Arbeiter:innenmacht

Erster Palästina-Strafprozess seit dem 7. Oktober: Lollo ist verurteilt, aber seine Integrität ist intakt

Martin Suchanek & Georg Ismael, Infomail 1237, 16. November 2023

Die Mühlen der Justiz mahlen zuweilen schnell, jedenfalls wenn es politisch erwünscht ist. Am 15. November fand der erste Palästina-Prozess im Zusammenhang mit der Kriminalisierungswelle ab Anfang Oktober gegen den Internationalisten und Antifaschisten Lollo am Amtsgericht Berlin Tiergarten statt.

Am 18. Oktober wurde der junge italienische Arbeiter Lollo in der Berliner Sonnenallee festgenommen. Seither befand er sich in Untersuchungshaft. Um zu einer raschen und harten Verurteilung zu gelangen, wurde der Fall im Schnellverfahren geführt. Der Prozess begann nach nur vier Wochen und endete am 15. November mit der Fällung des Urteils.

Lollo wurde zu einer Haftstrafe von 8 Monaten verurteilt, die auf Bewährung für drei Jahre ausgesetzt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte 10 Monate Haft, ausgesetzt auf 3,5 Jahre Bewährung, zuzüglich einer Geldstrafe von 1.000 Euro an das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e. V. gefordert.

Sowohl die Prozessführung, die Anklageschrift wie das abschließende Plädoyer der Staatsanwaltschaft zeigten, dass es hier nicht in erster Linie um einen Steinwurf auf gut ausgerüstete und geschützte Polizeikräfte ging. Es drehte sich darum, ein möglichst hohes Strafmaß gegen einen Internationalisten zu erzwingen. Dieser sollte als Antisemit  diffamiert und dadurch die Polizeigewalt des vergangenen Monats nachträglich gerechtfertigt werden. So sollte ein Präzedenzfall für die harte Verurteilung weiterer Kriminalisierter geschaffen werden, um die ideologische Grundlage für anstehende repressive Gesetzesverschärfungen zu legen.

Die Verhandlung

Verhandelt wurden schwerer Landfriedensbruch, schwere Körperverletzung und tätlicher Angriff auf Polizeibeamt:innen in Tateinheit sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt im zweiten Anklagepunkt. Von Seiten der Staatsanwaltschaft wurde dem Angeklagten zur Last gelegt, im Rahmen von verbotenen – wenn auch ursprünglich friedlichen – Protesten auf der Sonnenallee einen Stein auf einen Polizisten geworfen zu haben.

Zu Beginn der Verhandlung räumte der Angeklagte den Steinwurf ein. Ein Polizist, der getroffen oder verletzt wurde, konnte aber in den vier Wochen seit dem 18. Oktober nicht namhaft gemacht werden. Die als Zeug:innen geladenen Zivilpolizist:innen mussten denn auch eingestehen, dass der getroffene und gut geschützte Polizist der 35. Einheit keine Reaktion auf den Treffer zeigte.

Insbesondere wurde im Verlauf des Prozesses die Frage des Widerstandes gegen die Festnahme verhandelt. Sicher belegt wurde allerdings im Prozess durch ein Video vor allem, wie drei Polizisten mit enormer Brutalität bei der Festnahme vorgingen, die den jungen Mann, dessen Kopf scheinbar vor Sauerstoffmangel rot wurde, am Boden unter Anwendung von Schmerzgriffen fixierten und im weiteren Verlauf schlugen.

Da der Angeklagte kein Deutsch sprach, konnte er auch nicht verstehen, was die Polizei ihm sagte. Eine Person, die sich als Übersetzerin anbot, wurde physisch bedroht. Über seine Festnahme, den Grund dieser und seine Rechte setzte ihn die Polizei allerdings auch auf Deutsch zu diesem Zeitpunkt nicht in Kenntnis. Dafür setzte sie offenkundig auf „handfeste“ Argumente. Die Verhandlung zeichnete sich auch durch eine Reihe von Suggestionen von Staatsanwaltschaft und Richter aus, die den Polizist:innen bereits die Antworten in den Mund legten.

Insbesondere legte sich bei dem Gerichtstermin allerdings die Staatsanwaltschaft ins Zeug. Falls bei irgendjemandem Zweifel bestanden haben sollten, so machte sie gleich zu Beginn deutlich, dass es sich für sie um keinen normalen, sondern einen politischen Prozess handelte. In ihren Augen hätte sich der Angeklagte an antiisraelischen und antisemitischen  Protesten beteiligt. In diesen Zusammenhang müssten die ihm vorgeworfenen Taten eingeordnet und daher auch das Strafmaß, ganz im Sinne der deutschen Staatsraison, erhärtet werden.

Sowohl der Angeklagte wie auch sein Anwalt widersprachen zu Beginn und während des Prozesses dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft, dass der Angeklagte an antisemitischen Aktionen beteiligt gewesen wäre. Lollo wies deutlich und entschieden die Anschuldigung von sich, Antisemit zu sein. Er äußerte seine tiefe Verbundenheit mit antirassistischen und antimilitaristischen Ansichten. Vor allem, so betonte er, ging er gegen den Krieg und für Frieden auf die Straße. Er äußerte seine Betroffenheit darüber, das kriminelle Schweigen bezüglich der Angriffe auf Gaza mithilfe polizeilicher Gewalt durchzusetzen.

Selbst die Polizist:innen mussten feststellen, dass die einprägsamen Slogans in dieser Nacht und in diesen Tagen „Free Palestine“ oder „Free Gaza“ neben dem scheinbar sehr beliebten Spruch „Ganz Berlin hasst die Polizei“ waren. Selbst sie erklärten, auch ohne eine ursprüngliche Gefährdungslage den Protest am 18. Oktober aufgelöst und bereits zu Beginn der Ansammlungen Festnahmen ohne weitere Grundlage getätigt zu haben. Insofern stand Lollos eigene Gewalt der der Polizei nach, die bereits über eine Woche vor dem 18. Oktober und in ebendieser Nacht unter dem Motto „Dienst nach Vorschrift“ wütete. Die Polizeibeamt:innen äußerten, es sei nicht ihre Entscheidung, diese durchzusetzen. Sie würden es aber tun, wenn sie dafür die Befehle erhielten.

Der Verteidiger des Angeklagten betonte daher in seinem abschließenden Plädoyer, dass es bei diesem Prozess um den Zusammenhang ginge, in dem die dem Angeklagten vorgeworfenen Punkte verhandelt wurden: die drastischen Einschränkungen des Versammlungsrechts und grundlegender in der Verfassung verankerter demokratischer Rechte durch die deutsche und Berliner Regierung.

Er berichtete von Palästinenser:innen, die ihn in den vergangenen Wochen verzweifelt anriefen, weil sie Familienmitglieder verloren hatten und aufgrund des wochenlangen Verbots aller propalästinensischen Versammlungen keine Möglichkeit der öffentlichen Trauer zeigen konnten. Er sprach über Iris Hefets, ein Mitglied der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden“, die am 18. Oktober alleine mit dem Schild „Stoppt den Massenmord in Gaza!“ auf dem Hermannplatz protestieren musste, weil jede weitere Person zu einem Verstoß gegen das Versammlungsverbot geführt hätte.

Diese Erläuterungen verdeutlichten, wie ernst und massiv die Angriffe ausarteten, die auf politisch motivierten und rassistischen Verleumdungen seitens der Regierenden beruhten. Indirekt musste dem selbst der Richter stattgeben. Die von der Staatsanwaltschaft zynisch geforderte Geldstrafe, die einem Verein gegen Antisemitismus zugutekommen sollte, fand ihren Weg nicht in die Verurteilung. Hierüber, so können wir zum Zeitpunkt des Berichtes sagen, schwiegen oder hetzten gar die meisten bürgerlichen Journalist:innen, die den Prozess in großer Zahl begleiteten.

Die Stimmen der Anderen

Lollo stand heute als Erster, aber nicht Letzter stellvertretend für hunderte weitere Menschen, die festgenommen wurden und kriminalisiert werden sollen. Mehr als 27 Anzeigen sind bereits bei der Staatsanwaltschaft Berlin anhängig (Stand 14. November). Weitere 1.254 Fälle werden aktuell bei der Polizei vorbereitet (Stand 13. November). Auch hier drohen Urteile und politisch motivierte, erhöhte Strafmaße. Während die Verurteilung Lollos hart ist, so ist es der Staatsanwaltschaft nicht gelungen, ihn als Antisemiten zu diskreditieren und verurteilen.

Dies ist ein Ausdruck der ungebrochenen Solidarität zwischen jüdischen, palästinensischen und anderen in Deutschland lebenden Menschen, die in den vergangenen Wochen Seite an Seite auf die Straße gingen für gleiche soziale und demokratische Rechte und ein Leben in Frieden. Der Richter trug dem insofern Rechnung, als er die politische Einordnung der Staatsanwaltschaft nicht übernahm, sondern „neutral“ blieb. Viel wichtiger ist jedoch, dass Lollos politische Integrität in den Augen ehrlicher Prozessbeobachter:innen intakt blieb.

Was bleibt, ist die notwendige Aussicht auf gemeinsame Kampagnen gegen die Kriminalisierung unserer Bewegung. In den letzten Wochen wurden palästinensische Organisationen wie die Gefangenenhilfsorganisation „Samidoun“ verboten. Gegen weitere werden Verbote auf den Weg gebracht. Ferner werden Gesetze verschärft, die die Solidaritätsbewegung kriminalisieren und Migrant:innen mit zunehmender Aggressivität rassistisch stigmatisieren. Abschiebungen und Ausbürgerungen werden von etlichen Medien gefordert, von Politiker:innen befürwortet. Politische Abschiebungen wurden bereits in mehreren Fällen durchgeführt.

Gegen diese grundlegenden Angriffe auf demokratische Rechte, Verbote und Gesetzesverschärfungen müssen wir uns zur Wehr setzen, indem wir eine Solidaritätsbewegung aufbauen, die zuerst die Motive der Angeklagten sichtbar und ihre Stimmen hörbar macht.

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