Susanne Kühn, Neue Internationale 197, März 2015
5,5 Prozent scheint bei den deutschen Gewerkschaften das Höchstmaß für „Gerechtigkeit“ und angemessene Lohn- und Gehaltsforderung zu sein – nach vielen Jahren Lohnverlust und Ausweitung des Billiglohnsektors. So wie die IG Metall haben sich die DGB-Gewerkschaften ver.di, GEW, GdP und der Beamtenbund auf eine Tarifforderung von 5,5 Prozent für höhere Einkommen der Beschäftigten der Länder (außer Hessen) geeinigt. Mindestens sollen es 175 Euro sein, um den Abstand zwischen den Tarifgruppen zu verringern. Außerdem soll es eine neue Entgeltordnung für die 200.000 angestellten LehrerInnen geben und somit hoffentlich eine deutliche Gehaltserhöhung. Für Azubis fordert ver.di außerdem die Übernahme nach abgeschlossener Ausbildung, eine Erhöhung der Ausbildungsvergütung um 100 Euro und 30 statt bisher 27 Urlaubstage.
Insgesamt geht es bei dieser Tarifrunde um 800.000 angestellt Beschäftigte im Öffentlichen Dienst sowie um 1,2 Mill. Beamte und 700.000 Versorgungsempfänger aus dem Öffentlichen Dienst, zumeist Beamte im Ruhestand.
Angesichts jahrelangen Verzichts, Personalabbaus und Zurückbleibens der Einkommensentwicklung im Öffentlichen Dienst sind 5,5 Prozent allemal gerechtfertigt, ja bleiben weit hinter dem eigentlich Notwendigen zurück. So hätte ein Festbetrag von 300 Euro für alle Beschäftigten gefordert werden müssen, um einen wirkliche Umkehr der Einkommensentwicklung zu einzuläuten.
„Natürlich“ sind die aktuellen Forderungen den Unterhändlern der Länder zu hoch. Deren Verhandlungsführer und Finanzminister Sachsen-Anhalts, Jens Bullerjahn (SPD), meint, dass angesichts geringer Inflationsraten auch die Einkommenserhöhungen geringer ausfallen müssten. Eine überproportionale Erhöhung der Entgelte der unteren Tarifgruppen lehnt er auch ab, da der Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizierter Tätigkeit nicht weiter verwischt werden dürfe. Die Erhöhung der Einkommen der LehrerInnen sei gerade für den Osten, wo ein viel größerer Teil nicht verbeamtet ist, nicht zu stemmen.
Kurzum, ohne Kampf wird nicht viel zu holen sein.
Neben eigenen „Sparzwängen“ bemühen die Verhandlungsführer der „Arbeitgeber“ im Öffentlichen Dienst natürlich auch die „Schuldenbremse“, die CDU/CSU und SPD durchgesetzt haben. Die Länder (wie auch Bund und Kommunen) könnten eben nicht mehr geben, wenn sie nicht gegen Gesetze verstoßen wollten.
Ver.di „kontert“ diese Hinweise stellvertretend für alle anderen Gewerkschaften mit zwei Argumenten: Erstens wird mit einem Steuerplus der Länder von 3,5 Prozent für 2014 und 2,7 Prozent 2015 gerecht – also gibt es auch „Verteilungsspielraum“. Was aber, wenn die Konjunktur einbricht? Müssen dann die „Sachzwänge“ doch akzeptiert werden? Was, wenn es mehr als 3,5 Prozent sein sollen, also ernsthaft um die 5,5 Prozent gekämpft werden soll?
Zweitens argumentiert ver.di, dass Einkommenserhöhungen nicht nur den Beschäftigten, sondern auch der Binnenkonjunktur helfen würden. „Angemessene“ Verbesserungen lägen also auch im Interesse der „Arbeitgeber“. Dummerweise sehen die das nicht ein, obwohl die deutschen Gewerkschaften seit Jahrzehnten immer wieder mit demselben Argument aufwarten.
Die Orientierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik am Wohl aller Klassen läuft fast unweigerlich auf einen mehr oder weniger halbherzigen, faulen Kompromiss hinaus, der sich letztlich an der konjunkturellen Entwicklung ausrichtet.
Für 2015 lässt das trotz großer Sprüche und gezeigter „Härte“ von allen Seiten einen Abschluss um die 3 Prozent befürchten. Eine entschiedene Trendumkehr in der Einkommensentwicklung sollten die Beschäftigten von der Führung der Verhandlungsgemeinschaft aus ver.di, GEW, GdP und Beamtenbund daher nicht erwarten.
Sie sollten vielmehr die letzte Tarifrunde in Erinnerung haben. Hier endete das ganze nicht nur mit dem üblichen, lauen Kompromiss. Zu allem Überdruss wurden auch die angestellten LehrerInnen im Regen stehen gelassen, als für den Tarifabschluss die Neugruppierungsforderung geopfert wurden. Das soll, ja darf „natürlich“ diesmal nicht passieren.
Vertrauen mag ja gut sein, in dem Fall ist Kontrolle eindeutig besser. Die Beschäftigten müssen auf Belegschaftsversammlungen dafür eintreten, dass wirklich für die 5,5 Prozent gekämpft wird und die Forderungen der unteren Tarifgruppen, der LehrerInnen und der Azubis nicht wie so oft in langwierigen Geheimverhandlungen und Expertenrunden bis zur Unkenntlichkeit verwässert oder ganz fallengelassen werden.
Sie müssen dafür eintreten, dass es keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen geben darf, dass die Verhandlungs-, Aktions- und Streikleitungen von der Mitgliedschaft gewählt werden, dieser rechenschaftspflichtig und auch von dieser abwählbar sind.