Arbeiter:innenmacht

Berliner Krankenhausbewegung: Gleicher Abschluss für alle durch Streik!

Jürgen Roth, Infomail 1166, 8. Oktober 2021

Nach über 4 Wochen Vollstreik hat das Berliner Krankenhausunternehmen Charité nach 21-stündigem Verhandlungsmarathon am Donnerstag, den 7. Oktober 2021, um 6 Uhr früh gemeinsam mit VertreterInnen der Gewerkschaft ver.di ein Eckpunktepapier unterzeichnet, das binnen 5 Wochen in einem Tarifvertrag Entlastung (TVE) münden soll. Beide Seiten bezeichneten es als Durchbruch, sogar als Meilenstein.

Details

Ver.di-Verhandlungsführerin Melanie Guba erkärte, alle Forderungen seien in dem Papier berücksichtigt worden: Mindestbesetzungsregelungen für alle Bereiche, darunter Stationen, OP-Säle und Notaufnahmen/Rettungsstellen; Regelung eines Belastungsausgleichs; Verbesserung der Ausbildungsbedingungen. War auf Intensivstationen bisher eine Pflegekraft für bis zu 4 PatientInnen zuständig, im Nachtdienst für 20 – 30, so soll der neue Personalschlüssel 1:1 bzw. 1:10 – 1:17 lauten. In den Kreißsälen soll es wieder möglich werden, dass eine Hebamme nur eine Frau bei der Geburt begleitet. Man hofft darauf, dass 250 freiberufliche Hebammen ihre Zusage einhalten, unter diesen verbesserten Umständen wieder als Angestellte in die Kliniken zurückzukehren.

Nach uns vorliegenden Informationen sieht der Belastungsausgleich im Fall der Unterschreitung der Mindestpersonalbesetzung 1 freie Schicht für 5 in Überlastung vor. Den Auszubildenden sollen 4 neue Lehrstationen eingerichtet werden, womit eine disziplinübergreifende Lehre besser möglich ist. Ferner soll es möglich sein, Sabbaticals zu nehmen (längere Auszeiten).

Die „Gesamtstrategie 2030“ der Charité will den Stellenanteil erhöhen wie auch akademisierte Gesundheitsfachberufe gewinnen. In den kommenden 3 Jahren sollen 700 zusätzliche PflegemitarbeiterInnen eingestellt werden. Dies ist eine Reaktion auf hohe Krankenstände, Wechsel von Voll- in Teilzeit und hoher Fluktuationsrate. Viele PflegerInnen üben ihren Beruf nur wenige Jahre aus.

Die Laufzeit des TVE soll 3 Jahre betragen.

Wichtiger Teilerfolg

Das Ergebnis ist nur durch einen engagierten, langen Streik zustande gekommen. Hier haben Beschäftigte Basisstrukturen wie die TarifberaterInnen aufgebaut, eigene Forderungen in Rücksprache mit allen KollegInnen aufgestellt, während des Ausstands selbst für Notdienstregelungen gesorgt und mit Onlineveranstaltungen und Demos für die Mobilisierung einer breiteren Öffentlichkeit gesorgt. Dies stellt alles ein leider zu seltenes Vorbild für Arbeitskämpfe dar.

Doch ist es der TVE, der nun all das regelt, was vorhergegangene Tarifkämpfe – denken wir nur an den 2015 bei der Charité erkämpften – nicht vermochten, wie ver.di-Verhandlungskommissionsmitglied, Dana Lützkendorf, behauptet? Und finanzieren sich zusätzliche Pflegekräfte durch das Bundespflegepersonalstärkungsgesetz wie von selbst? Lt. unseren Informationen sind die Ausgleichsschichten in den nächsten 3 Jahren gedeckelt: 2022 max. 5, 2023 10, 2024 15 Tage. (https://www.kma-online.de/aktuelles/klinik-news/detail/verdi-glaubt-an-einigung-mit-charite-und-vivantes-a-46324)

Das o. a. Gesetz und die Herausnahme der Pflegekosten aus den Fallpauschalen (DRGs) seit Anfang 2020 bedeuten mitnichten die Selbstkostenerstattung durch die Krankenkassen, sondern eine Rückkehr zu langwierigen Budgetverhandlungen mit ihnen wie vor Einführung der DRGs. Kommt es dann eben nicht zur gewünschten Personalaufstockung, wird auch der Freizeitausgleich schnell an seine Grenzen stoßen. 2015 wurde vereinbart, bei Überlastungen eine schwerfällige, mehrstufige sog. Interventionskaskade in Gang zu setzen. Am Ende entschied dann die Krankenhausleitung, ob für diesen Fall Bettensperrungen, Stationsschließungen, Behandlungs- und Aufnahmestopps erfolgen. Deshalb müssen wir die Kontrolle darüber für die Beschäftigten verlangen! Die TarifberaterInnen können eine wichtige Rolle bei der Kontrolle der Umsetzung des TVE durch die Basis spielen, auch bei der der ärztlich gesteuerten medizinischen Behandlung gemäß der Gewinn- und Verlustlogik des DRG-Marktes, die ja unangetastet bleiben soll!

Kein Abschluss nur bei der Charité! Vivantes und VSG mit ins Boot holen!

Das Ergebnis ist zum Zweiten nur ein Teilerfolg, weil droht, dass die Vivantes-, VSG- und Labor Berlin-Kolleginnen im Regen stehengelassen werden. Vivantes und VSG haben immer wieder die Verhandlungen verschleppt, sogar das Arbeitsgericht eingeschaltet. Der Konzern bietet z. B. erst ab 12 Überlastungsschichten eine Freischicht an (bei Auszubildenden 48!), weniger als die Hälfte des Angebots der Unikliniken. Die VSG gestand eine Angleichung an den TvöD bis 2028 zu ohne Angaben zu Zeitzuschlägen und Zulagen. Zudem will sie die MVZs und das Labor Berlin von den Verhandlungen ausnehmen.

Deshalb ist es gut, dass am 9.10.2021 ver.di, unterstützt vom DGB, zu einer Großdemonstration aufgerufen hat. Dort sollten wir lautstark klarmachen, weshalb der Streik bei der Charité nicht sofort und auf Dauer ausgesetzt werden darf. Zumindest muss darüber wie über die Annahme des Ergebnisses eine Urabstimmung stattfinden. Im Fall eines Mehrheitsvotums für Streikabbruch und Annahme des Verhandlungsergebnisses fordern wir: Zwingt den Senat, den TVE auf den Vivantesmutterkonzern und den bestehenden, besseren der CFM (bzgl. Angleichung an den TVöD) auf die VSG und das Labor Berlin anzuwenden!

Unbefristeter Vollstreik bis zur Erfüllung der Forderungen! Öffentliche, von der Basis kontrollierbare Verhandlungen! Keine Aussetzung des Streiks ohne Abstimmung unter den Streikenden! Keine Teilabschlüsse in einem Krankenhaus oder der Tochtergesellschaften, sondern nur gemeinsamer Abschluss!

Berliner Vorbild bundesweit nachahmen!

Der Kampf in den Berliner Krankenhäusern ist weit mehr als einer für einzelne Verbesserungen. Er kann auch als Katalysator für eine bundesweite Bewegung für Entlastung und Angleichung an den TVöD  wirken. Christian Hoßbach, DGB-Vorsitzender Berlin-Brandenburg, redet zu Recht nur von einem wichtigen Teilerfolg bei der Charité und verweist auf die Brandenburger Asklepios-Kliniken, wo Beschäftigte bis zu 11 Tagen pro Jahr bei bis zu 21 % weniger Entgelt als ihre KollegInnen in Westdeutschland arbeiten. Sie traten genauso in den Warnstreik für Angleichung an den TVöD-L wie Beschäftigte der Berliner AWO und am letzten Mittwoch Berliner GEW-LehrerInnen für Klassenobergrenzen (TV Gesundheit).

In der anstehenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder müssen die Anliegen dieser KollegInnen vollständig aufgenommen werden wie die der Uni- und psychiatrischen Kliniken. Doch ver.di plant lediglich eine Gehaltsrunde. Die Interessen der Pflegekräfte an Entlastung werden an einem bedeutungslosen Gesundheits(katzen)tisch vorgetragen, die der LehrerInnen gar nicht – aber sie müssen zum Verhandlungsgegenstand und streikfähig gemacht werden! Kollege Hoßbach, setzt Du Dich auch dafür ein und lässt Deinen Worten Taten folgen?

Sich an die Seite der streikenden KollegInnen zu stellen und dafür alle Beschäftigten, die ein Interesse an einem gut funktionierenden Gesundheitssystem unter guten Arbeitsbedingungen haben, an Eurer Seite zu mobilisieren, wäre die Aufgabe aller DGB-Gewerkschaften. Mit einer solchen Mobilisierung – aus streikenden KollegInnen in den Krankenhäusern und KollegInnen aus allen Betrieben –, einem politischen Streik würden die  Regierenden in die Knie gezwungen werden können. Dies wäre der Weg für einen erfolgreichen Kampf gegen Privatisierungen und mangelnde personelle und finanzielle Ausstattung des gesamten Gesundheitssektors.

Für ein Gesundheitswesen im Interesse der 99 %!

Nicht erst die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass dieses System ständig am Rande des Zusammenbruchs funktioniert. Damit muss Schluss sein, wenn wir ein menschenwürdiges Gesundheitssystem aufbauen wollen! Der Markt richtet nichts, jedenfalls nicht für die Masse der Bevölkerung.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für ein gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die  in allen Sektoren, auch der Altenpflege gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten von der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Plan- statt Marktwirtschaft: Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten!
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