Jaqueline Katharina Singh, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017
Das Ziel dieses Artikels ist es, einen Überblick über die bolschewistische Frauenarbeit im Jahre 1917 zu geben und Lehren daraus zu ziehen. In den meisten Berichten über die Revolution 1917 wird die herausragende Rolle der Frauen während der Februarrevolution hervorgeboben. Darüber hinaus wird oftmals wenig geschrieben. Doch welche Rolle spielten Frauen innerhalb der bolschewistischen Organisation? Welche Maßnahmen wurden unternommen, um die werktätigen Frauen zu organisieren?
Im folgenden Beitrag wollen wir einige Fragen behandeln. Wir beanspruchen, keine auch nur annähernd erschöpfenden Darstellung zu liefern, sondern präsentieren vielmehr eine erste Skizze, der weitere Forschungsarbeiten und programmatische Aussagen folgen sollen.
Leider erschwert die Knappheit der Quellen für den deutschsprachigen Raum ein umfassendes Bild. So sind weder die Werke von Inessa Armand und Nadeschda Krupskaja erhältlich, noch wurde von Kollontai viel übersetzt. Auch Originialtexte aus der Rabotniza („Die Arbeiterin“, Frauenzeitung der Bolschewiki) liegen leider nicht vor. Als Hauptquelle für diesen Artikel dient uns eine Arbeit, die nicht unerwähnt bleiben soll, das Buch „Kommunismus und Frauenbefreiung“, das 2006 von der Arbeitsgruppe Marxismus herausgegeben wurde (1).
Wie die Lage Russlands insgesamt, so ist auch die der Frauen im 18. und 19. Jahrhundert von der Rückständigkeit und verspäteten kapitalistischen Entwicklung geprägt. Das Leibeigenschaftsrecht – Kern feudaler Ausbeutung – erlebt seine „Blüte“ im 18. Jahrhundert und prägt die Lage der Massen der Bevölkerung bis weit in 19. Jahrhundert, wo es erst 1861 abgeschafft wird.
Die verspätete und auf wenige Zentren konzentrierte kapitalistische Entwicklung bedeutet, dass bis zur russischen Revolution die „Reste“ feudaler Abhängigkeitsverhältnisse am Land die Lage der Masse der Frauen bestimmen. 92 Prozent der Frauen waren Analphabetinnen. Ihr Alltag wurde von quasi-feudaler, patriarchaler Abhängigkeit bestimmt und ideologisch durch die orthodoxe Kirche befestigt. Die adeligen Frauen lebten in einem Zustand des Luxus, politischer Entmündigung und gelegentlicher Rebellion.
Mit der Entwicklung des Kapitalismus bildet sich auch eine Schicht bürgerlicher und kleinbürgerlicher Frauen, vor allem aber auch ein Proletariat, das ab Beginn des 20. Jahrhunderts fieberhaft wächst und in Großbetrieben konzentriert ist.
Die russische Sozialdemokratie betrachtet die Frage der Frauenunterdrückung in ihren Anfangsjahren allenfalls als Nebenthema, was sich auch darin ausdrückt, dass im Zuge der Russischen Revolution 1905 viele Fehler und vor allem „Unterlassungen“ begangen wurden. Einer von ihnen war das große Verfehlen, wie Lenin auch 1907 schrieb, dass man zwar für das Wahlrecht kämpfte, die Frauen allerdings außer Acht ließ. Während dieser Zeit verpassten die revolutionären Kräfte einen Einfluss auf einen Großteil der Bevölkerung – die Frauen.
Bürgerliche Hilfsvereine für Frauen wie der „Russische Verein für Wohltätigkeit“ konnten so die Nöte ihre aufgreifen und für ihre Zwecke politisch instrumentalisieren. Sie warfen die Frage des Frauenwahlrechtes auf und zogen so auch Sozialdemokratinnen an. Eine entschiedene Gegnerin einer solchen Annäherung war Alexandra Kollontai, die zu diesem Zeitpunkt den Menschewiki angehörte. Aufgrund ihrer aktiven Kritik und der Argumentation Lenins rückte die Notwendigkeit der Agitation unter Frauen jedoch auch vermehrt in den Fokus der Menschewiki und Bolschewiki. Eine tiefergehende Auseinandersetzung zu theoretischen Fragen sowie eine Auseinandersetzung mit männlichem Chauvinismus innerhalb der Organisation blieb jedoch aus.
Der Gesamtrussische Kongress der Frauen 1908 war ein wichtiger Schritt in der Geschichte der revolutionären Frauenarbeit. Im Vorfeld des Kongresses veröffentlichte Krupskaja ihr Werk „Frau und Arbeiterin“ und Kollontai „Die soziale Grundlage der Frauenfrage“. Auf dem Kongress selbst intervenierten sie und machten die inhaltliche Abgrenzung zur bürgerlichen Frauenbewegung deutlich.
Eine Schwäche darf jedoch bei diesen wichtigen Fortschritten nicht übersehen werden. Der Sozialdemokratie in Russland fehlte es wie auch in anderen Ländern an Taktiken gegenüber dem bürgerlichen Feminismus, sodass man viele Chancen verspielte. So weigerten sich beispielsweise in England und Deutschland die RevolutionärInnen, mit den bürgerlichen Kräften gemeinsam für demokratische Forderungen zu mobilisieren, aus Angst davor, jenen Zugeständnisse zu machen, während man durchaus bereit war, für andere demokratische Forderungen mit Bürgerlichen Aktionseinheiten zu bilden. Die Schwäche wird gerade in der Frage des Frauenwahlrechtes offensichtlich. Zwar trat die II. Internationale formal dafür ein, aber forciert wurde die Frage nicht, auch – wo wie in den Niederlanden, Österreich und England – diese im Zuge von Wahlrechtskampagnen aufgegriffen werden konnte, ja musste. Der fehlende demokratische Zentralismus erlaubte es den Sektionen, diese wichtigen Entscheidungen zurückzustellen.
In Russland gehörten die Arbeiten von Krupskaja und Kollontai von 1908 aufgrund des Rückgangs der progressiven Massenbewegung und der Zunahme der Repression seitens des Zaren zu den letzten öffentlich zugänglichen Arbeiten bis 1913, da die Verfolgung und die damit eintretende Illegalität und Emigration die politische Arbeit massiv einschränkten.
1913 konnte die Arbeit wieder beginnen. In diesem Jahr fand der erste internationale Frauenkampftag in Russland statt. Die Idee geht auf die Initiative von Clara Zetkin zurück, die sie auf der II. Internationalen Frauenkonferenz einbrachte. Das Datum des 8. März wurde gewählt, um an die streikenden Arbeiterinnen aus New York zu erinnern. Diese wurden am 9. März 1908 in einer Textilfabrik eingeschlossen, damit sie sich nicht an den damaligen Protesten beteiligen konnten. Aus ungeklärten Gründen brach ein Brand aus, bei dem mehrere Arbeiterinnen starben. Im Rahmen dessen erschien eine Sonderausgabe der Prawda. Ein Grund dafür war die Tatsache, dass die Reihe „Arbeit und Leben der arbeitenden Frau“, die Anfang 1913 als Kolumne in der Prawda eingeführt worden war, auf enormen Widerhall unter den Leserinnen gestoßen war. (2) Alexandra Kollontai schrieb den Hauptartikel für die Sonderausgabe der Prawda und skizzierte die Ziele der Frauenpolitik der Sozialdemokratie. So schrieb sie:
„Die Sozialdemokratie im Ausland fand nicht sofort eine korrekte Antwort. Die ArbeiterInnenorganisationen standen den Frauen offen, aber nur wenige traten bei. Warum? Weil die ArbeiterInnenklasse zu Beginn nicht realisierte, dass die Arbeiterin der rechtlich und sozial am stärksten ausgegrenzte Teil der Klasse ist, dass sie über Jahrhunderte eingeschüchtert, erniedrigt, verfolgt wurde und dass eine besondere Herangehensweise notwendig ist, um ihren Verstand und ihr Herz zu bewegen, Worte, die sie als Frau ansprechen. Die Arbeiter erkannten nicht sofort an, dass die Frau in dieser Welt der Entrechtung und Ausbeutung nicht nur als Verkäuferin ihres Arbeitsvermögens, sondern auch als Frau, als Mutter … unterdrückt ist. Sobald die sozialistische ArbeiterInnenpartei das jedoch verstanden hatte, nahm sie sich entschlossen der Verteidigung der Frauen als LohnarbeiterInnen und als Frauen, als Mütter an.
Die SozialistInnen aller Länder begannen einen besonderen Arbeitsschutz für Arbeiterinnen zu fordern, Versicherungen für den Schutz der Mütter und Kinder, politische Rechte für die Frauen und die Verteidigung der Rechte der Frauen.
Je klarer die ArbeiterInnenpartei diese zweite Aufgabe gegenüber den Arbeiterinnen wahrnahm, desto bereitwilliger traten Frauen der Partei bei, desto mehr erkannten sie an, dass die Partei ihr Vorkämpfer war, dass die ArbeiterInnenklasse auch für diese unmittelbaren und besonderen Bedürfnisse der Frauen kämpft. Organisiert und bewusst haben die proletarischen Frauen selbst viel getan, um diese Aufgabe voranzubringen. Die Hauptlast, Arbeiterinnen an die sozialistische Bewegung heranzuziehen, liegt heute bei den Frauen. Die Parteien aller Länder haben ihre eigenen besonderen Frauenkomitees, Sekretariate und Büros. Diese Frauenkomitees führen die Arbeit unter der zum großen Teil noch immer nicht politisch bewussten weiblichen Bevölkerung durch, heben das Bewusstein der Arbeiterinnen und organisieren sie. Sie untersuchen jene Fragen und Forderungen, die Frauen besonders stark betreffen: Schutz und Unterstützung für schwangere und stillende Mütter; gesetzliche Regulierungen zum Schutz arbeitender Frauen; Kampagnen gegen Prostitution und Kindersterblichkeit; die Forderung nach politischen Rechten für Frauen; Verbesserung des Wohnraums; Kampagnen gegen die Erhöhung der Lebenshaltungskosten etc.“ (3)
Diese Zeilen beschreiben ein löbliches Ziel und die Herausgabe einer eigenen Frauenzeitung stellt einen großen Schritt vorwärts dar. Aber insgesamt hatte die Frauenfrage innerhalb der Sozialdemokratie nicht annährend so viel Raum eingenommen, wie es nötig gewesen wäre. Zu dieser Zeit waren allenfalls 10 Prozent Bolschewiki Frauen. Auffällig war, dass im Gegensatz zu den männlichen Mitgliedern Frauen im Schnitt einen höheren Bildungsabschluss hatten, oftmals vorher in Wohltätigkeitsvereinen aktiv waren. All das deutet darauf hin, dass unter den proletarischen Mitgliedern der Partei der Frauenanteil geringer als im Durchschnitt war.
Engels‘ Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ sowie Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ waren zwar schon seit Jahren veröffentlicht, aber tiefergehende Debatten über die Familie und die Frauenunterdrückung waren ausgeblieben. Kollontais Artikel hatte allerdings Wirkung. Nach 1913 stieg die inhaltliche Auseinandersetzung mit Frauenthemen. So veröffentlichte Lenin 1914 eine Position zur Ehescheidung. Während es auf theoretischem und publizistischem Gebiet voranging, verhielt man sich zur Frage der separaten Frauenarbeit allerdings weiterhin sehr starr. In der Vergangenheit hatte Kollontai die Idee eines eigenen Frauenbüros eingebracht. Ermutigt von den deutschen Genossinnen Zetkin und Luxemburg wiederholte sie diese mehrmals, stieß aber immer auf eine Barriere.
Allerdings legte die Sonderausgabe der Prawda den Grundstein für die Entstehung einer regelmäßigen Frauenzeitung der Bolschewiki, die Rabotniza und sorgte innerhalb der Partei für eine breitere Akzeptanz der Frauenarbeit. Die Rabotniza erschien ein Jahr später, zum Frauenkampftag 1914, das erste Mal in einer Auflage von 12.000 Stück. Zum Redaktionskollektiv gehörten Anna Jelisarowa-Uljanowa, P. Kudelli, Konkordia Samoilowa und L. Menschinskaja, aus dem Exil waren Ljudmila Stal, Inessa Armand, Sina Sinowjewa und Nadeschda Krupskaja in ihm vertreten. Insgesamt erschienen die Zeitung 1914 siebenmal, musste aber mit Beginn des Weltkrieges eingestellt werden. Ab Mai 1917 erschien sie bis Januar 1918 wieder, oftmals im Wochentakt. Während ihres Erscheinens durchlebte sie eine inhaltliche Entwicklung. (4)
1914 waren die Hauptthemen Überblicke über die aktuellen Streiks und andere Arbeitskämpfe. Zudem gab es Reportagen über die Arbeitsbedingungen in verschiedenen Fabriken und Berichte über die Situation von Frauen in anderen Ländern. Im Zuge der Revolution 1917 wurde die Rabotniza fordernder und veröffentlichte Berichte über sexuellen Missbrauch an Arbeitsplätzen, die Unterrepäsentation in den Gewerkschaften und Anklagen gegen das Fehlverhalten ihrer männlichen Genossen. (5) Zudem wurden die Frage der Notwendigkeit des 8-Stundentages, die Wahlen zu den Distrikt-Dumas und die Kinderarbeit aufgegriffen.
Die Mobilisierung von Soldaten und die Produktion für die imperialistischen Kriegsanstrengungen führten zu einer gewaltigen Verschlechterung in den Städten und Dörfern Russlands. Zwischen 1914 und 1917 stieg die Zahl der in den Fabriken beschäftigten Frauen aufgrund des Einrückens der Männer an die Front weiterhin an: im gesamten Land kletterte der Beschäftigtenanteil arbeitender Frauen von 26,6 % auf 43,2 %. In Petrograd selbst verdoppelte sich die Zahl der in Fabriken beschäftigten Lohnarbeiterinnen während des Krieges von 68.000 auf 129.000. Zwischen 1913 und 1917 stieg die Zahl der Metallarbeiterinnen in Petrograd von 3,2 auf 20,3 %. In der Lebensmittelherrstellung verdoppelte sie sich und in der Holz- und Papierindustrie versiebenfachte sie sich. (6) Insgesamt wurden in Petrograd 40 % der ArbeiterInnenschaft ausgetauscht.
Zu Anfang des Krieges wurden Streiks bestraft und die ArbeiterInnenbewegung Russlands war starker Repression seitens des Zaren ausgesetzt. Doch Lebensmittelunruhen, getragen von Frauen und Jugendlichen, traten ab 1915 verstärkt auf und ebneten den Weg zu Streiks. (7) Schließlich verschlechterten sich die Lebensbedingungen immens. In seinem Werk „Geschichte der Russischen Revolution“ schreibt Trotzki, dass sich im Jahr 1915 156.000 ArbeiterInnen an politischen Streiks beteiligten, 1916 310.000 und allein in der ersten beiden Monaten 1917 575.000, wovon ein Großteil auf Petrograd konzentriert war. Der Anstieg der politischen Streiks hing damit zusammen, dass gegen Ende 1916 die Preise sprunghaft anstiegen, während zeitgleich der Warenmangel erorm zunahm. Dies sorgte dafür, dass die Agitation der Bolschewiki auf fruchtbaren Boden fiel und die Passivität der ersten Kriegsjahre aufzubrechen begann.
So kam es dazu, dass am internationalen Frauenkampftag 1917, dem 23. Februar/8. März, 90.000 Menschen in St. Petersburg auf die Straße gingen, um gegen den anhaltenden imperialistischen Krieg und seine üblen Folgen für die Bevölkerung zu demonstrieren. In Scharen forderten sie „Brot, Land, Frieden“ und „Gebt uns unsere Männer zurück“. Dies passierte, obwohl alle sozialistischen Organisationen argumentierten, dass die Klasse aufgrund der unzureichenden Vorbereitung oder mangels Kontakt mit den Soldaten nicht zum Massenstreik bereit sei. Kajurow, ein örtlicher bolschewistischer Führer, traf Vertreterinnen der Arbeiterinnen am Vorabend des Frauentages und forderte sie auf, „ausschließlich gemäß der Anweisung des Parteikomitees zu handeln.“
Trotz dieser Aufforderung trafen sich Frauen aus dem Wyborger Bezirk und hielten am Morgen einige illegale Treffen in den dortigen Textilfabriken im zum Thema „Krieg, hohe Preise und die Situation der Arbeiterin“ ab. Doch dabei wurde es nicht belassen. Die Arbeiterinnen beschlossen zu streiken, gingen zu Tausenden auf die Straße, marschierten zu nahe gelegenen Fabriken und riefen Männer und Frauen auf, mit ihnen mitzukommen. Diese „fliegende“ Streikpostenkette war äußerst effektiv – ab 10 Uhr waren 27.000 ArbeiterInnen im Streik. Ab Mittag waren es schon 21 Fabriken mit 50.000 Streikenden! (8) Diese Welle breitete sich aus und innerhalb weniger Tage wuchs die Masse an Protestierenden auf rund 240.000 an, die Februarrevolution war ausgebrochen.
Ein zentraler Text der Rabotniza war „Unsere Aufgaben“. Dieser wurde von Kollontai verfasst und im Mai 1917, also mit der Wiederaufnahme der Zeitung, als Leitartikel veröffentlicht. Ebenso wie der Text „Was zu nehmen?“ stellt er die Agitation gegen Krieg, seinen Einfluss auf die Situation der Frauen und die daraus entstehende Notwendigkeit einer Revolution als Hauptinhalte der bolschewistischen Frauenarbeit dar.
„Und das bedeutet: Erstens, dass wir nicht nur für uns verstehen, dass dieser Krieg nicht unserer Krieg ist, dass er für die finanziellen Interessen der reichen Bosse, Bankiers und Industriellen geführt wurde, sondern dies auch ständig unseren arbeitenden GenossInnen, Männern wie Frauen, erklären. Zweitens bedeutet es, die Kraft der arbeitenden Männer und Frauen hinter der Partei zu vereinigen, die nicht nur für die Interessen des russischen Proletariats kämpft, sondern auch dafür, dass kein proletarisches Blut für den Ruhm der KapitalistInnen vergossen wird. Genossinnen Arbeiterinnen! Wir können uns nicht länger mit Krieg und steigenden Preisen abfinden! Wir müssen kämpfen. Reiht Euch in die Reihen der Sozialdemokratischen ArbeiterInnenpartei ein! Aber es ist nicht genug, nur der Partei beizutreten. Wenn wir wirklich rasch Frieden wollen, müssen die arbeitenden Männer und Frauen dafür kämpfen, dass die Staatsmacht von Großkapitalisten – derer, die wirklich verantwortlich sind für alle unser Leid, für all das Blut, das auf den Schlachtfeldern vergossen wird – in die Hände unserer VertreterInnen übergeht, den Sowjet der ArbeiterInnen- und Soldatendeputierten. Im Kampf gegen Krieg und Preiserhöhungen, im Kampf um die Macht der Besitzlosen, der arbeitenden Menschen in Russland, im Kampf für eine neue Ordnung und neue Gesetze, hängt viel von uns, den Arbeiterinnen, ab. Die Tage sind vorbei, als der Erfolg der ArbeiterInnensache nur von den Organisationen der Männer abhing. Jetzt, als Folge des Krieges fand eine scharfe Wendung hinsichtlich der Stellung der proletarischen Frauen statt. Arbeitende Frauen sind jetzt überall zu finden. Der Krieg hat Frauen dazu gezwungen, Arbeit anzunehmen, an die sie vorher nie gedacht hatten. Während 1912 auf 100 Arbeiter in den Fabriken nur 45 Arbeiterinnen kamen, sind es heute nicht selten 100 Frauen bei 75 Männern. Der Erfolg der proletarischen Sache, der Erfolg im ArbeiterInnenkampf um ein besseres Leben – für die Verkürzung des Arbeitstages, höhere Löhne, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, Renten, etc. -, der Erfolg in ihrem Kampf, um die Zukunft der Kinder, für den Zugang zu besseren Schulen hängt heute nicht mehr nur am Bewusstsein und der Organisiertheit der Männer, sondern auch am Eintritt der arbeitenden Frauen in die Reihen der organisierten ArbeiterInnenklasse. Je mehr von uns sich den organisierten KämpferInnen für die Sache und Bedürfnisse der ArbeiterInnenklasse anschließen, desto schneller werden wir den kapitalistischen Ausbeutern Zugeständnisse abringen.“ (9)
Und kurz vor der Oktoberrevolution:
„Hunger, hohe Lebenshaltungskosten, der Angriff der gegnerischen Armee – all diese Katastrophen hängen über unseren Kämpfen wie düstere Wolken. Jede weitere Stunde dieses Zustandes vergrößert nur unser Leiden. Das Herz der Mutter blutet angesichts des Elends der proletarischen Kinder. Die Frauen weinen, wenn die Matrosen, ihre Ehemänner auf den Wellen des kalten Ozeans kämpfen sollen. Es gibt eine Rettung! Anstelle der Regierung, die durch ihre verbrecherische Politik die Hauptstadt des revolutionären Russland in Gefahr gebracht hat, ist es notwendig, die Macht jener zu errichten, die ein Interesse haben, dass der Krieg so rasch wie möglich beendet wird, die Land brauchen, die Kontrolle über die Produktion fordern; mit anderen Worten: die Arbeiter, Bauern, Arbeiterinnen und Bäuerinnen müssen selbst für die Verteidigung ihrer Rechte einstehen, müssen die HerrInnen des republikanischen Russlands werden.“ (10)
Aber nicht nur das: Die Redaktion der Zeitung diente auch zur Organisation zur praktischen Agitation unter Frauen und ersetzte in vielen Punkten das von der Partei abgelehnte Frauenbüro. So gab es wöchentliche Redaktionstreffen, bei denen Vertreterinnen der größten Fabriken anwesend waren, sich austauschten und Bericht erstatteten. Zudem verfasste die Redaktion mehrfach Flugblätter und organisierte Demonstrationen und Kundgebungen. Beispielsweise fand am 11. Juni eine Kundgebung mit 10.000 TeilnehmerInnen gegen den Krieg statt.
Darüber hinaus wurden auch Arbeitskämpfe organisiert. So wurde der erste größere Streik gegen die Provisorische Regierung im Mai von mehreren Tausend Wäscherei-Arbeiterinnen getragen, die für den Acht-Stundentag, einen existenzsicherenden Lohn und die Vergemeindung der Wäschereien streikten. Dieser Arbeitskampf dauerte sechs Wochen, wurde mit angeführt von Kollontai und war einer der ersten innerhalb einer größeren Streikwelle.
Nach der Machtergreifung der Bolschewiki sind eine Reihe von Errungenschaften für die arbeitenden Frauen eingeführt worden, die es zu dieser Zeit in keinem anderen Land auch nur ansatzweise gab. Während das Wahlrecht in den Sowjets schon seit 1917 Frauen zugestanden worden war, wurde es bereits im Oktober 1917 formalisiert. Gerade im Bereich des Schutzes von Schwangeren und Müttern sowie der Eheschließung sind wichtige, elementare Verbesserungen beschlossen worden. Im Rahmen des Volkskommissariats für Fürsorge wurde unter Kollontai beispielsweise versucht, die Geburtshilfe für alle zugänglich zu machen, diese zu zentralisieren. Zudem wurde per Dekret die Zivilehe legalisiert und der kirchlichen Ehe entgegengesetzt. Fortan war die Ehescheidung möglich, auch wenn nur ein/e PartnerIn das wollte. Daneben wurde der Unterschied zwischen nicht-ehelichen und ehelichen Kindern beseitigt. Durch das vereinfachte Scheidungsrecht wurden Frauen außerdem als StaatsbürgerInnen mit gleichen Rechten anerkannt. (11) Darüber hinaus wurde ein essentieller Schritt getan, Frauen weiterhin in die Produktion mit einzubeziehen.
Dennoch ist die Frauenpolitik der Bolschewiki insgesamt auch kritisch zu betrachten. Ohne Frage hat die Machtergreifung wichtige Errungenschaften und Verbesserungen für die Arbeiterinnen gebracht und durch die Streiks oder Aktivität innerhalb der Partei sind viele Frauen aus den Ketten des traditionellen Lebens gerissen worden. Dennoch muss klar aufgezeigt werden, dass die Frauenarbeit der Bolschewiki eine Entwicklung durchmachte, die nicht immer geplant und theoretisch gefestigt war. Bis 1913 nur marginal existent, entwickelte sie sich nach und nach dank der Redaktion der Rabotniza, die das fehlende Frauenbüro bzw. Kommission ausglich und auch praktische Aktivitäten entfaltete. Die Partei verwahrte sich, ähnlich wie die Menschewiki, zwischen 1905-1913 gegen eine gezielte Agitation unter Frauen aus Angst, dem bürgerlichen Feminismus Zugeständnisse zu machen. Diese Einstellung war auch später noch verbreitet, obwohl führende Genossinnen wie Kollontai oder Samoilowa immer wieder die inhaltliche Differenzierung in die Partei sowie in die Massen trugen. Dies zeugt zum einen von einem mangelnden Verständnis der Wichtigkeit der Frauenfrage, zum anderen aber auch von einem mangelnden Repertoire an Taktiken gegenüber dem (klein-)bürgerlichen Feminismus.
Die Änderung der Linie nach 1913 ist durchaus positiv zu bewerten, dennoch bleibt der Eindruck bestehen, dass unter vielen Männern in der Partei stillschweigend die Position vertreten wurde, dass sich die „Frauenfrage” nach der Revolution schon lösen würde. Diese oberflächliche Auffassung lässt sich nicht aus der Programmatik des Bolschewismus und seinem Revolutionsverständnis herleiten, die eigentlich immer wieder auf die Notwendigkeit der Verbindung der sozialistischen Umwälzung mit dem Kampf gegen andere Formen der sozialen und politischen Unterdrückung bestanden (siehe z. B. nationale Frage).
Der Niedergang in der Frauenpolitik muss daher – neben zweifellos vorhandenen theoretischen und programmatischen Schwächen – auch im Kontext der gesellschaftlichen Rückständigkeit, die mit der Revoulution natürlich nicht abgeschafft war, des Ausbleibens der internationalen Revolution, des Bürgerkriegs, der überwiegend bäuerlichen Bevölkerung und des allgemeinen Mangels betrachtet werden.
Auf diesem Boden machten sich aber auch wirkliche Schwächen deutlich. Insbesondere nach der Wende zur Neuen Ökonomischen Politik 1921 wurden auch viele Errungschaften der Revolution angegriffen. So wurde die Einbeziehung der Frauen in den Produktionsprozess nach Ende des Bürgerkrieges nicht weiter verfolgt und forciert. So entfalteten die Demobilisierung der Armee, gesellschaftlicher Mangel, die fortbestehende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Tradition eine Wirkung, die zur Verdrängung aus dem Produktionsprozess führte. Diese hätte nur durch ein bewusstes und entschiedenes Gegensteuern verhindert werden können.
Eine weitere Errungenschaft, die eingeschränkt wurde, war das Recht auf Abtreibung. Anfangs kostenlos und ohne Beratung machbar, wurde es bereits 1924 wieder eingeschränkt. Später unterm Stalinismus ist das Frauenbild nicht weit vom bürgerlichen entfernt, und eine Befreiung der Frau war in weite Ferne gerückt. Vor allem aber wird aus einem beginnenden Kampf für die Befreiung der Frau mit dem Stalinismus eine Gesellschaftsordung etabliert, die mit einer systematischen Unterdrückung der Frauen und der Reproduktion dieses Verhältnisses verbunden ist.
Rückschritte und Degeneration sowie deren materielle Ursachen dürfen uns jedoch nicht dazu führen, die Augen vor einer kritischen Aufarbeitung auch des Bolschewismus zu verschließen. Richtige Schritte in Richtung Frauenbefreiung wurden theoretisch unzureichend oder gar nicht unterfüttert. In Fragen der Sexualmoral, des sexuellen Selbstbestimmungsrechtes, der Verhütung, der Rolle der Familie z. B. zeigten sich neben Ignoranz in der Diskussion der frühen Sowjetunion auch höchst problematische, ja rückschrittliche Vorstellungen. All das begünstigte schließlich auch eine „Depriorisierung” der „Frauenfrage”.
Die Frauenunterdrückung ist ein seit Jahrtausenden bestehendes Problem, welches nach der Machtergreifung des Proletariats nicht einfach so beseitigt ist. Natürlich kann nur die Übernahme der Produktionsmittel in die Hände des ArbeiterInnenstaats die Grundlage für eine Frauenbefreiung abgeben. Aber gerade wegen der tiefen Wurzeln dieser Unterdrückung sind Revolutionäre und Revolutionärinnen heute dazu verpflichtet, aktiv gegen diese anzugehen und auch nach der Revolution einen langen Atem zu haben, einen hartnäckigen Kampf um Kultur, Bewusstsein, Verhalten und Sitten zu führen.
(1) Scharinger, Manfred: „Kommunismus und Frauenbefreiung“, in: Arbeitsgruppe Marxismus (AGM) [Hrg.]: Marxismus 28, Wien, 2006
(2) www.marxists.org/history/etol/newspape/w&r/WR_010_1976.pdf , S. 10
(3) www.marxists.org/archive/kollontai/1913/womens-day.htm
(4) Scharinger, Manfred: „Kommunismus und Frauenbefreiung“, a. a. O., S. 74
(5) Evans Clements, Barbara: „Bolshevik Women“, Cambridge [Cambridge University Press], 1997, S. 133
(6) www.marxists.org/history/etol/newspape/w&r/WR_010_1976.pdf
(7) www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-kap03.htm
(8) www.arbeitermacht.de/rm/rm38/oktoberfrauen.htm
(9) www.marxists.org/archive/kollontai/1917/tasks.htm
(10) What to Take?, Rabotniza, 18th October/1st November 1917, www.marxists.org/history/etol/newspape/w&r/WR_004_1973.pdf S.5
(11) Scharinger, Manfred: „Kommunismus und Frauenbefreiung“, a. a. O., S. 86-89