Arbeiter:innenmacht

Die Russische Revolution und ihre Kritiker

Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Vorwort der Redaktion

Im folgenden veröffentlichen wir eine ausführliche Auseinandersetzung mit den wichtigsten Argumenten von bürgerlichen und kleinbürgerlich-linken Kritiker der russischen Oktoberrevolution 1917. Der Artikel wurde erstmals im Revolutionären Marxismus Nr. 23 im Jahre 1997 publiziert. Seitdem hat sich das ideologische Klima in der bürgerlichen Gesellschaft und der Arbeiterbewegung erheblich geändert. Damals war die Bourgeoisie weitaus selbstbewußter und viele hielten den Gedanken an eine anti-kapitalistische gesellschaftliche Alternative – oder gar eine Revolution – für altmodisch und endgültig passe. Heute hingegen prägen Krisen, Kriege und Zukunftsangst das Denken vieler und auch die bürgerlichen Intellektuellen sprechen nicht mehr so mutig vom „Ende der Geschichte“, das mit der kapitalistischen Marktwirtschaft und der parlamentarischen Demokratie erreicht worden wäre. Und der Begriff „Revolution“ ist von einem anrüchigen Fremdwort zu einem häufig anzutreffenden Schlagwort in politischen Diskussionen und auf Demonstrationen geworden.

Nichtsdestotrotz sind die Feinde der Oktoberrevolution in den Reihen der bürgerlichen und linken Intellektuellen zahlreich geblieben und auch ihre Argumente haben sich nicht geändert. Aus diesem Grund bleiben auch die von uns in diesem Artikel dargelegten Analysen und die Positionen von höchster Aktualität. Der Artikel wurde daher unverändert gelassen.

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Die Oktoberrevolution 1917 stellt die mit Abstand wichtigste gesellschaftliche Umwälzung der letzten hundert Jahre dar. Sie verkörpert den ersten und bislang einzig erfolgreichen Versuch der Arbeiterklasse, den Kapitalismus zu stürzen und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. In ihrer historischen Bedeutung innerhalb der Neuzeit kommt ihr nur die Französische Revolution 1789 gleich. Der Zusammenbruch der stalinistischen Herrschaft – dieser Antipode zum revolutionären Sozialismus – führte geradezu zwangsläufig zu einem Aufleben der Diskussion über die Legitimität der Oktoberrevolution. Unter dem Eindruck des scheinbar endgültigen Triumphes des Kapitalismus gewannen die bürgerlichen Ideologen, für die 1917 schon immer den Schandfleck des Jahrhunderts darstellte, weiter an Selbstvertrauen und die halbherzigen Freunde der Oktoberrevolution wurden noch halbherziger. Da nach 1991 für kurze Zeit die bislang geheimen Archive der KPdSU geöffnet wurden (1), bestand ein zusätzlicher Antrieb für die literarische Neuaufarbeitung dieser zentralen Frage. Es ist also nur allzu natürlich, daß in den letzten Jahren eine Reihe neuer Publikationen zum Thema Oktoberrevolution erschien. Wir werden uns im Folgenden mit einigen der wesentlichsten Einwände und Vorwürfe gegen die Revolution und die Bolschewiki auseinandersetzen.

Die Revolution im Feuer ihrer bürgerlichen Kritiker

Der Sturm auf das Winterpalais entfachte umgehend einen Sturm der Entrüstung und Verleumdung seitens der bürgerlichen und reformistischen Advokaten – in Rußland und weltweit. Die Oktoberrevolution erlitt im Grund genommen das gleiche Schicksal, das jeder großen Revolution wiederfährt: sie wird zuerst als utopisches Abenteuer denunziert und dann mit Greuelpropaganda überhäuft. So erging es dem englischen bürgerlichen Revolutionär Oliver Cromwell, so erging es natürlich auch den französischen Revolutionären nach 1789 und schließlich ebenso den Bolschewiki. Das ist nur allzu natürlich, findet der Klassenkampf nicht nur auf politischer und ökonomischer, sondern auch auf ideologischer Ebene statt – und Geschichtsfälschung gehört nun einmal zum Arsenal bürgerlicher Ideologen. Für die Vertreter der „alten Ordnung“ ist alles erlaubt, um die Entstehung einer neuen, revolutionären Ordnung zu verhindern. So wie uns heute die bürgerlichen Ideologen weiß machen wollen, daß der Kapitalismus das beste und einzig mögliche aller Gesellschaftssysteme und eine Revolution daher völlig utopisch und unnatürlich sei (2), so erging es schon damals den Bolschewiki. Nur ein Monat vor der Revolution spottete das Zentralorgan der Kadetten, der Hauptpartei des russischen Bürgertums: „Aber trotz ihres ganzen rhetorischen Draufgängertums, ihrer prahlerischen Phrasen, ihres zur Schau getragenen Selbstvertrauens sind die Bolschewiki, mit Ausnahme einiger weniger Fanatiker, bloße Maulhelden. Die ‚ganze Macht‘ zu übernehmen würden sie aus eigenem Antrieb nicht versuchen. (…) Genausogut wie wir alle verstehen auch sie, daß der erste Tag ihres endgültigen Triumphs zugleich auch der erste Tag ihres jähen Niederganges wäre. (…) Die beste Art, den Bolschewismus auf lange Jahre loszuwerden, sich seiner zu entledigen, wäre es, die Geschicke des Landes in die Hände seiner Führer zu legen.“ (3) Ohne Zweifel ein bemerkenswertes Zitat, wenn man bedenkt, daß die russische Bourgeoise kurz darauf für viele Jahrzehnte ihre Macht verlor und enteignet wurde. Gleichzeitig und gerade wegen ihrer Niederlage griffen die Bürgerlichen und die Sozialdemokraten zum Mittel der Verleumdung. Und heute fühlen sie sich noch sicherer – nach dem scheinbaren Endsieg des Kapitalismus, in Wirklichkeit aber seiner Niedergangsperiode – und es hagelt umso mehr Verdrehungen und Lügen. Letztlich bestätigen sie damit nur, was schon der marxistische Historiker Roman Rosdolsky feststellte: Die Unmöglichkeit des Historikers neutral zu bleiben (4).

War die Revolution ein Putsch?

Einer der beliebtesten Einwände gegen die Oktoberrevolution besteht in der Unterstellung, die Revolution sei nicht Ausdruck des Willens der Bevölkerung gewesen, sondern bloß ein Putsch einer kleinen, zu allem entschlossenen Verschwörergruppe. Der US-amerikanische Historiker Richard Pipes – einer der Voreiter der konservativen Diffamierung der Oktoberrevolution, des Bolschewismus und der Persönlichkeit Lenins – wiederholt diese These dutzendemale in seinen Publikationen. Für ihn gibt es nur den „Oktoberputsch“, bei dem es sich um einen „klassischen Staatsstreich“ einer gut organisierten „Verschwörergruppe“ handelte, die nur durch Terrormethoden an der Macht bleiben konnte (5). Selbst der vergleichsweise seriöse deutsche Historiker Helmut Altrichter spricht in seinem neuen Buch von einem „Putschversuch von links (6)”. All diese Anwürfe sind weder neu noch originell. Sie wurden in der langen Chronologie anti-kommunistischer Geschichtsschreibung regelmäßig vorgebracht. Nicht nur konservative, sondern auch sozialdemokratische Publizisten haben vom ersten Tag der Revolution an versucht, diesen Mythos zu verbreiten. Die menschewistische Tageszeitung „Rabocaja gazeta“ schrieb am Tag nach der Machtergreifung, daß es sich hier weder um eine Revolution noch um einen Aufstand, sondern um ein „Militärkomplott“ handle. Einen Tag später wiederholte sie noch einmal: „Keine Commune, kein Aufstand des Proletariats…, sondern eine kalt berechnete Verschwörung…“ Auch das sozialrevolutionäre Zentralorgan „Delo narodna“ bezeichnete die Revolution als bloßen „Militärputsch (7)“.

Bei dieser Charakterisierung sind die allermeisten bürgerlichen und reformistischen Historiker geblieben. Sie hat dadurch aber auch nicht mehr mit der Wahrheit gemein. Ohne Zweifel war der Akt der unmittelbaren Machtübernahme selber eine gut organisierte Aktion, die weitgehend unblutig verlief (8). Leider besitzen nur wenige Gegner der Oktoberrevolution die intellektuelle Integrität, die relative friedliche Machtübernahme durch die Sowjets als Beweis dafür anzusehen, daß die Revolution eben nicht auf breite Ablehnung in der Bevölkerung stieß. Wie ist eine relativ friedliche Umwälzung in einem Land möglich, in dem faktisch alle Parteien über bewaffnete Kräfte verfügten und daher die Möglichkeit hatten, gegen die Machtübernahme der Sowjets militärisch vorzugehen? Diese einfache Frage können die Verteidiger der bürgerlichen Ordnung nicht befriedigend beantworten. Dabei liegt die Erklärung auf der Hand: Die Parteien der alten Ordnung – die Kadetten (9), die Sozialrevolutionäre (10), die Menschewiki (11) – hatten politisch abgewirtschaftet und waren in den Augen der Massen  weitgehend diskreditiert. Die Kräfte, die sie unterstützten, fühlten diese Isolierung stärker als ihre Führer und waren daher auch nicht bereit, in den entscheidenden Tagen des Oktobers ihnen zu Hilfe zu kommen. „Die Kadetten, die in Petrograd bei den Wahlen Zehntausende Stimmen auf sich sammelten, konnten im Augenblick der Todesgefahr für das bürgerliche Regime nicht dreihundert Kämpfer aufbringen.“ (12) Auch der eingeschworene Feind der Revolution, Richard Pipes, muß sowohl die Schwäche als auch die enge Klassenbasis der Regierungsanhänger eingestehen: „Schließlich zeigte sich, daß die einzigen Bewohner der Stadt, die bereit waren, die Demokratie zu verteidigen, junge Männer von den Militärakademien, Universitäten und Gymnasien waren…“ (13)

Die Bolschewiki konnten dagegen nicht nur auf eine viel breitere und entschlossenere Unterstützung vieler Kämpfer vertrauen (14). Noch viel wichtiger und entscheidender ist die Tatsache, daß die große Mehrheit der Arbeiter und Soldaten in den Städten den Kurs der Bolschewiki unterstützten. Die Anhängerschaft der reformistischen Parteien dagegen schmolz dahin. In den Zentren des Landes gewannen die Bolschewiki im Laufe des Septembers die absolute Mehrheit in den Arbeiter- und Soldatenräten. Die Sowjets in Petrograd, dann Moskau und schließlich in einer Reihe anderer kleinerer und größerer Städte forderten in ihren Resolutionen „Alle Macht den Sowjets“, die Bildung Roter Garden, Arbeiterkontrolle über die Fabriken, Enteignung der Großgrundbesitzer und sofortige Beendigung des Krieges. Und sie wählten eine entsprechende Sowjetexekutive mit bolschewistischer Mehrheit (15). Je direkter und unmittelbarer die jeweiligen Organe die Basis vertraten, umso linker waren sie. Dies zeigte sich in dem noch stärkeren Einfluß der Bolschewiki in den Bezirkssowjets Petrograds oder im geradezu überwältigenden Übergewicht in den Fabrikskomitees. Im Anfang Juni von einer gesamtstädtischen Konferenz gewählten Zentralrat der Petrograder Fabrikkomitees stellten die Bolschewiki 19 von 25 Mitgliedern. Auf dem II. All-Russischen Kongreß der Fabrikskomitees unterstützten mehr als 80% der Delegierten die bolschewistischen Resolutionen. Auch bei den bürgerlich-parlamentarischen Wahlen kam das Anwachsen des bolschewistischen Einflusses unverkennbar zum Ausdruck. Noch im August – vor dem Kornilow-Putsch (16) und dem damit verbundenen Linksruck bei den Massen – vergößerten die Bolschewiki ihren Stimmenanteil bei den Wahlen zur Petrograder Stadtduma von 20.4% (Mai) auf 33.3%. Bei den Kommunalwahlen in Moskau errangen sie sogar die absolute Mehrheit mit 50.9%, während die Sozialrevolutionäre gegenüber den Wahlen zur Stadtduma im Juni von 56.2% auf 14.4% zurückfielen und die Menschewiki von 12.6% auf 4.1%. Ebenso wurden die Bolschewiki bei den zu dieser Zeit stattfindenden Stadtparlamentswahlen in Samara und Tomsk zur stärksten Partei.

Der Aufstand im Oktober war nicht das Projekt einer kleinen Verschwörergruppe, sondern drückte den tiefen, ja fast schon verzweifelten Wunsch der Arbeiter und Soldaten nach einer radikalen Umwälzung aus. Jahrelang mußten sie unter dem Zarenregime zu Hungerlöhnen schuften, mehrere Arbeiterfamilien teilten sich zumeist eine kleine Wohnung, Hunderttausende, ja Millionen starben an der Front, die Bauern erstickten unter der stetig wachsenden Last der Pacht und die unterdrückten Nationen waren nicht länger gewillt, die großrussischen Bajonette zu dulden. Als die Februarrevolution den Zaren stürzte und die Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki an die Macht hievte, erwarteten die Massen, daß diese ihre Versprechen einhalten und die drängendsten Probleme lösen würden: die Beendigung des Krieges, soziale Sicherheit und die Aufteilung des Bodens. Alleine, diese erwiesen sich als komplett unfähig. Von Anfang an paktierten Sozialrevolutionäre und Menschewiki mit den Bürgerlichen, schoben die Landreform hinaus, unterstützten die Fortsetzung des Krieges (17) und scheuten vor der Enteignung der Kriegsgewinnler und der Banken zurück. Wenn wundert es, daß v.a. in der Hauptstadt – dem Zentrum des gesamten politischen Geschehens Rußlands – die Bolschewiki rasch an Unterstützung gewannen. Ihre zentralen Losungen „Nieder mit dem Krieg“, „Alle Macht den Sowjets“, „Raus mit den zehn kapitalistischen Ministern“ (18) spiegelten von Woche zu Woche mehr die Stimmung der Massen wider. Auf der Petrograder Großdemonstration am 18. Juni mit mehr als 400.000 Teilnehmern dominierten die Bolschewiki: „90% der Fahnen und Plakate trugen die Losungen des Zentralkomitees der Bolschewiki … Für die Provisorische Regierung waren nur drei Plakate.“ (19) Die Juli-Tage, bei denen wiederum viele Hunderttausende in der Hauptstadt mit der Waffe in der Hand für die Machtübernahme durch die Sowjets demonstrierten, spiegelten die wachsende Ungeduld der Massen mit ihrer offiziellen Führung in den Sowjets wieder. Und auch die militärische Niederschlagung dieser Demonstration und die Verfolgung der Bolschewiki (mit aktiver Unterstützung durch die reformistische Sowjetexekutive!) konnten nur kurz den ansteigenden Einfluß der Bolschewiki aufhalten. Als am 12. August eine sogenannte Staatskonferenz zur Unterstützung der Regierung in Moskau zusammentrat, organisierten die Bolschewiki gegen (!) den Willen der Mehrheit der offiziellen Sowjetführung einen erfolgreichen Generalstreik. Die gesamte Stadt folgte dem Aufruf: Alle  Betriebe, Straßenbahnen und Geschäfte standen an dem Tag still, als die Spitzen der herrschenden Klasse und der Reformisten zusammentraten. Sogar die Angestellten des Bolshoi-Theaters, wo die Konferenz stattfand, streikten, weswegen sich die Delegierten ungewohnterweise selber verpflegen mußten. Die Zeit war gekommen, wo selbst die Gegner der Bolschewiki eingestehen mußten: „…, daß die Bolschewiki keine unverantwortliche Gruppe sind, sondern eines der Elemente der organisierten revolutionären Demokratie, hinter denen die breite Masse steht …“ (20)

Der von den Bolschewiki organisierte bewaffnete Aufstand fußte nicht einfach auf irgendwelchen Umsturzplänen des Zentralkomitees, sondern auf dem expliziten Willen der wichtigsten Sowjets des Landes. Der Petrograder Sowjet stellte am 9. Oktober fest: „Die Rettung Petrograds und des Landes liegt im Übergang der Macht in die Hände der Räte.“ Und der Moskauer Sowjet machte zwei Tage später unmißverständlich klar: „Nur die sofortige Machtergreifung durch den Rat der Arbeiter- , Soldaten- und Bauern-Deputierten kann das Land und die Revolution vor dem Untergang retten.“ (21) All diese Tatsachen haben nicht nur die Sympathisanten der Bolschewiki, sondern auch ihre seriösen Gegner veranlaßt, die breite Massenunterstützung für den Oktoberaufstand einzugestehen. Martow, der Führer der Menschewiki, mußte feststellen: „Fast das gesamte Proletariat unterstützt Lenin“. (22) Ein anderer menschewistischer Zeitzeuge, Suchanow, schreibt in seinem „Tagebuch der russischen Revolution“: „Es ist sichtlich unsinnig, von einem Militärputsch statt von einem Volksaufstand zu sprechen, wenn hinter der Partei der überwältigende Teil der Bevölkerung steht und die Partei de facto die gesamte reale Macht und Autorität erobert hat.“ (23) In seiner berühmten Reportage der Oktoberrevolution zitiert der US-amerikanische Journalist John Reed einen der Führer des „Komitees zur Rettung des Vaterlandes“, welches von den Sozialrevolutionären und dem rechten Flügel der Menschewiki nach der Machtübernahme der Sowjets gebildet wurde und den bewaffneten Kampf gegen die neue Regierung organisierte: „Um die Wahrheit zu sagen, die Massen folgen zur Zeit den Bolschewiki. Wir können nicht eine Handvoll Soldaten auf die Beine bringen.(…) Bis zu einem gewissen Grade haben die Bolschewiki recht. Es gibt gegenwärtig in Rußland in der Tat nur zwei Parteien von nennenswerter Macht, die Bolschewiki und die Reaktionäre, die sich hinter den Rockschößen der Kadetten verbergen.“ (24) Und auch bürgerliche Historiker wie Oskar Anweiler müssen dies zugeben: „In den Arbeiterräten der weitaus meisten Industriestädte hatten die Bolschewiki die Mehrheit, ebenso in den meisten Soldatenräten der Garnisonsstädte.“ (25) Und schließlich kommt auch der oben zitierte deutsche Historiker Altrichter nicht umhin zuzugestehen: „Wieviel sie immer dazu beigetragen haben, der Ausgang (der Oktoberrevolution – d.A.) wurde in weiten Teilen der Arbeiterschaft auch als ‚ihr‘ Sieg empfunden.“ (26) Wir überlassen es den unverbesserlichen Demagogen wie Richard Pipes, die historische und politische Legimität der Oktoberrevolution zu bestreiten. Die russische Arbeiterklasse hat ihr Wort am Tage des Aufstandes klar und unmißverständlich gesprochen: Auf dem II. All-Russischen Sowjetkongreß, der während des Aufstandes tagte, stimmten æ aller Delegierten für Machtübernahme durch die Sowjets. Das ist die geschichtliche Wahrheit, die niemand ungeschehen machen kann.

Sowjetmacht und Demokratie

Ein weiterer fundamentaler Einwand der Kritiker des Oktobers besteht darin, dem Sowjet-System jegliche Legitimität abzusprechen. Die Räte wären nur Versammlungsorte eines radikalen und von den Bolschewiki manipulierten Mobs gewesen. Die wirkliche Demokratie dagegen hätte sich in den Wahlen der Konstituierenden Versammlung widergespiegelt und bei dieser haben die Bolschewiki bekanntlich keine Mehrheit erlangt. Zwar bereitet es so engagierten Gegnern der Sowjet-Macht wie Richard Pipes gewisse Kopfzerbrechen, wenn sie eingestehen müssen: „Der Auflösung der Konstituierenden Versammlung begegnete die Bevölkerung mit erstaunlicher Gleichgültigkeit“. Aber sie halten trotzdem an ihrer Verdammung der Rätedemokratie fest.

Dieser Einwand verfehlt den historischen Tatbestand sowohl auf grundsätzlicher als auch auf faktischer Ebene. Beurteilen wir zuerst die Frage der demokratischen Repräsentativität. Bekanntlich liegt der wesentliche Unterschied zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Demokratie darin, daß sich bei ersterer die Mitbestimmung aller Bürger – unabhängig von ihrer Klassenposition – auf das Ausfüllen eines Stimmzettels alle paar Jahre beschränkt. Die proletarische Demokratie dagegen zeichnet sich durch eine permanente Beteiligung der Massen – also in erster Linie der Arbeiter (in Rußland natürlich auch der Soldaten und Bauern) – am Diskussions- und Entscheidungsprozeß aus. Räteorgane – unabhängig davon, welchen genauen Namen sie tragen (27) – fußen auf Vollversammlungen der Basis und die gewählten Vertreter, die den gleichen Lohn wie ihre Basis erhalten, sind jederzeit rechenschaftspflichtig und abrufbar. Das historisch Einmalige der Räte besteht darin, daß sich die Unterdrückten – jene, die ihr Leben lang im Betrieb und bei allen gesellschaftlichen Fragen immer nur Entscheidungen hinnehmen mußten, über deren Köpfe immer hinweg entschieden wurde – ,daß diese Unterdrückten zum ersten Mal nicht mehr rumgeschubst werden, sondern aus ihrer Rolle als passive Befehlsempfänger heraustreten und die Dinge, die sie betreffen, selber diskutieren und entscheiden. Die Räte sind der entscheidende Transmissionsriemen, durch die die Unterdrückten von Sklaven zu handelnden Subjekten werden.

Wenn man die konkrete Entwicklung der russischen Revolution betrachtet, kann man genau diese Herausbildung der Selbsttätigkeit der Arbeiter und Soldaten erkennen. Die Fabrikkomitees z.B. – das waren regelmäßige Vollversammlungen der Lohnabhängigen bzw. deren gewählte und jederzeit abwählbare Vertreter – nahmen von der Kontrolle über die Buchführung, über die Regelung der Arbeitsbedingungen bis zur Bildung von Arbeitermilizen viele wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in die Hand (28). Ebenso kümmerten sie sich, wie auch viele lokale Sowjets, um kulturelle Fragen – von der Alphabetisierung bis zu Theatervorführungen.(29) Wenn wir damit die bürgerliche Demokratie in Rußland vergleichen, so springt der Unterschied ins Auge. Erstens muß man an dieser Stelle erwähnen, daß die Provisorische Regierung – von der die Sowjets die Macht übernahmen – nie gewählt wurde. Sie versprach Wahlen zu einer Konstitutierenden Versammlung, aber zögerte diese wiederholt hinaus. Sie fürchteten diese Wahlen, weil sie große Verluste befürchteten (nicht zu Unrecht, wie die Wahlen zeigen sollten). Es war die Regierung der Sowjets, die umgehend nach der Machtübernahme die Wahlen ermöglichte.

Darüberhinaus liegt der zentrale Mangel der bürgerlichen Demokratie darin, daß sie aufgrund der Abgehobenheit gar nicht in der Lage ist, die Diskussionen, Meinungsumschwünge usw. unter den einfachen Wählern widerzuspiegeln. Man kann ja erst wieder in vier Jahren zur Wahl gehen. In einer Revolution wird die Zeit nicht nach Jahren, sondern nach Monaten und Wochen gemessen. Das konnte man besonders deutlich im Herbst 1917 erkennen. Während die parlamentarischen Stadtdumas in Petrograd, Moskau usw. nicht mit der Meinungsbildung der Arbeiter und Soldaten mithalten konnten, waren die Sowjets deren lebendiger Ausdruck. Die einen repräsentierten das Rußland von gestern, die anderen das Rußland von heute. Ebenso zeigte sich dies bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. Die traditionelle Partei der Bauern, die Sozialrevolutionäre, ging mit 40% der Stimmen als stärkste Partei aus den Wahlen. Doch sie hatten sich kurz vor dem Umsturz gespalten. Der linke Flügel unterstützte die Machtübernahme durch die Sowjets sowie eine radikale Umverteilung des Bodens an die kleinen und landlosen Bauern. Sie bildeten daher eine Koalition mit den Bolschewiki. Der rechte Flügel dagegen unterstützte die alte Regierung und lehnte eine konsequente Agrarrevolution ab. Während der linke Flügel das Vorwärtsdrängen der verarmten Bauern widerspiegelte (in der zweiten Hälfte des Jahres 1917 kam es zu einem explosiven Anwachsen der spontanen und gewaltsamen Aneignungen gutsherrlicher Güter durch die Bauern (30)), repräsentierte der rechte Flügel die konservative Einstellung des Kulaken. In der Realität war diese Partei durch eine soziale Trennwand gespalten (und diese sollte auch nie wieder überwunden werden), aber auf den Formularen der Wahllisten für die Konstituierende Versammlung erschien sie nach wie vor als eine gemeinsame Partei. Nur ca. 1/10 der sozialrevolutionären Abgeordneten konnten dem linken Flügel zugeordnet werden.(31) In den Sowjets konnte dies aufgrund der permanenten Abwählbarkeit rasch korrigiert werden, in der Konstituierenden Versammlung ihrer Natur entsprechend nicht (32).

Es ist weiters bemerkenswert, daß – wenn man von dem breiten und entgegengesetzte Positionen in sich vereinigenden Schwamm der Sozialrevolutionären Partei absieht – die anderen Parteien der Provisorischen Regierung eine herbe Abfuhr erlitten. Die Kadetten, die Hauptpartei der Bourgeoisie errangen knapp 5% der Stimmen und die Menschewiki überhaupt nur 3%. Die Bolschewiki dagegen konnten als zweitstärkste Partei nicht nur 25% aller Stimmen auf sich verbuchen, sondern gewannen auch die klare Mehrheit unter den Arbeitern und Soldaten sowie in der Mehrzahl der Städte.

Letztlich jedoch können die Ereignisse von 1917 und danach nur dann verstanden werden, wenn man sie in die gesellschaftliche Klassendynamik ihrer Zeit einordnet. Jeder ernstzunehmende Sozialwissenschaftler – auch die bürgerlichen – gesteht heute zu, daß sich das Bürgertum hinter die Kadetten und nach der Revolution die Weißen stellte. Ebenso unbestritten ist die Tatsache, daß das Proletariat in seiner großen Mehrheit die Bolschewiki unterstützte. Dies ist natürlich kein Zufall, sondern belegt vielmehr die alte marxistische These, daß Parteien der politische Ausdruck konkreter Klasseninteressen sind. Um es noch genauer zu formulieren, repräsentierten die Aktivisten der Kadetten und die militärischen Kader der Weißen die politische Avantgarde der bürgerlichen Konterrevolution, die Bolschewiki dagegen die proletarische Vorhut. Diese beiden Klassen stellen in der kapitalistischen Gesellschaft die sozialen Hauptkräfte dar, die sich in einem permanenten Kampf um die Aneignung des Mehrwerts und um politische Macht befinden. Die Bourgeoisie ist von Natur her eine numerisch kleine, aber aufgrund des Besitzes der Produktionsmittel ökonomisch eben bedeutsame Klasse (33). Das Proletariat ist dagegen eine große und wachsende Klasse, aber selbst diese Klasse repräsentiert nicht immer die Mehrheit in der Bevölkerung: In wirtschaftlich rückständigen Ländern wie einigen halbkolonialen Staaten oder eben auch dem damaligen Rußland stellen die kleinbürgerlichen Klassen, v.a. die Bauern den größten Teil der Bevölkerung. Diese Klasse ist von ihrer sozialen Natur – ihrer Zersplittertheit in Kleineigentümer, ihrer Gebundenheit an rückständige Produktionsformen etc. – nicht in der Lage, eine eigenständige politische Rolle zu spielen. Ein kurzer historischer Überblick über das Schicksal von Bauernparteien bestätigt dies. Sie sind dazu verdammt, sich einer der beiden Hauptklassen der Gesellschaft anzuschließen. So auch in der russischen Revolution. Den Sozialrevolutionären gelang es nie, die treibende Kraft in der Revolution zu werden. Es war immer die Stadt, die den Rhythmus der Ereignisse vorgab. In Petrograd und Moskau wurde der Zar gestürzt, in diesen Städten wurde das Schicksal der Revolution bestimmt und schließlich entschieden. Daher spalteten sich letztlich die Sozialrevolutionäre, und die bäuerlichen Oberschichten schlossen sich der Bourgeoisie an und die unteren Schichten gingen mit dem städtischen Proletariat, sprich mit den Bolschewiki. Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die diese Dynamik erkannte und ihre Strategie darauf aufbaute. Ihre Politik der konsequenten Landaufteilung fand die natürliche Unterstützung der kleinen Bauern. Auch wenn sie noch mit dem Stimmzettel ihre traditionelle Partei wählten, in der Praxis gingen sie viel weiter und folgten unbewußt dem bolschewistischen Programm. Lenin formulierte dies treffend: „Die Bauern haben mit den Füßen abgestimmt“.

Damit ist auch ein ganz wesentlicher Teil des „Wunders“ benannt, warum die Russische Revolution siegreich der geballten weißen Konterrevolution, der militärischen Intervention von 21 ausländischen Staaten und der Hungerblockade, die diese Staaten über Rußland verhängten, trotzen konnte: Das ist die smytschka, das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft, unter Führung ersterer. Die Bauern, auch wenn viele nicht das volle Programm der Bolschewiki teilten, verstanden, daß nur die bolschewistische Herrschaft ihnen den neuerworbenen Landbesitz bewahren konnte, während die weiße Konterrevolution die Landwegnahme und Wiedereinsetzung der Gutsherrenherrschaft bedeutet hätte. Deswegen standen die Bauern, wenn auch z.T. widerwillig, auf Seiten der Roten Armee. Es war diese Erfahrung der Oktoberrevolution, die Trotzkis These der permanenten Revolution so eindrucksvoll bestätigte. Schon nach der Revolution von 1905 erkannte Trotzki, daß die bürgerlich-demokratischen Aufgaben (Landreform, demokratische Freiheiten etc.) in den rückständigen und halbkolonialen Ländern nur durch die Arbeitermacht, die Diktatur des Proletariats, gelöst werden können. 1917 zeigte, daß eine schematische Trennung in zwei voreinander getrennte und unabhängige Etappen – zuerst eine bürgerlich-demokratische Revolution unter Führung der Bourgeoisie und dann später eine sozialistische Revolution unter proletarischer Führung – ein illusionäres Hirngespinst ist, dem zuerst die Menschewiki und dann die Stalinisten anhingen.

Der rote Terror

Ein weiterer und vielleicht der schwerwiegendste Vorwurf faktisch aller Gegner der Oktoberrevolution – von den Bürgerlichen über die Reformisten bis zu den Anarchisten besteht in der Behauptung, daß die Bolschewiki die Sowjetdemokratie nur als Vorwand benutzten um eine Terrorherrschaft zu errichten. Der rote Terror wäre keine Reaktion, sondern von Anfang an geplantes Machtinstrument gewesen: „Hier wird auch deutlich, daß die These, der revolutionäre Terror sei nur gezwungenermaßen eine Antwort auf konterrevolutionäre Gewalt gewesen, eine Lüge ist.“ (34)

Entgegen all diesen Unterstellungen und Lügen, stand die bolschewistische Revolution unter dem Banner der Abschaffung jeglicher Unterdrückung. Dies war nicht bloß eine Phrase in irgendwelchen bolschewistischen Deklarationen, sondern die praktische Politik. Die Oktoberrevolution war zu Beginn durch eine fast schon naive Menschlichkeit gekennzeichnet. Die Junker in Moskau, welche während der Kämpfe des Oktoberaufstandes dutzende gefangene Rotgardisten massakrierten, wurden nach ihrer Gefangennahme und Entwaffnung auf freien Fuß gesetzt und mußten nur versprechen, nicht wieder die Waffen gegen die Sowjetmacht zu erheben. Die Führer der alten Ordnung wurden entweder nur kurzzeitig verhaftet, unter Hausarrest gestellt oder wiederum gegen ein Versprechen freigelassen. Ein bekanntes Beispiel zeigt, wie weit diese – man muß fast sagen allzu – humane Politik ging: Als in den Wochen nach der Oktoberrevolution Kerensky zu dem reaktionären Kosaken-General Krasnow floh, organisierte dieser einen Feldzug gegen Petrograd, um die Sowjet-Macht zu stürzen. Das Unternehmen scheiterte, da erstens die Rotgardisten entschlossenen Widerstand leisteten und zweitens die einfachen Soldaten keine Lust hatten, sich in dieses konterrevolutionäre Abenteuer hineinziehen zu lassen. Das Ganze endete damit, daß die Kosaken selber ihren General festnahmen und den Bolschewiki aushändigten. Anstatt die konterrevolutionären Aufrührer zu erschießen oder zumindest auf Jahre hin einzusperren, setzten sie ihn am Abend desselben Tages gegen das Versprechen, nicht mehr bewaffnet gegen die Sowjetmacht zu kämpfen, auf freien Fuß! General Krasnow „dankte“ diese Großmütigkeit der Revolution damit, daß er nur wenige Monate später erneut eine konterrevolutionäre Armee organisierte und in seinem Herrschaftsgebiet ein wahrhaftiges Terrorregime errichtete. Eine der ersten Maßnahem der neuen Sowjetregierung – des Rats der Volkskommissare – war die Aufhebung der Todesstrafe. Viele der Gefangenen wurden auf freien Fuß gesetzt.

Die Intentionen und die Praxis der Revolution war das genaue Gegenteil einer Terrorherrschaft. Und trotzdem kam es zu Unterdrückungsmaßnahmen und rotem Terror. Warum? Weil die herrschende Klasse und die Parteien der alten Ordnung nicht gewillt waren, freiwillig ihre Macht und Privilegien abzutreten. Faktisch vom ersten Tag an organisierten sie bewaffnete Unruhen, hetzten in ihren Zeitungen gegen die neue Regierung und verunsicherten die Bevölkerung mit Greuelpropaganda, sabotierten die Wirtschaft und organisierten einen Streik der Angestellten des Verwaltungsapparates, um so die Sowjetregierung lahmzulegen. Nicht nur das, die reaktionären Generäle, die Kadetten und die rechten Sozialrevolutionäre verbündeten sich offen mit den – damals auf russischem Gebiet stehenden – deutschen Truppen des Kaisers bzw. arbeiteten mit der französischen und britischen Armee  zusammen. Von Anfang an stand den Bolschewiki ein grimmiger und zu allem entschlossener Klassenfeind gegenüber (35).

Die Folgen dieser konterrevolutionären Tätigkeiten waren katastrophal. Die Sowjet-Macht sah sich des gesamten qualifizierten Fachpersonals in Verwaltung und Militär beraubt. Sie mußte faktisch aus dem Nichts eine Administration schaffen – aus hingebungsvollen aber fachlich oft wenig qualifizierten Kommunisten sowie aus Kadern des alten Regimes, die für eine Mitarbeit gewonnen werden konnten, dafür aber nicht immer zuverlässig waren. Die Unternehmer schlossen oft ihre Betriebe, da sie nicht gewillt waren, unter den kontrollierenden Augen der Fabrikkomitees weiterzuproduzieren. Die Auflösung und Demobilisierung der alten Armee verstärkten das Chaos. Die Transportverbindungen brachen vielerorts zusammen. In Petrograd lag die Arbeitslosenrate bei ca. 50%. Das Resultat war eine um sich greifende Hungerepidemie in den Städten. Dazu besetzte der deutsche Imperialismus lebenswichtige Teile des Landes wie die fruchtbare Ukraine und raubte dem Land seine Lebensadern. Nicht nur das: Im Fernen Osten landeten japanische Truppen und begannen sich Sibirien einzuverleiben. Und im nördlichen Murmansk und Archangelsk sowie im kaukasischen Erdölzentrum Baku landeten britische Truppen. Kurz: die junge Sowjet-Republik war von jeglicher Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten. Alles schien auf das nahe bevorstehende Ende hinzudeuten (36).

Wir betonen hier, daß dies die Situation war, bevor der Bürgerkrieg im Sommer 1918 voll eskalierte! Man kann die Unterdrückungsmaßnahmen der Sowjets erst verstehen, wenn man sich diese handfeste Todesgefahr für die Revolution vor Augen hält. Kleinbürgerliche Autoren, die den Bolschewiki grundlose Repressionsmaßnahmen vorwerfen, sollten sich erst einmal diese Tatsachen vor Augen halten. Es ist aber kein Wunder, daß diese Probleme kaum Eingang in deren Beurteilung finden (37). Angesichts dieser Serie konterrevolutionärer Angriffe waren die Verteidigungsmaßnahmen der Sowjetmacht lange Zeit relativ milde. Nach der Revolution wurden nur einige der hetzerischsten bürgerlichen Blätter verboten, und auch das mit der ausdrücklichen Betonung auf der kritischen Situation und mit der Zusicherung: „Sobald die neue Ordnung sich gefestigt haben wird, werden jegliche administrative Einwirkungen auf die Presse eingestellt werden; sie wird völlige Freiheit im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit vor dem Gesetz erhalten …“(38) Erst nachdem die Kadetten mehrfach die bewaffnete Konterrevolution unterstützten, wurden sie verboten. Die rechten Sozialrevolutionäre und Menschewiki durften weiterhin – trotz ihres teils offenen, teils versteckten Kokettierens mit der Konterrevolution in den Sowjets und dessen Exekutivkomitee gegen die Bolschewiki auftreten. In den Herrschaftsgebieten der Weißen wurden blutige Massaker verübt. In Finnland ermordeten die „Vertreter von Recht und Ordnung“ 23.000 Rote, in der Ukraine wurden ebenfalls viele Kommunisten sowie ca. 100.000 Juden hingeschlachtet. Und als die rechten Sozialrevolutionäre sich offen mit der vom Imperialismus unterstützten tschechoslowakischen Legion und den Monarchisten zusammenschlossen, auf die Zentren der Revolution vormarschierten, eine Gegen-Regierung in Samara bildeten und ein blutiges Regime in ihren Territorium errichteten, da mußte die Sowjetmacht handeln und diese Feinde aus den Sowjets ausschließen (39). Alles andere wäre in Wirklichkeit verbrecherischer Leichtsinn gewesen. Ähnlich auch die Menschewiki, deren rechter Flügel die bewaffnete Konterrevolution unterstützte und den westlichen Imperialismus zum Einmarschieren aufrief, und deren linker Flügel während der schrecklichen Hungerkatastrophe in Petrograd und der oben erwähnten Bedrohung versuchte, einen Generalstreik in Petrograd zu organisieren.

Nein, diese Parteien mußten verboten werden. Noch nie konnte die Revolution in ihrer Mitte das offen konterrevolutionäre Treiben dulden und wenn sie es in ihrer Unerfahrenheit doch tat, wurde sie dafür rasch bestraft (wofür die zehntausend massakrierten Kommunarden des revolutionären Paris 1871 ein tragisches Beispiel sind). Tatsächlich waren die Repressionsmaßnahmen der Sowjetmacht reagierend, eine Antwort auf die konterrevolutionäre Bedrohung und auf die blutigen Exzesse der Weißen und ihrer Unterstützer. So war auch der vielzitierte rote Terror eine Reaktion auf den schon viel früher einsetzenden weißen Terror. Es ist eine simple Tatsache, daß der rote Terror in der 2.Jahreshälfte und v.a. nach dem September 1918 einsetzte – also nachdem die Weißen (mit Unterstützung der Imperialisten) einen gnadenlosen Terrorfeldzug gegen die junge Sowjetmacht begannen und eine Serie von Attentaten (inklusive auf Lenin) organisierten. Der bolschewistische Führer Eugen Preobrashenski meinte: „Nie war die Rätemacht ihrem Sturze so nah wie im Sommer 1918.“ Victor Serge, ein großartiger Augenzeuge und Kämpfer der Revolution, faßte den schwierigen Entschluß der proletarischen Avantgarde gut zusammen: „Es bedurfte zehn Monate des blutigen und blutigeren Kampfes, der Verschwörungen, Sabotage, Hungers, Attentaten; es bedurfte ausländischer Interventionen, des weißen Terrors in Helsinki, Samara, Baku und der Ukraine; es bedurfte des Blutes von Lenin bevor sich die Revolution schließlich entschloß, die Axt fallen zu lassen! Und das in einem Land, wo die Massen in einer Schule der Autokratie mit Verfolgungen, Auspeitschungen, Erhängungen und Erschießungen aufgewachsen sind!“(40)

Oft wird die Tscheka, der sowjetische Geheimdienst, als besonders abschreckendes Beispiel für den roten Terror genannt (41). Ernest Mandel, der verstorbene Führer der zentristischen Vierten Internationale, meint in seinem Buch zur Oktoberrevolution – einer über weite Strecken gelungenen Verteidigung dieses historischen Ereignisses – sogar, daß die Gründung der Tscheka an sich schon ein Fehler war (42). Auch hier gilt es, nicht den Sinn für Proportionen zu verlieren. Die Aufgabe der Tscheka lag sowohl im Kampf gegen Saboteure und Konterrevolutionäre als auch gegen Kriminelle, Banden etc. Sie war nicht als Instrument des Massenterrors konzipiert. In der ersten Jahreshälfte führte die Tscheka in ganz Sowjet-Rußland nur 22 Exekutionen aus. Ohne Zweifel, als der rote Terror organisiert werden mußte, stiegen die Bedeutung und auch die Exekutionen der Tscheka. In den blutigen Monaten des volleskalierten Bürgerkriegs liquidierte die Tscheka tatsächlich tausende. Die offiziellen Zahlen für die gesamten Bürgerkriegsjahre liegen bei knapp über 12.000, die höchsten Schätzungen von bürgerlichen Historikern gehen bis zu 50.000. Es besteht kein Zweifel darüber, daß unter diesen auch eine Reihe Unschuldiger waren. Oft waren die Roten gezwungen, Geisel aus den Reihen der Bourgeoisie oder der Kulaken (und auch die Zarenfamilie) zu nehmen und auch teilweise zur Abschreckung zu erschießen. Solche Dinge sind nie schön, aber – und das gilt es zu verstehen – in einer Situation des Bürgerkrieges oft unvermeidlich, weil effektiv. Für unserereins, die in friedlichen, ruhigen Ländern aufgewachsen sind, mag dies nur schwer nachvollziehbar sein. Aber es ist eine simple militärhistorische Tatsache, daß in einem Bürgerkrieg, wo jede Seite überzeugt von ihrem bevorstehenden Sieg ist, daß in einer solchen Situation eine Gefängnisstrafe – und sei sie lebenslänglich – keine besondere Abschreckungskraft besitzt: Die Betreffenden glauben ja, daß sie nach dem Sieg ihrer Seite bald wieder frei kämen. Deswegen waren die Bolschewiki gezwungen, im Bürgerkrieg wieder die Todesstrafe einzuführen.

Aber die Bolschewiki sackten eben nicht zu bloßen Terroristen hinab. Dies konnten sie auch gar nicht, denn auf der Ebene der militärischen Machtmittel stand den Weißen ein viel größerer Gewaltapparat zur Verfügung (inklusive 21 ausländischen Armeen). Ihre wirkliche Kraft lag in der enthusiastischen Unterstützung vieler Arbeiter und armen Bauern sowie der passiven Sympathie der breiten Bauernmassen. Der Terror war nur ein untergeordnetes Beiwerk. Genau aus diesem Grund versuchten sie nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, die notwendige Repression zu lockern, soweit es möglich war. So wurde z.B. die Todesstrafe wieder aufgehoben, als der Bürgerkrieg vorüber schien. Als jedoch Sowjet-Rußland erneut im Mai 1920 von Polen angegriffen wurde, mußte diese Maßnahme rückgängig gemacht werden. Ebenso wurden im Herbst 1919 eine Zeitlang die Menschewiki wieder in den Sowjets zugelassen, doch erneut zwang der Bürgerkrieg die Rücknahme. Nichtsdestotrotz zeigt sich hier der Übergangscharakter von solchen Unterdrückungsmaßnahmen im Konzept der Bolschewiki. Der rote Terror war letztlich ein notwendiges Mittel des Klassenkampfes – in erster Linie gegen die Bourgeoisie und ihre Unterstützer gerichtet. Trotzki faßte dies treffend in einem Disput mit dem deutschen General Hoffmann während der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk zusammen: „Was die Regierungen der anderen Länder an unseren Aktionen verwundert und alarmiert, ist, daß wir anstatt den Streikenden die Unternehmer verhaften, welche die Arbeiter aussperren; daß wir nicht die Bauern erschießen, die Land fordern, sondern die Gutsherren verhaften und erschießen sowie die Offiziere, die auf die Bauern schießen wollen …“(43) Und schließlich muß man auch die quantitativen Proportionen erkennen. All die unerbitterlichen Kritiker des bolschewistischen Terrors sollten zur Kenntnis nehmen, daß der rote Terror nicht nur eine Reaktion auf den weißen Terror war, sondern daß er auch weniger Opfer forderte als die bürgerliche Reaktion. Ganz abgesehen von den zehntausenden direkt Ermordeten sollte man auch nicht die Millionen Hungertoten vergessen, die Sabotage, aufgezwungener Bürgerkrieg und imperialistische Blockade zu verantworten haben. Die angeblich so skandalösen Zahlen von maximal 50.000 Opfern der Tscheka nehmen sich in mehr als drei Jahren Bürgerkrieg in einem mit Land mit 160 Millionen Einwohnern nicht so groß heraus, wie es uns die Gegner des Oktober darstellen wollen. Nur ein kleiner historischer Vergleich: Im revolutionären Frankreich, ein Land mit damals 25-30 Millionen Einwohnern, fielen in Paris alleine in den 9 Tagen nach dem „Dekret des 22 Prairial“ 1.376 Köpfe. Wieviele Terroropfer forderten die aufständischen Ketzer- und Reformationsbewegungen des Mittelalters, die englische Revolution usw.?! Letztlich kann sich der historische Fortschritt der Menschheit nicht ohne Blutvergießen den Weg durch all die – oft sehr gewalttätigen – Hindernisse der alten Ordnung bahnen. Wer die Revolution befürwortet, muß auch ihre Konsequenzen mittragen!

Aber wäre es denn nicht vielleicht ratsamer, die Revolution überhaupt zu lassen? Nun, wir haben in diesem Jahrhundert die tragischen Konsequenzen gescheiterter Revolutionen gesehen: 2 Weltkriege mit zusammen 70-80 Millionen Toten, Hungerkatastrophen, soziale Verelendung in großen Teilen der Welt usw. Nur eine erfolgreiche Revolution zumindest in den wichtigsten Ländern kann diesen gordischen Knoten von Hunger und Krieg endgültig zerschlagen.

Die ‚linken‘ Kritiker der Oktoberrevolution

Abschließend wollen wir noch auf einen Einwand der Anarchisten und anderer Ultralinker eingehen. Die Bolschewiki, so diese Kritiker, haben nicht nur die Bourgeoisie unterdrückt, sondern auch linke Parteien und manchmal auch Arbeiterkämpfe. Auch hier kann dieser Vorwurf nur im Lichte der konkreten historischen Bedingungen überprüft werden. Es ist bezeichnend, daß der anonyme anarchistische Autor des oben erwähnten neuerschienenen Artikels „Beyond Kronstadt“ am Ende eingesteht, daß eine abgerundete Kritik am bolschewistischen Kurs und die Präsentation einer Alternative seitens der Anarchisten noch immer nicht besteht und dies eine Aufgabe der Zukunft sei (nach 80 Jahren wird es wohl langsam Zeit!). Doch das hält den Autor nicht davon ab, mit umso mehr Selbstbewußtsein viele Zentralisierungs- und Repressionsmaßnahmen der Sowjet-Regierung in der Luft zu zerreißen.

Nehmen wir nur ein paar wichtige heraus. Einer der traditionellen und auch hier wiedergegebenen Kritikpunkte besteht darin, daß die Bolschewiki schon bald nach ihrer Machtübernahme die Fabrikkomitees, die ja eine ihrer Hochburgen waren, entmachtet hätten und stattdessen mit Kapitalisten verhandelt und einen Staatskapitalismus errichtet hätten. Tatsächlich stand die neu entstandene Sowjetrepublik vor ungeheuren Schwierigkeiten. Die bereits oben beschriebenen konterrevolutionären Gefahren wurden auch noch von einer zerfallenden Wirtschaft begleitet. In dieser Situation zeigten sich die Grenzen der Fabrikkomitees. Als in erster Linie betriebliche Organe tendierten sie v.a. in einer Situation des wirtschaftlichen Zerfalls zu einem gewissen Betriebsegoismus. Sie neigten dazu, den Betrieb in ihre eigene Hand zu nehmen und nach eigenen Wünschen zu führen. Man muß sich an dieser Stelle noch einmal vergegenwärtigen, daß durch diese Krise das Industrieproletariat selbst alleine in den ersten 5 Monaten 1918 sich mehr als halbierte. Das Problem verschärfte sich mit dem Hunger in den Städten, was zu einem Aufleben von Diebstahl von Fabriksgütern und sogar -maschinen führte. Das war natürlich in dieser Situation unakzeptabel. Eine Bündelung der bereits ausgezehrten wirtschaftlichen Ressourcen war unabdingbar, die Produktion mußte angekurbelt werden. Aus diesem Grund schlugen die Bolschewiki vor, die Fabrikkomitees mit den zentralisierteren Gewerkschaften zu fusionieren und gleichzeitig wurden Vertreter der Fabrikkomitees in den neugeschaffenen Volkswirtschaftsrat entsendet. Eine Zentralisierung und gleichzeitig auch eine bedingte Zusammenarbeit mit bürgerlichen Fachleuten war unvermeidlich, da die Arbeiter zumeist noch nicht über das erforderliche Spezialwissen verfügten.

Ebenso lehnt der anarchistische Autor die unumgängliche kriegskommunistischen Maßnahmen der Bolschewiki während des Bürgerkrieges ab, mittels derer sie die Versorgung der Städte auf Kosten der Mittelbauern und Kulaken sicherten. Der kleinbürgerliche Anarchist fühlt sich hier, wie auch die linken Sozialrevolutionäre, dem kleinbürgerlichen Bauern näher als dem proletarischen Städter. Und auch der russische Historiker Roy Medwedew behauptet in Verdrehung der Tatsachen: „In der sowjetischen Literatur wurde lange Zeit behauptet, Bürgerkrieg und Intervention hätten ‚Kriegskommunismus‘ und ‚Roten Terror‘ nach sich gezogen. Aber es war eigentlich umgekehrt. Die ausgesprochen harte Wirtschaftspolitik der Bolschewiki mündete in Terror und Bürgerkrieg.“(44) Wie kann man als Historiker nur ignorieren, daß zu dieser Zeit bereits von allen Seiten imperialistische Truppen aufmarschierten, sich weiße Generäle zum Angriff formierten, Unternehmer Sabotage betrieben, die Kulaken Getreide u.ä. horteten und die Städte hungerten?! Die Revolution mußte um ihres Überlebens willen zu drastischen Maßnahmen greifen. Die Kritik der Anarchisten setzt sich im Protest gegen die verschiedenen Formen der Unterdrückung von Sozialrevolutionären und Menschewiki fort, welche wie oben angeführt, mit Streiks und Gewalt die bedrohte Sowjetmacht attackierten.

Ebenso unverständlich scheint dem Autor, daß die Bolschewiki gegen die kleinbürgerlichen linken Sozialrevolutionäre vorgehen mußten, als sie im Juli 1918 einen bewaffneten Aufstand organisierten, um Sowjet-Rußland in einen neuen Krieg mit Deutschland zu stürzen. Der Aufstand konnte aufgrund der geringen Unterstützung innerhalb von 24 Stunden unter Kontrolle gebracht werden. Es gab nur wenige Repressalien und selbst der Bolschewisten-Hetzer Pipes muß feststellen: „In Wirklichkeit behandelten die Bolschewiki die Linken Sozialrevolutionäre mit höchst ungewöhnlicher Nachsicht.“(45) Doch unsere anarchistischen Freunde bleiben davon unbeeindruckt.

Schließlich führen sie die Ereignisse von Kronstadt, also der Niederschlagung des reaktionären Matrosenaufstandes 1921, an (46). „Beyond Kronstadt“ fügt keine wesentlich neuen Argumente zu den bereits bekannten anarchistischen Thesen. „Die Matrosen wollten einfach Demokratie, nur halt ‚Sowjets ohne Bolschewiki'“. Im wesentlichen wurde zu dieser Frage schon alles wesentliche von Lenin und Trotzki selber gesagt (47). Unabhängig von den Intentionen vieler einfacher Matrosen, die von ihren Führern ausgenützt wurden, stellte der Aufstand objektiv eine tödliche Gefahr für die nach drei Jahren Bürgerkrieg am Boden liegende Sowjet-Macht dar. Es sind unleugbare Tatsachen, daß der Führer des Aufstandes Petrichenko nachher offen mit den Weißen zusammenarbeitete, daß schon vorher zumindest einige der Führer wie der reaktionäre General Koslowski mit den Weißen in engem Kontakt standen, daß es konkrete Pläne gab, französische Kriegsschiffe nach dem Schmelzen des Eises nach Kronstadt zu holen (48) usw. Doch diese Tatsachen kehrt der hochgeistige anarchistische Autor unter den Tisch. Er setzt sich lieber mit abstrakten „demokratischen Prinzipien“ und der „mangelnden Demokratie der Bolschewiki“ auseinander. Dabei ignoriert er ganz einfache historische Fragen, die nebenbei die meisten „demokratischen“ Kritiker der Bolschewiki vergessen: Was für eine Demokratie ist in einem (rückständigen) Land möglich, das nach drei Jahren Weltkrieg, drei Jahren verheerenden Bürgerkriegs, 8 Millionen Toten und breitester Verwüstung am Boden liegt? Welche konkreten Kräfte existierten damals, um das Land führen zu können? Der Kronstädter Aufstand selber hatte außer ein paar Losungen weder ein Programm noch eine alternative nationale Kraft zu bieten. Wenn die Bolschewiki ihren Forderungen nachgegeben und die Macht an sogenannte „Sowjets ohne Bolschewiki“ übergeben hätten, dann hätte es bald weder Sowjets noch Bolschewiki, sondern eine ungezügelte weiße Diktatur gegeben, die grausamste Rache für die Enteignungen und Demütigungen ihrer Klasse seit dem Oktober 1917 genommen hätte.

Der ehemalige Anarchist Victor Serge drückte das Dilemma der russischen Revolution in dieser Situation gut aus: „‚Die III. Revolution!‘ sagten einige Anarchisten, die mit kindlichen Illusionen vollgestopft waren. Allein, das Land war völlig erschöpft, die Produktion stand fast völlig still, es gab keine Reserven irgendwelcher Art mehr, nicht einmal Reserven an Nervenstärke in der Seele der Massen. Die Elite des Proletariats, die in den Kämpfen mit dem Zarenregime geprägt worden war, war buchstäblich dezimiert. Die Partei, die durch den Zulauf derer, die sich mit der Macht ausgesöhnt hatten, angewachsen war, flößte wenig Vertrauen ein. Von den anderen Parteien waren nur noch winzig kleine Kader von mehr als zweifelhafter Fähigkeit vorhanden. Sie konnten sich natürlich im Laufe von Wochen neu bilden, aber nur dadurch, daß sie Verbitterte, Unzufriedene und Aufgebrachte aufnahmen – und nicht mehr wie 1917, Enthusiasten der Revolution. Der sowjetischen Demokratie fehlte es an Schwung, an Köpfen, an Organisationen und hinter sich hatte sie nur ausgehungerte und verzweifelte Massen.“(49) Damit spricht Victor Serge ein fundamentales Problem der russischen Revolution an: Die Rätedemokratie braucht eine materielle Basis – nämlich ein Proletariat, aus dessen Mitte eine Schicht politischer Aktivisten hervorgeht, welche die treibende Kraft der Diskussionen und Entscheidungen verkörpern. Alleine der von der Bourgeoisie aufgezwungene Weltkrieg und dann Bürgerkrieg dezimierte das Proletariat. Die politisch weitsichtigsten Teile starben entweder im Bürgerkrieg an der Front oder gingen in den enormen Aufgaben der Partei- und Staatsverwaltung auf – und wurden somit mehr und mehr von der Eigendynamik einer Bürokratie aufgesogen, ohne daß das notwendige Korrektiv einer proletarischen Klasse an der Basis bestanden hätte (50).

Hier mögen jene, die schon immer wußten, daß Rätedemokratie und Bolschewismus nichts mit einer wirklich demokratischen Mehrheit des Volkes zu tun haben, aufschreien und sagen: „Jetzt gebt ihr also zu, daß die Diktatur des Proletariats in Wirklichkeit zu einer Diktatur der Partei wurde.“ Natürlich ist dies kein sonderlich origineller Vorwurf, stellten doch schon Lenin und Trotzki diesen Tatbestand fest (51). Doch sollten gerade dieseKritiker etwas vorsichtiger mit ihren Vorwürfen sein, taten doch gerade die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien alles, damit dieser Bürgerkrieg sich möglichst in die Länge zieht und viele Opfer fordert.

Es überrascht kaum, daß der Vorwurf des Substitutionalismus zum Standardrepertoire der reformistischen Kritiker der Oktoberrevolution gehörte. Schon der Vordenker der deutschen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, wälzte diese These in mehreren Büchern breit (52). Tatsächlich wurde die Oktoberrevolution von einer Partei angeführt, die mehr aktive Unterstützung und Basisnähe sowie mehr lebendige innerparteiliche Diskussion als jemals ein reformistische Partei hatte (53)! Umso befremdlicher ist es, daß Ernest Mandel in seinem Buch zur Oktoberrevolution sich dem Vorwurf des Sustitutionalismus anschließt (54). Zwar seien Trotzki und Lenin davon weitgehend freizusprechen, aber die Partei als Ganzes…. Scheinbar hinterließ die heftige Abwendung vieler Ex-Stalinisten von der Oktoberrevolution gewisse Spuren in Mandels Einschätzungsvermögen.

Der Vorwurf „Diktatur der Partei vs. Diktatur des Proletariats“ verrät ein ziemlich schematisches Denken. Partei und Klasse sind keine entgegengesetzten Begriffe, sondern setzen einander voraus und sind aufs engste miteinander verwoben. Eine Partei ist der bewußte politische Ausdruck einer Klasse oder einer bestimmten Schicht. Die Bolschewiki, wie wir gezeigt haben, sammelten in ihrer Reihe die bewußten und aktiven Arbeiter – sprich die Vorhut der Klasse. Aufgrund der tragischen Entwicklung des Bürgerkriegs wurde das Proletariat dezimiert, teilweise strömten bäuerliche Elemente ohne Klassen-Tradition in die Fabriken usw. – kurz die Vorhut verlor ihre Basis. Letztlich bekämpften einander zwei Minderheiten – die proletarische Vorhut in Form der bolschewistischen Massenpartei gegen die bürgerliche Vorhut in Form der weißen Generäle und diverser kleinbürgerlicher Kader. Dazwischen stand nach Jahren des Hungers und der Entbehrung eine verzweifelte und erschöpfte Masse. Es ist wahr und nur allzu tragisch, daß die proletarische Vorhut manchmal gezwungen war, gegen rückständige Teile der Klasse, die sich zu schädlichen Streikaktionen u.ä. aufhetzen ließen, vorgehen mußte. Hier gibt es nichts zu beschönigen, aber die Gesetze der Revolution erzwingen manchmal solche tragischen Notwendigkeiten.

Aber was war die Alternative? Hätten die Bolschewiki stattdessen die Macht freiwillig den Weißen übergeben sollen? Nein, wir Bolschewisten sind keine Schönwetter-Marxisten, die den Sozialismus nur unter günstigen Bedingungen verteidigen. Nein, der Kampf für die proletarische Revolution muß unter allen, auch den ungünstigsten Bedingungen vorangetrieben und verteidigt werden. Und das erfordert eben manchmal harte Entscheidungen. Unsere Position läßt sich daher treffend mit den  Worten Karl Radeks zusammenfassen: „Wir gehen friedlich zu unseren Zielen wenn möglich, mit Gewalt wenn notwendig. Die historische Erfahrung des Proletariats sagen ihm, daß die Gewalt notwendig sein wird; es hängt von der Bourgeoisie ab, die Erfahrungen zu korrigieren.“(55)

Deswegen irritieren uns auch nicht all die von den Anarchisten zitierten Aussprüche von Lenin, wo dieser ein rücksichtsloses Vorgehen und Exekutionen gegen anti-sowjetische Aufständische fordert. Es ist kein Zufall, daß so erzreaktionäre Autoren wie Richard Pipes einen Gutteil seines neuen Buches „The Unknown Lenin“ ebenfalls mit solchen „entlarvenden“ Dokumenten füllen (56). Trotzdem existiert hier natürlich ein Unterschied. Während Leute wie Pipes damit beweisen wollen, daß eine sozialistische Revolution nur von terroristischen Fanatikern gemacht werden kann und daher abgelehnt werden muß, träumen die Anarchisten von einer „sauberen Revolution“ ohne Brutalitäten und Terror (57). Allein, es ist nicht möglich, wie die Geschichte großer Revolutionen wiederholt bewies. Wer wirklich auf Seiten der Oktoberrevolution steht, der kann ihr nicht das Recht auf Selbstverteidigung absprechen. Man darf nicht das abstrakte Prinzip einer erwünschten Revolution über die tatsächliche Revolution stellen. Die Anarchisten und Zentristen sind dazu nicht in der Lage – weswegen sie auch noch nie eine Revolution auch nur annähernd zustande gebracht haben, selbst wenn sie einen gewissen Masseneinfluß hatten. Sollten wir uns in einer zukünftigen Revolution in einer ähnlichen Situation wie die Bolschewiki befinden, wir würden nicht eine Sekunde zögern, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das höhere Gut – die Revolution – zu retten. Jeder Marxist, der das Gegenteil behauptet, ist entweder ein Lügner und streut der proletarischen Avantgarde Sand in die Augen oder er ist realitätsferner Dogmatiker, der die Revolution abstrakten Prinzipien opfert. Beide Fälle haben nichts mit revolutionärem Marxismus, aber viel mit verbalem Revolutionarismus zu tun.

Anarchismus und Zentrismus in der Oktoberrevolution

Welche Rolle spielten nun die Anarchisten und Zentristen selber in der Oktoberrevolution? Diese Gruppierungen – wie auch ihre heutigen Nachfolger – wurden nicht müde, über die Fehler der Bolschewiki herzuziehen. Allein, was war ihre Praxis? Die Anarchisten waren heillos zerstritten und verfolgten völlig unterschiedliche Strategien. Teile von ihnen kämpften im Oktober mit den Bolschewiki, andere führende Anarchisten (58) erklärten noch 1918, daß sie schon immer gegen die Machtergreifung im Oktober gewesen seien. Viele lehnten die Sowjets ab, da sie doch auch nur eine Form staatlicher Autorität seien. Es liegt auf der Hand, daß ein solch wirrer, kleinbürgerlicher Pseudo-Radikalismus leicht gefährlich werden konnte. Der reaktionäre General Gopper berichtete später selber, daß konterrevolutionäre Untergrundorganisationen wie auch ausländischen Geheimdienste die diversen anarchistischen Grüppchen infiltrierten. Teile wollten 1918 einen bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetmacht ausführen.

Nachdem die Tscheka diese anarchistischen Clubs relativ unblutig auflöste, ging ein Teil in die Ukraine, wo sie sich bald der Machno-Bewegung anschlossen. Diese Bewegung kämpfte teils gegen die deutschen Besatzer und deren Vasallen, teils gegen die Rote Armee. An ihrer Spitze standen wohlhabendere Bauern und diese kleinbürgerliche Bewegung ermordete nicht nur viele Kommunisten, sondern trägt auch die Verantwortung für diverse antisemitische Exzesse. Die besseren Teile der Anarchisten schlossen sich den Bolschewiki an.

Wir haben wiederholt auf die Unfähigkeit der Ultralinken hingewiesen, ihre Dogmen mit den praktischen Erfordernissen des konkreten Klassenkampfes in Einklang zu bringen. Wir wollen dies anhand einer Anekdote beleuchten, die Victor Serge überlieferte. Als die Weißen vor Petrograd standen, schickten sie eine Reihe von Saboteuren in die Stadt. Wenn die Tscheka ihrer habhaft wurde, wurden sie erschossen. Es ergab sich, daß sich ins Hauptquartier einer anarchistischen Gruppe, die die Verteidigung der Stadt mittrug, ein solcher weißer Agent einschlich. Er plazierte dort eine Bombe, die viele Anarchisten tötete. Nach einigen Nachforschungen entlarvten die Anarchisten ihn als Urheber des Attentats. Nun begann die Frage, was mit ihm tun. Sollten sie ihn exekutieren? Das widersprach aber ihren Idealen. Freilassen? Das konnte man wohl auch kaum nach diesem schrecklichen Ereignis. Man einigte sich schließlich darauf, diesen Agent der Tscheka auszuliefern, im Wissen, daß diese ihn sofort erschießen würde. Dadurch würde die Tat bestraft, aber sie müßten sich nicht die Hände schmutzig machen. Das ganze endete schließlich damit, daß den anarchistischen Soldaten, der ihn zur Tscheka hätte bringen sollen, auf der Mitte des Weges das schlechte Gewissen befiel und er den Mörder seiner Kameraden laufen ließ anstatt der Tscheka zu übergeben! Wohlmeinend, aber hoffnungslos naiv, kann man zusammenfassen.

Die Geschichte des Zentrismus in der russischen Revolution ist nicht viel besser. Die besten unter ihnen stießen im Sommer 1917 zur Bolschewistischen Partei (wie die Meshrayonzi um Trotzki, Joffe und Lunatscharski sowie einzelne linke Menschewiki). Doch die Menschewiki-Internationalisten um Martow sowie die Gruppe um Maxim Gorki und seine nicht uneinflußreiche Zeitung Novaya Zhizn spielten eine unglückliche Rolle in der Revolution. Sie protestierten heftig gegen den bewaffneten Aufstand im Oktober (übrigens lehnten auch die kleinbürgerlichen linken Sozialrevolutionäre den Aufstand ab). Als sich das Rad der Geschichte als mächtiger erwies, forderten sie vehement eine „sozialistische Allparteien-Koalition“, sprich eine Koalition aus Befürwortern der Losung „Alle Macht den Sowjets“ (den Bolschewiki) und ihren Gegnern (Sozialrevolutionäre und Menschewiki), die noch im Juli die Verhaftung und Unterdrückung der Bolschewiki unterstützten! Eine solche Koalition hätte sich in keiner einzigen Grundfrage der Revolution einigen können (Fortsetzung oder Beendigung des Krieges, Agrarrevolution, Arbeiterkontrolle über die Industrie usw.) und wäre daher höchst schädlich gewesen. Und auch als die Auflösung der Konstituierenden Versammlung notwendig wurde, widersprachen die Zentristen auf heftigste (die linken Sozialrevolutionäre unterstützten diese Maßnahme). Die Liste ließe sich beliebig weiter fortsetzen.

Was war der Grund dafür, waren die Zentristen etwa keine aufrechten Sozialisten? Nein, das war nicht der Grund. Aufrecht waren sie durchaus, nur ist bekanntlich der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Das zentrale Problem des Zentrismus war (und ist) jegliches Fehlen proletarischer Klassenunabhängigkeit. Das Fehlen eines klaren und konsistenten Programms überträgt sich in der praktischen Politik in den Unwillen, zu führen, den Mangel jeglicher Initiative und eigenständiger Positionen. So ist der Zentrismus gezwungen, sich als kritischer Unterstützer mal der reformistischen, mal der revolutionären Richtung anzubieten – im Zweifelsfall für den Reformismus. Keine klare Linie, sondern Zick-Zack, Zaudern und Unentschlossenheit. Sein größter Vorwurf an den Bolschewismus ist das „Sektierertum“ und die „Spaltung der Einheit der Arbeiterbewegung“. Seine Existenzberechtigung liegt daher in der Vermittlung zwischen den Fronten (damals hieß das „sozialistische Allparteien-Regierung“, heute heißt das „Einheit der Linken“). Die Angst vor der Isolation, dem Gezwungensein, auf eigenen Füßen zu stehen, treibt den Zentrismus dazu, die Nähe eines größeren Bündnispartners zu suchen und sich zu diesem Zwecke (meist unbewußt) an dessen Politik anzupassen.

Schluss

Ein Teil des heutigen Zentrismus versucht sich von diversen Konsequenzen der Oktoberrevolution zu distanzieren, da in dieser Frage von den erhofften linksreformistischen Bündnispartnern ein enormer Druck ausgeht. Wer möchte heute noch etwas mit dem Bolschewismus zu tun haben, ohne sich gleichzeitig ein für alle Mal die Chancen auf ein Regierungsamt zu vermasseln? Der inzwischen bereits verstorbene Mandel und das „Vereinigte Sekretariat“ haben bereits in den späten 1970er Jahren den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ gegen die „sozialistische Demokratie“ eingetauscht und den möglichen Gegensatz von Überlebensinteressen der proletarischen Revolution und bestimmten formal-demokratischen Grundsätzen weitgehend geleugnet.(59) Wie wir gezeigt haben, mag das zwar bei humanistischen Intellektuellen gut ankommen, aber in der Praxis kann es diesen Widerspruch manchmal geben. Andere Zentristen sind ganz orthodox in ihrer Verteidigung der Oktoberrevolution (60). Das können sie auch, denn dieses Ereignis ist mittlerweile schon 80 Jahre her. Wenn es aber darum geht, die wesentlichen Grundsätze des Bolschewismus in der aktuellen Politik und Programmatik zu berücksichtigen, springt der Unterschied umso mehr ins Auge.

Dabei bietet die Oktoberrevolution ein so reichhaltiges Arsenal revolutionärer Lehren: Von der Bedeutung einer revolutionären Kampfpartei, der Unabdingbarkeit der Orientierung auf eine sozialistische Revolution ohne eine künstliche Begrenzung auf „demokratische“ o.ä. Etappen, der Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus in der Isolation und der notwendigen Ausrichtung auf eine Internationalisierung der Revolution, der Stellenwert einer flexiblen Einheitsfront-Taktik mit reformistischen und zentristischen Kräften, ohne zu vergessen, daß diese die Revolution bei der nächstbesten Gelegenheit verraten können, der Unvermeidbarkeit eines bewaffneten Aufstandes, der Rolle der Gewalt in der Revolution usw (61).

Wenn wir nun die hier aufgerollte Kritik der bürgerlichen Historiker bilanzieren, müssen wir feststellen, daß sie sich im Grunde genommen nicht bloß gegen die Oktoberrevolution selber, sondern gegen den Gedanken der sozialen Revolution, des Aufbegehrens der Massen an sich, richtet. Manche von ihnen sind inkonsequent und verteidigen die bürgerliche Revolution (mit ihrer Gewalt und ihren Exzessen). Andere sind konsequenter und wollen auch die heroischen bürgerlichen Revolutionen der vergangenen Jahrhunderte aus unserem Gedächtnis streichen. Die bürgerliche Öffentlichkeit will ein für alle Mal den Gedanken des Aufbegehrens, der Revolution aus dem Bewußtsein der Arbeiter und der Jugend tilgen.

Allein, es wird ihnen nicht gelingen. Denn die materielle Misere der kapitalistischen Gesellschaft produziert unweigerlich den Willen zur Veränderung und Kampf. Daher sammeln wir Marxisten all die Erfahrungen der vergangenen Revolutionen, der erfolgreichen wie der erfolglosen, studieren und lernen daraus. Für uns sind die bürgerlichen Revolutionen nur der Beginn – und nicht das Ende – der Geschichte moderner Revolutionen. Die Oktoberrevolution ist vorläufiger Höhepunkt – nicht der Tiefpunkt – eines neuen geschichtlichen Abschnitts, in dem der Mensch sein Schicksal selber in die Hand nimmt. Die Oktoberrevolution war der erste, aber gewiß nicht der letzte erfolgreiche Versuch, die Misere des Kapitalismus ein für alle mal zu beenden. Wir, die Liga für die 5. Internationale, kämpfen für eine neue Oktoberrevolution. Noch erlaubt das politische Kräfteverhältnis dies nicht. Die damaligen Gegner und halbherzigen Unterstützer der Oktoberrevolution dominieren heute noch die Arbeiterbewegung. 1997 ist daher nur ein Jahr der weiteren Vorbereitungsarbeit für einen neuen Oktober. Aber wer weiß, vielleicht werden wir 2017 die Frage der Revolution nicht nur historisch und programmatisch diskutieren, sondern ganz praktisch erforschen!

Anmerkungen

(1) Bezeichnenderweise ließ der „Demokrat“ Jelzin die Archive wieder schließen bzw. sind diese nur in Einzelfällen gegen hohe Geldbeträge zugänglich.

(2) Wer erinnert sich noch an das Buch des liberalen US-Philosophen Francis Fukayama Anfang der 1990er Jahre, der das „Ende der Geschichte“ postulierte, weil nun die kapitalistische Demokratie auf immer und ewig gewonnen habe? Noch heute glaubt dieser Professor das! Siehe auch das Interview im Standard vom September 1997.

(3) Leitartikel in „Retsch“, 16.9.1917; zitiert in W.I.Lenin: Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?, LW 26, S.73

(4) Roman Rosdolsky: Zur Russischen Revolution, in: Ulf Wolter (Hrsg.): Sozialismus-Debatte, Berlin 1978, S.204; Nichtsdestotrotz muß man auch hier differenzieren zwischen so reaktionären Hetzern wie Richard Pipes oder Francois Furet und hochqualifizierten und um Objektivität bemühte Historiker wie Edward H. Carr (The Bolshevik Revolution 1917-1923, Bd. I-III, London 1966) oder Robert V. Daniels (Das Gewissen der Revolution, Köln 1962). Letztere sind nach wie vor eine wichtige Quelle zum Studium der russischen Revolution.

(5) Richard Pipes: Die Russische Revolution, Bd. 1 und 2, Berlin 1992

(6) Helmut Altrichter: Rußland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997, S.212. Siehe z.B. auch S.230

(7) Zitiert bei Altrichter o.a., S.224

(8) Die Machtübernahme in Petrograd verlief weit unblutiger als die Februarrevolution. Während im Oktober nur einige dutzend Menschen ums Leben kamen, starben 8 Monate zuvor mehr als 1.200.

(9) Die Kadetten waren die Hauptpartei des republikanisch gesinnten russischen Bürgertums. Unter dem Zaren stellten sie eine kritische, aber loyale Opposition dar. Nach der Februarrevolution dominierten sie zuerst die Regierung und bildeten dann eine Koalition mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären. Nach der Revolution verloren sie rasch an Bedeutung. Die verzweifelt um ihre alte Macht und Privilegien kämpfende Bourgeoise wendete sich im Bürgerkrieg reaktionären, anti-semitischen Generälen wie Denikin, Koltschak oder Wrangel zu.

(10) Die Sozialrevolutionäre wurden 1902 gegründet und stützten sich auf die Tradition der Narodniki. Sie verkörperten v.a. den bäuerlichen und kleinbürgerlichen Radikalismus gegen den Zarismus, aber mit nur konfusen sozialistischen Zielen. Im Sommer 1917 spaltete sich die Partei in einen linken Flügel, der – wenn auch mit Schwankungen – mit den Bolschewiki zusammenarbeitete und einen rechten Flügel, aus dessen Reihen der Vorsitzende der bürgerlichen Provisorischen Regierung Kerenski stammte und der nach dem Oktober den bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht aufnahm.

(11) Der reformistische Flügel der Sozialdemokratie. Sie befürworteten eine bürgerliche Regierung, da sie die Überwindung des Kapitalismus für unmöglich hielten. Unterstützen nach der Revolution die militärische Intervention der imperialistischen Mächte.

(12) Leo Trotzki: Die Geschichte der Russischen Revolution, Bd. 2.2, Frankfurt a.M. 1973, S.915

(13) Pipes, o.a. S.281

(14) An den militärischen Operationen in Petrograd nahmen laut Trotzki ca. 25.-30.000 Rotgardisten und Soldaten teil.

(15) In Petrograd beispielsweise wurde eine Exekutive mit 13 Bolschewiki, 6 Sozialrevolutionären und 3 Menschewiki sowie Trotzki als Vorsitzender gewählt.

(16) Beim Kornilow-Putsch handelte es sich um einen versuchten Staatsstreich eines reaktionären Generals, der ursprünglich mit dem Regierungschef zusammenarbeitete, um die Sowjets zu schwächen und die Kriegsanstrengungen zu verstärken. In diesem gemeinsamen Vorgehen versuchte Kornilow dann allerdings erster zu werden – und wurde letzter; Kerenski mußte allerdings zwei Monate später ebenfalls aus dem Winterpalais flüchten.

(17) Die reformistisch dominierte Exekutive der Sowjets unterstützte sogar die Mitte Juni begonnene Großoffensive der russischen Armee gegen die Deutschen, die wenige Wochen später mit einer verheerenden Schlappe endete.

(18) Damit waren die Vertreter der Kadetten in der Regierung gemeint.

(19) Nadeshda Krupskaja: Errinnerungen an Lenin, Berlin 1959, S.406

(20) So die Izvestiia, die Zeitung der offiziellen Sowjetführung Moskaus; Zitiert bei Alexander Rabinovich: The Bolcheviks come to power, S.111f

(21) Beide Dokumente sind enthalten in der hervorragenden Dokumentensammlung von Richard Lorenz (Hrsg.): Die Russische Revolution 1917 – Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten, München 1981, S.116 und 119

(22) zitiert bei Ted Grant: Russia – from Revolution to Counterrevolution, London 1997, S.62

(23) zitiert bei Ernest Mandel: Oktober 1917 – Staatsstreich oder soziale Revolution, S.20f

(24) John Reed: Zehn Tage die die Welt erschütterten, Berlin 1976, S.275

(25) So der deutsche antikommunistische Historiker Oskar Anweiler; zitiert bei E. Mandel o.a., S.21

(26) Altrichter o.a., S.299

(27) Dies ist wichtig zu betonen, da in unterschiedlichen Situationen Selbstverwaltungsorgane der Massen unterschiedliche Namen und Formen annehmen können. In Rußland z.B. gab es neben den Räte die Fabrikkomitees, während auf dem Land die sogenannten Gemeindekomitees lange Zeit die zentralen Organe waren. In der revolutionären Situation in Deutschland 1923 z.B. gab es zwar keine Räte, aber dafür erfüllten diese Rolle die Betriebstäte und Basisversammlungen der Gewerkschaften.

(28) Siehe dazu den hervorragenden Überblick über die Entwicklung der Fabrikkomitees in David Mandel: Factory Committees and Workers Control in Petrograd 1917, Montreuil 1993; weiters sind zu erwähnen Darstellung der Tätigkeit einiger Fabrikkomitees in Petrograder Großfabriken auf Basis der Auswertung hunderter Protokolle und Dokumente: Gert Meyer: Petrograder Betriebskomitees im Revolutionsjahr 1917; in: Peter Brokmeier/Rainer Rilling: Beiträge zur Sozialismusanalyse III, Köln 1981, S.33-56; und schließlich noch Reinhard Kösler: Überstunden für die Aurora – Betriebskomitees in der Petrograder Rüstungsindustrie 1917 zwischen Betriebsraison und Selbstbestimmung

(29) Nadeshda Krupskaja, die im Vyborger Distriktsowjet – der proletarischen und bolschewistischen Hochburg in Petrograd – tätig war, beschreibt die kulturellen Bemühungen der Sowjets recht anschaulich.

(30) Eine gute Zusammenfassung der Agrarrevolution im Jahre 1917 bieten L. Trotzki: Die Geschichte der Russischen Revolution, Bd.II, S.692-720 und H. Altrichter: Rußland 1917, S.330-366

(31) Der kanadische Historiker David Mandel meint, daß mehr als die Hälfte der Stimmen eigentlich den linken Sozialrevolutionären zugedacht waren. (David Mandel: Factory Committees and Workers Control in Petrograd 1917, Montreuil 1993, S.9)

(32) Siehe dazu auch Lenin: „Thesen über die Konstituierende Versammlung“ in LW 26, S.377-381; Leo Trotzki: The Principles of Democracy and Proletarian Dictatorship; in: Al Richardson (Hrsg.): In Defence of the Russian Revolution. A Selection of Bolchevik Writings 1917-1923, London 1995, S.99-101

(33) Die Bourgeoisie macht in der Regel nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus.

(34) Francois Furet: Die Illusion des Jahrhunderts, München 1996, S.140

(35) Eine Auswahl an Dokumenten aus der Zeit vor und während des Bürgerkrieges bietet: Martin McCauley (Hrsg.): The Russian Revolution and the Soviet State 1917 – 1921, London 1975

(36) Philips Price beschreibt in seinem Augenzeugenbericht, daß sich diese „Endzeitstimmung“ auch bei vielen Kommunisten breitmachte – v.a. den linken Kommunisten (um Bucharin, Radek, Pjatakow), die den Friedensvertrag mit Brest-Litowsk annullieren und einen revolutionären Krieg gegen das imperialistische Deutschland führen wollten. Sie dachten, daß die Revolution zur Niederlage verdammt sei und daß sie daher zumindest ein heroisches Ende finden sollte.

(37) Sie z.B. die neue anarchistische Streitschrift aus Großbritannien „Bolsheviks in Power: Beyond Kronstadt“, London 1997, S.3

(38) Dekret über die Presse, in: Horst Schützler/Sonja Striegnitz (Hrsg.): Die ersten Dekrete der Sowjetmacht, Berlin 1987, S.63

(39) Auch im Don-Gebiet, wo der oben erwähnte General Krasnow eine konterrevolutionäre Armee sammelte, nahmen die rechten Sozialrevolutionäre an dessen Regierung teil. Diese „demokratische“ Alternative zu den terroristischen Sowjets sah folgendermaßen aus: Ernennung von General Krasnow zum Alleinherrscher mit allen Vollachten, Unantastbarkeit des Privateigentums usw. gleichzeitig appellierte dieser Gegner des „anti-nationalen Bolschewismus“ an den deutschen Kaiser, sich mit ihm Rußland aufzuteilen und gemeinsam militärisch vorzugehen. Besonders deutlich wird der Klassencharakter dieses Regimes an folgendem Telegramm deutlich. Als Krasnows Truppen die Industriestadt Juzovka eroberten, gab der Kommandeur folgenden Befehl: „Es ist verboten, Arbeiter zu verhaften. Es wird angeordnet, sie entweder aufzuhängen oder zu erschießen.“ Zitiert in Victor Serge: Year One of the Russian Revolution, London 1992, S.331

(40) Victor Serge: Year One of the Russian Revolution, London 1992, S.312

(41) Von stalinistischer Seite gibt es dazu folgendes Buch: P.G.Sofinow: Geschichte der Tscheka 1917-1922, Potsdam 1967

(42) Ernest Mandel: o.a., S.84

(43) Victor Serge: Year One of the Russian Revolution, London 1992, S.152

(44) Roy Medwedew: 80 Jahre Russische Revolution. Sieg und Niederlage der Bolschewiki; in: Wladislaw Hedeler, Horst Schützler, Sonja Striegnitz (Hrsg.): Die Russische Revolution – Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin 1997, S.44 45 Richard Pipes: Die Russische Revolution, Bd.II, S.514 46 Es ist nebenbei bezeichnend für die zentristische Schwammigkeit eines Ernest Mandel, daß er es in seinem Buch zur Oktoberrevolution vermeidet, eindeutig Position zu Kronstadt zu beziehen. Ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, daß seine Bewegung bisher immer, zumindest in Worten, die tragische Notwendigkeit der Niederschlagung dieses Aufstandes verteidigte, stellt er sich nichtsahnend: „Die Informationen, über die wir in dieser Hinsicht verfügen, erlauben aber keine definitiven Schlußfolgerungen.“ (E.Mandel, o.a., S.77)

(47) Siehe dazu die Broschüre „Kronstadt“, Frankfurt a.M. 1981, mit Texten von Lenin, Trotzki und Serge sowie einer guten Einleitung von Pierre Frank, dem damaligen führenden Funktionär des zentristischen „Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale“. Damals war der Zeitgeist noch nicht demokratisch-konterrevolutionär wie in der ersten Hälfte unseres Jahrzehntes, weswegen sich Frank im Unterschied zu Mandel 1992 durchaus zur Verteidigung der Bolschewiki durchringen konnte. Der Zentrist läßt sich in seinem Urteil leider von wandelnden Stimmungen und Zeitgeist treiben, anstatt sich ausschließlich an die objektiven Fakten zu halten. Denn diese veränderten sich wohl kaum zwischen 1976 und 1992!

(48) Kronstadt war eine Marinefestung, die strategisch zentral direkt in der Meereseinfahrt zu Petrograd lag. Alleine deswegen besaß die Frage, wer Kronstadt kontrolliert, enormes Gewicht.

(49) Victor Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs 1901-1941, Hamburg 1977, S.147f

(50) Einen weitgehend korrekten Überblick über den Bürgerkrieg und die Entwicklung der bolschewistischen Partei bietet „ergebnisse&perspektiven“ Nr.8, Mai 1979, S.29-52; herausgegeben von den inzwischen aufgelösten Spartacusbund/IKL

(51) Siehe z.B. Leo Trotzki: Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky (1920), Dortmund 1978

(52) Karl Kautsky: Die Diktatur des Proletariats, 1918; Terrorismus und Kommunismus, 1918; Von der Demokratie zur Staatssklaverei, 1921; alle in: Hans-Jürgen Mende (Hrsg.): Demokratie oder Diktatur, Bd.I und II, Berlin, 1990

(53) Zu den Diskussionen in der bolschewistischen Partei siehe u.a.: The Bolsheviks and the October Revolution; Central Committee Minutes of the Russian Social-Democratic Labour Party (bolsheviks) August 1917 – February 1918, London 1974; sowie Alexander Rabinovich: The Bolchevics come to power, s.o.

(54) Ernest Mandel: o.a., S.73-76

(55) Karl Radek: Proletarische Diktatur und Terrorismus, Berlin 1919, S.40

(56) Pipes entblödet sich nicht einmal, Lenin als Agenten des deutschen Kaiserreiches hinzustellen, nicht nur für die Phase vor dem Oktober 1917, sondern sogar noch im August 1918! Abgesehen von der lächerlichen Beweisführung aus einer unklaren Formulierung in einem Brief Lenins entgeht diesem „Wissenschaftler“ die kleine Tatsache, daß im August 1918 die deutschen Imperialisten gerade die Sowjet-Republik strangulierten und reaktionäre Truppen finanzierten, die gegen Moskau marschierten. Falls Lenin damals ein deutscher Agent war, so war er sicherlich ein äußerst unbrauchbarer Agent, denn die Bolschewiki propagierten ohne Unterbrechung den Sturz des Kaisers, was dann auch im November 1918 geschah und außerdem bekämpften sie erfolgreich die Handlanger des deutschen Imperialismus in Rußland selber. Richard Pipes: The Unknown Lenin; New York 1996, S.12 und 53

(57) Ein weiteres Beispiel für diese naive kleinbürgerliche Argumentation ist eine andere anarchistische Publikation: M. Brinton: Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle – Der Staat und die Konterrevolution, Hamburg 1976

(58) So z.B. die Brüder Gordin, Herausgeber der größten anarchistischen Zeitung Anarkhiya

(59) Siehe „Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats“, in: Rote Hefte Nr. 15, herausgegeben von der Gruppe Internationale Marxisten

(60) Siehe z.B. Ted Grant: Russia – from Revolution to Counterrevolution, London 1997, S.41-92

(61) Siehe auch: Leo Trotzki: „Die Lehren des Oktobers“ (1924), in: Ulf Wolter (Hrsg.): Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928, Bd.II, 192-251. Unsere Tendenz hat dazu u.a. folgendes publiziert: Workers Power: 1917 – Rußland auf dem Weg zum roten Oktober. Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution; Die Übersetzung findet sich in der hier vorliegenden Ausgabe des Revolutionären Marxismus; in unserem internationalen Programm, dem Trotzkistischen Manifest, haben wir die Lehren der revolutionären Arbeiterbewegung ausgewertet und weiterentwickelt.

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