Frederik Haber, Infomail 951, 30. Juni 2017
Jahrelang war er kaum noch der Rede wert. Jetzt ist er tot und alle überschlagen sich in Ehrerbietung. Merkel, die ihn einst aus der Partei hinauskomplimentiert hatte, nennt ihn „einen Glücksfall für uns Deutsche“, Gabriel hält ihn für einen „großen Deutschen“ und „großen Europäer“.
Die CSU twittert „Helmut Kohl war ein großer Staatsmann, seine Verdienste um unser Land sind unschätzbar“. Der größte Vorsitzende diese Partei, Franz-Josef Strauss, hatte ihn 1976 noch als „total unfähig“ bezeichnet. International erhält er posthum Beifall und Respekt von Bush und Juncker, von Gorbatschow und Putin.
Das erstaunt. Nach seinem Abgang 1998 war er erledigt gewesen. Wurde ein alter Staatsmann für eine Talkrunde gesucht, traten Genscher oder Schmidt auf. In der CDU war er zur Unperson geworden.
In seiner aktiven Zeit galt Kohl vielleicht nicht als total unfähig, aber immer als dumm und tollpatschig. Er schien sowohl anderen Akteuren im Inneren, ob Strauss (CSU), Schmidt und Brandt (SPD), Genscher und Lambsdorff (FDP) oder auch den damaligen FührerInnen der Grünen oder einem Gysi geistig weit unterlegen, als auch seinen internationalen Gegenübern wie Thatcher, Mitterand oder Gorbatschow.
In der Schule schaffte er das Abi erst mit 20. Seine Doktorarbeit in Geschichte muss so erbärmlich und peinlich gewesen sein, dass sie nach den ersten Berichten darüber in den Medien aus der Uni-Bibliothek Heidelberg für die Öffentlichkeit entfernt wurde.
Die Rolle eines Individuums in der Weltgeschichte wird von zwei Seiten bestimmt: von den subjektiven Fähigkeiten der Person und zweitens von den Umständen, in denen sie wirken. Letztere sind am Ende entscheidend. Trotzki stellt dies wunderbar in der Geschichte der Februarrevolution 1917 dar:
„Auch der selbstherrlichste aller Despoten ähnelt recht wenig einer „freien“ Individualität, die willkürlich den Ereignissen ihren Stempel aufdrückt. Er ist stets nur der gekrönte Agent der privilegierten Klassen, die die Gesellschaft nach ihrem Bilde formen. Haben diese Klassen ihre Mission nicht erschöpft, dann steht auch die Monarchie fest und ist selbstsicher. Dann verfügt sie über einen zuverlässigen Machtapparat und über eine unbeschränkte Auswahl an Exekutoren, weil die fähigsten Menschen noch nicht in das Lager des Feindes übergegangen sind. Dann kann der Monarch persönlich oder vermittels seiner Günstlinge zum Träger großer und fortschrittlicher historischer Aufgaben werden.“ (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-kap06.htm)
Da es Trotzkis Absicht ist, zu erklären, warum der Zarismus auch mit einem anderen Herrscherpaar untergegangen wäre, ist für ihn dies nur der Auftakt, um damit fortzufahren, was passiert, „wenn die Sonne der alten Gesellschaft sich endgültig dem Untergange zuneigt“.
Was für MonarchInnen gilt, gilt auch für das Führungspersonal von anderen Ausbeutungs- und Unterdrückungsgesellschaften. Kohl war Kanzler in einer Zeit, in der für den deutschen Imperialismus der Sonne ein gutes Stück näher rückte und diese stärker für ihn zu leuchten begann. Das war nicht Kohls Verdienst. Aber in dieser Zeit der Veränderung konnte Kohl mit seinen Fähigkeiten punkten. Für sich und für den deutschen Imperialismus. Dass nach seiner tiefen Überzeugung alles, was gut für „Deutschland“, also eigentlich seine herrschende Klasse, auch gut für ihn war – und umgekehrt – hat ihm dabei nur geholfen. Was andere in frecher Demagogie behaupten, war bei ihm echter Glaube.
Beispielhaft zeigte dies der Zwischenfall von Halle 1991: Aus Enttäuschung über die sich bereits abzeichnende soziale Katastrophe im Osten und die falschen Versprechungen flogen Eier und Tomaten auf den Kanzler. Ein anderer hätte versucht das zu ignorieren oder seine Schläger geschickt. Nicht so Kohl. Er wollte selbst den WerferInnen für diese Ungehörigkeit eine verpassen und dafür gar die Sperrgitter durchbrechen. Die edle Einfalt dieses Mannes war nicht gespielt.
Oft wurde ihm der Vorwurf gemacht, Probleme „auszusitzen“. Man kann es auch Beharrlichkeit nennen. Nachdem er bei seinem ersten Versuch CDU-Chef zu werden, noch haushoch gegen Rainer Barzel verloren hatte, wartete er ab, bis dieser mit seinem Misstrauensvotum gegen Willy Brandt – trotz genügend gekaufter Überläufer – gescheitert war.
Bei seiner ersten Kandidatur 1976 reichte es nicht zum Kanzler, er musste warten bis Strauss 1980 die nächste Wahl verloren hatte, um dann 1982 mit dem Parlamentsputsch an den ersehnten Platz zu kommen.
Er saß auch die größten Massenbewegungen der Nachkriegsgeschichte aus, gegen die Atompolitik, gegen die NATO-Hochrüstung, die Streiks der MetallerInnen für die 35-Stundenwoche oder gegen seinen Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. „Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter“ meinte er einst. Diese stiernackige Beharrlichkeit wirkte in seinem Verhalten gegenüber den Massen besonders stumpfsinnig. Ihm war es nicht gegeben, sich an die Spitze von Bewegungen zu stellen, die Massen zu begeistern und damit zu kontrollieren. Das einzige Mal, dass er wirklich zum Helden der Massen wurde, war nachdem die halbe politische Revolution in der DDR gescheitert war und in die volle Konterrevolution umschlug. Als die Hoffnung auf eine bessere DDR umschlug in die pure Unterwerfung unter das Diktat der (west)-deutschen Bourgeoisie.
Wie so oft war auch der Jubel, den er da empfing, weniger Kohls Verdienst, sondern mehr das Versagen der Linken und die Verweigerung der SPD wie der Gewerkschaften für eine Alternative zu kämpfen. Lafontaines Kritik an der Einheit verhalf Kohl zum Sieg in den ersten gesamtdeutschen Wahlen, Scharpings Verweigerung jeglicher Offensive gegen Kohl bescherte diesem 1994 den letzten Wahlsieg, den DemoskopInnen ein halbes Jahr vor der Wahl für ausgeschlossen gehalten hatten.
Seine zweite Stärke war das, was man heute Vernetzung nennt. Damals sprach man sogar vom „System Kohl“. Ein Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten basierend auf Gefälligkeiten und Schuldigkeit. Begonnen hatte er damit als Referent für den Landesverband Rheinland-Pfalz der Chemischen Industrie. In dieser Position, seiner einzigen „Arbeit“ außerhalb der Partei und des Parlaments übrigens, setzte er sich für die Belange va des Branchenriesen BASF aus seiner Heimatstadt Ludwigshafen ein, der damals noch recht ungehindert den Rhein und Luft vergiftete, ja auch Massenerkrankungen von ArbeiterInnen waren damals gang und gäbe.
Diese Netzwerke – keine politischen Fraktionen, sondern ausgedehnte Klüngel, wurden von Anfang an mit Unternehmer“-Spenden“ geschmiert, die großen Korruptionsskandale Kohl, die Flickaffäre 1992 und der CDU-Parteispendenskandal, der das Ende seiner Amtszeit die seine Erbärmlichkeit – verbunden mit einer desaströsen Niederlage gegen die Schröder-SPD – waren nur die Spitzen des Eisbergs. Mit diesem System hielt sich seine Mehrheiten in der Partei und im Staatsapparat und konnte alle KonkurrentInnen erledigen.
Kohl Stärken war die des Partei-Apparatschiks: Kein Draht zu den Massen, aber Klasse im Strippenziehen. Peinlich im öffentlichen Auftreten, aber perfekt hinter den Kulissen. Politik nur als Formeln. Was waren das also für Zeiten, in denen ein mittelmäßiger Bürokrat zu historischer Bedeutung aufsteigen konnte?
Nach dem verlorenen Weltkrieg musste sich die deutsche Bourgeoisie erstmal wieder hinten anstellen. Ihre erste Aufgabe war, die ArbeiterInnenklasse in Schranken zu weisen und den Versuch einer politischen Revolution der ArbeiterInnenklasse zu verhindern. Mit Hilfe der SPD und des Stalinismus gelang dies. Dann musste die Basis für einen wirtschaftlichen Wideraufstieg gesichert werden. Gegen den Willen der französischen und britischen Bourgeoisie, die Deutschland gerne für immer zu einem Agrarland gemacht hätten, brachte der Deal mit den USA den Marschallplan zum wirtschaftlichen Neubeginn, später Wiederbewaffnung und im Gegenzug die absolute Treue zum „atlantischen Partner“. Auch den Grundstein für eine europäische Einigung wurde in 50ern unter Kanzler Adenauer gelegt.
Die SPD-Kanzler Brandt und Schmidt übernahmen es die aufbegehrende Jugend der 68 und die erstarkende ArbeiterInnenklasse erneut in das System zu integrieren sowie mit der Ostpolitik dem deutschen Imperialismus neue Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Beides wäre mit dem damaligen CDU/CSU-Personal nicht zu machen gewesen.
Aber die Begehrlichkeiten der ArbeiterInnenklasse wurden dem deutschen Kapital zu hoch vor dem Hintergrund fallender Profitraten und stagnativer Wirtschaftsentwicklung. Das US-amerikanische Kapital brauchte einen Reagan, das britische eine Thatcher. Letztere schrieb ihr Drehbuch alleine, Reagan bekam es von seinen BeraterInnen geschrieben. Kohl sprach von „geistig-moralischer Wende“, das Programm der neuen CDU/CSU/FDP-Regierung schrieb Otto Graf Lambsdorff von der FDP. Dieser schrieb in dem nach ihm benannten „Papier“ offen und klar, dass die Profitraten zu niedrig seien und dass die ArbeiterInnen dafür zu zahlen hätten. Die Angriffe, die schon unter Schmidt begonnen hatten, waren dem Kapital zu wenig und hatten 100 000 auf die Straße gebracht.
Auch Kohl tat sich schwer mit der (west)-deutschen ArbeiterInnenklasse, Massenstreiks der DruckerInnen, der MetallerInnen, in der Stahlindustrie und im Öffentlichen Dienst, ein eintägiger Generalstreik gegen die Stilllegung von Krupp Rheinhausen, der nie erklärt worden war, aber das ganze Ruhrgebiet lahmlegte – Kohl wurde damit nicht fertig. Auch die Gewerkschaftsbürokratie konnte nur solche Bewegungen ins Leere laufen lassen, an Abwürgen war damals nicht zu denken.
Dann kam die „Wende“ und die war keinesfalls Kohls Verdienst. Im Herbst 89 traute sich die Stasi und die Volkspolizei nicht mehr auf die DemonstrantInnen loszugehen, die durch Leipzig zogen und dabei die Internationale sangen. Das deutsche Kapital war höchst beunruhigt. Eigentlich hatte es gut und immer enger mit der DDR-Regierung kooperiert. Der Handel war gestiegen, man lieferte Anlagen nach Osten und bekam billige Produkte zurück, Franz-Josef Strauss hatte mit Honecker einen Milliardenkredit verdealt, der die SED-Bürokratie in starke Abhängigkeit gebracht hatte.
Im Dezember 89 legte Kohl noch einen Plan für eine Wiedervereinigung im Laufe von 10 Jahren vor. Aber die Geschichte ist manchmal schneller als die Pläne von Bürokraten. Die Ideen der RevolutionärInnen aus der DDR, diese zu demokratisieren, waren utopisch und spiegelten den kleinbürgerlichen Charakter ihre Führung wider. Die „marxistische“ Linke im Westen tauchte genauso erbärmlich ab, wie angesichts revolutionärer Bewegungen in Nordafrika oder im Nahen Osten. Das Fehlen von revolutionärer leninistischer, trotzkistischer Programmatik zeigte sich in Hinterherlaufen hinter den demokratischen Utopien oder stierem Klammern an die SED-Bürokratie. Die wenigen revolutionären Stimmen drangen nicht durch.
Nachdem auch die reformistischen Apparate von SPD und Gewerkschaften – in die die Massen große Hoffnungen gesetzt hatten – nichts anderes als kapitalistische Restauration, vielleicht mit bisschen Sozialstaat garniert, zu bieten hatten, gingen die Massen diesen Weg und wollten ihn schnell. Selbst SED-PDS unter Modrow und Gysi wollte auch nicht abseits stehen, richtete die Treuhand-Anstalt mit ein und begleitet die kapitalistische Wiedervereinigung „kritisch“.
Die demokratische Konterrevolution siegte und Kohl wurde zu ihrem Propheten. Er versprach „blühende Landschaften“ und ließ dem westdeutschen Kapital freie Hand in der Zerstörung potentieller Konkurrenten.
Aber insgesamt schuf dies die Basis für den deutschen Imperialismus, den britischen und französischen Kapitalismus, die beide ökonomisch längst überholt waren, aber noch über deutlich mehr politischen und militärischen Einfluss verfügten als Deutschland, auf die zweite Stelle zu verweisen und im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte zur dominierenden Macht in Europa aufzusteigen. Dass Britannien und Frankreich dabei trotz hoher Bedenken mitmachten, lag möglicherweise daran, dass sie Kohls Naivität überzeugte oder die Idee, dass mit einer europäischen Union Deutschland besser zu kontrollieren wäre. Sollten sie das gedacht haben, haben sie sich geirrt. Auch wenn ihr Führungspersonal schlauer als Kohl war.
So wurde mit dem Aufstieg des deutschen Imperialismus auch seine damalige Galionsfigur zum Helden. Im Grunde lässt erst die Dominanz, in den letzten knapp zwanzig Jahren unter Schröder und Merkel erreicht wurde, Kohl als denjenigen erscheinen, der dafür die Grundlagen geschaffen habe.
Es war umgekehrt. Nicht er war ein Glücksfall für Deutschland, Deutschland war ein Glücksfall für ihn. Nicht er hat Geschichte gemacht, die Geschichte hat ihn gemacht.
Ein guter Artikel, der im Kern genau den Punkt trifft.
Leider bleibt aber die unrühmliche Rolle der westdeutschen Linken etwas unterbelichtet, die mit ihrer Starr- und Wirrköpfigkeit der Arbeiterklasse Schritt für Schritt den Rücken gekehrt und praktisch ’89 gar keinen Einfluss mehr hatte. Das große Problem war die bleierne Starre im Westen, durch die die Revolution in der DDR verloren war: Die einen („Linken“) hielten die DDR für das bessere Vaterland (!), die anderen meinten, die westdeutsche Arbeiterklasse sei – siehe Kohl als Kanzler – so verblödet, dass revolutionäre Politik einstweilen zwecklos sei, während sie wieder anderen nur als Rekrutierungsfeld für Strohfeuer dienen durfte. Grüne hatten sich damals ihre Nester im Apparat längst gebaut und freuten sich nun auf Zuwachs für die Katzentische – Arbeiter gab’s für sie nicht mehr, der – ebenso wirre – „Fundi“-Flügel ausmanövriert oder über Bord. Die Reste der SED schließlich, die keine etablierte West-Partei mehr aufnehmen wollte, formten die PDS, die spätere LINKE – also eine Sozialdemokratie in etwas dunklerem Rot. Für Anarchisten war eh Jeder seines Glückes Schmied und wer nicht aussteigen wollte, verdächtig – oder ggf. gleich „faschistoid“.
Irgendeine Option für die Arbeiterklasse? OK, dann SPD. Was macht Lafontaine, der gute Chancen hatte? Er verliert vorsätzlich gegen Kohl: „Alles wird viel teurer“ statt „blühende Landschaften“.
Leider wüsste ich auch nicht, dass irgendeine Strömung die Lehren aus dieser Niederlage auch nur anflugweise in ihren eigenen Fehlern gesucht hätte. Da waren es immer die anderen. Genau diese spießbürgerliche Konkurrenzhaltung war es, die m.E. dem ganzen Dilemma zugrunde lag.