Arbeiter:innenmacht

Ukraine: Kampf um „Friedensverhandlungen“

Markus Lehner, Neue Internationale 283, Juni 2024

In den letzten Wochen ist in den festgefahrenen Ukrainekrieg wieder etwas Bewegung gekommen – an mehreren „Fronten“. Einerseits geriet die Ukraine in eine Schwächephase, die vom russischen Militär an mehreren Frontabschnitten ausgenutzt wurde. Zugleich verkündete Putin die Möglichkeit eines längerfristigen Waffenstillstandsabkommens, während andererseits die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten auf eine „Friedenskonferenz“ in der Schweiz im Juni setzen. Schließlich machen auch die Hauptschuldner:innen der Ukraine Druck, der das kriegsgebeutelte Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit führen könnte.

Robuster als erwartet

Hintergrund dieser Entwicklungen ist sicherlich, dass sich der russische Imperialismus als robuster erwiesen hat, als seine westlichen Widersacher:innen es wohl erwartet haben. Trotz der Wirtschaftssanktionen gelang der Umbau der Ökonomie auf Kriegswirtschaft. Die Neubesetzung des Verteidigungsministers mit einem Ökonomen ist ein deutliches Zeichen der Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes in der russischen Führung. Auch das viel größere Bevölkerungsreservoir der russischen Föderation gegenüber der Ukraine schlägt inzwischen voll durch: Der russischen Seite gelingt es auch ohne eine neue Zwangsmobilisierung, durch wirtschaftliche Anreize genügend neue Soldat:innen in die eigenen Reihen zu bringen (angesichts der immer prekärer werdenden Versorgungslage der „Normalbevölkerung“ in Russland), während die Ukraine in ernsten Personalnöten steckt.

Dies wurde besonders Anfang Mai deutlich, als russische Truppen westlich von Donezk bei Otscheretyne an einem mehrere Kilometer breiten Streifen die Front durchbrachen. Grund war wohl, dass eine ukrainische Brigade es leid war, auf die lange versprochene Ablösung zu warten, und abzog, bevor der Ersatz ankam. Dies war einer der Durchbrüche, die jetzt die Gefahr einer Zangenbewegung auf Pokrowsk und damit den Fall der restlichen Teile der Oblast Donezk heraufbeschworen. Die ukrainische Regierung reagierte mit einer umfassenden und stark repressiven Mobilisierungswelle, um schneller ermüdete Fronttruppen austauschen zu können – was allerdings die Gefahr mit sich bringt, dass schlecht ausgebildete Truppen mit komplizierter westlicher Militärtechnologie sofort ins Gefecht geschickt werden. Zur Personalnot kommt, dass die auf Massenproduktion umgestellte Kriegsproduktion in Russland derzeit z. B. bei Artilleriemunition nicht durch Lieferungen aus dem Westen kompensiert werden kann. Auch wenn insbesondere die aus der Tschechischen Republik hier für teilweisen Ausgleich sorgten, ist die westliche Rüstungsproduktion weit von der Quantität der russischen entfernt.

Das wird jetzt auch durch die Freigabe der US-Hilfsgelder nicht wirklich rasch kompensiert, da die Rüstungsproduktion (außerhalb Tschechiens) noch lange nicht in der notwendigen Weise hochgefahren wurde. Die Diskussion um einzelne Technologien wie das Taurus-System (deutsch-schwedischer Marschflugkörper) lenkt dabei teilweise davon ab, dass der Westen für einen von ihm ausgerüsteten „Sieg der Ukraine“ sehr viel mehr Prozente des BIP auf Kriegsproduktion umstellen müsste.

Vorstöße

Kein Wunder, dass Frankreichs Präsident Macron in dieser angespannten Situation unverblümt den unmittelbaren Einsatz von NATO-Truppen in der Ukraine als kleineres Übel zu verkaufen begann. Militaristen wie der CDU-Abgeordnete Kiesewetter bringen eine direkte NATO-Intervention in Form einer Übernahme der Luftraumverteidigung im Westen der Ukraine ins Spiel, also faktisch die Errichtung einer Flugverbotszone. Würden die Vorschläge Macrons und Kiesewetters angenommen, würden sie zu eine direkten Konfrontation von NATO-Truppen mit Russland führen. Das würde nicht nur den Charakter des Kriegs in der Ukraine selbst ändern, den ganzen Krieg weiter eskalieren und zu einer Veränderung der bisherigen westlichen Strategie führen, die bislang auch immer verhindern wollte, dass es zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO kommt.

Fakt ist jedenfalls, dass es noch einige Monate brauchen wird, bis die Ukraine aus ihrer Material- und Personalnot wieder herauskommt und ihre Fronten stabilisieren wird können. Daher nutzt das russische Militär jede Gelegenheit, um weitere Nadelstiche zu setzen. So wurde seit dem 10. Mai eine weitere Front nordöstlich von Charkiw eröffnet, mit Durchbrüchen bei Wowtschansk und Lypzi mit Zielrichtung entlang des Oskilflusses (auch: Oskol). Wie erfolgreich auch immer der Durchbruch war, so hat jedenfalls die Leichtigkeit der Überwindung der angeblichen Befestigungsanlagen dort für Entsetzen gesorgt. Inzwischen sind etliche Vorwürfe, auch der Korruption, rund um die militärisch Verantwortlichen in der Region laut geworden. Weitere größere russische Verbände scheinen auch bei Sudscha nordwestlich von Charkiw aufzumarschieren, und drohen, in die Nachbaroblast Sumy einzumarschieren. Damit ist die ukrainische Militärführung gezwungen, viele ihrer Reservetruppen rund um Charkiw einzusetzen, die damit dringend benötigte Ablösungen an der Front um Donezk unmöglich machen.

„Friedens“diplomatie

Klar, dass Putin diese Situation ausnutzt, um ein „großzügiges“ Friedensangebot in die Welt zu setzen. Laut Veröffentlichungen der Pressestelle des Präsidenten wird der Ukraine angeboten, die Kampfhandlungen beim gegenwärtigen Frontverlauf einzufrieren und Verhandlungen zu beginnen, dies zur Grundlage für einen endgültigen Grenzverlauf zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation zu machen. Nachdem dies, wie zu erwarten war, von der ukrainischen Regierung umgehend abgewiesen wurde, schlug die russische Regierung laut Reuters gleich direkte Verhandlungen mit den USA in diesem Sinne vor.

Die ukrainische Regierung und ihre westlichen Verbündeten setzen stattdessen schon seit längerem auf eine im Juni beginnende Friedenskonferenz am Vierwaldstätter See, zu der die Schweiz laut eigenen Angaben an die 160 Länder eingeladen hat – zu denen die Russische Föderation allerdings nicht gehört. Kalkül der westlichen Diplomatie ist vor allem, die „Gesprächspartner:innen“ Russlands, insbesondere China, Brasilien, Indien und Südafrika zu der Konferenz zu bringen, um so Druck auf Putin aufbauen zu können. Viele westliche Regierungschef:innen fuhren insbesondere nach Peking, um der dortigen Partei- und Staatsführung die Wichtigkeit der Teilnahme zu erklären – und waren dafür wohl auf anderen Gebieten zu Zugeständnissen bereit. Nachdem bei Letzterem dann wohl doch nicht soviel rüberkam (siehe die Entwicklung bei den US-Strafzöllen) kamen in den letzten Tagen eindeutige Absagen von China und Brasilien an den Trip zum Vierwaldstätter See.

Weit entfernt von einer „Lösung“

Dieses diplomatisch-propagandistische Getöse um vorgebliche „Friedensgespräche“ zeigt, wie weit man noch von einer tatsächlichen Lösung entfernt ist. Die Tiefe des Konflikts zwischen den imperialistischen Mächten und der ungebrochene Wille der ukrainischen Bevölkerung, nicht vor der russischen Okkupation einzuknicken, lassen derzeit wohl keinen interimperialistischen Deal zur Befriedung des Konfliktes erwarten. Dies zeigt umso mehr, wie notwendig es ist, dass die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen in der Region selber zu Akteur:innen werden, um dieser menschenmörderischen Materialschlacht ein Ende zu setzen. Schließlich geht es nicht um „Wiederherstellung völkerrechtlich eindeutiger Grenzen“ oder „Wahrung der russischen Einflusssphäre“ bzw. ähnlich abstrakte Prinzipen wie jetzt angeblich für einen „gerechten Frieden“ – es geht letztlich darum, wie und unter welchen Bedingungen die Mehrheit der Menschen in den umkämpften Gebieten tatsächlich leben will.

Einen Schlüssel für einen wirklichen Frieden hat natürlich das russische Proletariat. Die wachsende Unzufriedenheit mit der miesen Versorgungslage in Russland wie auch die stetig steigende Zahl von Opfern des Krieges wird langsam aber sicher zum Problem für das Putin-Regime. Schon vor dem Krieg hatten wichtige Sektoren der russischen Industrie ein Arbeitskräftemangelproblem. Derzeit fehlen laut Bloomberg allein der russischen Öl- und Gasindustrie über 40.000 Arbeitskräfte, da man selbst in dieser bisher am besten zahlenden Industrie inzwischen weitaus weniger verdient als in der Armee. Streiks waren in den letzten Jahren eher eine Seltenheit, könnten aber angesichts dieser Angebots-Nachfrageschere unausweichlich sein. Wichtig ist daher, dass die 30 Millionen gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen ihre Putin-treuen Führungen durch eine klassenkämpferische Alternative ersetzen. Insbesondere Streiks in der Rüstungsindustrie würden der russischen Militärmaschinerie in der Ukraine rasch Sand ins Getriebe streuen.

In der Ukraine wächst nicht nur die Unzufriedenheit mit wachsendem korrupten Autoritarismus in der politischen und militärischen Führung. Es wird auch deutlich, dass die „Freund:innen“ im Westen besondere Prioritäten in Form ihrer Unterstützung der ukrainischen Regierung verfolgen. So wurde etwa nach einem Bericht des Wallstreet-Journals von Anfang Mai auf einer Konferenz der wichtigsten Gläubiger:innen der Ukraine betont, dass die Geduld von BlackRock, PIMCO etc. mit der Ukraine zu Ende geht, was die Stundung von Zinszahlungen betrifft – man hatte nicht mit einem so langen Krieg gerechnet! Sie verlangen ab nächstem Jahr Zinszahlungen in der Höhe von 500 Millionen US-Dollar jährlich, während die staatlichen Geldgeber:innen (für ihre Steuerzahler:innen) bis 2027 auf Rückzahlungen verzichtet haben. Jenseits von Phantasien um die Beschlagnahme russischen Auslandsvermögens droht ein ukrainischer Staatsbankrott. Wie die ukrainische Wirtschaft dies bewältigen soll, ist klar – wofür hat man denn das Arbeitsrecht de facto abgeschafft und die ukrainische Landwirtschaft zum Dumping-Eldorado des globalen Agrobusiness umgewandelt? In den letzten Jahren und vor allem während des Kriegs haben ukrainische Agrarkonzerne wie die Kernel Holding, vor allem aber westliche Multis wie Bayer/Monsanto, DuPont und Cargill begonnen, die Landwirtschaft und Agrarflächen zu übernehmen – vor allem auf Kosten der Rund 8 Millionen Kleinbäuerinnen und -bauern. Der Ukrainekrieg wird von den Herrschenden des „demokratischen Westens“ vor allem zur eigenen Bereicherung genutzt. Ebenso dient er als Vorwand für Hochrüstung und Militarisierung in den NATO-Ländern, während die Ukraine weiterhin nur mit dem Nötigsten versorgt wird, um nicht unter den russischen Militärschlägen zusammenzubrechen.

Unabhängigkeitskampf in Arbeiter:innenhand!

Es ist an der Zeit, dass die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine selbst die Führung des Kampfs um eine wirkliche Unabhängigkeit der Ukraine – sowohl vom russischen wie vom westlichen Imperialismus – übernimmt, also eine wirksame Verteidigung gegen russische Angriffe mit dem Kampf um soziale Rechte, Schuldenstreichung und Enteignung aller imperialistischen Investments verbindet. Auch wenn wir das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und die Beschaffung der dafür nötigen Mittel anerkennen, so müssen Revolutionär:innen in der Ukraine und im Westen vor den Illusionen warnen, dass die gegenwärtige militärische Unterstützung der NATO-Staaten wirklich der Unabhängigkeit dient. Vielmehr sind diese Lieferungen mit der Bedingung der Sicherung der eigenen Einfluss- und Ausbeutungssphäre verknüpft und letztlich nicht auf wirkliche Selbstbestimmung für die gesamte Ukraine ausgerichtet, sondern sollen dem Westen Beute bringen. Ob diese Rechnung aufgeht oder die ukrainischen Massen diese durchkreuzen, hängt letztlich davon ab, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, eine eigene revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die russische Okkupation mit dem für eine sozialistische Ukraine verknüpft.

Ein solcher wirklicher Unabhängigkeitskampf in Europa kann nie und nimmer bei Fortbestehen der NATO – dieses Bollwerks für westliche Investorensicherheit – gelingen. Die Zerschlagung der NATO zusammen mit der imperialistischen russischen Militärmaschinerie ist vielmehr die Voraussetzung für einen Frieden, der letztlich nur in Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas von Dauer sein kann.

Dies mag heute utopisch erscheinen – es ist aber realistisch im Vergleich zu „Friedensverhandlungen“, die jetzt von offizieller Seite her vorgeführt werden und auf Dauer kein Ende des Gemetzels hervorbringen werden – sondern nur einen Zustand, der die Voraussetzung für einen nächsten Krieg darstellt.

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