Arbeiter:innenmacht

Israels Annexionspolitik: Für die sozialistische Einstaatenlösung!

Robert Teller, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Israels neue Netanjahu-Gantz-Regierung, bestehend aus den zwei großen rechten Parteien Likud und „Blau-Weiß“, hatte angekündigt, zum 1. Juli formell die Annexion des Jordantals und der Siedlungen in der Westbank zu vollziehen. Die Annexion besetzter Territorien verletzt elementare Grundsätze des internationalen Rechts ebenso wie die Oslo-Vereinbarungen von 1993. Die Voraussetzung für diesen Schritt sind einerseits die „Erlaubnis“ des US-Imperialismus, die mit Trumps „Deal of the Century“ erteilt wurde, und andererseits die Einigung zwischen Likud und der Partei „Blau-Weiß“, eine Einheitsregierung zu bilden.

Die Annexion des Jordantals und der Siedlungen war das zentrale Wahlversprechen, mit dem Netanjahu angetreten war. Die ein Jahr lang andauernde Pattsituation zwischen Likud und „Blau-Weiß“ wurde nun in Anbetracht der COVID-19-Pandemie durch eine reaktionäre Einheitsregierung beider Kontrahenten aufgelöst. Diese soll nun vollenden, was bislang nur durch den Hauptstreitpunkt zwischen beiden Parteien – die zahlreichen gegen Netanjahu anhängigen Korruptionsverfahren – verzögert worden war. Bis zum 1. Juli war nicht klar, ob die Annexion tatsächlich formell erklärt wird, ob sie auf einen Teil der Gebiete aus Trumps „Deal“ begrenzt oder verschoben wird.

Gespaltene Verbündete

Dass der Schritt der formellen Annexion angesichts von weitreichenden Protesten nun vorerst nicht getan wurde, ist einerseits ein gängiges Muster in der israelischen Politik, die ihre Aggressionen nach der Salami-Taktik umsetzt, um das Entfachen spontaner Massenproteste zu vermeiden. Andererseits ist es eine Gefälligkeit Israels gegenüber denjenigen internationalen Verbündeten, die allergrößte Schwierigkeiten haben, ihre Beziehungen zu Israel in Anbetracht des geplanten Raubzuges als legitime Sache darzustellen. Doch die Geschichte beweist einerseits, dass kein verbaler Protest Israel jemals dazu gebracht hat, von der Durchsetzung seiner strategischen Ziele gegenüber den PalästinenserInnen Abstand zu nehmen. Andererseits offenbart sie, dass die westlichen Verbündeten kein Problem an sich mit der Ungerechtigkeit haben, die in der geplanten Annexion liegt, sondern vielmehr mit der öffentlichen Blamage, die diese offensichtliche Verhöhnung des Völkerrechts mit sich bringt.

Außenminister Heiko Maas etwa brachte bei seinem Besuch in Jerusalem seine „ernsthaften und ehrlichen Sorgen, als ein ganz besonderer Freund Israels, über die Konsequenzen eines solchen Schritts zum Ausdruck“ (1). Die Konsequenzen wären nämlich, das Ziel der Zweistaatenlösung, seit 30 Jahren offizielle Position der westlichen Regierungen, als Hirngespinst dastehen zu lassen. Wo kein Grund und Boden mehr übrig ist, da wird es keinen palästinensischen Staat geben. Und da die „Zweistaatenlösung“ durchaus wirksam sowohl bei der Demobilisierung des palästinensischen Widerstands als auch bei der Reinwaschung des Staates Israel als „demokratischer Verbündeter“ im westlichen Diskurs war, ist Sorge verständlich. Es wäre nicht mehr zu leugnen, dass ein Staat, der Territorien annektiert, ohne der dort lebenden Bevölkerung staatsbürgerliche Rechte zu verleihen – oder aber die palästinensische Bevölkerung in isolierten und abgehängten Brachflächen separiert – das Verbrechen der Apartheid begeht.

Während die US-Regierung ihre volle Unterstützung für die Annexion erklärt hat, sind die europäischen Regierungen gespalten. Einige befürworten die Aussetzung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens, das Teil als des Oslo-Prozesses abgeschlossen wurde. Einige osteuropäische Länder (u. a. Österreich und Ungarn) lehnen eine solche Maßnahme ab. Folglich kommt eine wirksame, einstimmige Entscheidung der EU-Mitglieder zu dieser Frage nicht zustande.

Kompromissloser Zionismus

Klar ist, dass der Staat Israel faktisch längst die alleinige Souveränität in der gesamten Westbank ausübt. Der Schritt, die Souveränität auch de jure zu erklären, ist also zunächst symbolisch, weil der Inhalt dieser Erklärung längst Realität ist. Aber diese symbolische Aneignung ist auch geeignet, in den Augen des palästinensischen Volkes die Trugbilder, die in den 30 Jahren des Oslo-Prozesses die Debatten beherrscht haben, zu beseitigen, die Zweistaatenlösung als Täuschung zu entlarven und zur Einsicht zurückzukommen, dass die kolonialistische Politik Israels keinen Raum für Kompromisse lässt.

Der israelischen Regierung ist bewusst, dass die eigentliche Gefahr für ihre Pläne weder in der Haltung ihrer internationalen Verbündeten noch der korrupten Autonomiebehörde liegt, sondern im Widerstand der PalästinenserInnen, die eine Annexion niemals akzeptieren werden. Die Regierung und ihre zionistischen UnterstützerInnen weltweit fürchten sich vor einer neuen Intifada, und die BLM-Bewegung weltweit erinnert sie daran, dass staatlicher Rassismus einen unbändigen Zorn verursacht, der sich auch in Palästina erneut Bahn brechen könnte.

Die geplante Annexion könnte das Ende der sorgfältig aufgebauten Arbeitsteilung zwischen Israel und der Autonomiebehörde einleiten. VertreterInnen der Behörde haben angekündigt, aus Protest u. a. ihre „Sicherheitszusammenarbeit“ (d. h. Koordination mit israelischen Sicherheitskräften, Auslieferung von Gefangenen etc.) auszusetzen und regelmäßige Zahlungen an eigene Beschäftigte und BeamtInnen in der Westbank und im Gazastreifen einzustellen. Diese „Drohungen“ – die im Übrigen schon öfters ausgesprochen, aber kaum verwirklicht wurden – beweisen einerseits, dass die Behörde keinerlei Souveränität besitzt, nicht mehr als einen ausführenden Arm der Besatzungsmacht darstellt und ihre Möglichkeiten darauf beschränkt sind, diese Funktion einzustellen – wie Hussein al-Sheikh, Fatah-Mitglied und in der Autonomiebehörde für die Zusammenarbeit mit Israel verantwortlich, ankündigt: „Ich werde mich jeden Tag aus meiner Verantwortung zurückziehen“ (2).

Die Ankündigungen weisen dennoch auf den wichtigen Punkt hin, dass mit der offiziellen Übernahme der Souveränität durch Israel der eigentlichen Funktion der Autonomiebehörde, die palästinensische Bewegung im Zaum zu halten, die Grundlage entzogen wird. Dies könnte einen Neuanfang innerhalb der Bewegung ermöglichen, einer neuen Generation von AktivistInnen den Weg eröffnen, den Betrug, den Fatah, Hamas und andere führende Kräfte der palästinensischen Bewegung organisiert haben, zu beenden und die Bewegung vom falschen Dogma der Zweistaatenlösung zu befreien.

Bankrott der Autonomiebehörde

Der Bankrott der Autonomiebehörde ist das notwendige Resultat der politischen Orientierung auf die Zweistaatenlösung durch die führenden PLO-Fraktionen. Diese Politik hat entscheidend zur Niederlage der zweiten Intifada beigetragen und die palästinensische Bewegung seitdem in einer passiven Agonie zurückgelassen. Eine neue palästinensische Massenbewegung muss der Mitverwaltung der Besatzung eine Absage erteilen und versuchen, alle PalästinenserInnen – ob in den 1948er-Gebieten, in der Westbank, im Gazastreifen oder in den Nachbarländern lebend – einzubeziehen und sie für das Ziel gewinnen, einen einzigen Staat in ganz Palästina zu erkämpfen. Dieser Staat muss allen BewohnerInnen – ob Juden/Jüdinnen, PalästinenserInnen oder anderen Nationalitäten – die gleichen Rechte gewähren, sowie den Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr. Die palästinensische Bourgeoisie ist politisch völlig diskreditiert und wird in diesem Kampf nicht die entscheidende Rolle spielen. Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen, die Jugend, die ArbeiterInnen und Armen für das Ziel der Einstaatenlösung einzunehmen und innerhalb der Bewegung für die Position zu kämpfen, dass ein solcher Staat nur als sozialistischer Hand in Hand mit den Massenbewegungen anderer Länder, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens erreicht werden kann. Hierfür ist ein Aktionsprogramm notwendig, das den Kampf für unmittelbare Ziele, gegen die tagtäglichen Schikanen der Besatzung, verbindet mit dem für einen sozialistischen, multi-nationalen Staat Palästina.

InternationalistInnen weltweit müssen in den ArbeiterInnenbewegungen ihrer Länder dafür eintreten, dass diese die Annexionspolitik verurteilen, jede Unterstützung für den Staat Israel beenden, und der palästinensischen Bewegung die Unterstützung zukommen lassen, die nötig und möglich ist.

Endnoten

(1) https://www.timesofisrael.com/in-israel-german-fm-calls-annexation-illegal-but-doesnt-threaten-sanctions/

(2) https://www.nytimes.com/2020/06/08/world/middleeast/palestinian-authority-annexation-israel.html

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