
Vasily Timm, Public domain, via Wikimedia Commons
Marcel Rajevsky, Infomail 1299, 16. Dezember 2025
Am 14. Dezember 1825 versammelten sich auf dem Senatsplatz in Sankt Petersburg, der Hauptstadt des Russischen Reiches, 3.000 Offiziere und Soldaten der kaiserlichen Garde, die sich weigerten, dem neuen Zaren Nikolaus I. die Treue zu schwören, und stattdessen eine konstitutionelle Monarchie forderten. Zwei Wochen später kam es zu einem weiteren Aufstand in der Ukraine, bei dem ebenfalls die Autokratie angeprangert wurde und der als Dekabristenaufstand bekannt wurde.
Lenin bezeichnete die Dekabristen später als Vorläufer der revolutionären Bewegung des folgenden Jahrhunderts und übernahm den Slogan eines im Exil lebenden Dekabristen, „Aus dem Funken wird die Flamme lodern“, als Slogan für die Titelseite seiner Zeitung Iskra (Funke). Trotzki schrieb später: „Der Aufstand der Dekabristen hat einen festen Platz in der russischen Geschichte als Wendepunkt, der die Palastrevolutionen des 18. Jahrhunderts vom Kampf um die Befreiung trennt, zu dem er einen dramatischen Auftakt bildete.“
Der Aufstand der Dekabristen war das Ergebnis mehrjähriger Vorbereitungen durch ein Netzwerk geheimer Gesellschaften. Ihr Ziel war es nicht, Reformen durch die Einsetzung eines königlichen „Prätendenten“ auf den Thron zu erreichen, sondern die absolute Herrschaft und damit das grausame System der Leibeigenschaft auf dem Lande vollständig abzuschaffen.
Die erste solche Vereinigung – die Union der Erlösung – wurde 1816 in Sankt Petersburg und Moskau gegründet. Zu ihren Gründungsmitgliedern gehörten die Brüder Alexander und Nikita Murawjow, ihre Cousins Sergei und Matwei Murawjow-Apostol, Fürst Sergei Trubezkoi und der Dichter Kondrati Rylejew.
Fast alle waren Veteranen der Napoleonischen Kriege. Viele von ihnen hatten an der Schlacht von Borodino (Zentralrussland) und den Feldzügen in Mitteleuropa teilgenommen. Ihre Erfahrungen prägten die politischen Ansichten dieser Offiziere aus dem Adel. Zum einen entwickelten sie Bewunderung für den Heldenmut der Leibeigenen, die als Soldaten dienten, und später Empörung über die sklavenähnlichen Bedingungen, unter die sie zurückkehren mussten. Zum anderen zeigten ihnen die europäischen Länder, die revolutionäre Veränderungen durchlaufen hatten, wie dringend notwendig eine Modernisierung Russlands war, sowohl in seinem politisch-wirtschaftlichen System als auch in seiner Armee.
Anfangs forderte die Union der Erlösung eine konstitutionelle Monarchie und die Abschaffung der Leibeigenschaft. Mit der Rekrutierung des außergewöhnlichen Pawel Pestel polarisierte sich die Gruppe. Pestel, den der Dichter Alexander Puschkin als „einen der besten Köpfe, die ich kenne“, bezeichnete, war ein unversöhnlicher revolutionärer Republikaner. Er lehnte die konstitutionelle Monarchie mit der Begründung ab, dass sie unweigerlich zur Wiederherstellung des Absolutismus führen würde.
Er wies die „landlose Emanzipation“ zugunsten eines Agrargesetzes ab, nach dem Ländereien beschlagnahmt und an die Leibeigenen verteilt werden sollten. Pestel unterstützte das Recht Polens auf Unabhängigkeit. Von all seinen radikalen Positionen war jedoch seine Kritik an der „Aristokratie des Reichtums“, der im Entstehen begriffenen Bourgeoisie, von der er voraussagte, dass sie schließlich die Macht übernehmen und die Unterdrückung der Massen verstärken würde, die weitsichtigste.
Die Ereignisse von 1820 radikalisierten die russischen Offiziere. Im Januar löste eine Meuterei in Spanien eine Revolution aus, die den König zwang, die Verfassung von 1812 wieder einzuführen. In Italien, in den Königreichen Neapel und Piemont, führten Aufstände vorübergehend zur Einführung von Verfassungen, bevor sie durch die Intervention österreichischer und russischer Truppen niedergeschlagen wurden.
Im Oktober rebellierte das „Lieblingsregiment“ des Zaren, das Semjonowski-Leibgarderegiment, in dem viele zukünftige Dekabristen dienten, gegen die Entlassung des beliebten Generals Potjomkin. Der jüngere Bruder des Zaren, Nikolaus, schlug diese Meuterei brutal nieder und ließ ihre Anführer, darunter viele Kriegshelden höchsten Ranges, degradieren und „Spalier laufen“, d. h. gnadenlos zusammenschlagen.
Diese Ereignisse inspirierten die Dekabristen zu der Überzeugung, dass eine Revolte der Soldaten notwendig sei, um das Zarenreich zu stürzen. Mitglieder des Semjonowski-Regiments, darunter Pestel, waren in die Zweite Armee mit Sitz in Tulchin, südwestlich von Kiew, „verbannt“ worden. Die Dekabristen hatten nun Mitglieder an vielen weiteren Orten, darunter in der Ukraine und in Bessarabien (heute zur Republik Moldau und der Ukraine gehörend).
Aber die Versetzung des radikalen Pestel in den Süden spaltete die Gesellschaft. Im Norden festigten die Gemäßigten ihre Macht in Sankt Petersburg und Moskau, während der Süden von Pestels offen republikanischen Ideen beeinflusst wurde, die er in seiner Broschüre „Russische Wahrheit“ (Russkaja Prawda) dargelegt hatte.
Die militärischen Verschwörer beriefen eine Konferenz in Moskau ein, um sich auf ein Aktionsprogramm zu einigen. Da Pestel keine Beziehungen oder Geschäfte in der Stadt hatte, konnte er nicht teilnehmen, ohne Verdacht zu erregen, sodass Iwan Burzow und Wassili Komarow an seiner Stelle gingen. Die Konferenz entschied, dass die Organisation zu groß geworden war, nur noch Mitglieder brauchte, auf die man sich absolut verlassen konnte, und löste die Organisation auf. Pestel war wütend und weigerte sich, dies umzusetzen.
Infolgedessen spaltete sich die Gesellschaft in eine nördliche und eine südliche Gesellschaft. Obwohl ihre Versuche zur Wiedervereinigung erfolglos blieben, versprachen sie dennoch, sich über ihre Aktivitäten und Pläne auszutauschen, und dass der Tod des Zaren das Signal für eine gemeinsame Aktion sein würde.
Dieser kam früher als erwartet, als Zar Alexander I. im November 1825 an Typhus starb. Die darauf folgende Thronfolge-Krise bot den Rebellen eine Gelegenheit. Alexander war ohne legitimen Erben gestorben, und man ging davon aus, dass sein älterer Bruder Konstantin den Thron besteigen würde. Aber ein geheimes Protokoll machte ihn wegen seiner Ehe mit einer polnischen Gräfin für die Thronfolge untauglich.
Der nächste in der Thronfolge war sein jüngerer Bruder Nikolaus, der vor allem bei den Soldaten unbeliebt war. Aus Angst, als Usurpator angesehen zu werden, wartete er auf eine öffentliche Verzichtserklärung von Konstantin, der den Thron nicht wollte. Russland befand sich in der bizarren Lage, „zwei selbstverleugnende Kaiser und keinen aktiven Herrscher“ zu haben.
Alexanders Tod mobilisierte die Nord- und Südgesellschaften. Im Norden wurden die Radikalen zu den Hauptorganisatoren und gewannen neue Mitglieder, die bei den Ereignissen im Dezember eine entscheidende Rolle spielen sollten.
Unterdessen knüpfte die Südgesellschaft unter der Führung von Pestel Verbindungen zur Polnischen Patriotischen Gesellschaft und zu den Vereinigten Slawen (Panslawisten), die beide davon überzeugt waren, dass ihre Ziele durch den Sturz des Zarenreichs in Russland erheblich gestärkt würden.
Außerdem konnten die Polen die Gesellschaft davon überzeugen, ihre langjährige Praxis aufzugeben, ihre Ziele vor den Bäuer:innen, Arbeiter:innen und einfachen Soldaten zu verbergen, mit denen sie nun offen über ihre politischen Ziele diskutierten. Sie nahmen Kontakt zu Arbeiter:innen in Kiew auf und versuchten, Anführer:innen zu gewinnen, die während eines Aufstands die Eroberung des Arsenals organisieren würden. Kurz gesagt, beide Gesellschaften erweiterten ihre soziale Basis.
Am 14. Dezember brachten befreundete Kommandeure Teile der Leibgarde-Regimenter zum Senatsplatz. Das Ziel war, den nahe gelegenen Winterpalast zu stürmen, die königliche Familie zu verhaften und den Senat zu zwingen, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen und ein von den Dekabristen verfasstes Manifest zu verkünden.
Sie nutzten den Hass der Truppen auf Nikolaus und ihre Illusionen in Konstantin aus und arbeiteten unermüdlich daran, Truppen auf den Senatsplatz zu bringen. Zuerst überzeugten sie die Moskauer Leibgarde-Regimenter, die stundenlang ungehindert auf dem Platz standen. Als Militärgouverneur Miloradowitsch herauskam, um mit den Truppen zu verhandeln, erschoss ihn einer der Anführer der Dekabristen, Kachowski.
Doch bald liefen die Dinge schief. Der Trupp, der zum Winterpalast geschickt worden war, um Nikolaus zu verhaften, scheiterte. Der Zar übernahm das Kommando über die ihm loyalen Infanterie-, Kavallerie- und Feldartillerieeinheiten und umzingelte die Rebellen. Fürst Trubezkoi verschwand, und Rylejew verbrachte den Rest des Tages damit, nach ihm zu suchen. Die Rebellentruppen waren führungslos.
Die loyale Kavallerie wurde dann angewiesen, die Rebellen anzugreifen, von denen einige das Feuer erwiderten. Soldaten der Marinebasis kamen, um die Rebellen zu verteidigen, ebenso wie die Grenadiergarde. Zu diesem Zeitpunkt versammelten sich etwa 3.000 Soldaten und etwa ebenso viele zivile Zuschauer:innen auf dem Platz. Bald verbrüderten sich große Menschenmengen mit den Truppen. Zivilist:innen warfen Holz und Steine auf die loyale Kavallerie, die geschickt worden war, um die Rebellen zu attackieren.
Aber am Ende brachte der Zar Feldgeschütze auf, die Kartätschen in die Menge feuerten. Sowohl Soldaten als auch Zivilist:innen wurden wahllos erschossen. Viele der Rebellentruppen zogen sich über den gefrorenen Fluss Newa zurück, in der Hoffnung, die Peter-und-Paul-Festung einzunehmen. Die Truppen des Zaren bombardierten das Eis mit Kanonenkugeln und ertränkten die flüchtenden Soldaten.
Als die Nachricht von der gescheiterten Revolte Tulchin erreichte, waren viele der südlichen Anführer, darunter Pestel, bereits verhaftet worden. Den Vereinigten Slawen gelang es jedoch, Sergei Murawjow-Apostol aus dem Gefängnis zu befreien. Er begab sich sofort zu den Truppen des Tschergowski-Regiments und versprach, einen Kampf gegen die Leibeigenschaft und die unterdrückerischen militärischen Bedingungen anzuführen.
Sie besetzten Wassylkiw, etwas außerhalb von Kiew, gaben aber den Plan auf, die Stadt einzunehmen, und entschieden sich stattdessen, sich mit den Polen und Panslawisten in Bila Zerkwa zusammenzuschließen. Auf ihrem Weg trafen sie auf loyale Truppen. Obwohl sie zahlenmäßig zehn zu eins unterlegen waren, erkannte Murawjow-Apostol einige der Bataillone als die der Dekabristen-Offiziere, ohne zu wissen, dass deren Kommandeure in den Tagen zuvor verhaftet worden waren.
Als sie auf die Rebellen schossen, wurde Murawjow-Apostol von einer Kanone am Kopf getroffen und später zusammen mit den letzten verbliebenen Anführern der Südlichen Gesellschaft gefangen genommen. Der Aufstand war damit endgültig beendet.
Nach sechs Monaten wurden über 500 Rebellen wegen verschiedener Verbrechen vor Gericht gestellt, 120 von ihnen wurden nach Sibirien verbannt. Pestel, Rylejew, Murawjow-Apostol, Kachowski und Michail Bestuschew-Rjumin wurden zum Tode verurteilt. Es folgte eine Zeit der totalen politischen Unterdrückung, die alle Kräfte stärkte, die für eine absolute Herrschaft und die Beibehaltung der Leibeigenschaft waren. Erst in den 1860er Jahren gab es in Russland erste Anzeichen für Reformen.
Die überlebenden Dekabristen hörten aber nicht auf, sich politisch zu engagieren. Innerhalb weniger Jahre fingen sie an, ihre Memoiren zu schreiben, und entwickelten in Sibirien eine politische und radikale Tradition. Viele identifizierten sich später mit Populismus und Sozialismus.
Als sie unter Alexander II. begnadigt wurden, wurden die wenigen, die nach Europäisch-Russland zurückkehrten, wie Helden empfangen. Ihr Opfer – und die Kriminalisierung jeder Handlung, die mit ihnen sympathisierte – machte sie zu lebenden Legenden.
Es ist kein Zufall, dass der ehemalige Senatsplatz, der 1925 in Dekabristenplatz umbenannt worden war, 2008 von Wladimir Putin wieder seinen zaristischen Namen bekam.
Im Jahr 2019 wurde ein Film gedreht, der sie als von den Massen isolierte Palastrevolutionäre darstellte. Die Revolution, die letztendlich den russischen Diktator stürzen wird, muss sich nicht nur von den Bolschewiki von 1917 inspirieren lassen, sondern auch vom Heldentum der Dekabristen.