Martin Suchanek, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022
Nicht nur die Zahl der Infizierten erreicht in Mittel- und Osteuropa in den letzten Wochen immer neue Rekordwerte. Noch vor einem Jahr, im Winter 2020/21, als die zweite Welle der Pandemie Europa im tödlichen Würgegriff hielt, gab es kaum Widerstand gegen Lockdowns und die Verhängung von Kontaktbeschränkungen. Selbst die Welle der QuerdenkerInnen ebbte damals angesichts Tausender und Abertausender Toter ab.
Nicht so in diesem Jahr. In Österreich gehen seit Ende November wöchentlich Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen, geführt von der rassistischen FPÖ unter kräftiger Beteiligung offen faschistischer Gruppierungen, auf die Straße. In Deutschland demonstrieren Tausende. In der sächsischen Kleinstadt Grimma belagerten Rechte das Haus der SPD-Landesgesundheitsministerin. In Belgien und den Niederlanden liefern sich wütende ImpfgegnerInnen Straßenschlachten mit der Polizei.
Auch wenn zwischen Corona-LeugnerInnen, ImpfgegnerInnen und der einfachen Masse der ungeimpften Erwachsenen unterschieden werden muss, so bildet Letztere eine Basis für die beiden ersteren Gruppen.
In Deutschland liegt die Impfquote am 7. Dezember noch immer unter 70 % der Gesamtbevölkerung, mit extrem großen Unterschieden zwischen einzelnen Bundesländern und Regionen. Deutlich vorne liegen in Europa Irland, Portugal, Spanien und Schweden mit Impfquoten zwischen 80 und 90 %. Umgekehrt sieht die Lage besonders dramatisch in Osteuropa aus mit Quoten von 40 – 60 % – mit entsprechend hohen Todeszahlen. Das Gesundheitssystem ist dort in etlichen Regionen längst überlastet und faktisch zusammengebrochen. In einigen dieser Länder stellen ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung.
Während global betrachtet gerade in den Ländern Afrikas der Mangel an Impfstoffen aufgrund der Monopolisierung von Produktion, Patenten und Verteilung in imperialistischen Zentren das Hauptproblem darstellt, gilt das für Deutschland und Österreich, aber auch die osteuropäischen Länder der EU oder Russland nicht. Länder wie Kuba, aber selbst das kapitalistische Portugal oder Spanien zeigen, dass eine weitaus effektivere Impfkampagne möglich wäre. Woran liegt es, dass andere so weit hinten liegen? Neben nationalen Besonderheiten bildet die widersprüchliche Politik, wie sie nicht nur in Deutschland vorherrscht, einen Nährboden für reaktionäre, kleinbürgerliche Kritik.
So verkündeten zahlreiche Regierungen noch im vergangenen Sommer, dass die Gefahr faktisch vorbei sei. Warum sollte man sich also noch impfen lassen, wenn das Virus eh besiegt war?
Doch wurde die Gefahr nicht nur verharmlost. Es wurde auch nichts getan, um Vorsorge zu treffen. Investitionen in das kaputtgesparte Gesundheitssystem, wo allein in Deutschland rund 130 000 zusätzliche Beschäftigte benötigt würden? Fehlanzeige! Angesichts dieses Versagens der Politik fragen sich natürlich Menschen, warum sie selbst Einschränkungen hinnehmen müssen, wenn „die da oben“ ungestraft unterlassen können, was sie wollen. Zudem fehlte es bei der Impfkampagne an Aufklärung und rationeller Organisation.
Zugleich nahm die Regierung selbst eigentlich vermeidbare schwere Erkrankungen und Tote billigend in Kauf – wobei sie von VertreterInnen des Kapitals und der Presse, von diversen Talkshow- „PhilosophInnen“ wie Richard David Precht flankiert wurde, garniert mit geradezu abenteuerlichen Verharmlosungen des Virus durch „respektable“ Liberale und Konservative, aber auch Grüne, SozialdemokratInnen und „Linke“ wie Wagenknecht.
Die kapitalistische Corona-Bekämpfung seit März 2020 blieb immer der Anforderung untergeordnet, die Mehrwertproduktion und Profitmaschine am Laufen zu halten. Der Gesundheitsschutz stellte dabei nur eine unvermeidliche Notmaßnahme dar. Er zielte immer nur darauf, die Verbreitung des Virus so weit zu beschränken, dass ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems vermieden werden konnte. Die unvermeidliche Folge waren und sind lang gezogene Hängepartien, die die Bevölkerung stärker belasten als ein kurzer konsequenter Lockdown aller gesellschaftlich nicht notwendigen Produktion bei voller Sicherung der Einkommen.
Diese widersprüchliche Politik trifft existentiell Sektoren der Dienstleistungsbranche, der Kultur, des KleinbürgerInnentums und die Lohnabhängigen, hier vor allem die ärmsten und prekär beschäftigten Schichten. Sie ist Wind in den Segeln von reaktionären offenen Corona-LeugnerInnen aus AfD, FPÖ sowie anderen rechten und faschistischen Parteien neben ImpfgegnerInnen, die die Wirksamkeit der Vakzine mit Mischung aus Halbwissen und Wissenschaftsfeindlichkeit in Frage stellen. In den Ländern Osteuropas stützen sich diese neben rechtspopulistischen und rechten Kräften auch auf den religiösen Obskurantismus aus den christlichen Kirchen.
Auch wenn die Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen sich aus verschiedenen Quellen speisen, so sind sie dabei, sich zu einer reaktionären politischen Kraft, einer kleinbürgerlich-populistischen Bewegung mit einem durchaus beachtlichen faschistischen Rand zu formieren. Und auch wenn sie reale Missstände und Widersprüche, wirkliche Ängste von Teilen des KleinbürgerInnentums demagogisch aufgreifen, ändert dies nichts am Charakter dieser Mobilisierungen und Ideologien. Im Gegenteil, das Anknüpfen an diese ist typisch für kleinbürgerlich-reaktionäre politische Formationen und eine Voraussetzung für ihren Erfolg.
So auch bei den Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen. Die realen Auswirkungen der widersprüchlichen Pandemiepolitik und echte Existenzängste werden aufgegriffen und als Resultat eines bewussten Manövers des „Establishments“, volksfeindlicher PolitikerInnen und ihrer Hintermänner und -frauen dargestellt. Corona mag zwar wirklich existieren, entscheidend für die ideologische Setzung ist jedoch, dass die Pandemie und vor allem die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz eine Art Verschwörung gegen die „normalen“, vornehmlich weißen Menschen darstellen. Das Virus würde vor allem genutzt, um „uns“ zu kontrollieren, „unsere Freiheit“ zu zerstören, uns die „Selbstbestimmung über den Körper“ zu rauben, „die Kinder zu traumatisieren“ und uns zu „entmenschlichen“.
Das Abstreifen der Maske und die Impfverweigerung werden zum Menschenrecht, zum letzten Hort der Freiheit verklärt. Die eigentlichen Ursachen für eine fatale Corona-Politik, die in der Logik der kapitalistischen Profitwirtschaft zu suchen sind, werden systematisch ausgeblendet. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und gegensätzlichen Klasseninteressen, die auch in der Pandemie aufeinanderprallen, spielen in der Welt der ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen keine Rolle. Ansonsten müssten sie erkennen, dass die Regierungen, das politische „Establishment“ selbst das kapitalistische System nicht bewusst steuern, sie keinem teuflischen Masterplan folgen, sondern eher Zauberlehrlingen gleichen, denen ihr System über den Kopf zu wachsen droht.
Natürlich besitzen die verschiedenen Strömungen der überzeugten Corona-LeugnerInnen, VerschwörungstheoretikerInnen und ImpfgegnerInnen unterschiedliche Wurzeln, aber zur Zeit konvergieren sie zu einer Bewegung, die eine reaktionäre, gemeinsame kleinbürgerliche Ideologie und die GegnerInnenschaft zu effektivem Gesundheitsschutz einen. Auch wenn sich Menschen aufgrund ihrer Angst vor Einkommensverlusten und Verschlechterungen sog. „Freiheits“-Demos anschließen, so ändert dies nichts daran, dass sie hinter dem Banner rechter und reaktionärer Kräfte herlaufen und deren politische Führung akzeptieren oder, was nicht minder schlimm ist, einfach leugnen.
Ihre Absichten, ihre Wut können noch so real und nachvollziehbar sein, trotzdem sind die Demonstrationen eindeutig reaktionär, verfolgen klar rückschrittliche Ziele. Die pauschale Ablehnung von Abstandsregeln, Gesundheitsschutz und der Impfung bedeuten nichts anderes, als andere Menschen vermeidbarem Leid oder gar dem Tod auszusetzen.
Bei den Aktionen wachsen verschiedene reaktionäre Traditionen zusammen. Dazu gehören gerade in Deutschland ImpfgegnerInnen, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen und die schon damals mit Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungstheorien gerade in Baden-Württemberg und Sachsen ihr Unwesen trieben. Hier knüpft auch die pauschale Ablehnung der „Schulmedizin“ an, die schon im 19. Jahrhundert und im Nationalsozialismus antisemitisch als „jüdische Disziplin“ konnotiert war. Hinzu gesellen sich AnhängerInnen der Alternativmedizin, die sich in den letzten Jahren faktisch mit diesen Kräften zusammengetan haben.
Eine zweite politische Kraft stellt natürlich die aktive politische Rechte dar, die die sozialen Krisenphänomene nun mit der Pandemie verbindet. Die angebliche Corona-Diktatur spielt dabei in der rechten Ideologie heute eine ähnliche Rolle wie Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und die sogenannte Klima-Lüge. ImpfgegnerInnen, AnthroposophInnen, EsoterikerInnen, KurpfuscherInnen firmieren bei der rechten Melange als „GesundheitsexpertInnen“, die unfair vom Wissenschaftsbetrieb ausgegrenzt wären und je nach Geschmack Corona als Fake entlarven, das Immunsystem beschwören oder Entwurmungsmittel für Pferde als wirksame Medizin anpreisen. AfD-Rechtsaußen Höcke und die Identitären entlarven die Gefahren der wirksamen Impfstoffe. Diese sollen nämlich die Geburtenrate drücken und so die „Umvolkung“ Europas vorantreiben. Teile der Bewegung ziehen eine abstoßende, die Verhältnisse auf den Kopf stellende Parallele zur Shoa (dem Holocaust). Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wie Impfungen, 2G- und 3G-Regeln werden allen Ernstes mit der Stigmatisierung, Unterdrückung und Vernichtung des jüdischen Volkes gleichgesetzt!
Dass die Mobilisierungen im Extremfall einen direkt faschistischen Charakter annehmen wie beim Fackelzug in Grimma, sollte bei solchen ideologischen Monstrositäten nicht wundern. Die Führungsrolle etablierter, rechter Kräfte und der Zulauf zu FaschistInnen ergibt sich aus der inneren Logik dieser Bewegungen und Mobilisierungen. Auch wenn bei etlichen die Teilnahme ursprünglich aus bloßer Wut gegen die Regierung und schlechte Lebensverhältnisse gespeist war, so sollte niemand der Illusion aufsitzen, dass diese „desorientierten“ Menschen leicht von den Rechten wegzubrechen wären. Im Gegenteil, eine falsch verstandene pädagogische Herangehensweise nach dem Motto „Schlechtes Ziel, verständliche Wut“ wird in Wirklichkeit nur den rechten Zug stärken, verharmlost sie doch den grundlegend reaktionären, arbeiterInnenfeindlichen Gehalt dieser Bewegungen und ihres Rufes nach „Freiheit“.
Die ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen inszenieren sich und ihre Mobilisierungen seit Beginn der Pandemie bekanntlich als „Freiheitsbewegung“. Ob nun Masken, Abstandsregeln, Kontaktbeschränkungen oder auch Impfungen – alle werden als Angriff auf unsere „Freiheitsrechte“ interpretiert.
Beschworen wird dabei die „Freiheit an sich“ des einzelnen Individuums, eine abstrakte Angelegenheit, die einerseits Freiheit als unbeschränktes , persönliches Recht interpretiert, andererseits jedoch von den realen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie überhaupt erst existiert, absieht.
Im Kapitalismus ist der Inbegriff der Freiheit jedoch letztlich jene der WarenbesitzerInnen. Bei Kauf und Verkauf erscheinen die Menschen zwar als gleich und frei, in Wirklichkeit besitzen sie jedoch recht unterschiedliche Waren. Während das Kapital über die Produktionsmittel verfügt, müssen die LohnarbeiterInnen ihre Arbeitskraft zu Markte tragen. Nur dem KleinbürgerInnentum (und Anverwandten aus den Mittelschichten) erscheinen die freien ProduzentInnen und deren darauf basierende individuelle Freiheit den Kern der gesellschaft auszumachen.
In Wirklichkeit bestimmt natürlich das Kapitalverhältnis längst die Bedingungen der Produktion und Reproduktion in der Gesellschaft, nicht nur im Arbeits- und Verwertungsprozess, sondern letztlich auch in der Freizeit. Diese doppelte Setzung – Freiheit des/r Einzelnen als WarenbesitzerInnen und ihre gleichzeitige Unterordnung – drückt sich darin aus, dass in bürgerlichen Gesellschaft das Individuum gewissermaßen doppelt erscheint: Einmal als persönliches oder zufälliges, einmal als Klassenindividuum. Schon in der Deutschen Ideologie verweisen Marx und Engels auf die Verkehrung, die damit einhergeht:
„Der Unterschied des persönlichen Individuums gegen das Klassenindividuum, die Zufälligkeit der Lebensbedingungen für das In[dividuum] tritt erst mit dem Auftreten der Klasse [ein], die selbst ein Produkt der Bourgeoisie ist. Die Konkurrenz und der Kampf [der] Individuen untereinander erz[eugt und en]twickelt erst diese Zufälligkeit als solche. In der Vorstellung sind daher die Individuen unter der Bourgeoisieherrschaft freier als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig sind; in der Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Gewalt subsumiert.“ (MEW 23, S. 76)
Die Welt der ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen entpuppt sich – wie die jeder reaktionären kleinbürgerlichen Ideologie und Bewegung – als eine des zufälligen Individuums, als dessen irrationaler, vereinseitigter und aberwitziger Freiheitsraum.
Die reale Unfreiheit, die sachlichen Bestimmungen und Klassenunterdrückung, denen die LohnarbeiterInnen unterworfen sind, gelten diesen FreiheitsheldInnen als natürliche, unhinterfragte Verhältnisse. Umso eifriger legen sie sich für die Surrogate wirklicher Freiheit ins Zeug. Freiheit gerät zur Freiheit, ohne Rücksicht auf andere als Spreader herlaufen zu dürfen. Im Arbeitsleben halten sie dafür die Schnauze. Schließlich wird die Freiheit des Kapitals, mit seinem Betrieb (und den dort Beschäftigten) tun und lassen zu können, was es will, respektiert.
Mit bloßer Aufklärung wird ImpfgegnerInnenschaft, Verschwörungsdenken usw. nicht beizukommen sein. Im Grunde können die Menschen, die sich noch nicht völlig in rechten bis faschistischen Ideologien festgefressen haben, nur vom Irrationalismus weggerissen werden, wenn es eine breite Bewegung gibt, die eine rationale, d. h. bewusste Lösung der Pandemie vorschlägt – was unmittelbar mit einer klassenkämpferischen, antikapitalistischen Politik zusammenhängt.
Der Zulauf zur reaktionären Bewegung muss daher auch als Resultat von Niederlagen der Lohnabhängigen im Kampf begriffen werden. Während das zufällige, persönliche Individuum auf dem Boden kapitalistischer Verhältnisse spontan hervortritt, erfordert die Formierung des proletarischen Klassenindividuums selbst Kampf und damit Bildung von Bewusstsein.
Nicht erst die Corona-Politik, sondern Niederlagen der ArbeiterInnenklasse wie der Rechtsruck nach 2016 haben auch eine viel grundlegendere gesellschaftliche Tendenz – den Niedergang der organisierten reformistischen ArbeiterInnenbewegung und damit auch eines existierenden Niveaus von Klassenformierung – weiter vorangetrieben. Dass ImpfgegnerInnenschaft in den Ländern Osteuropas und Russland, aber auch in der ehemaligen DDR besonders stark ist, resultiert auch aus der politischen Atomisierung und Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse unter dem Stalinismus sowie der Restauration des Kapitalismus und der folgenden Deindustrialisierung, sozialen Entrechtung und Zersplitterung.