Arbeiter:innenmacht

USA: der durchgesickerte Gesetzesentwurf und seine Bedeutung für das Recht auf Abtreibung

Malcolm Murdoch from London, UK, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons

Marcus Otono, Infomail 1187, 8. Mai 2022

Der kürzlich durchgesickerte „erste Entwurf“ eines Mehrheitsgutachtens des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten (SCOTUS = Supreme Court of the United States), mit dem das Urteil Roe versus Wade, das das Recht auf Abtreibung in den gesamten Vereinigten Staaten legalisierte, aufgehoben wird, hat landesweit zu einer Explosion von Wut und Protesten geführt. Der Gerichtshof wird seine endgültige Entscheidung Ende Juni oder Anfang Juli fällen.

Entwurf

In dem Entwurf des berüchtigten rechten Richters Samuel Alito heißt es, die ursprüngliche Entscheidung Roe vs. Wade (RvW) aus dem Jahr 1973 sei „von Anfang an ungeheuerlich falsch“ gewesen. Sie müsse daher aufgehoben werden, ebenso wie das Urteil Planned Parenthood (geplante Elternschaft) gegen Casey aus dem Jahr 1992, das RvW als geltendes Recht und Präzedenzfall bestätigte.

In den USA ist eine solche Aufhebung durch den Obersten Gerichtshof selten und historisch. Mehr als 50 Jahre lang stützten sich diese Urteile auf das im vierzehnten Verfassungszusatz verankerte Recht auf Schutz der Privatsphäre vor staatlicher Einmischung in persönliche Entscheidungen. Das Kassieren der bestehenden Urteile würde es vielen Bundesstaaten ermöglichen, drakonische Gesetze zu erlassen, die das Recht der Frau auf die Entscheidung über die Fortsetzung der Schwangerschaft aufheben.

Es wird erwartet, dass die Hälfte der US-Bundesstaaten die Abtreibung in den meisten, wenn nicht in allen Fällen verbieten wird, selbst wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. In der anderen Hälfte, selbst wenn sie legal bleibt, wird der Druck auf Kliniken und medizinische Dienstleister:innen durch Patient:innen aus anderen Bundesstaaten immens sein, so dass Wartelisten entstehen, die es den Frauen unmöglich machen würden, rechtzeitig Zugang zu dem Eingriff zu erhalten.

Die Auswirkungen dieses grausamen Vorgehens rechter Politiker:innen und der allzu mächtigen Kräfte religiöser Bigotterie werden arme Frauen und Frauen aus der Arbeiter:innenklasse sowie ihre Partner:innen, Familien und Freund:innen besonders hart treffen. In Verbindung mit dem jüngsten texanischen Gesetz, das es „interessierten Parteien“ erlaubt, Anbieter:innen von Schwangerschaftsabbrüchen zu verklagen und von diesen Klagen finanziell zu profitieren, wird dieser Angriff auch jene gefährden, die Frauen bei der Suche nach einem Schwangerschaftsabbruch helfen, selbst in einem Staat, in dem das Verfahren legal bleibt. In Texas wurde kürzlich eine Frau wegen Mordes angeklagt, weil sie eine Abtreibung an sich selbst vorgenommen hat.

Sogar Fahrer:innen eines Transportunternehmens wie Uber könnten verklagt werden, weil sie jemanden zu einer Abtreibung fahren. Ehemänner könnten verklagt werden, weil sie die Abtreibung finanzieren, wenn ein abtreibungsfeindlicher Staat Klagen gegen sie zulässt, obwohl der Eingriff in Staaten durchgeführt wird, in denen er noch legal ist. Die Unterstützer:innen der so genannten „Recht auf Leben“-Kampagne werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um den Eingriff überall zu verbieten. Sie werden auch versuchen, so genannte Plan-B-Medikamente und Intrauterinspiralen zu verbieten, die ebenfalls eine Abtreibung einleiten. Und alle einzelstaatlichen Gesetze, die dies abmildern oder umgehen wollen, könnten durch eine Berufung an denselben Obersten Gerichtshof aufgehoben werden, der Roe vs. Wade überhaupt erst gekippt hat.

Die durchgesickerte SCOTUS-Entscheidung spiegelt nicht die Ansichten der meisten normalen Amerikaner:innen wider. Die letzte Umfrage des Senders CNN ergab, dass 69 % der US-Bürger:innen gegen eine Aufhebung des RvW sind. Darunter waren sogar 72 % der republikanisch eingestellten Wähler:innen. Aber in unserer großartigen Demokratie werden die Ansichten der Mehrheit – selbst wenn sie sich gegen den Druck der rechten Medien, der Kirchen usw. aufbäumen – systematisch vereitelt.

Bürgerliche „Demokratie“ – nicht für die Mehrheit

Mit manipulierten Gesetzgebungsbezirken, massiver Wählerunterdrückung für Schwarze, People of Color und die Arbeiter:innenklasse und direkter Repression, die laut Oberstem Gerichtshof völlig legal ist, können der rechte Flügel, verkörpert durch die Republikanische Partei und begünstigt durch die Demokrat:innen, eine Mehrheit alter weißer Männer in schwarzen Roben (und eine Alibifrau) die Wünsche von fast 70 % der Bevölkerung überstimmen.

Die Demokratische Partei ist nicht viel besser. In seiner Antwort und Forderung nach einem Bundesgesetz zum landesweiten Schutz der Abtreibungsrechte sah sich Biden gezwungen, zunächst die undichte Stelle zu verurteilen. Die zweite Partei des US-Imperialismus hatte 50 Jahre Zeit, ein solches Gesetz zu verabschieden, hat aber nichts unternommen. Es wäre viel schwieriger, eine Mehrheit von 535 Gesetzgeber:innen dazu zu bringen, ein Abtreibungsgesetz auf Bundesebene aufzuheben, als die Zusammensetzung eines neunköpfigen, nicht gewählten Gremiums von Jurist:innen zu ändern, um das Gleiche zu tun. Dennoch tat sie nichts und zog es vor, den Schwarzen Peter dem Obersten Gerichtshof zuzuschieben, anstatt ihre Wählbarkeit durch den Schutz des Abtreibungsrechts zu riskieren.

Sie reden viel über die Rechte der Frauen, vor allem, wenn sie keine Macht haben, das Ergebnis zu beeinflussen, aber am Ende mehr für die Demokrat:innen stimmen und spenden. Die Reaktion von Senatorin Elizabeth Warren zeigt dies deutlich. „Ich bin wütend, verärgert und entschlossen“, sagte sie auf einer Demonstration vor dem Gericht. Ihre Antwort? „Der Kongress der Vereinigten Staaten kann Roe vs. Wade als Gesetz des Landes beibehalten – er muss es nur tun“. Sie bezog sich damit auf das Gesetz zum Schutz der Gesundheit von Frauen, das im März im Senat scheiterte, weil alle Republikaner:innen und der demokratische Senator Joe Manchin aus West Virginia, ein erbitterter Feind jeder fortschrittlichen sozialen Reform oder demokratischen Maßnahme, die Biden in sein Gesetzgebungsprogramm aufgenommen hatte, dagegen waren.

Selbst die Held:innen der „extremen“ Linken in der US-Politik, Bernie Sanders und Alexandria Ocasio Cortez, gingen nicht über „mehr wählen und spenden“ hinaus, indem sie die Abschaffung der Taktik überzogener Redezeit (Filibuster) und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zum Schutz der Abtreibungsrechte forderten. Das ist als Hilfsmaßnahme natürlich schön und gut, aber angesichts der Zusammensetzung des derzeitigen Kongresses nutzlos. Sie sollten sich eher an Millionen von Menschen auf der Straße wenden, als im Kongress Reden zu halten.

Die Grundlage für das ursprüngliche Urteil wurde aus der im 14. Zusatzartikel der US-Verfassung verankerten „Privatsphäre“ abgeleitet. Alitos Urteilsentwurf und die Zustimmung der Mehrheit zu diesem heben alle Rechte auf, die auf diesem wichtigen Zusatz beruhen. Wenn es nicht ausdrücklich in der Verfassung steht, kann es nicht abgeleitet werden, so die verdrehte Logik der derzeitigen Mehrheit des Obersten Gerichtshofs. Das bedeutet, dass jeder Staat, der ein Gesetz zur Einschränkung oder Regulierung des privaten Verhaltens einer Person erlassen will, dies tun kann. Einige Beispiele für persönlichen Umgang, der eingeschränkt werden könnte – aber dabei muss es nicht bleiben –, sind unter anderem die Homo-Ehe, Trans-Rechte, die Ehe zwischen verschiedenen Ethnien, individuelle Sexualpraktiken, Waffenrechte für Unterdrückte und eine ganze Reihe anderer Verhaltensweisen, die von den Gesetzgebern:innen in verschiedenen rechtsgerichteten Staaten als „abweichend“ angesehen werden könnten.

Der rechte Flügel und seine superreichen Förder:innen werden alles tun, um jeden Fortschritt bei der Förderung der individuellen Rechte umzukehren, um den weißen, männlich dominierten Siedler:innenstaat an der Spitze zu halten. Oberste Schiedsrichterin über diese Gesetze wird jenes Gericht sein, das die Schleusen zur Unterdrückung geöffnet hat.

Was die Mehrheit für „gerecht“ hält, gilt nicht, wenn es um die Ausübung der Staatsgewalt geht. Die Mehrheitsherrschaft war immer ein Mythos, aber einer, der in Zeiten aufrechterhalten werden konnte, in denen die Profitraten des Kapitalismus die Angriffe nicht zu ungeheuerlich machten. Der Schleier, der den Mythos vor einer Überprüfung schützte, wird zerrissen und zerfleddert, so dass die hässliche Wahrheit des Autoritarismus zum Vorschein kommt. Die Aufgabe der revolutionären Sozialist:innen besteht darin, die Schlussfolgerungen für die US-Arbeiter:innen zu ziehen, dass das Ziel einer Arbeiter:innendemokratie und einer sozialistischen Wirtschaft zur Orientierung für Millionen werden muss.

Wie kann man sich wehren?

Obwohl die vom Obersten Gerichtshof geplante Entscheidung seit Monaten angekündigt worden war, hat diese Indiskretion Millionen Menschen schockiert. Die große Herausforderung besteht darin, der Empörung Taten folgen zu lassen. Auf Biden oder die Demokratische Partei mit ihren hauchdünnen Mehrheiten im Kongress zu warten oder sich auf die Zwischenwahlen im November zu konzentrieren, wäre fatal.

Nur die direkte Aktion von Millionen Menschen, die die Regierungs- und Profitmaschinerie zum Stillstand bringen und bereit sind, sich den Gerichten und der Polizei zu stellen, kann die Richter:innen, die Politiker:innen und die Polizei dazu zwingen, sich zurückzuziehen und die Souveränität der Frauen über ihren eigenen Körper (und den von LGBTIAQ-Personen) in jedem Bundesstaat der Union anzuerkennen.

Spontane Demonstrationen haben sich vor dem Obersten Gerichtshof in Washington und in vielen anderen Städten versammelt, aber es werden große Mobilisierungen nötig sein, so schnell wie möglich, die nicht nur die Frauenbewegung einbeziehen, die wir unter Trump erlebt haben, sondern alle fortschrittlichen Kräfte, die durch diese Entscheidung bedroht sind.

Das bedeutet, dass die Arbeiter:innenklasse in den Gewerkschaften mobilisiert werden muss, von denen fast die Hälfte Frauen sind, und dass die nicht organisierten Betriebe erreicht werden müssen, um Aktionen durchzuführen, die die Wirtschaft treffen. Rollierende Streiks, Sit-ins am Arbeitsplatz, informative Streikposten und mehr sollten in Betracht gezogen werden, bis ein Bundesgesetz verabschiedet wird, das das Recht der Frau schützt, selbst zu entscheiden, was sie mit ihrem Körper macht. Wenn möglich, sollten die Aktionen auf lokaler, einzelstaatlicher, regionaler und nationaler Ebene koordiniert werden, um eine maximale Wirkung zu erzielen.

Langfristig brauchen wir eine politische Partei, die den Bossen die Stirn bietet, nicht nur in den Parlamenten, sondern auch auf den Straßen, an den Arbeitsplätzen und in den Gemeinden im ganzen Land. Wir brauchen eine politische Partei der Arbeiter:innen und der Unterdrückten, und das ist definitiv nicht die Demokratische Partei. Sie hatte ihre Chance, und in ihrer sklavischen Ergebenheit gegenüber dem Kapitalismus, dem Staat und dem System der Bosse hat sie bewiesen, dass sie in einem echten Kampf um unser Leben wertlos ist.

Kurz- und mittelfristig müssen Sozialist:innen an vorderster Front jeder Bewegung stehen, die eine „Untergrundbahn“ der Unterstützung aufbaut, um Abtreibungswillige dorthin zu bringen, wo sie die medizinische Versorgung erhalten können, die sie brauchen, sei es in einem anderen Staat oder einem anderen Land.

Wir müssen uns auch an vorderster Front an militanten Demonstrationen beteiligen, die im ganzen Land kontinuierlich stattfinden. Das kann keine einmalige Angelegenheit sein. Das Land „unregierbar“ zu machen, bedeutet nicht die liberale Idee, zu einer Demonstration zu gehen und dann zu einem Champagner-Brunch. Es bedeutet tägliche, wöchentliche, monatliche Demos und Sit-Ins, Arbeitsunterbrechungen und Besetzungen, die den Alltagstrott stören. Es bedeutet, immer wieder Festnahmen und Schlimmeres zu riskieren. Es bedeutet, ein Schwurgerichtsverfahren zu fordern, um das Gerichtssystem zu stören und Arbeiter:innentribunale zu fordern, damit die schlimmsten Straftäter:innen gegen Frauen und die Bevölkerung verurteilt werden.

Die Democratic Socialists of America (DSA), die größte selbsternannte „sozialistische“ Gruppierung in den USA, sollte bei all diesen Aktionen eine führende Rolle übernehmen und nicht nur den Lockvogel für die Demokratische Partei bei Wahlen und der Mittelbeschaffung spielen.

Gewerkschaften und DSA-Ortsverbände sollten Aktionen koordinieren, um unorganisierte Arbeiter:innen in den Kampf einzubeziehen. Das letztendliche Ziel sollte ein unbefristeter Generalstreik sein, bis die Tyrannei der Minderheit in dieser Frage überwunden und gestürzt ist. Dies würde den Weg zu einer echten, d. h. einer „Arbeiter:innendemokratie“ in den Vereinigten Staaten weisen.

All diese Maßnahmen und mehr werden in diesem Kampf erforderlich sein. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zu denken, dass dieses Urteil nicht für einen selbst gilt. Die Auswirkungen von Alitos Urteilsentwurf werden letztendlich für alle gelten, auf die eine oder andere Weise. Der Staat und die politische Klasse sind gegen uns, und wir müssen uns geschlossen gegen sie stellen.

Wir müssen eine internationale Bewegung gegen den Kapitalismus und für die Bildung einer neuen Fünften Internationale verkörpern. Schließt Euch uns in diesem Kampf an!

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