Arbeiter:innenmacht

17. Juni 1953: Aufstand der Arbeiter

Jürgen Roth, Neue Internationale 81, Juni 2003

artikel_17juniAuf der 2. Konferenz der SED im Juli 1952 wurde der „Aufbau des Sozialismus“ proklamiert: Forcierung der Schwerindustrie, Kollektivierung der Landwirtschaft und Aufbau der Nationalen Volksarmee. Daraufhin auftretende Engpässe bei Konsumgütern wurden zunächst dem Privatsektor angelastet. Dann senkte die Partei- und Staatsführung aber auch den Lebensstandard der ArbeiterInnen u.a. durch Preiserhöhungen, Senkung der Sozialversicherungsleistungen und Streichung von Subventionen. Das Kleinbürgertum flüchtete verstärkt in den Westen.

Am 9.6.1953 vollzog die SED dann eine Kehrtwendung. Der „Neue Kurs“ brachte große Zugeständnisse an Bürgertum und Mittelklassen: günstige Kredite, mehr Bewegungsspielraum für bürgerliche Parteien und Kirche, teilweise Rückgabe von Fabriken an die alten BesitzerInnen, Lockerung der Abgabepflicht für die Bauernschaft, Recht auf Austritt aus der LPG.

Die Arbeiterklasse dagegen wurde durch Normerhöhung und Teuerung zusätzlich belastet. Ein Regierungsdekret vom 28. Mai verfügte neue Akkordsätze für die Bau- und Metallindustrie. Die Kampagne der SED für „freiwillige“ Normerhöhung traf auf erbitterten Widerstand besonders der Berliner Bauleute, die trotz freiwilliger Einsätze ihr Soll nur zu 77% erfüllt hatten.

Eine Resolution der Großbaustelle Stalinallee an „ihre“ Regierung zur Zurücknahme der Steigerungen wurde nicht beantwortet. Die am 15. in den Streik getretenen Berliner Baustellen verlangten von Grotewohl die Rücknahme der Normenerhöhung. Dem schloss sich am 16. die Stalinallee an, nachdem ein Artikel im Gewerkschaftsorgan „Die Tribüne“ die Akkordsteigerung energisch verteidigte. Nach der Verhaftung zweier Streikender wurde beschlossen, die tags zuvor verabschiedete Resolution Ulbricht und Grotewohl zu überbringen. 6000 Leute vor dem Haus der Ministerien warteten jedoch vergeblich auf sie.

Ein Sprecher verlas die Forderungen: „Sofortige Verringerung der Normen um 10%! Sofortige Preissenkung für den Grundbedarf um 40%! Entlassung der Funktionäre, die schwere Irrtümer begangen haben. Demokratisierung von Partei und Gewerkschaften von unten. Man soll nicht auf die Initiative der Bonner Regierung zur Wiedervereinigung warten. Die DDR-Regierung soll umgehend die trennenden Barrieren niederreißen. Man muss das Land durch allgemeine, freie und geheime Wahlen einigen und einen Sieg der Arbeiter bei diesen Wahlen sichern.“

Ein anderer Arbeiter rief den Generalstreik für den folgenden Tag in ganz Berlin aus. Eine Delegation zum Westberliner Rundfunksender RIAS konnte zwar ihre Forderungen bekannt geben, durfte aber nicht den Generalstreik erwähnen!

Generalstreik

Am folgenden Tag streikten ca. 150.000 Beschäftigte in Ostberlin. 30.000 forderten im Walter Ulbricht-Stadion den Sturz der Regierung und ihre Ersetzung durch eine Arbeiterregierung, welche die Sache der Wiedervereinigung den Händen der Reaktion entreißen und praktisch durchführen soll. Die Streikenden wahrten bewundernswerte Disziplin. Das änderte sich mit dem Eindringen reaktionärer ProvokateurInnen aus dem Westteil; sie holten die rote Fahne vom Brandenburger Tor, provozierten die Volkspolizei und brandschatzten am Potsdamer Platz.

Um 13 Uhr verkündete der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand. Obwohl Panzer rollten, leerten sich die Straßen erst abends. Nach verschiedenen Quellen gab es 16 bis 19 Tote. Einige Betriebe streikten trotzdem noch bis zum 21. Juni.

Im übrigen Land gingen Streiks und Solidaritätsbekundungen von den Großbetrieben der Industriezentren aus, die schon 1919-23 die Hochburgen der KPD und KAPD waren: Bitterfeld, Halle, Merseburg, Leipzig. Aber auch in Jena, Görlitz, Erfurt, Gera, Brandenburg und Rostock fanden blutige Straßenschlachten mit der Polizei statt, wurden SED-Büros gestürmt, Akten verbrannt, Funktionäre verprügelt, Gefängnisse geöffnet, Rathäuser und Verwaltungsgebäude besetzt. Sozialdemokratische Illusionen drückten sich in Parolen aus wie „Fort mit Ulbricht und Adenauer, wir verhandeln nur mit Ollenhauer“ (damaliger SPD-Vorsitzender).

Entgegen der westlichen Propagandalüge war der 17. Juni kein Volksaufstand für die Eingliederung der DDR in den „Freien Westen“, aber auch kein faschistischer Umsturzversuch, wie es die SED behauptete. Er war ein reiner Arbeiteraufstand. Nicht zufällig bildeten die strategisch bedeutsamen Grundstoff- und Schwerindustrien die Zentren des Widerstands.

Der erste unabhängige Schritt der Belegschaften bestand in der Einberufung von Versammlungen, oft noch auf dem „Dienstweg“ über die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL). Dann bestimmten sie ein unabhängiges Streikkomitee. Die Streikausschüsse setzten zumeist die DirektorInnen ab, lösten die SED-Betriebszelle auf, sicherten die Betriebe gegen Sabotage und organisierten den Notdienst.

Die klassenbewussteste Belegschaft im ganzen Land war wohl die des Leuna-Werks „Walter Ulbricht“, die am 17.6. forderte: Schluss mit der Normenkampagne, Entwaffnung des Werkschutzes, Absetzung der BGL, Namensänderung des Werks und Rücktritt der Regierung. Das Werk war besetzt, ein Fabrikkomitee gab Informationen und Anweisungen übers Radio. 1500 Betriebsangehörige wurden nach Berlin entsandt, um den Generalstreik zu vereinheitlichen. Der Streik dauerte trotz zahlreicher Verhaftungen bis zum 23.

Im Industriedreieck Halle – Bitterfeld – Merseburg waren die Doppelherrschaftsorgane am weitesten entwickelt und umfassten neben der Industriearbeiterschaft auch andere Teile der Bevölkerung: Angestellte, Kaufleute, Hausfrauen, StudentInnen. Sie wurden teilweise auf öffentlichen Plätzen durch Zuruf gewählt, nahmen die Verwaltung in ihre Hände: Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke, Feuerwehr, Lokalrundfunk, Druckereien.

In Bitterfeld kontrollierten Kampfgruppen der ArbeiterInnen die Stadt, schalteten Polizei und Verwaltung aus und befreiten politische Gefangene. Trotz dieser guten Ansätze entwickelte sich in der kurzen Zeit aus dem spontanen Generalstreik keine landesweite Kampfführung.

Instinktiv hatten die ArbeiterInnen aber begriffen, ihre Bewegung auf ganz Deutschland ausweiten zu müssen. Deshalb wurde der Generalstreik auch für Gesamtberlin ausgerufen!

Dem Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski wurde verboten, zum Solidaritätsstreik aufzurufen, ja das Wort auch nur in den Mund zu nehmen! Bourgeoisie, westliche Stadtkommandanten und sozialdemokratische Arbeiterbürokratie in Partei und Gewerkschaft fürchteten eine Ausweitung des Streiks wie der Teufel das Weihwasser. Solidaritätsbekundungen, wie von der Sozialistischen Jugend und einigen Betrieben gefordert, wurden verboten. Nur BRD-staatstragende Protestversammlungen gemeinsam mit den Westalliierten, CDU und FDP erlaubt.

Auswirkungen

Die SED übte nach den Juniereignissen „Selbstkritik“ und senkten die Normen um 10%. Die meisten Gefangenen wurden entlassen; Wohnungsbau und Konsumgüterindustrie erhielten Ressourcen aus dem Schwerindustriefonds. Formal gestand der Justizminister sogar das Streikrecht zu.

Trotzdem forderten die ArbeiterInnen weiter die Absetzung bestimmter Funktionäre. Mit dem Vorwurf des „Sozialdemokratismus“ wurden viele Parteimitglieder ausgeschlossen. Wie lügnerisch dieser ist, kann man daran sehen, dass die „Abweichlerzentren“ ehemalige KPD-Hochburgen waren. Der Anteil ausgeschlossener SEDlerInnen, die bereits vor 1933 in der KPD organisiert waren, betrug in Halle 71%, in Leipzig 59%, 52% in Magdeburg, 68% in Ostberlin, 61% in Bautzen!

Paradoxerweise rettete der Generalstreik das Regime Ulbrichts und kostete seine Konkurrenten (Herrnstadt, Zaisser u.a.) ihre Posten. In der UdSSR stürzte Berija. Die sowohl utopischen wie reaktionären Deutschlandpläne der SU, die den degenerierten Arbeiterstaat DDR zugunsten eines wiedervereinigten bürgerlichen, aber blockfreien Deutschland opfern wollten, waren danach ebenfalls vom Tisch.

Die revolutionäre Situation, die der Arbeiteraufstand schuf, konnte aufgrund des Fehlens einer revolutionären trotzkistischen Arbeiterpartei nicht in eine politische, antibürokratische Revolution münden. Sie war aber Signal für die ArbeiterInnen anderer „Volksdemokratien“: 1953 in Workuta (UdSSR), 1956 in Ungarn, Polen und der CSSR, 1968 wiederum in der CSSR, 1970, 1976 und 1980/81 in Polen sowie ab 1989 in ganz Osteuropa und der UdSSR bedrohten Unruhen, Aufstände und Revolutionen die Herrschaft der stalinistischen Kaste.

Die Ereignisse von 1989 zeigten, dass deren Stabilität viel geringer als die einer Klasse ist, weil sie kein eigenes soziales Fundament und darauf begründete politische Legitimation besitzt. In ihrer Rolle als politische Agentur des Weltimperialismus innerhalb der degenerierten Arbeiterstaaten verteidigte sie deren Grundlagen nur auf Kosten des Verrats an der internationalen Revolution, der Unterdrückung der eigenen Arbeiterklasse und nur solange, wie sie die Privilegien der Nomenklatura garantierten.

Aktionsprogramm

Ein kommunistisches Aktionsprogramms für die Situation 1953 musste in erster Linie die Frage der Wiedervereinigung beantworten. In der DDR hatte bereits eine soziale Umwälzung stattgefunden, wenn auch unter der Knute einer stalinistischen Bürokratie. Wiedervereinigung bedeutete folglich, unter keinen Umständen eine bürgerlich-kapitalistische Wiedervereinigung zuzulassen. Das lag aber auch nicht in der Absicht der Streikenden. Allerdings gab es auch demokratische Illusionen nach freien Wahlen in der Arbeiterklasse der DDR. Die Forderung nach einer revolutionären verfassunggebenden Versammlung, die sich auf die Räte und Streikkomitees stützt und eine Planwirtschaft unterstützt, wäre eine zentrale Losung gewesen. Die Ausdehnung der Komitees auf Westdeutschland war Voraussetzung einer revolutionären Wiedervereinigung.

Abgesandte Delegierte der Streikkomitees zu den Westberliner Betrieben, um Versammlungen abzuhalten, gewerkschaftliche Aktionseinheit und Verbindungskomitees für einen Generalstreik von unten, gekoppelt mit Aufrufen an Gewerkschafts- und SPD-Führung den Streik zu führen, entschädigungslose Verstaatlichung der Schwerindustrie unter Arbeiterkontrolle, Abzug der alliierten Besatzungstruppen der NATO hätten zentrale Forderungen sein müssen. Der Sturz Adenauers und Ulbrichts müsste in der Losung nach einer Arbeiterregierung, gestützt auf die Kampforgane der Arbeiterklasse, kulminieren. Die Schaffung einer revolutionären Partei stand in dieser Situation unmittelbar auf der Tagesordnung.

Bild: http://www.flickr.com/photos/swarve/ (CC BY-NC-ND 2.0)

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