Arbeiter:innenmacht

Pakistan: PTI-Regierung kapituliert vor reaktionärem Druck

Markus Lehner, Infomail 1029, 10. November 2018

Ende Oktober kam Pakistan nach mehrtägigen Mobilisierungen, Demonstrationen und Straßenblockaden durch islamistische Kräfte unter der Führung von Tehreek-e-Labbaik Pakistan (Hier-bin-ich-Bewegung, TLP) fast zum Erliegen. Eine Entscheidung des Obersten pakistanischen Gerichtshofs hatte diese Erzreaktionäre in Rage gebracht.

Am 31. Oktober sprachen die RichterInnen Asia Bibi frei, eine christliche Frau, die im November 2010 wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt worden war. Nach Jahren der Gerichtsverfahren und Inhaftierung stellte der Gerichtshof fest, dass die Beweise für die Schwere der Anschuldigung nicht ausreichend seien, es gebe „keinen Beweis über begründeten Zweifel hinaus“ („no proof beyond a reasonable doubt“). Auch jetzt, nachdem sie freigesprochen wurde, bleibt sie in „Schutzhaft“, denn obwohl ihr Leben offensichtlich in Gefahr ist, will die Regierung ihr nicht erlauben, das Land zu verlassen.

Offensichtlich war Asia Bibi nie schuldig. Was der Fall unterstreicht, ist der reaktionäre Charakter der Gesetze wegen Gotteslästerung, der extremen IslamistInnen im Land sowie dessen patriarchalische Kultur. Asia Bibi ist eine fünffache Mutter, die zur christlichen Minderheit in der Provinz Punjab (Pandschab) gehört. Im Juni 2009 hatte sie einen Streit mit zwei muslimischen MitarbeiterInnen, als sie auf einem Feld arbeitete. Die beiden weigerten sich, Wasser mit ihr zu teilen, weil sie Christin war. Die MitarbeiterInnen beschuldigten sie später, den Propheten Mohammed in diesem Streit verflucht zu haben. Dies führte am Ende zum Todesurteil nach dem Gesetz gegen Gotteslästerung.

Der Fall wurde zu einem zentralen politischen Thema, da er immer wieder von islamistischen ExtremistInnen als Vorwand für Mobilisierungen benutzt wurde. Im Jahr 2011 wurde der ehemalige Gouverneur von Punjab, Salman Taseer, der sich für die Unterstützung von Asia Bibi aussprach, am helllichten Tag in Islamabad niedergeschossen. Der Mörder wurde als eine Art religiöser Held gefeiert und seine Verfolgung durch die Gerichte von heftigen Protesten begleitet.

Das gesamte Gerichtsverfahren gegen Bibi war voller Verstöße gegen gängige Rechtsstandards. Die Behandlung ihrer Rechtssache durch mehrere Gerichte beruhte nicht nur auf mangelnden und dünnen „Beweisen“, sondern wurde auch durch ständige Einschüchterung und Belästigung von RichterInnen und AnwältInnen, nachweisbare Einseitigkeit und Vorurteile von RichterInnen und Öffentlichkeit gegenüber den VerteidigerInnen sowie durch zahlreiche Verstöße gegen die Verfahrensregeln gekennzeichnet. Der Oberste Gerichtshof hat daher die Vollstreckung im Jahr 2015 gestoppt und eine Berufung gegen die Verurteilung zugelassen. Sein Urteil vom Oktober entsprach dem, was von einem Berufungsgericht unter solchen Umständen zu erwarten war: Er stellte fest, dass die Indizien für die Schwere der Anschuldigung nicht ausreichend waren, d. h. es gab „keinen Beweis über begründeten Zweifel hinaus“, und ordnete die sofortige Freilassung an, „wenn es keine anderen Anschuldigungen gibt“.

Reaktionärer Ausbruch

Die Entscheidung des Gerichts führte zu einer stürmischen Mobilisierung des Straßenterrors durch islamistische ExtremistInnen. Am 13. Oktober drohte Tehreek-e-Labbaik damit, „das Land innerhalb weniger Stunden zu lähmen, wenn der Oberste Gerichtshof Asia Bibi frei lässt“.

Die sofortige und heftige Reaktion der IslamistInnen traf die neue Regierung von Imran Khan hart und überraschend. Dies ist besonders ironisch, da Khan und seine Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) die nach den letzten islamistischen Mobilisierungen im November 2017 entstandene Unsicherheit kürzlich für ihren eigenen Vorteil im Machtspiel gegen die Pakistan Muslim League/Nawaz (PML-N) ausgenutzt hatten. Nun sieht sich die PML-N wiederum in einer Quasi-Allianz mit Teilen des islamistischen Spektrums gegenüber der neuen PTI-Regierung. Allein dies zeigt, wie die verschiedenen bürgerlichen Fraktionen bereit sind, die islamistische faschistische Karte zu spielen, solange sie denken, dass sie ihren kurzfristigen Interessen nützen könnte, während sie gleichzeitig die islamistischen Parteien auf lange Sicht offensichtlich stärken.

Nachdem die Nachricht von der möglichen Freilassung von Bibi veröffentlicht wurde, gingen Tausende auf die Straße und versuchten, Hauptstraßen und Eisenbahnen zu blockieren. Die Hassreden auf Social Media waren so zahlreich, dass z. B. Twitter mit der Abschaltung drohte. Die TLP drohte nicht nur, das Land zum Stillstand zu bringen, sondern forderte offen die Ermordung zumindest der wichtigsten RichterInnen des Obersten Gerichtshofs.

Darüber hinaus wurde offen gefordert, dass die „Kräfte in der Armee, die zum Islam stehen“, die Regierung stürzen und die Macht übernehmen sollten. Zu diesem Zeitpunkt schien es, als würde das Land auf eine entscheidende Konfrontation zusteuern.

Zunächst verteidigten die Regierung und die wichtigsten Oppositionsparteien, die PML-N und die Pakistanische Volkspartei (PPP) offiziell den Obersten Gerichtshof und verurteilten die Hassreden der IslamistInnen und die Gräueltaten während ihrer Proteste. Ein Teil der bürgerlichen Parteien schien ein Durchgreifen gegen die von der TLP geführte Bewegung zu befürworten. Während der großen Protestwelle, die am 30. Oktober begann, wurden mehrere führende Persönlichkeiten festgenommen und die Sicherheitskräfte begannen, die Demonstrationen anzugreifen.

Am 1. November wurde jedoch ein Abkommen zwischen der Regierung, vertreten durch den Minister für religiöse Angelegenheiten und den Innenminister von Punjab, und der TLP-Führung geschlossen, das die Proteste beendete. Die Regierung räumte ein, dass eine Berufung gegen die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs möglich sei und dass Asia Bibi auf die Ausreisekontrollliste gesetzt werde, damit sie daran gehindert wird, das Land verlassen zu können. Die Regierung stimmte auch zu, alle während der Ereignisse festgenommenen DemonstrantInnen freizulassen. Die TLP hingegen stimmte nur zu, die Proteste einzustellen und sich zu entschuldigen, „wenn sie das Gefühl verletzt oder jemanden ohne Grund belästigt (hätte)“ (!). Der Informationsminister erklärte auch, dass diese Vereinbarung nicht bedeute, dass es keine zivilrechtlichen Verfolgungen, zum Beispiel bei Körperverletzungen, geben werde. Es liegt auf der Hand, dass die TLP-Partei nicht nur jeder Verfolgung entkommen ist, sondern ihre Position in der gesamten Angelegenheit gestärkt hat.

Diese Entwicklungen zeigen die Stärke jener erzreaktionären islamistischen Kräfte, die sich zu einer Form des klerikalen Faschismus entwickeln und vereinen. Diese so genannten „VerteidigerInnen des Islam“ können sich jedoch auf stillschweigende Unterstützung aus Teilen der herrschenden Klasse und der staatlichen Institutionen verlassen. Trotz der offenen Forderung nach der Ermordung hoher StaatsvertreterInnen und sogar nach dem Sturz der Regierung wurden sie am Ende mit einem Abkommen mit der Regierung belohnt, das sie ohne jede Verfolgung belässt. Dies zeigt offensichtlich die Gefahr, dass eine weitere politische und wirtschaftliche Krise in Pakistan die herrschenden Klassen Pakistans dazu veranlassen könnte, diese islamistischen Kräfte für eine viel brutalere Form der „Lösung“ einzusetzen, wenn sie mit dem Widerstand der Bevölkerung und der ArbeiterInnenklasse gegen die vom IWF geforderten Kürzungen und Privatisierungen oder die Rückzahlung chinesischer Kredite konfrontiert sein werden.

Ohne direkt an die Macht zu kommen, können die reaktionären islamistischen Kräfte bereits genutzt werden, um die Rolle der Armee und der Sicherheitskräfte in der politischen Arena zu stärken und es ihnen zu ermöglichen, die Maßnahmen zu ergreifen, die sie gegen die echte Opposition, die ArbeiterInnenklasse, die unterdrückten Nationalitäten, religiöse Minderheiten und Frauen ergreifen wollen.

Es war nicht nur die Bedrohung durch islamistische Mobilisierungen, die die Regierung dazu veranlasste, so schnell ein Abkommen abzuschließen. Sie führt auch wichtige Verhandlungen im wirtschaftlichen Bereich. Vor kurzem besuchte Premierminister Imran Khan China, um neue Kredite zu erhalten. Einige Tage später schickte der Internationale Währungsfonds eine Delegation nach Pakistan, um über ein Darlehen von 12 Milliarden US-Dollar zu verhandeln, das größte in der Geschichte des Landes. In dieser Situation hätten weitere Tage der Proteste oder ein mögliches Niederschlagen der Bewegung mit einer weiteren Destabilisierung und Schwächung der Regierung einhergehen können.

Die Unterdrückten können sich nur auf sich selbst verlassen.

Deshalb hat die Regierung dem reaktionären Mob auf den Straßen Zugeständnisse eingeräumt, ja vor ihm kapituliert. Imran Khan und seine von der PTI geführte Regierung haben, wie der Rest der bürgerlichen „Opposition“, gezeigt, dass ihr Engagement für „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“ ein leeres Wort ist. Sie brauchen die Unterstützung der Staatsgewalt, um ihre Agenda, genauer jene des chinesischen und westlichen Kapitals sowie der pakistanischen KapitalistInnen und GroßgrundbesitzerInnen durchzusetzen. Sie wollen nicht mehr „Ärger“ an der Heimatfront, auch wenn das bedeutet, die Freiheit und das Leben einer unschuldigen Frau zu opfern.

Niemand, der die demokratischen Rechte verteidigen will, sollte diesen Heuchlerinnen eine Sekunde lang vertrauen. Und auch niemand sollte den für Asia Bibi vergossenen Tränen der westlichen imperialistischen Regierungen und bürgerlichen PolitikerInnen vertrauen. Sie mögen ihre „Sorge“ um deren Notlage zum Ausdruck bringen, aber sie sorgen sich mehr darum, mit ihren Investitionen in Pakistan und anderen Ländern, in denen den Unterdrückten sogar grundlegende demokratische Rechte verweigert werden, Mega-Profite zu erzielen.

Der „Fall“ Asia Bibi offenbart aber den reaktionären Charakter der IslamistInnen, der pakistanischen Regierung und auch der bürgerlichen Parteien. Er ist eine weitere Warnung vor allen Illusionen in diese Kräfte durch ArbeiterInnen, Frauen, nationale und religiöse Minderheiten.

Es zeigt, dass die ArbeiterInnenklasse, die Unterdrückten, die Armen die einzigen gesellschaftlichen Kräfte sind, die einen konsequenten Kampf für demokratische Rechte, für die Rechte aller Religionen und nationalen Minderheiten, für Frauen und für ArbeiterInnen führen können. Alle ArbeiterInnen-, StudentInnen-, demokratischen, Frauen- und fortschrittlichen Organisationen sollten die Kapitulation der Regierung, der bürgerlichen und staatlichen Kräfte gegenüber den reaktionären IslamistInnen und faschistischen Gruppierungen verurteilen. Sie sollten fordern, dass der Freispruch von Asia Bibi aufrechterhalten wird und sie das Land verlassen darf, wenn dies ihr Wunsch ist. Sie sollten die Abschaffung des Gesetzes gegen Gotteslästerung fordern. Wie der Oberste Gerichtshof zeigte, wurde das Gesetz willkürlich eingesetzt, um GegnerInnen, Frauen oder religiöse Minderheiten auf der Grundlage schwammigster Anschuldigungen zum Tode zu verurteilen.

Gleichzeitig müssen sie sich der zunehmenden staatlichen Repression widersetzen, die in den letzten Monaten gegen Social Media-AktivistInnen, demokratische Kräfte und nationale Minderheiten ausgeübt wurde. Sie müssen auch alle Behauptungen der Regierung zurückweisen, dass solche Maßnahmen nur für den Einsatz gegen die IslamistInnen bestimmt sind. In Wirklichkeit wäre dies nur ein Vorwand, um den staatlichen Kräften noch mehr Repressionsmacht zu verleihen.

All dies weist auf die Notwendigkeit hin, dass sich die ArbeiterInnenklasse, die Unterdrückten und die demokratischen Bewegungen organisieren müssen, um sich gegen zunehmende staatliche Unterdrückung und faschistische Gewalt zu verteidigen. Wir fordern die ArbeiterInnen, die Landarmut und unterdrückten Nationalitäten und ihre Organisationen auf, eine gemeinsame Front des Kampfes zur Verteidigung der demokratischen Rechte aufzubauen und den Kampf gegen die nächste Runde politischer und sozialer Angriffe zu organisieren. Ein solcher Kampf kann somit den Weg für einen gemeinsamen Widerstand gegen imperialistische Ausplünderung und kapitalistische Ausbeutung und für eine sozialistische Revolution in Pakistan ebnen.

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