgeschrieben unter dem Beinamen „Stalinverfassung“ –  immer mehr dem bürgerlichen Parlamentarismus an.

Der Stalinismus hatte, beginnend bereits Mitte der 1920er Jahre, auf Basis der Zementierung einer Bürokratie jegliche Selbsttätigkeit der Klasse, jegliche innerparteiliche Demokratie erstickt. Zentralisierung der Gewalt, die Amalgamierung von Staat und Partei zu einer bürokratischen Kaste, Filterung  durch Stellvertreterprinzipien, Kontrolle von oben nach unten, Abschaffung von Räte- und Milizsystem und Liquidierung politischer Gegner:innen, v. a. bolschewistischer Revolutionär:innen, bildeten die Eckpfeiler dieser Entwicklung.

Flankiert wurde dies durch Zickzackbewegungen der politischen Linie, die über eine brachiale Industrialisierung, die buchstäblich über Millionen Leichen v. a. im ländlichen Raum ging, zur mit der Bourgeoisie paktierenden und Arbeiter:innenkämpfen in den Rücken fallenden Volksfrontpolitik auf Weltebene schwenkte. Alles wurde den Interessen der herrschenden Bürokratie in der UdSSR untergeordnet. Der Gedanke an Weltrevolution geriet in Verbannung. Die Kommunistische Internationale, die bis dato ohnehin nur noch als Akklamationsorgan für die Richtlinien der Moskauer Bürokratie gedient hatte, fand 1943 ihr unrühmliches offizielles Ende als Verbeugung vor den westlichen imperialistischen Mächten.

Niedergang und Ende

Trotz Bürokratie überstand die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg. Doch nach Jahrzehnten wirtschaftlichen Aufschwungs zerplatzten mit Einbrüchen in der Weltkonjunktur ab den 1970er Jahren, durch eine bürokratisch geplante Wirtschaft und das Zurückbleiben im Rüstungswettlauf mit dem Imperialismus ab den 1980er Jahren verstärkt, nicht nur die Seifenblasen von einem „Einholen des Westens“, sondern es wankten und fielen die gesellschaftlichen Grundfesten in der UdSSR und ihren Vasallenstaaten, so dass ihr Schicksal ab 1990 besiegelt war.

Die Sowjetunion als Leuchtfeuer der Revolution und somit Hoffnungsträgerin für Millionen Arbeiter:innen hat in ihrer stalinistischen Degeneration zugleich ein Zerrbild von sozialistischen Prinzipien und Entwicklungsfähigkeit geliefert, in den Köpfen der Arbeiter:innenbewegung weltweit Verwirrung hinterlassen.

Ihr Ende und die Restauration des Kapitalismus bedeuten gleichzeitig eine historische Niederlage des Proletariats, aber auch die Chance zur schonungslosen Aufarbeitung der Geschichte und zum Neuanfang für die Reorganisation einer internationalen Arbeiter:innenbewegung, angeführt von einer revolutionären Internationale – dringend notwendiger denn je.

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