Arbeiter:innenmacht

Die Amerikas: Neues Zentrum der Pandemie

Markus Lehner, Neue Internationale 247, Juni 2020

Während in Europa (außerhalb Russlands) die Corona-Ausbreitung zumindest zur Zeit eingebremst scheint, ist die Situation auf dem amerikanischen Kontinent und in der Karibik sehr kritisch. In einer Stellungnahme der kontinentalen Gesundheitsorganisation PAHO (Pan American Health Organisation) wurde die Region als neues Epizentrum der Krise bezeichnet. Zu dem Zeitpunkt, am 18. Mai, gab es auf dem Kontinent über 2 Millionen getestete Infizierte, mit einer wöchentlichen Steigerungsrate von 14 %. Nur Kanada und Kuba hatten bis dahin eine „Abflachung der Kurve“ erreicht. In den kontinentalen Zentren der Epidemie – den USA, Brasilien, Peru, Ecuador und Chile – ist man weiterhin im Wachstumsbereich, teilweise mit Verdoppelungsraten innerhalb einer Woche.

Während in den USA die finanziellen und systemischen Mittel für eine Eindämmung der Krise eigentlich vorhanden wären, sind die südlich davon gelegenen Länder offensichtlich weit mehr von den medizinischen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemiewelle bedroht. Auch wenn derzeit drei Viertel der (offiziell getesteten) Infizierten in den USA leben, ist die unmittelbare Herausforderung für die Gesundheitssysteme und Anti-Pandemiemaßnahmen in diesen Ländern um ein Vielfaches größer. Brasilien liegt mit heute 350.000 Infizierten derzeit hinter den USA an zweiter Stelle weltweit – relativ zur Bevölkerungszahl ist die Infektionsrate in Peru, Chile und Ecuador jedoch sogar viel größer. Schon jetzt arbeitet aber das brasilianische Gesundheitssystem am Limit: Mitte Mai waren die Intensivstationen in Sao Paulo bereits zu 91 % ausgelastet, in Fortaleza und Manaus sogar schon überlastet. Ähnliches gilt für die Hotspots in Peru und Mexiko. Sogar das sehr viel reichere Chile meldet inzwischen eine Gefahr der Überlast in den Ballungszentren.

Ungleiche Verteilung

Dazu kommt, dass die Betroffenheit vom Infektionsgeschehen sozial und ethnisch sehr unterschiedlich verteilt ist. In Lateinamerika arbeitet jede/r zweite Lohnabhängige in informellen Arbeitsverhältnissen – ein Lockdown bedeutet daher sofortige Arbeitslosigkeit ohne soziale Absicherung. Nachdem auch in den Amerikas viele Wirtschaftszweige seit Anfang April im Sparmodus laufen, ist der Zwang, jede nur mögliche Arbeit trotz Infektionsgefahr anzunehmen, inzwischen sehr groß. Selbst die in vielen Ländern beschlossenen Notunterstützungen führen zu Massenansammlungen an den Ausgabestellen. Dazu kommen Wohnsituationen, speziell im informellen Bereich, die jeden Appell zu „social distancing“ zur Farce werden lassen, ganz abgesehen von Fragen der sanitären und hygienischen Verhältnisse. In einem Massentest auf einem der großen Straßenmärkte von Lima wurden 80 % der HändlerInnen positiv getestet. Der unterschiedliche Zugang zu medizinischer Versorgung und solche Stichproben lassen vermuten, dass die tatsächliche Zahl der Infizierten (und wahrscheinlich auch der Opfer) um ein Vielfaches höher ist als die offiziellen Zahlen. Vielen Betroffenen bleibt angesichts der ökonomischen Situation auch nichts anderes übrig, als trotz aller Symptome weiterzuarbeiten und so für die ungebremste Weiterverbreitung von Corona zu sorgen.

Zusätzlich gibt es weitere besondere „Risikogruppen“. So etwa die 2.400 indigenen Bevölkerungsgruppen im Amazonasgebiet. Bereits heute gibt es hier offiziell über 20.000 getestete Covid-19-Fälle mit weitaus höherer Sterberate als in anderen Gebieten. Den Menschen fehlt die medizinische Basisversorgung. Außerdem ist die Immunität gegenüber bestimmten Krankheiten bei der indigenen Bevölkerung aufgrund der relativen Isolation von der „Zivilisation“ oft geringer ausgeprägt. Die PAHO befürchtet hier bei ausbleibenden Hilfsmaßnahmen ein Aussterben ganzer Ethnien. Die Passivität bestimmter Regierungen zu diesem Problem erinnert schon bedenklich an den Genozid, den die europäischen EinwanderInnen bei der präkolumbischen Bevölkerung Amerikas bewirkten.

Zur akuten Pandemiekrise kommt die berechtigte Sorge, dass die notwendigen medizinischen Mittel an der Region vorbeifließen. Dies betrifft nicht nur die Lieferung der dringend benötigten Beatmungsgeräte und Intensivbetten, die Mittel für medizinisches Fachpersonal und die benötigte Schutzkleidung. Es betrifft auch die Lieferungen der Pharmaindustrie. Während hierzulande einige sogar gegen noch nicht vorhandene Impfstoffe demonstrieren, herrscht im globalen Süden eher die Sorge vor, dass die Medikamente und Impfstoffe in erster Linie dorthin geliefert werden, wo auch das große Geld winkt. Mehrere lateinamerikanische Staaten und die PAHO haben daher die Schaffung eines Fonds verlangt, der den notwendigen medizinischen Bedarf für die Pandemiebekämpfung in der Region decken soll. Die 4 Milliarden US-Dollar, die der IWF bisher für Lateinamerika und die Karibik als Notfallhilfe bereitgestellt hat, sind offenbar nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Ökonomische Verwerfungen

Klar ist, dass sich so gut wie alle lateinamerikanischen Staaten bereits seit mehreren Jahren in einer wirtschaftlichen Krisensituation befinden – Argentinien steht sogar unmittelbar vor dem nächsten Staatsbankrott. Der Lockdown, der Einbruch des Welthandels und die jetzt folgende Rezession verschärfen die Probleme von Stagnation, Inflation und Staatsverschuldung nochmals. Seit der Abkühlung der globalen Wirtschaft, etwa seit 2016, fließt Kapital in großem Umfang aus der Region ab. Es fehlt schon jetzt an allen Ecken an Kapital für Investitionen und notwendige Infrastrukturmaßnahmen.

Mit Verschärfung der Verschuldungsprobleme etwa in Argentinien ist sogar mit einer Beschleunigung des Kapitalabflusses zu rechnen. Während es von EZB und den EU-Institutionen in Europa heißt, dass man „genug Mittel“ habe, um Billionen in „Wiederaufbauprogramme“ zu stecken (ohne zu sagen, wer das letztlich wirklich zu bezahlen hat), lebt man in Lateinamerika nicht in einer „Whatever it takes“-Region (frei nach Mario Draghi). Selbst wenn Rettungsmittel von IWF und Weltbank kommen würden, so sicher nicht ohne Auflagen und weitere Austeritätsprogramme. Ein weiteres Absinken der Ökonomien in Stagnation und Inflation, in eine schwere wirtschaftliche Depression gilt daher als sehr wahrscheinlich.

Düstere Aussichten

Angesichts dieser Aussichten für Pandemieentwicklung und Wirtschaftskrise ist die politische Situation in Lateinamerika nicht minder düster. Die Eskapaden des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro sind auch hierzulande hinlänglich bekannt. Nicht nur, dass er die Seuchenbekämpfungsmaßnahmen systematisch torpediert hat (inzwischen hat er bereits mehrere Gesundheitsminister verbraucht, die ihm nicht folgen wollten) und öffentlich die Corona-Risiken lächerlich macht. Er benutzt die Krise immer offener, um rassistische und rechts-reaktionäre Mobilisierungen voranzutreiben, in immer bedrohlicher Art gegen politische GegnerInnen vorzugehen und offenbar eine Politik der Inkaufnahme der Pandemie bei der ärmeren Bevölkerung durchzusetzen, insbesondere bei Schwarzen und Indigenen – Hauptsache, die weiße Elite behält ihre Privilegien und braucht sich keine Sorgen um „Freiheitsbeschränkungen“ zu machen.

Doch auch „linke“ PopulistInnen wie der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) spielen das Ausmaß der Pandemie-Krise herunter. AMLO erklärte kürzlich, dass das Virus „besiegt“ sei und die Wirtschaft (vor allem in den Produktionsketten für die USA) wieder voll anlaufen könnte. Dies, obwohl selbst die offensichtlich gefälscht niedrigen Zahlen der Regierungsbehörden klar einen weiteren Anstieg im Trend der Region zeigen. Venezuelas Gesundheitssystem war schon zuvor so gut wie zusammengebrochen und ist derzeit nicht in der Lage, der wachsenden Zahl an Infektionen Herr zu werden. Trotzdem wird munter weiter erklärt, man habe alles im Griff.

Dies kann tatsächlich nur von Kuba gesagt werden, wo das Gesundheitssystem trotz aller Sparmaßnahmen immer noch für lateinamerikanische Verhältnisse ausreichend funktioniert hat und die Seuchenschutzmaßnahmen konsequent durchgeführt wurden. Allerdings führt der wirtschaftliche Einbruch (auch durch den Stopp des Tourismus) zu einer bedrohlichen Versorgungslage. Der „Export“ von ÄrztInnen und die Ankurbelung der eigenen Pharmaindustrie sind daher keineswegs rein humanitäre Akte, sondern vor allem lebensnotwendige DevisenbringerInnen für die Finanzierung notwendiger Lebensmittelimporte.

Die zugespitzte politische Krise in Ecuador, Chile und Bolivien vor Corona ist zwar für den Moment etwas in den Hintergrund getreten. Allerdings wird die Verschärfung von Gesundheits- und Wirtschaftskrise die reaktionären Kräfte, die derzeit dort an der Macht sind, zu weitaus autoritäreren Maßnahmen schreiten lassen. Zugleich zeigt aber die Entwicklung z. Zt. in Chile, dass es auf dem Kontinent auch zu Hungerrevolten und zu Mobilisierungen der Massen kommen kann und wird, die eine klassenkämpferische, ja revolutionäre Antwort auf die Tagesordnung setzen können.

Alternative

Angesichts dieser politischen, ökonomischen und epidemiologischen Bedrohung, die hier auf die arbeitenden Massen in Lateinamerika zurollt, ist es mehr als notwendig, sich auch auf kontinentaler Ebene zu organisieren und den Widerstand gegen die nahende Katastrophe mit dem Kampf um eine sozialistische Alternative zu verbinden. Alle drei Bedrohungen sind offensichtlich nicht national begrenzt und lassen sich auch nicht im nationalen Maßstab bekämpfen. Bolivars Traum einer lateinamerikanischen Republik war schon zu seiner Zeit angesichts der Kräfteverhältnisse eine kühne Idee – heute lässt sie sich nur verwirklichen, wenn den arbeitenden Massen klar wird, dass nur die ArbeiterInnen im Bündnis mit allen unterdrückten Schichten der Bevölkerung in der Lage sind, eine wirkliche Alternative durchzusetzen – Vereinigte Sozialistische Staaten von Lateinamerika! Sozialismus oder Barbarei lautet die Alternative.

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