Arbeiter:innenmacht

Femizide – Frauenmorde international, Widerstand international

Jonathan Frühling, Revolution Deutschland, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Der Begriff des Femizids (engl. femicide) wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts benutzt in Abgrenzung zum englischen Begriff „homicide“ (Mord, Totschlag). Die feministische Soziologin Diana Russell definiert den Femizid als einen Mord an einer weiblichen Person durch einen Mann aufgrund der Tatsache, dass sie weiblich ist. Diese Definition schließt die Tötung von Kindern mit ein. Außerdem wird damit die geschlechterspezifische Motivation der Morde verdeutlicht, die Frauen durch Männer widerfährt. Der Femizid stellt noch vor der Vergewaltigung die höchste Manifestation der Unterdrückung der Frau dar.

2017 wurden laut UNO 87.000 Frauen Opfer von Mord, 50.000 wurden dabei durch eigene Familienmitglieder oder den Partner getötet, wobei 38 % dieser Morde auf den eigenen (Ex-)Partner entfallen.

Die meisten Femizide werden nicht bestraft, was an dem limitierten Zugang von Frauen zu Gerichtsbarkeit und der benachteiligten Stellung in polizeilicher Ermittlungsarbeit liegt. Allgemein ist die statistische Lage zu Femiziden allerdings sehr schlecht, da in Mordstatistiken meist nicht einmal das Geschlecht, geschweige denn der Tötungsgrund erfasst werden.

Gründe für Femizide

Der allgemeinste, auch in der bürgerlichen Gesellschaft anerkannte Grund für Femizide ist der Wille der Männer das Leben, den Körper und die Sexualität der Frauen zu kontrollieren. Versuchen sich Frauen, dem zu widersetzen, nehmen die Männer auch die Tötung der Frau in Kauf, um ihre Vormachtstellung zu erzwingen.

Die Morde an homosexuellen Frauen werden ebenfalls als Femizide bezeichnet. Eine weitere Form der Femizide sind die sogenannten Ehrenmorde. Dabei werden Frauen ermordet, weil sie z. B. vor der Ehe Sex hatten oder vergewaltigt wurden und somit aus der Sicht der Sexisten die „Ehre“ der Familie verletzt haben.

Femizide passieren aber auch, weil Frauen der Hexerei bezichtigt werden, was besonders im Südpazifikraum ein Problem darstellt. Vor allem in Südasien werden Frauen wiederum in Zusammenhang mit einer als zu gering angesehenen Mitgift getötet. Obwohl Mitgiften eigentlich allgemein z. B. in Indien verboten sind, ist es in vielen Ländern immer noch üblich, dass die Frau, um eine Ehe schließen zu können, teure Geschenke an die Familie des Mannes machen muss. Allein in Indien wurden zwischen 2007 und 2009 8.200 Mitgiftmorde registriert.

Zudem sterben Frauen an erzwungener Abtreibung, erzwungener Mutterschaft, Genitalverstümmelung oder Sexsklaverei. Diese Tötungen müssen laut Diana Russell ebenfalls als Femizide bezeichnet werden.

Ein dem Femizid ähnliches Phänomen ist die gezielte Abtreibung von Mädchen, welche vor allem in Südchina und Indien Anwendung findet. Es wird dabei weiblichen Menschen grundsätzlich das Recht auf Leben verwehrt. Da die pränatale Geschlechtsbestimmung für viele arme Familien nicht zugänglich ist, werden viele weibliche Säuglinge direkt nach der Geburt ermordet. In diesem Fall kann ganz klar von einem Femizid gesprochen werden.

Situation in Lateinamerika

Unter den 25 Ländern mit der höchsten Femizidrate befinden sich 14 lateinamerikanische. Jeden Tag werden dort 12 Frauen Opfer von Femiziden. Besonders schlimm ist die Lage in Mittelamerika. Die Folge davon war nach öffentlichem Druck die Einführung der rechtlichen Kategorie des Mordes mit geschlechterspezifischen Gründen.

Sieben Länder mit der höchsten Femizidrate befinden sich in Europa, drei in Asien und nur eins in Afrika. Das beweist, dass Frauenmorde auch in der sogenannten westlichen Welt ein weitverbreitetes Problem darstellen. In Europa wird jedes Jahr jede 250.000 Frau Opfer eines Femizids.

Situation in Deutschland und Österreich

Deutschland hat die Definition von Femiziden der WHO nicht übernommen und kennt den Femizid als Straftatbestand nicht. In Deutschland gab es von 2012–2017 laut polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) 849 Morde von Frauen in (Ex-)Partnerschaften und 1212 versuchte Tötungen. Die Statistiken über Gewalt gegen Frauen sind allerdings unzureichend. Ob es sich dabei wirklich um Femizide handelt, ist z. B. unbekannt, da die Tatmotive nicht erfasst werden. Deutschland hat bisher auch die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), die Staaten europaweit zum Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verpflichtet, nicht unterzeichnet, sondern 2017 lediglich ratifiziert. Diese Konvention forderte unter anderem, eine Kommission einzurichten, die Daten zur Gewalt gegen Frauen zu erfassen, zu bewerten und zu verbreiten.

Österreich hat europaweit die höchste Rate von Femiziden (41 in 2018). Ein Grund dafür könnte in der massiven Bagatellisierung der Gewalt gegen Frauen durch die Justiz liegen. Einschüchterung, Misshandlung, Bedrohung und sexuelle Gewalt gehen dem Femizid meistens voraus. Die Täter planen zumeist ihre Tat und sprechen Morddrohungen aus. Wird dies nicht ernst und werden die potentiellen Täter nicht in Untersuchungshaft genommen, sondern z. B. nach einer Trennung auf freien Fuß gesetzt, besteht für Frauen eine enorme Gefahr. Wie schlimm die Lage ist, zeigt sich auch daran, dass nur 10 % der gewalttätigen Männer nach der Anzeige durch eine Frau verurteilt werden.

Die Bewegung „Ni Una Menos“

Als Reaktion auf einen Femizid in Argentinien wurde 2015 das Kollektiv „Ni Una Menos“ (Nicht eine weniger), bestehend aus Journalistinnen, Künstlerinnen und Aktivist_Innen, gegründet. Unter dieser Parole sind am 3. Juni 2015 Hunderttausende gegen Femizide auf die Straße gegangen. Die Bewegung wurde in der Folgezeit in einer Vielzahl von Ländern adoptiert, vor allem in Lateinamerika (z. B. Chile, Peru, Mexiko), aber auch in Spanien oder Italien. Wie mächtig diese Bewegung ist, zeigt z. B., dass die „Ni Una Menos“-Demonstration in Peru am 13. August 2016 die größte in der Geschichte dieses Landes war. Am 19. Oktober 2016 gab es den ersten massenhaften Frauenstreik, der 8 Länder Lateinamerikas umfasste. Die Bewegung sprengt schaffte es also, nationale Grenzen zu sprengen.

Am 20. Dezember 2019 beteiligten sich in 200 Städten über die ganze Welt verteilt vor allem Frauen an Flashmobs und Demonstrationen gegen Frauenmorde und sogenannte „Rapeculture“.1 Besonders brisant ist dabei, dass die Proteste maßgeblich von Chile ausgehen, wo die Frauenkampfbewegung im Rahmen mächtiger Proteste gegen die neoliberale Regierung stattfindet. Es kann dort eindrucksvoll beobachtet werden, wie sich verschiedene Bewegungen z. B. gegen Sexismus, Umweltzerstörung und Neoliberalismus zu einer Bewegung für eine bessere Gesellschaft vereinen.

Perspektive im Kampf gegen Femizide

Wie die mächtigen Frauenkampfbewegungen in Spanien und Lateinamerika gezeigt haben, ist es möglich, Fortschritte zu erkämpfen. So hat z. B. Spanien 2010 damit begonnen, Statistiken zu Femiziden zu führen, was das Bewusstsein für das Problem gesteigert hat. In 16 lateinamerikanischen Ländern wurde der Femizid als Straftatbestand oder als strafverschärfendes Merkmal aufgenommen, was auch zu einer Erfassung der Aburteilungsquote führte.

Prävention und direkte Hilfe müssen natürlich massiv ausgebaut werden. Eine feministische Bewegung muss gegen den eklatanten Mangel an Frauenhausplätzen ankämpfen. In Deutschland müssten laut der Istanbuler-Konvention 21.400 Betten in Frauenhäusern verfügbar sein. Momentan gibt es nur 6.800, weswegen Frauen oft wieder zu ihren gewalttätigen Partnern geschickt werden. Auch eine ordentliche gesundheitliche und psychische Betreuung, Vermittlung in Jobs, ein höheres Arbeitslosengeld oder die konsequentere Eintreibung von Unterhaltszahlungen sind wichtige Forderungen. Sie können Frauen helfen und motivieren sich von einem gewalttätigen Partner zu trennen.

Dies kann natürlich im Kampf gegen Femizide nur der Anfang sein. Letztlich müssen vor allem die Macho-Kultur und das Patriarchat angegriffen werden, um der Unterdrückung der Frauen als Ganzes zu begegnen. Die „Ni Una Menos“-Bewegung in Lateinamerika oder der heroische Kampf der argentinischen Frauen für bessere Abtreibungsrechte können als glänzende Beispiele dienen. Diese Bewegungen müssen verstetigt und ausgeweitet werden, wenn sie dauerhaft eine Wirkung haben wollen. Entscheidend ist aber auch, dass sie sich mit den Bewegungen der landlosen Bauern und Bäuerinnen oder der Arbeiter_Innenklasse verbinden. Was wir brauchen, ist eine vereinte Bewegung gegen den Kapitalismus. Die bürgerliche Gesellschaft basiert nämlich auf der Familie und diese wiederum auf der Ausbeutung und Unterdrückung der Frau. Nur wenn der bürgerlichen Familie ihre kapitalistische Grundlage entzogen wird, kann eine Bewegung gegen Femizide erfolgreich sein.

Für Marxist_Innen stellen Femizide nur die Spitze des Eisbergs der Frauenunterdrückung dar. Der „Wille“ der Frauenmörder und –vergewaltiger basiert also auf den Jahrtausende alten gesellschaftlichen Mechanismen, die wir an anderer Stelle in dieser Zeitung charakterisiert haben. Nur der Umsturz der Klassengesellschaft und die Errichtung einer klassenlosen können den Rahmen für das Ausrotten dieser Umtriebe bilden.

Ein Programm dafür kann sich nicht auf bürgerliche Polizei, Justiz und Staat verlassen. Die Familie muss in einer höheren Form des sozialen reproduktiven Zusammenlebens aufgehoben werden. Deshalb fordern wir die Sozialisierung der Reproduktionssphäre, beginnend mit der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit. Dafür brauchen wir eine neue revolutionäre 5. ArbeiterInneninternationale und eine kommunistische als Bestandteil einer allgemeinen proletarischen Frauenbewegung. Die Bewegung in Lateinamerika wirft diese Frage auf, stellt ein ideales Terrain dar, auf dem dieses Programm fruchtbar werden kann. Eine reine Vernetzung, ein Zusammentreffen mit anderen sozialen Bewegungen löst sie aber nicht von allein, solange die Unterdrückten noch von einem nichtkommunistischen Bewusstsein geprägt bleiben.

In der Logik der Sozialisierung der Hausarbeit liegen Forderungen wie nach Unterhaltszahlungen durch den Staat statt durch die Expartner, die oft genug eine andere Familie unterhalten müssen, was für Lohnabhängige unmöglich macht, auch noch ihre ehemalige finanziell zu versorgen. Diese müssen mit einer Progressivsteuer auf Besitz, Vermögen und Erbschaften verknüpft werden, die die Reichen zur Kasse für die Finanzierung dieser gesellschaftlichen statt familiär-privaten Aufgabe – wie im Kapitalismus – bittet. Das Gleiche trifft auf Frauenhäuser zu. Diese sollten zudem unter Kontrolle der Nutzerinnen und der Arbeiter_Innenbewegung gestellt werden. Zum Schutz gegen gewalttätige Übergriffe muss letztere sich für staatlich finanzierte Selbstverteidigungskurse für Frauen einsetzen.

In diese Übergangslogik, die die Hand auf den Reichtum der Herrschenden legt und die Klasse zur Kontrolle des sozialen Geschehens und zur Selbstverteidigung auffordert, können solche Teilforderungen eingereiht zum Sprungbrett für den Kampf um Sozialismus und Arbeiter_Innenmacht geraten und kann damit der Anfang vom Ende des männlichen Chauvinismus eingeleitet werden.

Endnoten

(1) Mit dem Begriffe „Rapeculture“ wird kritisch darauf hingewiesen, dass Vergewaltigungen faktisch überall auf der Welt grausame Normalität sind (und fast immer straffrei bleiben).

Quellen

https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/040/1904059.pdf

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/100/1910062.pdf

http://www.oas.org/es/mesecvi/docs/DeclaracionFemicidio-EN.pdf

https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Women/WRGS/OnePagers/Gender_motivated_killings.pdf

https://www.tagesschau.de/inland/frauenhaeuser-103.html

https://www.aljazeera.com/news/2019/12/chile-rapist-path-chant-hits-200-cities-map-191220200017666.html

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