Arbeiter:innenmacht

Homophobie, gibt’s das überhaupt noch hier?

Jaqueline Katherina Singh,Frauenzeitung Nr. 4, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION, März 2016

Im Alltag wird „schwul“ mal schnell als Synonym für „Scheiße“ genutzt oder gerne als Beleidigung geäußert, wenn sich ein Mann nicht seinem Stereotyp entsprechend verhält. Das „Coming Out“ Vieler wird belächelt und als Phase abgetan. Oder schlimmer: Freunde wenden sich ab, Mitschüler_innen wollen nicht, dass man sich im Sportunterricht in der gleichen Umkleidekabine umzieht und Eltern fangen an zu weinen, wenn man ihnen davon erzählt, und versuchen, es vor den Verwandten zu vertuschen. Auch Kolleg_innen, die gegen das Adoptionsrecht von gleichgeschlechtlichen Paaren wettern oder der Trans-Frau aus der anderen Abteilung abwertende Blicke zuwerfen, während sie hinterrücks abfällige Kommentare von sich geben, sind keine bloßen Einzelfälle. Es sind Beispiele, die den Alltag vieler Menschen beschreiben.

„Warum müssen die sich so zur Schau stellen? Niemand hat was gegen Schwule und Lesben“, tönt es von den Stammtischen. Dass dem nicht so ist, zeigt das Projekt Maneo. Die Berliner Initiative erfasst Gewalttaten gegen LGBTIA im Berliner Raum. Im Jahr 2014 hat sie 500 Fälle registriert, die in Zusammenhang mit Homophobie stehen. Die Dunkelziffer ist aber höher, denn ähnlich wie bei rassistischen und sexistischen Übergriffen werden die meisten Beleidigungen oder Übergriffe nicht gemeldet. Wenn doch, werden sie meistens nicht von der Polizei anerkannt und als solche registriert.

Auch die sogenannten „Demo für Alle“-Proteste zeigen auf, dass das Abweichen von der Heterosexualität noch lange nicht zur großen Selbstverständlichkeit geworden ist. Als man in Baden-Württemberg 2014 Homo- und Transsexualität  in den Lehrplan des Biologieunterrichtes  integrieren wollte, sind  „besorgte Eltern“ unter dem fadenscheinigen Titel „Demo für Alle! Ehe und Familie vor! Stoppt Gender-Ideologie und Sexualisierung unserer Kinder“ auf die Straße gegangen – natürlich nur, um ihre Kinder zu schützen.

Sicher ist, dass Homo- und Bisexualität akzeptierter sind als vor einigen Jahrzehnten, während man von Trans-, Inter- und Asexualität (oder sogenannten „Randgruppen“) lieber nicht spricht. Festhalten kann man allerdings auch, dass Aufklärungsprogramme an einzelnen Schulen oder Kampagnen nicht gereicht haben, um LGBTIA-Feindlichkeit vollkommen aus der Gesellschaft zu löschen. Ablehnung und Gewalt sind keine Einzelerfahrungen. Woran liegt das?

Angriff auf die bürgerliche Familie

Um diese Frage zu beantworten, muss man einen Blick in die Geschichte werfen. Die sexuelle Unterdrückung manifestiert sich in der bürgerlichen Familie und ist eng mit Frauenunterdrückung verbunden.

Die Familie hat im Verlauf der Jahrhunderte eine Entwicklung durchgemacht. Es ist falsch anzunehmen, dass schon immer Männer arbeiten gegangen sind, während die Frau treuergeben sich zu Hause um die Kinder gekümmert hat. Angefangen hat dies seit der Entstehung von Klassengesellschaften. Vorher existierten Clans und lose Verwandtschaftsgruppen.

Im Übergang zu den ersten Klassengesellschaften entwickelte sich die Ackerbaugemeinde mit patriarchalischer Großfamilie (Hausgenossenschaft). Die alten Sippenverbände lösten sich auf. Der Begriff Familie stammt aus dem Lateinischen famulus: der Sklave. Kriegsgefangene wurden zu Haussklaven, für Frauen musste ein Brautpreis bezahlt werden, dessen Vorschuss heranwachsende Männer beim Oberhaupt der Familie abarbeiten mussten. So entstanden sklavenähnliche Abhängigkeiten auch innerhalb der Familie, bei den Frauen und den Jungen. Die Familie ist somit auch Keimzelle der Ausbeutergesellschaften („primitive“ Haussklaverei), nicht nur Hort sozialer und sexueller Unterdrückung von Jugendlichen und Frauen.

Diese patriarchale Großfamilie, der Grund und Boden gehörte bzw. diesen von der (patriarchalen) Dorfgemeinde zugewiesen bekam, war die ursprüngliche Produktionseinheit, die Zelle der ersten Klassengesellschaft. Das heißt, alle Mitglieder dieser Großfamilie waren in den Produktionsprozess integriert.

Mit dem Beginn der kapitalistischen industriellen Revolution hat sich dies ebenfalls gewandelt. Zwar wurden anfangs alle Mitglieder des Familienverbandes in die Produktion miteinbezogen, aber man produzierte nicht mehr für sich selber, sondern arbeitete nur noch in kapitalistischen Fabriken und Landwirtschaftsbetrieben. Die Familie blieb erhalten, um die Arbeitskraft zu reproduzieren. Frauen mussten zuvor neben der Reproduktionsarbeit dezentral organisierte Heimarbeiten (Weben, Nähen etc.) verrichten. Im Zuge der Entwicklung und Rationalisierung der Produktivkräfte wurden sie Schritt für Schritt in den Produktionsprozess integriert. Die Einführung von Maschinen in der Industrieproduktion erlaubte es allen Teilen der Arbeiter_innenklasse – egal welchen Geschlechts oder Alters -, im Produktionsprozess nützlich zu sein. Zum einen, um die Löhne der Arbeiter zu drücken, da der Kapitalismus es schon damals als selbstverständlich ansah, Frauen schlechter zu bezahlen und zum anderen, um dem wachsenden Maß an gesellschaftlicher Arbeit gerecht zu werden. Zum Dritten verteilte sich der Wert der Arbeitskraft auf alle arbeitsfähigen Familienmitglieder.

Nicht endende Arbeitstage, sowie Kinder- und Frauenarbeit sorgten dafür, dass die Arbeiter_innen sich nicht reproduzieren konnten. In Zuge von Reformen wurden dann Arbeitsschutzgesetze erlassen, die die Einschränkung der Arbeitszeit und -tätigkeit – besonders für Frauen und Kinder – mit sich brachten. Dies bedeutete, dass die bereits existierende Trennung zwischen Hausarbeit und gesellschaftlicher Produktion verschärft und die Unterdrückung der Frauen dadurch verstärkt wurde

Im Zuge der Entwicklung der Arbeiter_innenaristokratie wurde das Ideal der bürgerlichen Familie in die Arbeiter_innenklasse getragen. Die Arbeiter_innenaristokratie, also der Teil der Klasse, der durch Lohnkämpfe zu mehr Wohlstand gelangte, konnten sich durch eben diesen Wohlstand es leisten, dass die Frauen nicht arbeiten gehen mussten, sondern zu Hause den Haushalt machen „durften“.  So wurde die bürgerliche Familie ebenfalls ein Ideal der Arbeiter_innenklasse, da der Reformismus auf der Arbeiter_innenaristokratie fußte und ihren Konservativismus verstärkte, statt ihn zu bekämpfen.

Was hat die Familie mit Homophobie zu tun?

Das Bild der Familie, die glücklich in ihrem Eigenheim Zeit verbringt und wo der Mann arbeiten geht, die Frau tagtäglich,  unermüdlich Hausarbeit verrichtet sowie sich um die Kinder kümmert, wurde jahrzehntelang propagiert und als Ideal verbreitet. Überall wo man hinschaut, sieht man in der Werbung und in Filmen stets das Bild der zufriedenen Eltern und glücklicher Kinder. Sexuelle Gewalt, Missbrauch und Frauen- sowie Jugendunterdrückung werden dabei gerne totgeschwiegen. Und das obwohl die Studie „Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen“ aus dem Jahr 2009 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgezeigt hat, dass etwa jede fünfte bis siebte Frau, die zum Befragungszeitpunkt in einer Paarbeziehung lebte (13 – 20 Prozent), in relevantem Maße Formen psychisch-verbaler Gewalt, Kontrolle und Dominanz durch den aktuellen Partner ausgesetzt war.

Wie wir schon festgestellt haben, ist die Familie ein Stützpfeiler des Kapitalismus. Sie regelt die Erbschaftsverhältnisse für die herrschende Klasse, während sie für die Arbeiter_innen als Reproduktionsort dient. Aber nicht nur das, sie dient in der Gesellschaft auch dazu, vorherrschende Werte und Normen zu reproduzieren, die dem Kapitalismus nutzen. Homosexualität passt da nicht rein, da es das Bestehen der Familie im klassischen Sinne angreift. Zum einen durch die Tatsache, dass Geschlechterstereotypen direkt damit angegriffen werden. Wer kümmert sich um die Kinder? Wer geht arbeiten? All das sind Fragen, die dadurch aufgeworfen werden. Auch den Ursprung der Transphobie kann man hier finden. Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die sich nicht dem Geschlecht, das ihnen bei Geburt zugeordnet worden ist, einfach „fügen“, ist für viele Konservative ein Graus aus genau dem Grund. Zum anderen greift Homosexualität die bürgerliche Familie an, weil sie Sex nicht nur zum Kinder Bekommen darstellt, sondern aufzeigt, dass man diesen auch zum Spaß und Vergnügen haben kann. Das stellt indirekt die Monogamie in Frage, die zentral für die Erbschaftslinien innerhalb des Kapitalismus ist.

Viele Lesende werden sich vielleicht fragen: Das ist ja alles gut und schön, aber ist es nicht gerade so, dass es die „typische“ Familie eigentlich nicht mehr wirklich gibt? Ja, das stimmt zum Teil. Aufgrund von unterschiedlichen Faktoren kann man sagen, dass es eine gewisse Auflösungstendenz der Familie innerhalb des Kapitalismus gibt. Konkret in Deutschland kann man das mit der angestiegenen Zahl alleinerziehender Mütter oder der Zunahme von sogenannten Singlehaushalten belegen.

Das hängt allerdings nicht damit zusammen, dass es progressive Schritte zur Auflösung der Familie gibt. Vielmehr schwindet die materielle Sicherheit, die die Basis für die Familie legt. Viele junge Leute arbeiten in prekären Verhältnissen und haben unsichere Zukunftsperspektiven. Leih- und Zeitarbeit, Praktika und schlecht bezahlte Ausbildungen laden nämlich die wenigsten dazu ein, sich über die Finanzierung eines Eigenheims oder von Kindern Gedanken zu machen. Dennoch ist das propagierte Ideal in den Medien die vierköpfige Familie.

Zwar gibt es Auflösungstendenzen der Familie im Kapitalismus und einen gewissen Spielraum für die Anerkennung der Rechte von LGBTIAs – die sind aber nicht von großer Dauer. In Krisenzeiten werden Kosten auf die Arbeiter_innen abgewälzt. Rechtspopulist_innen wie die AfD treten für die Stärkung der Familie ein – aus dem Grund, dass sie um ihre Erschütterung als Grundpfeiler des Kapitalismus wie aller vorhergehenden Klassengesellschaften fürchten. Das bezieht sich auf ihre Rolle als Reproduktionsort der Arbeitskraft bei den Lohnabhängigen, als Erbinstanz des Reichtums bei herrschenden und mittleren Klassen wie auch ihre Vermittlungsrolle für monogame, heterosexuelle  Sexualmoral. Die Familie ist im Kapitalismus wie die Ware eine Keimzelle der Gesellschaftsordnung, Stabilisatorin des Systems der Herrschenden!

Was heißt das konkret? Die Ablehnung von LGBTIA ist genauso wenig wie Sexismus oder Rassismus bloßes Resultat von Ideen in Köpfen von Menschen, die man einfach nur so durch genug Gespräche oder Aufklärungskampagnen wegkonstruieren kann. Sie besitzen eine materielle, sich stets reproduzierende Grundlage und sind Teil des Kapitalismus: die bürgerliche Familie, die die Trennung von Produktion und Reproduktion manifestiert. Doch was stellt man dieser entgegen?

Kämpfe verbinden!

An Schulen und Universitäten fordern wir die Aufnahme von LGBTIA-relevanten Themen in den Lehrplan durch Lehrende und Lernende. Beispielsweise müssen im Aufklärungsunterricht auch Sexualitäten neben der Heterosexualität erklärt werden – ohne negative Äußerungen. Außerdem treten wir für die Gründung einer Schüler_innen- und Studierendengewerkschaft ein, die nicht nur die Interessen der Lernenden vertritt, sondern sich auch aktiv gegen Diskriminierung einsetzt und diese thematisiert. Im Betrieb kämpfen wir für Betriebsgruppen, die sich gegen Sexismus, Rassismus und LGBTIA-Feindlichkeit positionieren und durch Veranstaltungen oder Betriebsversammlungen über die Diskriminierung aufklären. Wir treten zusätzlich für ein Caucusrecht auch für LGBTIAs in Gewerkschaften und anderen Organen der Arbeiter_innenklasse ein. Die Caucuses (Recht auf gesonderte Treffen von sozial Unterdrückten) sind wichtig, um von Diskriminierung Betroffenen den Raum zu geben, konkret über ihre Erfahrungen zu sprechen sowie mögliche Diskriminierung innerhalb der Organisationen äußern und für deren Abschaffung eintreten zu können. Sie stärken somit das Selbstbewusstsein, die Lernfähigkeit und Kampfkraft der Unterdrückten (Empowerment).

Am zentralsten für Revolutionär_innen ist aber die Forderung nach Vergesellschaftung der Hausarbeit. Diese greift die Trennung von Reproduktion und Produktion offen an – und somit die Wurzel der sexuellen Unterdrückung, die bürgerliche Familie. Erst die Sozialisierung der Reproduktionsarbeit erleichtert insbesondere das Los der proletarischen Frauen. Sie ermöglicht erst die vollständige und gleiche Verteilung aller Arbeiten auf alle Geschlechter und Menschen verschiedener sexueller Orientierung. Alle betreuen Alte und Kinder, unabhängig davon, ob es sich um eigene Verwandte handelt oder nicht. Alle lernen und praktizieren Berufe und Tätigkeiten, die ehemals getrennt nach Geschlechtern ausgeübt wurden. Sozialismus heißt eben auch: vollständige Sozialisierung der notwendigen Arbeiten!

Kampf gegen LGBTIA-Diskriminierung heißt auch: Kampf dem Sexismus, Kampf dem Rassismus! Wenn es darum geht, für die Rechte von Geflüchteten einzutreten, darf man explizite Schutzmaßnahmen für LGBTIAs nicht außen vorlassen, genausowenig wie für Frauen. Diskriminierung und Verfolgung in anderen Ländern sind legitime Fluchtgründe und LGBTIA-Feindlichkeit und Sexismus dürfen nicht für rassistische Hetze instrumentalisiert werden. Deswegen stehen wir für eine multiethnische, internationale Gesamtarbeiter_innenbewegung und insbesondere eine solche proletarische Frauenbewegung ein, die diese Kämpfe zusammenführt!

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