Arbeiter:innenmacht

Verbale sexuelle Belästigung: „Catcalling“ und die Koalition

Ronja Keller/Susanne Kühn, Neue Internationale 295, Oktober 2025

Einer Studie aus dem Jahr 2021 zufolge haben über 90 % aller Frauen und 80 % aller queeren Menschen schon „Catcalling“ miterleben müssen. Im Schnitt erfahren Betroffene zum ersten Mal im Alter von 15,5 Jahren solche alltäglichen verbalen sexuellen Belästigungen.

In mehreren EU-Ländern stellt dies mittlerweile eine Straftat dar. In Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien und den Niederlanden wird sie mit Geldstrafen, in Spanien in besonders krassen Fällen auch mit Haftstrafen geahndet. In Deutschland scheiterten alle bisherigen Versuche, diese Form systematischer sexueller Belästigung als Straftat zu bewerten, an den Mühlen von Koalitionsblockaden oder am Bundesrat. Zuletzt im Februar 2025, als das SPD-geführte Land Niedersachsen einen Gesetzesentwurf einbrachte.

SPD-Justizministerin Stefanie Hubig will nun eine weitere Vorlage auf den Weg bringen, die verbale sexuelle Belästigung, die mit dem Begriff „Catcalling“ eigentlich verharmlost wird, zukünftig als Straftatbestand definieren soll. Ob diese die Hürden des Koalitionsausschusses überwinden wird, ist allerdings fraglich, auch wenn der Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU eine Erweiterung des strafrechtlichen Schutzes vor Belästigungen vorsieht. Doch Papier ist bekanntlich geduldig. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt einen Gesetzesentwurf ab. „Symbolgesetzgebung und in der Praxis nicht durchsetzbare Regelungen helfen den Betroffenen am Ende nicht weiter“, erklärt deren rechtspolitische Sprecherin Susanne Hierl. Da hilft es auch wenig, dass sich lt. DER SPIEGEL eine Mehrheit des Bundesrates sogar für eine Gesetzänderung aussprechen würde. Nur Bremen, Berlin und Sachsen lehnten eine solche kategorisch ab. Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt wollen erst eine Vorlage konkret beurteilen.

Reaktionäre Kritik

Derweil formiert sich die bürgerliche und konservative Kritik. Natürlich, so betont auch diese, müsse man verbale sexuelle Übergriffe ernst nehmen. Aber, so heißt es, man könne nicht alles per Strafrecht regeln, erst recht, wenn ein Verbot in der Praxis gar nicht durchsetzbar wäre. Stattdessen, so gibt sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit Susanne Hierl geradezu fortschrittlich, müsse man das gesellschaftliche Bewusstsein ändern, so dass die „verbalen Belästigungen schlicht inakzeptabel sind“.

Diese politischen Nebelkerzen können wir als groteske Mischung aus Komik und Zynismus abhaken, befördern doch gerade die Konservativen und Rechten tagtäglich ein reales rückschrittliches Bewusstsein, Geschlechterrollen, Moralvorstellungen und eine gesellschaftliche Arbeitsteilung, die nicht nur verbale sexuelle Belästigungen und Übergriffe regelmäßig hervorbringen.

Die beschworenen Schwierigkeiten in der Umsetzung verweisen ja gerade auf ein sexistisches gesellschaftliches Klima, das zur Zeit von der extremen Rechten, aber auch von Konservativen aller Art in der Hetze gegen den angeblichen „Genderwahn“ noch forciert wird. Auch der Verweis darauf, dass sich „verbale sexuelle Gewalt“ schwer von „harmlosen“ „falschen Komplimenten“ unterscheiden ließe, verharmlost nur, was verbale sexuelle Gewalt bedeutet.

Dieser ganze Einwand ist ein Popanz. Erstens wird so getan, als wären die Gesetzesvorschläge, wie sie z. B. von der SPD-Fraktion diskutiert werden, so weit gefasst, dass zukünftig auch jedes ungeschickt geäußerte „Kompliment“ vor Gericht verhandelt würde. Das ist schlichtweg falsch. Vielmehr muss dem/der Täter:in ein Vorsatz nachgewiesen und müssen auch die Umstände der Tat berücksichtigt werden. Zweitens lenkt dieser Einwand davon ab, dass es in der Regel durchaus klar ist, wann eine „gezielte, erhebliche, mündliche sexuelle Belästigung“ vorliegt, wird sie doch in der Regel geäußert, um die belästigte Person für diese und andere erkennbar zu erniedrigen und überdies Macht auszuüben. Die aktuelle Folgenlosigkeit, ja Akzeptanz verbaler und gezielter sexueller Belästigung drückt sich nicht zuletzt auch darin aus, dass sie erst gar nicht als strafrechtlich relevant gilt, während z. B. ein einfacher Diebstahl mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden kann.

Grenzen

Daher lehnen wir diese reaktionäre Kritik grundlegend ab. Zugleich dürfen wir aber unsere Augen vor den Grenzen und Problemen der bürgerlich-liberalen Reformpolitik nicht verschließen, wie sie von der SPD oder auch den Grünen und „reformwilligen“ Teilen der CDU vertreten wird.

Wieso der Kampf gegen widerliche sexistische Sprüche und ekeliges Hinterhergepfeife durch meist cis Männer nicht in Form einer Bestrafung einzelner Täter durch Änderung des Strafgesetzbuchs, wie es die Justizministerin Hubig (SPD) fordert, gelöst werden kann, möchten wir im folgenden Abschnitt erläutern.

Hierzu sollten wir zunächst betrachten, worin der Ursprung von „Catcalling“ besteht und wie es überhaupt dazu kommt. Als Teil sexistischer Unterdrückung wird durch es gegenüber weiblich gelesenen Personen psychische Gewalt ausgeübt und die Machtstellung der Täter demonstriert. Doch diese sexistischen Verhaltensweisen kommen nicht von ungefähr. Solche Unterdrückungsformen, wie sie durch Alltagssexismus in Erscheinung treten, gehen aus einer materiellen bzw. systematischen Grundlage hervor. Im Kapitalismus legt die unterdrückerische gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau den Grundstein für die Unterdrückung der Frau bzw. FLINTA-Personen. Diese im Produktions- und insbesondere im Reproduktionsprozess verankerte Unterdrückung wirkt sich auch auf das gesellschaftliche Leben und den Umgang von Menschen untereinander aus. Wir alle werden von diesen sexistischen Strukturen geprägt und beeinflusst. Die Auswirkungen davon finden wir auf verschiedensten Ebenen. In den schlimmsten Fällen führt sexistische Unterdrückung zu Femiziden. Sichtbar wird sie aber eben auch in widerlichen sexistischen Pfiffen oder Sprüchen auf der Straße.

Justizministerin Hubig hat dem nun den Kampf angesagt und möchte genau das unter Strafe stellen. Bleibt offen, inwieweit das Problem damit tatsächlich bekämpft wird. Die Gesetzesvorlage impliziert eine Lösung, welche bei einzelnen Individuen ansetzt und das System verkennt, welches ein solches Verhalten verursacht und begünstigt.

Wenn „Catcalling“ wirklich aufhören soll, müssen wir nicht nur die Auswirkungen, sondern auch den Ursprung sexistischer Unterdrückung angreifen. Denn bürgerliches Recht im Kapitalismus existiert nicht losgelöst von den Produktionsverhältnissen, welche besagte Arbeitsteilung reproduzieren und von dieser profitieren. Die bürgerlichen Ideale von Freiheit, Gleichheit oder Demokratie sind dementsprechend nicht aus reiner Freundlichkeit entstanden, sondern notwendiges Produkt dieser Gesellschaft. So wie die Ware die Rechtsform braucht, braucht diese den bürgerlichen Staat als Institution, um das Recht überhaupt durchzusetzen. Das Recht spielt also eine elementare Rolle in der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems.

Kernaufgabe ist es, den Warentausch zu ermöglichen und das Privateigentum zu schützen – und das drückt sich wiederum auch in der Rechtsprechung aus. Es reduziert soziale Beziehungen auf formale Gleichheit zwischen Individuen. Das bedeutet, dass Unrecht nicht als Klassenfrage, sondern als individueller Konflikt erscheint. Ohne den Kapitalismus anzugreifen, drohen Verbesserungen nur kurzfristig zu bestehen, zu verpuffen oder auf eine rein formale Ebene beschränkt zu werden.

Dasselbe gilt für Appelle an die Justiz, „Catcalling“ jetzt schon als Beleidigung im Sinne des Strafgesetzbuches zu bestrafen. Dies ignoriert die Grundlage, worauf die Unterdrückung beruht, und schafft so dauerhaft keine Verbesserungen für die Arbeiter:innenklasse. Ein solches neues Gesetz könnte zwar einzelnen Frauen rechtliche Möglichkeiten verschaffen, aber es wäre kein Mittel, um sexistischer Unterdrückung als solcher zurückzudrängen. Nicht nur, weil es die Durchsetzung des bürgerlichen Staates und seines Machtmonopols erfordert, sondern auch, weil es ein Luftschloss ist, zu glauben, dieses Symptom isoliert vom Kapitalismus abzuschaffen. Nur eine proletarische Kraft, die den bürgerlichen Staat zerschlägt, ist in der Lage, auch dieses System infrage zu stellen und die Unterdrückung ein für alle Mal zu beseitigen.

Was tun?

Natürlich bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass wir den Kampf gegen „Catcalling“ und Sexismus auf nach der Revolution vertagen. Das Fehlen von funktionierenden gesellschaftlichen Strukturen für den Umgang mit sexueller Gewalt kann zwar nicht von einzelnen linken Kleingruppen aufgefangen werden, dennoch müssen wir für Maßnahmen eintreten, die den gesamtgesellschaftlichen Mangel anfangen zu beseitigen, die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung angreifen sowie die Organe des bürgerlichen Staates in Frage stellen.

Zuerst bedeutet das, jede Form von verbalen sexuellen Übergriffen in der Arbeiter:innenklasse und unter den Unterdrückten scharf zu bekämpfen. Sie erniedrigen und unterdrücken damit Teile der eigenen Klasse – und vertiefen damit auch deren Spaltung. Daher müssen solche Formen der sexuellen Belästigung in den Betrieben, Gewerkschaften, in linken Organisationen und Parteien auch systematisch bekämpft werden, indem einerseits schon früh Bewusstsein geschaffen und Verhalten nicht nur kritisiert, sondern auch kollektiv verändert wird. Dazu braucht es auch das Recht von Frauen und LGBTIA-Personen auf gesonderte Treffen, um solche Formen zu bekämpfen.

Hinsichtlich der Gesellschaft überhaupt müssen wir den Kampf für konkrete Verbesserungen so führen, dass er sich nachhaltig auf die Selbstorganisation der Unterdrückten und die Entwicklung des Bewusstseins und der Kampfkraft der gesamten Klasse auswirkt. Daher treten wir ein für:

• Nachbarschaftskomitees, um Frauen aus der Isolierung zu holen! Für die Einrichtung und den Ausbau von Rehabilitationsprogrammen für (sexuelle) Gewalttäter!

• Schluss mit dem Schweigen: Flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt sowie sofortige, kostenlose psychologische Betreuung, wenn gewünscht! Kampf der Diskriminierung an Schule, Uni und im Betrieb! Für breite Aufklärungskampagnen für einvernehmliche sexuelle Praktiken und gegen Sexismus, organisiert von Gewerkschaften!

• Statt Polizei fordern wir in Fällen verbaler sexueller Übergriffe Untersuchungskommissionen, bestehend aus Gewerkschaften und Betroffenenvertretungen!

• Zum Schutz vor sexuellen Übergriffen können wir uns nicht auf die Polizei verlassen, sondern brauchen demokratisch organisierte Selbstverteidigungsstrukturen, organisiert durch Gewerkschaften.

Insgesamt müssen wir den Kampf in einen einbetten, der auch die reale soziale Ungleichheit angreift – für höheren Mindestlohn, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und Vergesellschaftung der Hausarbeit.

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