Martin Suchanek, Infomail 1158, 17. August 2021
Nach 20 Jahren Besatzung durch die USA und ihre Verbündeten haben die Taliban Kabul und das Land wieder eingenommen. 20 Jahre Besatzung und Krieg – wofür? Die westlichen imperialistischen Mächte haben keines ihrer Kriegsziele erreicht, weder die vorgeschobenen noch die realen ökonomischen und geostrategischen. Nach zwei Jahrzehnten hinterlassen sie ein verwüstetes Land.
Während der Besatzung starben rund 250.000 AfghanInnen – rund 70.000 Angehörige der Sicherheitskräfte, etwa 100.000 wirkliche oder vermeintliche Taliban und über 70.000 ZivilistInnen. Sieben von rund 38 Millionen AfghanInnen wurden zu Flüchtlingen, davon rund 4 Millionen im eigenen Land. Die anderen 3 Millionen entflohen nach Pakistan, Iran oder in den Westen.
Auch wenn unter US-Besatzung einige demokratische Reformen auf dem Gebiet der Frauenrechte für die Intelligenz eingeführt wurden, so waren diese beschränkt und erstreckten sich im Wesentlichen auf städtische Zentren und Mittelschichten.
Für die Masse der AfghanInnen bedeutete die Besatzung weiter Willkür – nicht nur durch die Taliban, sondern auch durch Warlords, GrundbesitzerInnen und traditionelle Eliten in den von Regierung und westlichen Mächten kontrollierten Gebieten. Vor allem auf dem Land war und ist die wirtschaftliche Lage katastrophal, die Agrarproduktion am Boden. Die Ausbeutungsbedingungen sind extrem, sofern die Menschen überhaupt als Bauern/Bäuerinnen ihre Produkte verkaufen oder als LandarbeiterInnen Arbeit finden. Während Millionen auf der Flucht und Suche nach Beschäftigung in die Städte flohen, so fanden sie auch dort keine Einkommen und keine oder nur prekäre und befristete Arbeit. 80 % aller AfghanInnen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. 60 % der Kinder leiden unter Unterernährung. Ein großer Teil der Arbeitssuchenden wie überhaupt der urbanen Bevölkerung lebt in städtischen Slums.
All dies verdeutlicht, warum die Demokratie in Afghanistan unter imperialistischer Besatzung eine Farce war und sein musste. So schrecklich und bedrohlich die Rückkehr des Taliban-Regimes auch für viele – vor allem Frauen, demokratische Kräfte, SozialistInnen und die schwache ArbeiterInnenbewegung – sein wird, sind Millionen und Abermillionen AfghanInnen schon während der 20 Jahre Besatzung und Pseudodemokratie verarmt, verelendet, marginalisiert, entrechtet und demoralisiert. Die traditionellen Arbeitsbeziehungen sind nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges, angefangen mit dem reaktionären Krieg der mit dem Westen verbundenen Mudschahidin, weitgehend zerstört, ohne dass neue soziale Beziehungen an ihre Stelle getreten wären. Imperialistische Besatzung und Bürgerkriege haben zur Deklassierung weiter Teile der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft und selbst des KleinbürgerInnentums geführt.
20 Jahre Besatzung haben diese Verhältnisse ständig reproduziert und verschlechtert. Allein das bezeugt den reaktionären Charakter der imperialistischen Besatzung, die auch nicht nachträglich besser wird angesichts der drohenden theokratischen Diktatur der Taliban, des Verdrängens der Frauen aus dem öffentlichen Raum, der Einführung des islamischen Rechts durch die Taliban.
Dass all dies droht, wenn die Dschihadisten gewinnen sollten, war bekannt. Doch warum konnten diese das Land in den letzten Wochen so rasch einnehmen, obwohl allein die USA 2,2 Billionen US-Dollar in die Besatzung und Kriegsführung gesteckt haben? Mehrere Großoffensiven unter Bush und Obama kosteten zwar zehntausenden ZivilistInnen das Leben, das Land befrieden konnten sie jedoch nicht. Faktisch war spätestens 2016, nach der letzten gescheiteren Großoffensive mit über 130.000 US-Soldaten klar, dass eine militärische Lösung unmöglich war. Sicherlich spielte dabei auch die Tatsache eine wichtige Rolle, dass Pakistan, obwohl langjähriger US-Verbündeter, auch eine Schutzmacht der Taliban darstellte und nie aufhörte, als solche mehr oder weniger offen zu agieren.
Vor allem aber war das imperialistische Besatzungsregime selbst dafür verantwortlich. Keines der fundamentalen sozialen und demokratischen Probleme des Landes wurde wirklich angepackt. Die Landfrage, eine Kernfrage jeder grundlegenden Veränderung, war faktisch tabu, sollten doch die besitzenden Eliten auf dem Land wichtige Verbündete gegen die Taliban darstellen. Allein die Tatsache, dass etliche von diesen einmal mehr überliefen und, im Gegenzug für ihren Loyalitätswechsel, nun unter den Taliban ihre führende Stellung behalten sollen, verdeutlicht die Logik jeder reaktionären, imperialistischen Besatzungspolitik. Sie setzt auf die Reichen und Besitzenden. Die Lage der Bauern/Bäuerinnen verschlechterte sich so, dass sie keinen Unterschied zwischen der „Demokratie“ unter imperialistischer Herrschaft und dem Emirat der Taliban zu erkennen vermögen. Hunger, Entrechtung und Überausbeutung ändern sich nicht – und die Taliban versprechen wenigstens islamische Wohlfahrt, Almosen für die Armen, während die US-Besatzung dem Land mehrere Strukturanpassungsprogramme des IWF und die Öffnung der Agrarmärkte gegenüber westlicher Konkurrenz aufzwang (was auch zu einem Ruin zahlreicher afghanischer AgrarproduzentInnen führte).
Dasselbe gilt bezüglich der Rechte nationaler Minderheiten, der LohnarbeiterInnen in den Städten. Nicht zuletzt war die afghanische Demokratie wenig mehr als als ein Kampf der mit den USA verbündeten Eliten um die Beute, um die Kontrolle über den Staatsapparat und die Pfründe, die er zu bieten hatte. Milliarden verschwanden in diesen Kanälen – und noch viel mehr in den Taschen der Rüstungs- und Sicherheitskonzerne in den USA und anderen westlichen Ländern. Eine soziale Basis in der Gesellschaft vermochte sich die afghanische Regierung nie aufzubauen. Ihre Stütze war im Grunde über zwei Jahrzehnte die Besatzungsmacht, die ihrerseits keinen Spielraum für ein anderes Regime bot. Ohne US- und NATO-Truppen brach die Regierung innerhalb weniger Wochen zusammen.
Doch die USA und ihre Verbündeten vermochten nicht nur ihr vorgeschobenen Versprechen nicht einzulösen. Indem sie sich als unwillig und unfähig erwiesen, das Land selbst ökonomisch und sozial zu stabilisieren und ihm eine gewisse Perspektive zu erlauben, scheiterte auch die Verwirklichung ihrer realen, wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele.
Der Einmarsch und die rasche Eroberung des Landes durch die US-geführte Allianz, der sich 2001 fast alle Staaten der Welt offiziell anschlossen, wurden von den USA als Akt der Selbstverteidigung
nach dem reaktionären Anschlag auf die Twin Towers am 11. September 2001 präsentiert. In Wirklichkeit sollten die Eroberung Afghanistans ebenso wie der Krieg gegen den Irak und andere Interventionen die nahezu unangefochtene Hegemonie der USA nach dem Kalten Krieg und während des ersten Jahrzehnts der kapitalistischen Globalisierung verewigen. Von dieser „neuen Weltordnung“, für deren Errichtung die Kontrolle Eurasiens und die Verhinderung des Aufstiegs neuer imperialistischer Rivalen als zentral angesehen wurde, ist der US-Imperialismus heute weiter denn je entfernt. Auch wenn er noch immer die größte Ökonomie und die stärkste politische und militärische Macht darstellt, so offenbart der Rückzug der US- und NATO-Truppen vor allem den Niedergang der Hegemonialmacht. Am Ende konnten sie nicht einmal eine Machtteilung zwischen dem Vasallenregime Ghani und den Taliban durchsetzen.
Auch der „Krieg gegen den Terror“, diese ideologische Allzweckwaffe, die über zwei Jahrzehnte als Vorwand für so ziemlich jede Intervention herhalten sollte, hat sich abgenutzt. Geblieben sind nackte Interessenpolitik, die mehr oder weniger offene Verfolgung der eigenen imperialistischen Ziele im globalen Konkurrenzkampf, Islamophobie und antimuslimischer Rassismus in den imperialistischen Zentren als Ideologien zur Rechtfertigung der Unterdrückung im Inneren und zur Intervention nach außen.
Der Zusammenbruch des Vasallenregimes in Kabul bezeugt daher vor allem den Niedergang des US-Imperialismus. Er belegt, wie sehr sich die Weltlage in den beiden letzten Jahrzehnten grundlegend verändert hat. Auch wenn es schwer absehbar ist, ob und wie andere Mächte das Vakuum füllen können, das die USA in Afghanistan hinterlassen, so stehen die VerliererInnen fest. Die USA und ihre westlichen Verbündeten erlitten eine Niederlage von enormer internationaler Bedeutung. Sie erwiesen sich als unfähig, die Welt nach ihren Vorstellungen zu „ordnen“. Nach 20 Jahren endete der asymmetrische Krieg in einer Niederlage, deren globale Bedeutung der in Vietnam nicht nachsteht. Selbst einen „geregelten“ Übergang, eine Machtteilung der Regierung Ghani mit den Taliban vermochten sie nicht mehr auszuhandeln. Die größte Weltmacht wie der gesamte Westen wurden weltpolitisch vorgeführt.
Der kampflose Fall Kabuls besiegelte die Niederlage des afghanischen Regimes unter Präsident Aschraf Ghani. Nachdem die USA-Besatzungstruppen und ihre NATO-Verbündeten überhastet und frühzeitig abgezogen waren, entpuppte sich die afghanische Regierung samt ihrer nach offiziellen Angaben 300.000 Mann starken Verteidigungskräfte als Papiertigerin.
Innerhalb von nur wenigen Wochen konnten die Milizen der Taliban das Land erobern, obwohl sie zahlenmäßig und ausrüstungstechnisch als unterlegen galten. Nachdem Anfang Mai, am Beginn des Abzugs der US/NATO-Truppen, noch der größere Teil des Landes von der Regierung kontrolliert wurde, veränderte sich die Lage bis Anfang Juli dramatisch. Rund die Hälfe des Territoriums hatten die Taliban eingenommen, oft ohne auf großen militärischen Widerstand zu stoßen. Zu diesem Zeitpunkt nahmen sie jedoch vor allem ländliche, oft relativ dünn besiedelte Regionen und kleinere Städte ein. Doch bald begannen sie auch, erste größere Provinzhauptstädte zu umzingeln und einzunehmen, mitunter nach längeren Gefechten mit den Regierungstruppen oder mit ihnen verbündeten Milizen von Landlords, also lokaler, oft auf Clanstrukturen basierenden Kriegsherren.
Mit jeder Niederlage der Regierungstruppen, die sich ihrerseits von ihren ehemaligen Schutzmächten, den USA und schwächeren imperialistischen Mächten wie Deutschland im Stich gelassen fühlten, schwanden die Hoffnungen, den Talibanvormarsch aufhalten zu können.
Mehr und mehr Großstädte wurden kampflos übernommen. Teile der lokalen Sicherheitskräfte liefen über, andere verkauften ihre Waffen an die Taliban, flohen mit ihrem Gerät in andere Regionen oder ins Ausland oder desertierten, um unterzutauchen.
Die Kampfmoral war offenkundig schon weitgehend gebrochen, als der Vormarsch der Taliban begann. Überraschend war sicher nicht der Umstand selbst, wohl aber das Ausmaß der Demoralisierung, die die Regierung und ihre westlichen Schutzmächte überraschte, wahrscheinlich aber auch die Taliban.
Mit dem US- und NATO-Abzug, ja im Grunde mit Donald Trumps Ankündigung aus dem letzten Jahr war schließlich längst klar, dass das afghanische Regime nicht einfach weiterregieren können würde. Die westlichen imperialistischen Mächte, aber auch Russland und China sowie regionale Player wie Pakistan, Iran und die Türkei strebten eine Machtteilung der Regierung Ghani mit den Taliban an, die vor allem am Verhandlungstisch errungen werden sollte.
Doch die Unterredungen stockten, auch weil die Regierung Ghani ihre Karten überreizte und hoffte, dass im schlimmsten Fall die USA und ihre Verbündeten doch mehr Truppen und Personal im Land lassen würden. Dabei verkalkulierte sie sich offenkundig.
Die USA, die NATO und sämtliche westlichen Besatzungsmächte rechneten damit, dass die Regierung wenigstens die größten städtischen Zentren und deren Umland halten würde können. Umgekehrt gingen im Mai und Juni wahrscheinlich auch die Taliban nicht davon aus, dass sie bis Mitte August ganz Afghanistan weitgehend kampflos erobern könnten. Länder wie Pakistan, während des gesamten Kriegs nicht nur Verbündeter der USA, sondern auch eine Art Schutzmacht der Taliban, sowie China und Russland setzten aus geostrategischen und ökonomischen Interessen auf eine Verhandlungslösung, die ihnen am Verhandlungstisch größeren Einfluss auf Kosten der USA gebracht hätte.
Doch die Kampfmoral der Verteidigungskräfte und deren innerer Zusammenhalt waren offenbar so gering, dass sie sich nach anfänglichen verlorenen Gefechten im Juli nur noch auf dem Rückzug befanden. Nicht nur Desertion und Kapitulation waren verantwortlich. Die Armeeführung war offenbar nicht in der Lage, Nachschub und Ersatzkräfte zu sichern. Warum also sollten die SoldatInnen ihr Leben angesichts der Taliban-Erfolge riskieren, wenn sich ihre Regierung als vollkommen unfähig erwies, sie zu unterstützen, und nachdem sie ihre imperialistischen Verbündeten faktisch aufgegeben hatten? Während die USA und NATO ihre Truppen überhastet abgezogen hatten, ohne die lokalen Einheiten der afghanischen Armee über die Modalitäten des Rückzugs zu informierten, sollten diese weiter für die Marionettenregierung in Kabul als Kanonenfutter agieren.
Das hindert US-Militärs und PolitikerInnen bis hin zum Präsidenten Biden natürlich nicht daran, die Verantwortung für die schmähliche militärische Niederlage den afghanischen Vasallen in die Schuhe zu schieben. Feige und inkompetent, käuflich und unzuverlässig wären diese gewesen. Dabei haben die NATO-Staaten die afghanischen Sicherheitskräfte selbst zwei Jahrzehnte lang ausgebildet und immer wieder von enormen Fortschritten berichtet. Bei den Kampfhandlungen ließen 70.000 dieser ihr Leben, während nur rund 3.500 NATO-SoldatInnen fielen (davon rund 2.500 aus den USA).
Doch in typisch imperialer Herrenmanier erklären nun westlichen Militärs und PolitikerInnen, dass die edle Mission nicht an ihnen, sondern an rückständigen, unzuverlässigen und schwachen afghanischen Verbündeten gescheitert wäre. So schiebt der Imperialismus die Niederlage auch noch seinen Marionetten zu, die nicht richtig nach seiner Pfeife getanzt hätten. Dabei schaffen es die USA, Deutschland und andere BesatzerInnen allenfalls, einen Teil der direkt als ÜbersetzerInnen, KundschafterInnen, Personal aller Art beschäftigten HelferInnen und deren Familien aus dem Land zu bringen. Auch wenn westliche PolitikerInnen ihre Sorge und Betroffenheit über deren Schicksal medienwirksam zur Schau stellen, so darf diese niemanden täuschen. Das Schicksal der ehemaligen HelferInnen und Verbündeten interessiert die imperialistischen BesatzerInnen wenig. Die Krokodilstränen für die Hunderttausende, die vor den Taliban Richtung Iran und Türkei auf der Flucht sind, erweisen sich als pure Heuchelei, sobald es darum geht, den Menschen die Flucht nach Europa zu ermöglichen und die Grenzen der EU zu öffnen.
Für die AfghanInnen kommt der Sturz des Regimes Ghani wie ein Wechsel von Pest zur Cholera. Während die imperialistischen BesatzerInnen das Land verlassen haben und gerade noch dabei sind, ihre letzten Truppen, Tross und Gerätschaft außer Landes zu fliegen, geht die Macht an die Taliban über.
Im Land selbst steht ihnen zur Zeit keine organisierte, kampffähige Kraft gegenüber. Die Armee ist zerfallen, nach ihr das Regime, deren Mitglieder sich jetzt gegenseitig die Hauptschuld an der Niederlage zuschieben.
Ein Übergangsregime, eine Machtteilung kommt für die Taliban nicht in Frage. Sie werden in den nächsten Tagen vielmehr ihre eigenen Regierung einsetzen, die einem Gottesstaat, einem Emirat vorstehen soll. Auch wenn die Sieger zur Zeit versprechen, die Zivilbevölkerung zu schonen, so besteht am reaktionären, unterdrückerischen Charakter des Regimes, das sie errichten wollen, kein Zweifel. Für die Frauen, für oppositionelle demokratische und sozialistische Kräfte, für die ArbeiterInnenbewegung brechen finstere, despotische Zeiten an. Auch wenn deren genaues Ausmaß nicht präzise vorherbestimmt werden kann, so werden die Taliban gerade auf dem Gebiet erzkonservativer Familien- und Moralvorstellungen und gegenüber allen Regungen des sozialen oder politischen Aufbegehrens von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen keine Gnade kennen. Das trifft auch auf die demokratische Intelligenz sowie auf unterdrückte Nationalitäten und Glaubensgemeinschaften zu. Wahrscheinlich wird es auch zu Schauprozessen gegen Angehörige der gestürzten Regierung und KollaborateurInnen mit den Besatzungsmächten kommen.
Doch die Taliban können sich nicht nur auf die repressive Sicherung ihre Herrschaft und ihre Moralvorstellungen beschränken. Sie müssen auch eine marode kapitalistische Ökonomie irgendwie am Laufen halten und wiederbeleben, sie müssen ein zerfallendes Land regieren und zusammenhalten. Dazu werden sie nicht wenige ParteigängerInnen des alten Regimes, BürokratInnen, lokale Landlords, Wirtschaftstreibende, wenn auch unter „islamischen“ Vorzeichen in ihr Regime zu integrieren versuchen.
Daher auch die ständigen Versicherungen, dass die Talibankämpfer nicht plündern würden, dass das Geschäftsleben möglichst rasch weitergehen solle, dass niemand willkürlich enteignet werde. Auch die Scharia respektiert das geheiligte Privateigentum. Um ihre Herrschaft sozial zu stabilisieren, werden sie eventuell auch auf Wohlfahrtsprogramme für die Armen setzen, auch wenn unklar ist, woher diese Mittel kommen sollen.
Selbst wenn die Taliban im Inneren kurzfristig kaum eine/n politische/n oder militärische/n GegnerIn zu fürchten haben, so regieren sie ein geschundenes, desintegriertes Land, das wirtschaftlich und sozial am Boden liegt. Diese Hinterlassenschaft der alten Regierung, von Jahrzehnten Bürgerkriegen und vor allem von imperialistischer Besatzung und Plünderung lastet auch auf den Taliban.
Das Schicksal des Landes wird daher auch unter den Taliban nicht selbstständig in Kabul entschieden werden. Während die westlichen BesatzerInnen fluchtartig das Land verlassen haben, brauchen die Taliban neue Verbündete und Schutzmächte, die wesentlich die Zukunft des Landes (mit)bestimmen werden.
Pakistan drängt sich hier als eine erste Macht auf. Im Unterschied zu allen anderen Ländern unterhielt es immer diplomatische Beziehungen zu den Taliban, die auch während des Krieges gegen den Terror ihre Büros in Pakistan weiter offenhalten konnten. Vor allem aber dienten die Grenzregionen als Rückzugsgebiete für Talibankämpfer und Logistik. Teile des pakistanischen Geheimdienstes und des Militärs unterhielten seit Gründung der Taliban enge Beziehungen mit diesen, bilden diese faktisch aus. Das erklärt auch, warum sie eine schlagkräftige und zentralisierte Armee aufbauen konnten.
Pakistan hat schon jetzt erklärt, dass es eine neue Regierung als erstes Land anerkennen will, und unterstützt offen deren Bildung als konstruktiver Vermittler, um die nächste Administration auf eine breite und inklusive Grundlage zu stellen. Dazu finden zur Zeit erste Konsultationen von VertreterInnen der pakistanischen Regierung und der Taliban in Islamabad statt.
Der Präsident des Landes Imran Khan kritisierte dabei offen die USA als verantwortlich für die Lage in Afghanistan, setzt auf ein gemeinsames Vorgehen von Regierung, Militär und Geheimdienst. Kurz gesagt, auch wenn Pakistan wahrscheinlich selbst eine längere Übergangsphase gewünscht hätte, so sieht es zur Zeit die Chance gekommen, sich als Regionalmacht zu stärken und einen dominierenden Einfluss auf die weitere Entwicklung in Afghanistan zu nehmen.
Natürlich sind der pakistanischen Regierung die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten dieses Unterfangens klar. Daher sucht sie auch, weitere PartnerInnen mit ins Boot zu holen. Vor allem geht es dabei um China und den Iran. China wurde in den letzten Jahren die dominierende imperialistische Macht in Pakistan. Zugleich verfolgt Peking sowohl ökonomische Interessen (Abbau von Rohstoffen in Afghanistan), geostrategische (Neue Seidenstraße) wie auch innenpolitische (Abwendung von Unruhen der UigurInnen). Falls Pakistan vermitteln kann und die Taliban garantieren, dass sie sich in innere Angelegenheiten Chinas nicht einmischen werden, steht guten Beziehungen zu einer neuen Regierung in Kabul wenig im Wege. Ähnliches mag für den Iran gelten, der seinerseits schon seit Jahren regelmäßige Konsultationen mit China und Pakistan durchführt.
Zu diesen dreien gesellt sich die Türkei. Imran Kahn hat bereits die Initiative ergriffen, Erdogan in die Gespräche über die Zukunft Afghanistans einzubeziehen. Und schließlich wird auch Russland direkt und als Schutzmacht der ehemaligen Sowjetrepubliken, die an Afghanistan grenzen, mit im Boot sitzen. Während die USA und die europäischen Länder ihre Botschaften geschlossen und ihren diplomatischen Stab abgezogen haben, agiert die russische Botschaft weiter. Russland und China haben bereits angekündigt, die neue Regierung anzuerkennen. Beide wollen das politische Vakuum füllen, das der Westen hinterlassen hat.
Auch das verweist auf eine Veränderung der Verhältnisse, die nur wenig mit den Taliban, aber viel mit der Entwicklung der Weltlage seit 2001 zu tun haben.
Auch wenn die USA und die EU weiter versuchen werden, Einfluss in Afghanistan auszuüben, wenn sie mehr oder weniger heftig mit Sanktionen und Abbruch diplomatischer Beziehungen drohen, sollten die Taliban das internationale Recht nicht respektieren, so wirken diese Drohungen wenig furchteinflößend. Der Abzug der westlichen Militärs, Botschaften, von JournalistInnen und Geschäftsleuten ist der schlecht verhüllte Abzug von VerliererInnen.
Auch wenn es unklar ist, ob und wie neue Mächte die veränderte Lage in Afghanistan nutzen werden, so wird dessen Neuordnung keinesfalls nur ein innere Angelegenheit der Taliban bleiben. Ironischer Weise werden sich diese reaktionären Pseudobefreier selbst wahrscheinlich rasch als Vasallen größerer Mächte und von deren wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen erweisen.
Für die Massen in Afghanistan brechen hingegen dunkle Zeiten an. Der Sieg der Taliban wird faktisch alle Ansätze von demokratischen, von Frauenorganisationen, Gewerkschaften und sozialistischen oder kommunistischen Kräften in die Illegalität treiben. Zugleich werden jedoch – wie in allen theokratischen Regimen – die gesellschaftlichen Widersprüche keineswegs verschwinden. Ausbrüche von Klassengegensätzen und anderen sozialen Konflikten – teilweise sogar eruptive – sind früher oder später unvermeidlich. Darauf müssen sich RevolutionärInnen in Afghanistan organisatorisch, politisch und programmatisch unter Bedingungen der Illegalität und der konspirativen Arbeit vorbereiten. Das bedeutet aber auch, sich klar zu werden über die wesentlichen Schwächen und Fehler der afghanischen Linken, die zumeist aus moskau- oder maostalinistischer Tradition kommen und in den letzten Jahren stark von sozialdemokratischen und liberalen Ideen beeinflusst wurden.
Zwei Lehren werden dabei zentral sein: Erstens muss der Kampf für demokratische und soziale Forderungen immer mit dem gegen imperialistische Besatzung verbunden werden. Zweitens und damit verbunden dürfen der Kampf für demokratische und soziale Verbesserungen und der für eine sozialistische Umwälzung nicht als Gegensatz oder gar als zeitlich und strukturell getrennte Etappen verstanden werden. Vielmehr verdeutlicht die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass die afghanische Revolution eine permanente im Sinne Trotzkis sein muss. Nur durch die Errichtung einer revolutionären ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung können die bis heute unerfüllten demokratischen Aufgaben im Rahmen einer sozialistischen Umwälzung gelöst werden. Wenn es die afghanische Linke, die fortgeschrittensten Teile der ArbeiterInnen-, der Frauenbewegung und der demokratischen Intelligenz vermögen, in der Illegalität eine solche revolutionäre Partei zu schaffen, dann können sie in der Lage sein, die nächste Krise des Landes im Interesse der ArbeiterInnenklasse und Bauern/Bäuerinnenschaft zu lösen.
Die Entwicklung einer solchen Organisation stellt zweifellos eine langfristige Perspektive dar. Unmittelbar droht Millionen brutale politische Unterdrückung. Andere versuchen, in benachbarte Länder oder nach Europa zu fliehen.
Die imperialistischen Besatzungsmächte, die fluchtartig das Land verlassen haben, lassen nicht nur die meisten ihrer HelferInnen zurück. Vor allem wollen sie keine afghanischen Geflüchteten aufnehmen. Eine „Flüchtlingswelle“ soll verhindert werden. Wenn die Menschen schon vertrieben werden, sollen sie in angrenzenden Staaten wie Pakistan, Iran, Usbekistan oder der Türkei ausharren. Dabei ist die Verantwortung des Westens in kaum einem anderen Land so deutlich, sind imperialistischer Krieg und Besatzung so offenkundig Fluchtursachen. Umso zynischer ist es nun, für jene Menschen die Festung Europa dichtzumachen, deren Land von europäischen Truppen besetzt und verwüstet wurde. Doch damit nicht genug. Einige EU-Staaten wie Österreich sondieren sogar schon, wann sie die Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge wieder aufnehmen können.
Die Linke und die ArbeiterInnenbewegung müssen sich ohne Wenn und Aber für die Öffnung der EU-Grenzen für die Geflüchteten aussprechen. Wie die EU-Kommission oder die Regierung Merkel deutlich gemacht hat, wird das nur durch massive Mobilisierungen möglich sein. Die Aufnahme aller Geflüchteten, offenen Grenze und volle StaatsbürgerInnenrechte für alle sollte daher auch eine zentrale Forderung der Demonstrationen von #unteilbar am 4. September und darüber hinaus bilden.
Die zweite unmittelbar Lehre aus dem Afghanistankrieg muss lauten: Rückzug aller SoldatInnen der Bundeswehr und aller anderer imperialistischer Staaten nicht nur aus Afghanistan, sondern von allen Einsätzen – sei es unter UNO-, NATO- oder EU-Leitung! Nein zur Aufrüstung der Bundeswehr! Keinen Cent für Armee und Militarismus!