Arbeiter:innenmacht

Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 51, Mai 2019

Die Internationale –
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer. (1)

Inhalt

Einleitung

1 Entstehung der „jüdischen Frage“ und des Antijudismus

2 Vielfalt des Judentums – gibt es ein jüdisches Volk?

3 Antisemitismus und „Kapitalismuskritik“

4 Antisemitismus und Massenpsychologie

5 Antisemitismus und Rassismus

6 Judentum, Kapitalismus und ArbeiterInnenbewegung

7 Antisemitismus und der Islam

8 Antisemitismus unter muslimischen MigrantInnen in Europa

9 Antizionismus und Antisemitismus

Endnoten

Einleitung

Eines der ältesten und wirksamsten Elemente des ausgrenzenden Populismus ist der Antisemitismus, die Ablenkung aller möglichen gesellschaftlichen Probleme auf die Juden und Jüdinnen als globalem Sündenbock. Nach der Shoa (2) und den Irrsinnigkeiten des Antisemitismus der Nazis bezieht sich wohl kaum noch jemand positiv auf den offen ausgesprochenen Begriff des „Antisemitismus“ (anders als dies noch vor 1945 der Fall war, als sich bestimmte rechte politische Parteien oder Vereinigungen stolz als „antisemitisch“ bezeichneten). Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht alle rechten und populistischen Bewegungen Elemente des Antisemitismus aufrechterhalten bzw. den Hass auf Sündenböcke, die mehr oder weniger etwas mit dem „Jüdischen“ zu tun haben mögen, weiterhin für ihre politischen Zwecke verwenden würden. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass auch in der deutschen und österreichischen Bevölkerung weiterhin ein gewisser Bodensatz an Antisemitismus besteht, der von rechten Organisationen auf mehr oder weniger subtile Weise bedient wird. Dies wird letztlich auch an der steigenden Zahl antisemitischer Delikte, die in ihrer Mehrheit nachgewiesenermaßen von nicht-migrantischen Menschen ausgehen, deutlich.

Andererseits hat sich der Begriff „Antisemitismus“ zu einem politischen Kampfbegriff gewandelt, der von verschiedenen Kräften als polemische Waffe gegen politische GegnerInnen eingesetzt wird. Aktuell wird er stark für Kampagnen gegen angeblich in ihrer Mehrheit antisemitisch eingestellte migrantische Bevölkerungsgruppen genutzt. Dies bezieht sich erstens auf Regierungsparteien und bürgerliche Öffentlichkeit, denen dies zur Verschärfung von Repressions- und AusländerInnengesetzen dient. Dabei werden tatsächlich anti-jüdische Einstellungen und Positionierung gegenüber der Politik Israels verwischt, um dramatische „Integrationsprobleme“ zu beschwören, die alle möglichen Maßnahmen bis hin zur Abschiebung rechtfertigen würden. Zweitens wird dies auch zur Entsolidarisierung mit Geflüchteten genutzt, besonders gegenüber linker oder liberaler Öffentlichkeit, eben um repressive Maßnahmen zu rechtfertigen. Drittens ist es makaberer Weise ein Mittel der RechtspopulistInnen, die den angeblichen Antisemitismus von Geflüchteten ebenso für ihre Propaganda nutzen wie für die Einschränkung von Frauenrechten (für die sie ja auch sonst so viel tun…). In ihren Einlassungen zum Antisemitismus erklären AfD oder FPÖ diesen heute zu einem Problem, das nur bei Geflüchteten wiederauftauche. Dies beweise, wie sehr der Islam „kulturfremd“ und Migration aus muslimischen Ländern zu unterbinden sei. Ähnlich begründen ausgerechnet auch die polnische und ungarische Regierung unter anderem die Ablehnung der Aufnahme von Geflüchteten aus muslimischen Ländern. Andererseits hat der Rechtspopulismus zumeist eine Kehrtwende in Bezug auf die Positionierung zum israelischen Staat vollzogen und sieht sich heute mit der israelischen Rechten und den Regierenden in Israel in einer Front im Kampf gegen die „muslimische Gefahr“.

Viertens verwendet auch die israelische Regierung den Antisemitismusvorwurf gegen alle möglichen KritikerInnen ihrer politischen und militärischen Maßnahmen, vor allem in Bezug auf ihre Besatzungspolitik und ihren „Kampf gegen den Terror“. Bekanntlich wird der Begriff des „Terrors“ dabei sehr weit gefasst. Jede Solidarisierung mit solchermaßen definiertem Terrorismus wird dann in die Nähe von eliminatorischem Antisemitismus gebracht (so wird Solidarisierung mit Opfern israelischer Militäraktionen in Gaza wegen der dort gegebenen führenden Rolle der Hamas als heimliche Sympathie mit dieser extremen Form des Antisemitismus diffamiert). Durch die Verbindung mit dem „Kampf gegen den Terror“ der Neo-Konservativen und ihrer Clash-of-Culture-Strategie wird die so erweiterte Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus zum Element der Sicherheitsdoktrin aller „westlichen“ Staaten. So werden dann z. B. Iran/Hisbollah zu zentralen AgentInnen des Antisemitismus und der Bedrohung einer friedlichen Ordnung im Mittleren Osten und der Welt überhaupt, also zu möglichen Ausgangspunkten einer neuen Shoa.

Schließlich wird „Antisemitismus“ auch als Kampfbegriff innerhalb der Linken (nicht nur in Deutschland und Österreich) benutzt, um insbesondere Teile der „anti-imperialistischen“ Linken als „verkappte“, „sekundäre“ AntisemitInnen zu bekämpfen oder sie zumindest als „naive Hilfstruppen“ oder „VersteherInnen“ der gefährlichen muslimischen AntisemitInnen zu „entlarven“. Die sogenannte „anti-nationale“ Linke verbindet ihre Antisemitismus-Definition mit einer Kritik an einer vorgeblich „verkürzten Kapitalismuskritik“ der „anti-imperialistischen“ Linken. Mit ihrer oft überzogenen Kritik an „völkischen“, „personalisierenden“ oder „nationalistischen“ Elementen bei Anti-KapitalistInnen oder Anti-ImperialistInnen wird die sogenannte Antisemitismus-Kritik zu einem Königsweg für die Rehabilitierung von Reformismus und die Kapitulation vor den „liberal-demokratischen“ Imperialismen. Aktuell kann diese Funktion in der Auseinandersetzung in der britischen Labour-Party studiert werden, wo der Streit um angeblich massenhaften Antisemitismus und um die Anerkennung stark Israel-bezogener Definitionen des Antisemitismus zu einem Haupthebel des Angriffs der Parteirechten gegen die linksreformistische Labourführung um Jeremy Corbyn verwendet wird.

Offensichtlich sind die offiziellen von staatlichen oder über-staatlichen Institutionen (oder auch vom Wissenschaftsbetrieb) kodifizierten Antisemitismus-Definitionen zu einem Kampffeld sich widersprechender Interessen geworden. Sowohl die israelische als auch die US-Regierung üben hier zum Teil massiven Druck aus, um die Frage des Staates Israel entscheidend in diese offiziellen Definitionen einzubringen. Mit den oben beschriebenen Szenarien rund um Migrationspolitik und politische Konflikte, in denen der Begriff zum Kampfbegriff geworden ist, ist es auch nicht verwunderlich, dass auch z. B. in Deutschland gerade heftig an entsprechenden Ausdehnungen der Antisemitismus-Definitionen gearbeitet wird – inklusive der Partei „Die Linke“.

Offenbar ist die an sich schon schwierige und von Hekatomben von Opfern belastete Frage des Antisemitismus zusätzlich kompliziert durch die Verknüpfung mit der Geschichte des Zionismus, der nationalistischen Strömung, die als Reaktion auf den Antisemitismus die Lösung der „jüdischen Frage“ in der Gründung eines eigenen „Nationalstaats der Juden und Jüdinnen“ sah – und die letztlich die Gründung von Israel im Gebiet des damaligen britischen Mandatsgebietes Palästina vor 70 Jahren erkämpfte. Offensichtlich entwickelten sich die dominierenden Strömungen des Zionismus seither gegenüber der arabischen Bevölkerung (ob mit israelischer Staatsbürgerschaft, in den besetzten Gebieten oder außerhalb Palästinas) zu rassistisch-militaristischen Ideologien und Politiken. Davon kann auch der israelische Staat als Ganzes nicht getrennt werden – wie sich gerade in der letzten Änderung der Verfassung (Israel als der Staat der Juden und Jüdinnen) klar gezeigt hat.

Eine der heute stark verwendeten offiziellen Definitionen des Antisemitismus, die der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken, IHRA), führt als eine von 11 wesentlichen Beispielen von gegenwärtigem Antisemitismus an: „Leugnung des Selbstbestimmungsrechtes des jüdischen Volkes, z. B. indem man die Gründung des Staates Israels als rassistische Unternehmung denunziert“ (3). Hier wird offensichtlich unterstellt, dass jede Analyse des rassistischen Charakters von Israel das Selbstbestimmungs- bzw. Existenzrecht des „jüdischen Volkes“ (abgesehen von der Frage, ob alle 15 Millionen der sich weltweit als Juden und Jüdinnen betrachtenden Menschen zu diesem einen Volk zählen mögen oder nicht) in Frage stellen würde und damit automatisch antisemitisch sei. Dies wird oft auch mit dem Vorwurf der „Doppelstandards“ (welcher Staat sei denn frei von Rassismus?) begründet – als wenn die Entstehung des Staates als Siedlerstaat im Zusammenhang mit der westlichen Kolonialgeschichte Israel nicht tatsächlich im Gegenteil mit anderen, ähnlichen Projekten vergleichbar machen würde.

Ziel des vorliegenden Artikels ist es zunächst, jenseits dieser aktuellen Auseinandersetzungen um den Antisemitismusbegriff eine historische Übersicht über die verschiedenen Formen des Antisemitismus zu liefern. Doch wird hier schon klar, dass es nicht einen, sondern viele „Antisemitismen“ gibt. Insbesondere sollen auch die Formen des europäischen Antisemitismus von den sich in den letzten Jahrzehnten gebildeten Formen des muslimischen Antijudaismus differenziert werden. Vor diesem Hintergrund sollen die aktuellen Auseinandersetzungen um den Begriff bewertet und eine differenzierte Strategie zur Bekämpfung sowohl der verschiedenen Formen des Antisemitismus als auch der missbräuchlichen Verwendungen des Begriffs in ihren Grundzügen dargestellt werden.

1 Entstehung der „jüdischen Frage“ und des Antijudaismus

Zunächst einmal wurzelt der in Europa entstandene Antisemitismus in einer jahrhundertealten kulturell-religiösen Tradition der Judenfeindlichkeit, dem sogenannten „Antijudaismus“.

Natürlich sind moderner europäischer Antisemitismus und traditioneller religiös-christlicher Antijudaismus nicht gleichzusetzen, aber der moderne, rassistisch verankerte Antisemitismus im „christlichen Europa “ wäre undenkbar und unerklärbar ohne Berücksichtigung seiner religiös-kulturellen Verwurzelung.

1.1 Mythos „Diaspora“ und ihr historischer Hintergrund

Es scheint eines der ältesten historischen Rätsel zu sein, dass als „jüdisch“ bezeichnete gesellschaftliche Gruppen über Jahrhunderte als „Volk ohne Land“, das in tausenden Gemeinden über zahlreiche Länder, Völker, Kulturräume etc. verstreut lebte, doch als im Großen und Ganzen kulturell homogene Ethnien überleben konnten und trotz aller möglichen immer wieder erlittenen Verfolgungen nicht in der Assimilierung in den jeweiligen Hauptvölkern verschwunden sind. Der Mythos will es, dass dem die Vertreibung aus der ursprünglichen Heimat Israel/Palästina durch die RömerInnen im Laufe des 1./2. Jahrhunderts vorausging; dass die Juden und Jüdinnen in der Diaspora (4) von Ort zu Ort wandern mussten, zusammengehalten durch das starke Band ihrer religiösen Gemeinschaft, mit der ewigen Hoffnung, einst in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren zu können.

Tatsächlich sprechen die historischen Quellen und archäologische Befunde dafür, dass schon vor den Niederlagen in den drei „jüdischen Kriegen“ gegen die RömerInnen (66–135 u. Z.) und der Flucht/Vertreibung eines Teils der jüdischen Bevölkerung des historischen Palästinas die überwältigende Mehrheit der Juden und Jüdinnen in der Diaspora lebte, verteilt rund um das Mittelmeer, und hauptsächlich vom (Fern-)Handel lebte – ähnlich wie übrigens auch andere Völker der Levanteküste, wo die wichtigsten Handelswege aus Innerasien an der östlichen Mittelmeerküste endeten. Es gab, als das phönizische Handelsimperium im Abstieg war, z. B. auch viele Übertritte zum Judentum bei den PhönizierInnen und den KarthagerInnen (Karthago war ursprünglich eine phönizische Kolonie). Der deutlichste Beweis für diese Verbreitung ist der von HistorikerInnen so genannte „Diaspora-Aufstand“ (115–117 u. Z.), mitten in diesen jüdischen Kriegen, der jüdische Aufständische gegen die Politik des Kaisers Trajan vom heutigen Libyen, über Zypern, Alexandria, Antiochia bis nach Mesopotamien umfasste und beträchtliche militärische Kräfte des römischen Reiches band (5). Auch wenn viele Zahlen der römischen HistorikerInnen übertrieben sein mögen, zeigt sich hier klar das numerische Ausmaß der schon vor dem Ende des Bar-Kochba-Aufstandes (136 u. Z.) bestehenden jüdischen „Diaspora“.

Tatsächlich ist die Übernahme der Handelsmacht der PhönizierInnen im Mittelmeerraum durch Juden und Jüdinnen ab dem 4. Jahrhundert vor der Zeitenwende kein Zufall. Die Nähe des Judentums zu Phönizien ist nicht nur geographisch gegeben, sondern auch sprachlich und kulturell. Phönizisch und Hebräisch gehören beide zur kanaanäischen Sprachfamilie (6). Viele Bezugnahmen in der Bibel auf die in Kanaan verbreiteten vorbiblischen religiösen Praktiken und Vorstellungen verweisen auf die Verehrung von Baal (dem Hauptgott der PhönizierInnen). Die „neuen israelischen HistorikerInnen“ wie z. B. Shlomo Sand verweisen heute den biblischen Mythos von einem „jüdischen Volk“, das als geschlossene Einheit und mit festem monotheistischen Glauben in Kanaan eingewandert ist, in das Reich der Mythenbildung. Tatsächlich waren die HebräerInnen wohl eines von vielen „Völkern“, die sich zusammen mit anderen KaananiterInnen und AramäerInnen in der frühen Eisenzeit (die in dieser Region schon im 12. Jahrhundert v. u. Z. begann) herausbildeten und in zwei lose gefügten „Königreichen“ organisierten („Juda“ und das „Nordreich“). Diese wurden erst von den biblischen Erzählungen, die erst zwischen dem 5. und 2. Jahrhundert v. u. Z. entstanden, zu „jüdischen Königtümern“ gemacht. Tatsächlich waren sie laut Shlomo Sand (7) nicht nur multiethnisch geprägt, sondern Jahwe war nur einer von vielen Göttern wie auch die verschiedenen Baals, die dort verehrt wurden (8). Erst die Eroberung des Nordreichs durch die AssyrerInnen im 8. Jahrhundert und von Juda durch das neubabylonische Reich im 6. Jahrhundert schufen speziell in den Zentren der viel weiter entwickelten Großreiche eine jüdische Elite, die begann, das monumentale Gebäude der monotheistischen jüdischen Religion zu erstellen und zu verschriftlichen. Im Perserreich bekamen diese Eliten die Möglichkeit, ihre religiösen Gebote in der persischen Provinz Judäa gegen die „heidnische“ Konkurrenz immer mehr durchzusetzen (9).

Mit dem Sieg Alexanders des Großen Ende des 4. Jahrhunderts über die PerserInnen und die Errichtung der hellenistischen Staaten in der Region verbesserte sich die Situation des Judentums nochmals außerordentlich. Die mit den PerserInnen eng verbundenen PhönizierInnen verloren ihre Unabhängigkeit. Entweder durch Bekehrung oder durch Zuwanderung vermehrte sich die Gemeinde jüdischer HändlerInnen in Städten wie Tyros enorm (10). Gleichzeitig förderten speziell die PtolemäerInnen das Judentum, holten eine große Zahl jüdischer HändlerInnen und Gelehrter nach Alexandria und finanzierten eine großangelegte Übersetzung der biblischen Schriften ins Griechische. Letzteres wurde zu einer starken Waffe zur Verbreitung der jüdischen Religion als einer der frühesten konsequent monotheistischen Religionen in der gesamten hellenistischen Welt. Der Diaspora-Aufstand 300 Jahre später zeigt, wie weit im Mittelmeerraum die offensive Missionierung des Judentums seit damals wohl gewirkt haben muss. Im 2. Jahrhundert v. u. Z. war das Judentum in Palästina so weit erstarkt, dass es die hellenistische Herrschaft offen militärisch herausfordern konnte. Mit den Makkabäer-Aufständen um das Jahr 160 v. u. Z. gelang es für eine kurze Zeit von etwa 80 Jahren tatsächlich, einen jüdischen Staat mit gewisser Unabhängigkeit zu etablieren, als „Königreich Judäa“, das eine Art Theokratie war (mit dem Hohepriester als zentralem religiösen Führer). Diese Unabhängigkeit wurde durch das Lavieren zwischen den SeleukidInnen und RömerInnen möglich und endete damit logisch durch die Annexion als römische Provinz Judäa 64 v. u. Z. durch Pompeius. Zwar führte die Integration ins Römische Reich einerseits noch einmal zu einer günstigen Bedingung für die Verbreitung des Judentums durch Missionierung. Andererseits mussten die weitreichenden Ansprüche des damalig auf Expansion und Messianismus ausgerichteten Judentums und die imperialen Ordnungsziele der RömerInnen unweigerlich zum Konflikt führen. Die Aufstände der ZelotInnen („religiöse EifererInnen“) nach 66 u. Z. und der Bar-Kochba-Aufstand nach 132 u. Z. wurden von der römischen Militärmacht als grundlegender Angriff auf die Integrität des Reiches angesehen und daher mit brutalst möglicher Gewalt unterdrückt (11). Jerusalem wurde für Jahrzehnte unbewohnbar und die einst blühende Provinz in die untergeordnete Prokuratur „Syria Palästina“ umgewandelt.

Die Zerstörung des alten jüdischen Zentrums führte also nicht allein zur Diaspora. Die „Zerstreuung“ (oder „Entsendung“, wie das Wort auch übersetzt werden kann) über Mittelmeerraum und fruchtbaren Halbmond war schon vorher voll im Gang – und war bis dahin weniger Vertreibung als vielmehr Ausbreitung entlang der Handelswege und Missionierung mit messianischem Eifer. Doch nach der endgültigen Niederlage im Bar-Kochba-Aufstand änderte sich der Charakter der Diaspora grundlegend. Die bisherigen Zentren Jerusalem, Alexandria und Antiochia (letztere beiden durch den Diaspora-Aufstand) hatten ihre Bedeutung verloren, und die Perspektive einer militanten Ausbreitung bzw. der militärischen Durchsetzung eines eigenen Staates hatte ausgespielt. Das Judentum beschränkte sich nunmehr auf das Überleben seiner zerstreuten Gemeinden, legte das Missionarische ab. Es entstand das pazifistische Rabbinertum. Zentrale Schriften des Judentums wie die Mischna und die beiden Versionen des Talmuds entstanden in der ersten Zeit dieses „neuen Exils“ und enthalten Auslegungen von Bibel und den Mizwot (12), die das jüdische Leben auf die Anpassung an die Diaspora ausrichten. Die drei heiligen Eide des Talmuds (Ketubot 111a) besagen: keine gewaltsame Rückkehr in das „Land Israel“ ohne Zeichen des Messias; keine offensive Auflehnung gegen die weltlichen HerrscherInnen in den Ländern, in denen man lebt; zu bewirken, dass die Länder, in denen man lebt, die Juden und Jüdinnen gut behandeln. Auch erst in dieser Zeit entstand die halachische Rechtsauffassung (Halacha ist die auf dem Tanach, den normativen Bibeltexten, beruhende Rechtslehre), dass Jude und Jüdin nur sein kann, wer eine Jüdin als Mutter hat oder eine langwierige Konversionsprozedur (und u. a. bei Männern die Beschneidung) hinter sich hat – die jüdischen Gemeinden wurden also gegenüber den sie umgebenden Völkern stark abgeschlossen.

Unter diesen Geboten verbreiteten sich nun die jüdischen Gemeinden im römischen Reich sehr viel unspektakulärer. Am schnellsten erholte sich das Judentum in Nordafrika, von wo aus es sich nach Spanien ausbreitete. Die missionarische Dynamik im Römischen Reich war auf eine vom Judentum abgespaltene Sekte übergegangen: das Christentum. Dieses übernahm nicht nur viele Diaspora-Gemeinden, sondern wurde auch in der Levante und in Palästina bis zur Eroberung durch die AraberInnen zur dominierenden Religion. Für die Juden und Jüdinnen außerhalb von Palästina (wo sich nur kleine Gemeinden vor allem in Galiläa hielten) wurde das „Land Israel“ zu einem mehr spirituellen Bezugspunkt, Jerusalem vor allem zum Pilgerziel und die Synagoge zum Ersatz für den zerstörten Tempel.

1.2 Das Überleben in der „Diaspora“ aus historisch-materialistischer Sicht

Der jüdische Marxist und Trotzkist Abraham Léon hat in einer wegweisenden historisch-materialistischen Studie (13) analysiert, dass es sowohl für die große räumliche Verteilung als auch für das religiöse Band der jüdischen Gemeinden klare materielle Gründe gibt: In den vorkapitalistischen Gesellschaften, bei denen der Charakter der Hauptklassen durch die agrarische Naturalwirtschaft bestimmt war, mussten wichtige Elemente der Warenzirkulation, insbesondere solche, die Fernhandel und damit zusammenhängende Handwerke erforderten, von spezialisierten Schichten der Bevölkerung ausgefüllt werden. Der Fernhandel und das Know-how spezialisierter Handwerke erforderten einheitliche Sprache, Schrift und Weitergabe von Erfahrungen und Ähnliches, was es am einfachsten machte, dass diese gesellschaftlichen Schichten dann auch von einem „Volk“ gebildet wurden (ob sich dieses Volk nun durch diese Tätigkeiten bildete, schon zuvor bestand oder beides). Jedenfalls waren die Juden und Jüdinnen in dieser Funktion in der Antike und dem Mittelalter keineswegs einmalig.

Der Zusammenbruch des Römischen Reiches, die Herausbildung früher feudaler Strukturen im fränkischen Reich und die Entstehung der dynamischen islamischen Staaten bis hin zur Iberischen Halbinsel schienen den großen ökonomischen Wirtschafts- und Handelsraum der Römerzeit auseinandergerissen zu haben. Tatsächlich führte dies gerade zum Aufblühen der jüdischen FernhändlerInnen-Gemeinschaften. Durch ihre spezielle Stellung als „Menschen des Buches“ konnten die Juden und Jüdinnen (anders als andere ähnliche Gemeinschaften) auch unter islamischer Vorherrschaft ihre Handelsprivilegien behalten und als nunmehr einzige Handelsschnittstelle zwischen Ost und West sogar ausbauen (anfänglich konnten syrische ChristInnen eine Zeit lang noch eine ähnliche Rolle spielen). Insbesondere unter den UmayyadInnen im Kalifat von Córdoba kam es zu einem Erblühen von jüdischer Kultur, Handwerk und Handelsaktivität, die sich mit dem Bedarf der fränkischen Elite nach Fernhandelsprodukten und dem Know-how der Juden und Jüdinnen (z. B. in Medizin und Technik) deckte (14). Es sollte nicht vergessen werden, dass im mittelalterlichen Europa ein Großteil der jüdischen Bevölkerung auf der Iberischen Halbinsel lebte (bei ihrer Vertreibung aus Spanien und Portugal nach 1492 sollen es um die 400.000 gewesen sein). Neben diesen „sephardischen Juden und Jüdinnen“ (15) waren die „aschkenasischen Juden und Jüdinnen“ (16) im restlichen Europa eher Ableger und Außenposten, die bis ins Hochmittelalter nur ein paar tausend Menschen in verstreuten Gemeinden zählten.

Die Sephardim entwickelten vom 8. bis zum 11. Jahrhundert die jüdische Kultur zu einem Höhepunkt in der jüdischen Geschichte. Ihre VertreterInnen (wie Moses Maimonides) dachten nicht im Traum an die Rückkehr nach Palästina (gemäß den erwähnten Eiden des Talmuds). Maimonides entwickelte wie vor ihm schon Philon von Alexandria die Theorie von den zwei Heimaten der Juden und Jüdinnen – dem „himmlischen Jerusalem“ (erlebt in der Gemeinde und Synagoge) und der weltlichen, unmittelbaren Heimat, in der man lebt. Ganz real differenzierte sich im aufblühenden iberischen Gemeinwesen die jüdische Bevölkerung in Menschen mit hohen Staatsämtern und großen Reichtümern, mit HandwerkerInnen, mit SoldatInnen, mit Bauern und Bäuerinnen etc. Die Krise der muslimischen Herrschaft in al-Andalus, verbunden mit fundamentalistischeren Strömungen, die immer wieder politische Macht erlangten, erschütterte diese Stellung der jüdischen Gesellschaft immer mehr. Die Ausbreitung der christlichen Königreiche (Reconquista) und die Vertreibungen aus muslimischen Teilstaaten in diese neuen Reiche führten immer mehr zu einer Angleichung an die Situation der Juden und Jüdinnen im restlichen Europa.

1.3 Entstehung und Funktion des mittelalterlichen Antijudaismus

Mit dem 11. Jahrhundert änderte sich die vorteilhafte Situation der Juden und Jüdinnen in Europa insgesamt: Die Entwicklung der städtischen Ökonomien im christlichen Europa brachte immer mehr KonkurrentInnen für die jüdischen HändlerInnen und HandwerkerInnen hervor, und von Land zu Land wurden die Juden und Jüdinnen immer mehr in Nischen abgedrängt. Von einer notwendigen und gebrauchten ökonomischen und intellektuellen Sonderrolle wurden die Juden und Jüdinnen immer mehr zu einer Randschicht. Eine der zentralen Funktionen, die ihnen ab dem Hochmittelalter blieb, war die des Geldverleihs. Dies wurde gegenüber Handel und spezialisiertem Handwerk die immer wichtigere Einnahmequelle.

Eine der üblichen Theorien zur Entwicklung des Judentums im Hochmittelalter ist, dass sie durch das entstehende Zunftwesen und den darin verankerten Ausschluss von Nicht-ChristInnen aus handwerklichen Berufen gedrängt wurden und wegen des Zinsverbots für ChristInnen ihnen damit nur die Nische des Geldverleihs blieb. Tatsächlich weist Léon zu Recht darauf hin (17), dass dies für bestimmte Handwerke gar nicht stimmt (z. B. Goldschmiederei, Optik), in denen weiterhin viele Juden und Jüdinnen aktiv waren. Andererseits ist auch richtig, dass es in feudalen Gesellschaften eben die Tendenz gibt, bestimmte Bevölkerungsgruppen kastenartig auf bestimmte Tätigkeiten festzulegen. Der Schritt vom Fernhandel, bei dem zunehmend Konkurrenz auftrat, zum Geldhandel, nach dem durch die Ausdehnung der Warenzirkulation zunehmend Bedarf auftrat, ist nun nicht so weit.

Jedoch ist zu beachten, dass in einer feudalen Gesellschaft die Funktion des Geldverleihs noch sehr viel weniger produktiv ist als im Kapitalismus. Er dient kaum der Mehrwertproduktion, sondern vor allem als Konsumkredit, d. h. der Umverteilung von Mehrprodukt, was im Allgemeinen höhere Zinsen und Sicherheiten verlangt (18). Von daher sind in diesen Gesellschaften GeldverleiherInnen besonders unpopulär bei den SchuldnerInnen („Wucherzinsen“). Dass sich die Funktion des Geldverleihs bei den Juden und Jüdinnen festsetzte, entlastete andere aufstrebende BürgerInnen von dieser unpopulären Profession. Antijudaistische Mythen, Hetze gegen Juden und Jüdinnen, schließlich gewalttätige Ausschreitungen gegen sie waren eine Folge dieser unglücklichen Rolle, in die sie gedrängt worden waren. Ausschlüsse aus bestimmten Tätigkeiten, Verbot von Landbesitz, Verbot des Waffentragens, Verbote für bestimmte Ämter etc. waren mehr die Folge dieser materiellen Situation als deren Ursache. Ausgangspunkt der Hetze waren letztlich vor allem die von Schulden gegenüber Juden und Jüdinnen geplagten Feudalherren selbst, ob nun Adelige oder KlerikerInnen. Die ersten brutalen Ausschreitungen und Morde an Juden und Jüdinnen gingen zumeist unter Beteiligung von Rittern oder mit großen Verwünschungen von Priestern und Bischöfen vor sich.

Diese Hetze gegen Juden und Jüdinnen wurde von KlerikerInnen ideologisch überhöht, indem sie die Juden und Jüdinnen zu den „MörderInnen Christi“ machten (sollte Jesus eine historische Person gewesen sein, wäre er eigentlich von den RömerInnen ermordet worden). Sie seien daher als Verdammte über den Globus zerstreut worden und würden jetzt bei jedem Volk wie eine Plage einfallen. Als mit der Absperrung des Pilgerwegs nach Jerusalem der Kreuzzugswahn in Gang gesetzt wurde, waren auch die Juden und Jüdinnen ein Teil der Feindeswelt im Weltbild der Kreuzfahrer. Im Zusammenhang mit den Mordfahrten ins „Heilige Land“ wurden dann auch die berüchtigten Geschichten über Juden und Jüdinnen mitgebracht, wie z. B. die Ritualmordlegenden, Brunnenvergifter-Vorwürfe, allgemeine Verschwörungstheorien etc. Die ersten großen Judenpogrome in Mitteleuropa fanden zu Beginn des ersten Kreuzzuges statt und wiederholten sich dann in schlimmer Regelmäßigkeit.

Die Verunglimpfung, die das Alte Testament gegen den vorbiblischen Baal-Kult betrieb, wendete sich jetzt absurder Weise gegen die Juden und Jüdinnen selbst. Die den KanaanäerInnen vorgeworfenen „teuflischen“ Rituale wie Kinderopfer oder Tempelhurerei – wie sie von diversen Propheten der Bibel fürchterlich ausgemalt wurden –, wurden jetzt der jüdischen Religion selbst angedichtet. Baal, in der Form des „Beelzebub“, ging in die mittelalterlichen Teufelsvorstellungen über und wurde jeweils in (wie auch immer vorzustellender) jüdischer Gestalt dargestellt. D. h., das Judentum wurde immer mehr als eine Art Teufelskult verunglimpft, dem Kindermord, Blutrituale (Dämonisierung von Beschneidung und Schächten) und sexuelle Exzesse zu eigen seien. Möglich ist, dass viele Ausschmückungen dieser Baal-Judentum-Schauergeschichten von den heimkehrenden Kreuzzüglern mitgebracht wurden, die neben grauenhaften Erlebnissen oft auch die erstmalige Konfrontation mit einer als sehr fremd erlebten und als bedrohlich empfundenen Kulturwelt verarbeiten mussten.

Dabei darf die ökonomische Funktion dieser Hetze und Verfolgung nicht vergessen werden. Tatsächlich war auch im Hochmittelalter die Geldverleihfunktion der Juden und Jüdinnen weiterhin für die Feudalherren wichtig und unumgänglich. Bei aller Hetze und Gewalttätigkeit war man noch nicht auf dem Level, dass man von Seiten der Herrschenden die Juden und Jüdinnen wirklich vertreiben wollte. Dies drückt sich dann in den verschiedenen mittelalterlichen Staaten in unterschiedlichen Schutzprivilegien aus. So erließen z. B. die Könige von England und Frankreich und der deutsche Kaiser Erklärungen, die Juden und Jüdinnen jeweils unter ihren besonderen Schutz stellten und schwere Strafen für Gewaltanwendungen gegen sie androhten (was auch tatsächlich in vielen Fällen umgesetzt wurde). Im Gegenzug wurden die Juden und Jüdinnen (die sich gleichzeitig nicht selbst verteidigen durften) in fast völlige Abhängigkeit (wenn nicht gar Leibeigenschaft) gegenüber der Zentralgewalt gebracht. Dies drückte sich dann in hohen Steuern aus, die die Juden und Jüdinnen für diesen „Schutz“ an Könige, Kaiser oder Landesfürsten zu entrichten hatten (19). Insbesondere in Frankreich und England wurden die Juden und Jüdinnen so zu einem wichtigen Instrument zur Umverteilung des feudalen Mehrprodukts vom niedrigen Adel an die feudalen Zentralgewalten. Natürlich wurden die Juden und Jüdinnen auch zur Finanzierung der großen Herren selbst gebraucht – was auch beinhaltete, dass von Zeit zu Zeit zur Behebung von finanziellen Engpässen die „Schutzherren“ selbst zum Mittel der zeitweiligen Vertreibungen der Juden und Jüdinnen griffen (so weit, bis ihre Schuldenprobleme durch Aneignung von Pfandgütern der Vertriebenen gelöst waren). Gerade durch die Aneignung der vom Adel wegen ihrer Schulden gegenüber den Juden und Jüdinnen verpfändeten Güter konnte sich die landesfürstliche Gewalt im 12. bis zum 14. Jahrhundert auf immer mehr Gebiete ausdehnen. In England hatten die Juden und Jüdinnen im 13. Jahrhundert und in Frankreich im 14. Jahrhundert „ihren Dienst“ weitgehend erfüllt. Da sich entsprechende einheimische Kauf- und Bankleute entwickelt hatten, wurden dann jeweils die Juden und Jüdinnen ganz aus dem Land vertrieben. Sowohl in England als auch in Frankreich entwickelte sich jüdisches Leben (jenseits der damals übrig gelassenen kleinen Enklaven in der Provence, Marseille, Bordeaux und dem Elsass) erst wieder ab dem 18. Jahrhundert.

1.4 Vertreibung aus West- und Mitteleuropa, Ost-Migration

In Deutschland und Italien verzögerte sich diese Art der Vertreibung durch die größere Zersplittertheit der Landeshoheiten. Einerseits gab es rückständigere Gebiete, wo die Entwicklung sowieso langsamer vor sich ging. Andererseits verliefen die Zyklen von Vertreibung, Rückholung und Schutzknechtschaft in den verschiedenen Fürstentümern unterschiedlich, so dass eine Vertreibung oft nur ins benachbarte Fürstentum erfolgte. Dies führte jedoch auch dazu, dass sich in Mitteleuropa der aus dem Mittelalter kommende Antijudaismus viel stärker mit der Krise des Feudalsystems und dem aufkommenden Kapitalismus verband. Viel mehr noch als in Frankreich oder England konnten die Juden und Jüdinnen zu Sündenböcken für die Härten und Krisen des Frühkapitalismus gemacht werden. Andererseits wurden die Juden und Jüdinnen immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt: Auch im Bankwesen traten nord-italienische und deutsche Kaufleute und Bankiers immer mehr an die Stelle der Juden und Jüdinnen. In der Folge verarmten sie, wurden zu TrödlerInnen, PfandleiherInnen, kleinen DiebInnen etc. Anders als es die allgemeine Vorstellung über die Juden und Jüdinnen im Mittelalter suggeriert, waren Ghettoisierung, Pflicht zu „charakteristischer“ Judenkleidung, extreme Einschränkungen der Bewegungsfreiheit etc. erst eine Erscheinung des späten Mittelalters oder der frühen Neuzeit.

Mit dem 16. Jahrhundert waren die Aschkenasim fast völlig aus West- und Mitteleuropa verschwunden und fanden ostwärts eine neue Zuflucht. Das Gebiet östlich des „Römischen Reiches Deutscher Nation“ war seit dem späten Mittelalter im losen polnisch-litauischen Staatengefüge organisiert, das nicht nur Polen und die baltischen Staaten, sondern auch weite Teile Weißrusslands, der Ukraine und Rumäniens umfasste. Die dort vorherrschenden feudalen Strukturen, die alten Handelsbeziehungen der Juden und Jüdinnen und ihre dort gebrauchten Fertigkeiten führten dazu, dass sie in Osteuropa noch lange eine ähnliche Nische ausfüllen konnten, wie sie sie im Mittelalter in West- und Mitteleuropa hatten (20). Außerdem hatten mehrere polnisch-litauische Könige die verfolgten Juden und Jüdinnen aus West- und Mitteleuropa (durchaus aus eigennützigen Gründen) zur Ansiedlung eingeladen und ihnen auch weitreichende Privilegien erteilt. Auch wenn das polnische Königtum ebenso Schutzknechtschaftssysteme verwendete und vom Adel immer wieder Pogrome inszeniert wurden, kam es lange nicht im selben Ausmaß zu Vertreibungen wie im Westen. „Polen“ erschien lange Zeit als ein Hort der Toleranz für das Judentum, trotz der gegenteiligen Propaganda der polnischen Kirche. Um 1600 lebten drei Viertel aller Juden und Jüdinnen weltweit in Polen-Litauen und hatten dorthin nicht zuletzt auch viele Elemente ihrer in Mitteleuropa aufgenommenen Sprachen mitgenommen (vor allem Mittelhochdeutsch), woraus sich später in Kombination mit slawischen Sprachen und dem Hebräischen das „Jiddische“ als eigenständige Sprache entwickelte (ursprünglich „Mame-Loshn“, Muttersprache, genannt).

Mit der permanenten Staatskrise ab dem Anfang des 17. Jahrhunderts, der Bedrohung der Staatsintegrität von außen (Russland, Habsburg, Preußen, Schweden) und der wachsenden inneren nationalen und sozialen Widersprüche wurden die Juden und Jüdinnen wieder einmal zu Sündenböcken. Ein Schlaglicht darauf wirft der Chmelnyzkyj-Aufstand von 1648, der weite Teile der West-Ukraine unter Führung von Kosaken gegen die Willkür des polnischen Adels mobilisierte. Die Aufständischen veranstalteten dabei an den Juden und Jüdinnen, die angeblich hinter der Knechtschaft gestanden hätten, grauenhafte Pogrome, denen etwa die Hälfte der ukrainischen Juden und Jüdinnen zum Opfer fiel. Mit der Krise und den periodischen Pogromen gingen eine stärker werdende soziale Diskriminierung und eine Tendenz zur Ghettoisierung in „typisch jüdischen“ Kleinstädten oder Stadtteilen einher. Besonders im 18. Jahrhundert begann sich in Polen-Litauen der Antisemitismus zu verfestigen und die Freiräume immer mehr zu beschneiden. Der „Westen“ wurde nun wieder zur Hoffnung auf mehr Toleranz, speziell für die Vermögenderen. Trotz dieser „Umkehr“ blieb das Gebiet des ehemaligen Polen-Litauen bis zum Zweiten Weltkrieg das Gebiet mit der bei weitem größten jüdischen Bevölkerung weltweit; mehr als die Hälfte aller Juden und Jüdinnen lebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts dort. Und während die Juden und Jüdinnen im Westen zumeist wohlhabender und integrierter waren, waren die Juden und Jüdinnen in Osteuropa Teile der ärmeren Bevölkerungsschichten und viel weniger sozial und politisch integriert.

Zudem wurde Polen-Litauen Ende des 18. Jahrhunderts vollständig unter drei Großmächte aufgeteilt und seiner Unabhängigkeit beraubt: 1772, 1793 und 1795 teilten Russland, Preußen und Österreich in Etappen das gesamte Gebiet untereinander auf und bestätigten dies mit kleinen Verschiebungen auf dem Wiener Kongress (auf dem ein dem Zaren in Doppelunion unterworfenes „Königreich Polen und Litauen“ geschaffen wurde). Auf diese Weise kam der größte Teil der osteuropäischen Juden und Jüdinnen in den Herrschaftsbereich der Zaren, ein kleinerer Teil (Galizien und Bukowina) unter die Habsburger. Besonders die zaristische Politik war noch weit restriktiver als zuvor die polnische: Juden und Jüdinnen wurden auf sogenannte „Ansiedlungsrayons“ beschränkt, Grundbesitz wurde verboten, es wurden Quoten für den Besuch höherer Schulen eingeführt etc. Schließlich „entdeckte“ auch das Zarenregime die Nützlichkeit antisemitischer Sündenbockpolitik. Nach den Unruhen wegen der Ermordung von Zar Alexander II. wurde von dessen Nachfolger ein angebliches „jüdisches Komplott“ aufgedeckt und 1881 bis 1884 eine Welle schrecklicher Pogrome ausgelöst. Dies führte schließlich zur Flucht von etwa 2 Millionen Juden und Jüdinnen aus dem Zarenreich. Im Zuge der Krise des Zarenreiches kam es 1903 bis 1906 zu einer weiteren enormen Welle von Pogromen.

Schon mit dieser immer prekärer werdenden Lage in Osteuropa setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine neue große jüdische Auswanderungs- und Fluchtbewegung ein. Teilweise fanden jüdische Flüchtlinge im benachbarten Habsburgerreich liberalere Bedingungen vor. Aber die ökonomischen Kapazitäten, besonders in Galizien und der Bukowina (selbst wenn es in Lemberg und Czernowitz zu einer gewissen Blüte kam), waren begrenzt. In Wien und Berlin wurden die Flüchtlinge zu Zielscheiben eines neuen, aggressiven Antisemitismus. Auch viele andere europäische Länder nahmen die Flüchtlinge aus dem Osten nicht mit offenen Armen auf. Ebenso blieb die Auswanderung ins Osmanische Reich, auch nach Palästina, noch die Ausnahme. Damit gab es vor allem ein Ziel für die große Auswanderungswelle: die USA. In den USA wurden die osteuropäischen ProletarierInnen jüdischer Herkunft schnell zu einem wichtigen Bestandteil der wachsenden ArbeiterInnenklasse und auch der dortigen ArbeiterInnenbewegung. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist New York die Stadt mit der größten jüdischen Einwohnerzahl – heute wird der Anteil jüdischer Menschen in New York auf 1,5 Millionen geschätzt, mehr Juden und Jüdinnen, als in Tel Aviv oder Jerusalem zusammen wohnen.

Trotzdem waren nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches weiterhin Millionen Juden und Jüdinnen unter die Herrschaft der osteuropäischen Nachfolgestaaten von Zaren- und Habsburgerreich gekommen. Insbesondere lebten im wieder erstandenen Polen nach 1918 immerhin noch über 3 Millionen Juden und Jüdinnen, etwa 10 % der Bevölkerung. Auch aufgrund der Verbindungen der jüdischen ArbeiterInnenbewegung zur Sowjetunion war die polnische Zwischenkriegspolitik von starkem Antisemitismus, von Diskriminierungen und Gewaltakten gegen Juden und Jüdinnen geprägt. Nach der Okkupation durch Nazi-Deutschland bedienten sich die Nazis für ihr Vernichtungswerk auch des Antisemitismus in Polen, in Weißrussland, der Ukraine und Rumänien. Dass es heute so gut wie keine jüdische Bevölkerung mehr etwa in Polen gibt, zeigt das ganze Ausmaß des Nazi-Vernichtungswerkes. Wer nicht in Massenerschießungen, den Arbeitslagern oder den Gaskammern umkam, wurde im Nachkriegs-Polen schnell durch den weiterhin grassierenden Antisemitismus vertrieben.

1.5 Vertreibung der Sephardim und erster antijüdischer Rassismus

Eines der einschneidendsten antijudaistischen Ereignisse der frühen Neuzeit war sicherlich die Vertreibung der Juden und Jüdinnen von der iberischen Halbinsel nach 1492. War dort bis dahin das Zentrum der jüdischen Welt und die wohl entwickeltste und zahlreichste jüdische Bevölkerung, so wurde diese im Laufe weniger Jahrzehnte fast völlig ausgelöscht. Nach dem endgültigen Sieg über das letzte muslimische Emirat (Granada), der Etablierung eines christlichen Zentralstaates (Kastilien-Aragon), dem Aufbruch ins Kolonialzeitalter waren die Herrschenden in Spanien entschlossen, alle Spuren von al-Andalus aus ihrem Königreich zu tilgen. Dazu gehörten nicht nur die muslimischen, sondern auch die großen jüdischen Bevölkerungsteile. Außerdem hatte sich das Königreich für diesen letzten Krieg stark bei jüdischen Finanziers verschuldet. Im Alhambra-Edikt von 1492 wurde die große jüdische Bevölkerung (ohne Unterschied von arm und reich) vor die Wahl gestellt, entweder das Land zu verlassen oder zum Christentum zu konvertieren. Neben den Zehntausenden, die tatsächlich aus Spanien flohen, ist wohl ebenfalls ein beträchtlicher Teil konvertiert. Aktuelle Gentests der spanischen Bevölkerung zeigen angeblich, dass etwa 20 % der SpanierInnen Genmarker aufweisen, die auf gemeinsame Vorfahren mit heute lebenden sephardischen Juden und Jüdinnen deuten (21). Wie immer solche genetischen Untersuchungen zu bewerten sind – dies deutet jedenfalls sowohl auf die tatsächlich beachtliche Größe des jüdischen Bevölkerungsanteils zur Zeit der Vertreibung hin als auch auf die große Zahl der Zwangskonvertierten.

Doch damit ist die Geschichte des Leidens noch nicht vorbei. Die Konvertierten, mit dem Wort „Marranos“/MarranInnen belegt (soviel wie „Abkömmlinge von Schweinen“ – ein Schimpfwort, das also keine muslimische Eigenheit ist), wurden praktisch unter Generalverdacht gestellt. Tatsächlich gab es noch lange Zeit Teile der Konvertierten, die sogenannten „Krypto-Juden/-jüdinnen“, die ihren alten Glauben im Geheimen weiterbetrieben (manche der Kryptogemeinden hielten bis ins 19. Jahrhundert durch, um sich dann wieder an die Öffentlichkeit zu trauen). Die MarranInnen wurden allgemein des Kryptojudaismus und damit der Häresie verdächtigt, was sie zu einem Zielobjekt grausamer Verfolgung durch die Inquisition der katholischen Kirche und des spanischen Staates machte. Die Inquisition war die erste europäische Institution, die rassistische Verfolgung betrieb, indem sie Abstammungslinien untersuchte, um jemanden als Jude und Jüdin zu „entlarven“. Die Inquisition entwickelte dabei die Theorie der „Reinheit des Blutes“ („limpieza de sangre“), nach der Menschen „unreinen Blutes“ niemals den „echten Glauben“ erlangen könnten (22). Für bestimmte Berufe oder Ausbildungen musste ein Nachweis „altchristlicher Abstammung“ vorgelegt werden. Somit sollte verhindert werden, dass Juden und Jüdinnen mit ihren geheimen Organisationen Staat und Gesellschaft „unterwandern“. Damit war es die Inquisition, die dem Antijudaismus die Verschwörungstheorien der geheimen jüdischen Bünde und ihrer Untergrabungsarbeit hinzufügten, die später in solchen Machwerken wie den von der zaristischen Geheimpolizei fabrizierten „Protokollen der Weisen von Zion“ einen traurigen Höhepunkt erreichten.

Portugal folgte Kastilien-Aragon mit ähnlichen Motiven am Ende des 16. Jahrhunderts, wenn auch nicht mit derselben Brutalität. Doch auch hier wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts entweder exiliert oder konvertiert. Viele der MarranInnen beider Reiche entzogen sich der Inquisition durch Auswanderung speziell in die Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent. So war laut verschiedener Quellen ein großer Teil der portugiesischen PlantagenpächterInnen in Brasilien marranischen Ursprungs. Wohlhabende Sephardim und MarranInnen zog es eher nach Nordeuropa, wo in Amsterdam, Antwerpen, Hamburg, Altona, London und Manchester große sephardisch/spaniolisch/portugiesische Gemeinden entstanden. Tatsächlich ist ein beträchtlicher Teil der Zwangskonvertierten, sobald es möglich war, wieder zum Judentum rückkonvertiert (die sogenannten „Anusim“). Unter den Nachkommen sephardischer Flüchtlinge sind auffällig viele bedeutende Gelehrte, PolitikerInnen und KünstlerInnen: Spinoza, Ricardo, Disraeli, Diego Rivera, um nur einige wenige zu nennen.

Der allergrößte Teil der vertriebenen Sephardim jedoch floh in das sich als neue muslimische Großmacht konsolidierende Osmanische Reich. Dort wurden sie mit offenen Armen empfangen und als „Fachkräfte-Immigration“ auch gebraucht. In Fez, Istanbul, Kairo, Jerusalem, aber vor allem auch auf dem Balkan entstanden große sephardische Gemeinden. Wieder waren sie für Fernhandel, Geldleihe und spezialisiertes Handwerk wesentlich für die ökonomische Expansion der OsmanInnen und deren Beziehungen zum „Westen“. Insbesondere am Balkan entstand in Saloniki eine der größten sephardischen Gemeinden, die, um die Entwicklung anzudeuten, 1900 mit 80.000 etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachte (der größte Teil der Juden und Jüdinnen von Thessaloniki wurde von den Nazis während der Okkupation Griechenlands umgebracht) (23). Von Saloniki aus verbreiteten sich die Sephardim über den ganzen Balkan und schließlich durch ihre engen Handelskontakte auch ins benachbarte Habsburgerreich, wo in Wien eine bedeutende sephardische Gemeinde entstand.

Natürlich bestanden schon vor der sephardischen Einwanderung in der muslimischen Welt größere jüdische Bevölkerungsgruppen, deren Nachkommen heute „orientalische Juden/Jüdinnen“ oder Mizrachim (24) genannt werden. Besonders in Nordafrika waren sie schon vor der Vertreibung eng mit den Sephardim verbunden und später von ihnen dominiert. In der muslimischen Welt fand keine so starke Vereinheitlichung wie in Europa statt, so dass unter Mizrachim sehr unterschiedliche kulturelle und ethnische Gruppen zusammengefasst werden. Von den Sephardim sind sicher Juden und Jüdinnen zu unterscheiden, die in den arabischen und persischen Regionen lebten. Anders als in Europa gab es aufgrund der geringeren ökonomischen Dynamik keinen derart systematischen Antijudaismus gegenüber den orientalischen Juden und Jüdinnen wie in Europa gegenüber Aschkenasim und Sephardim.

2 Vielfalt des Judentums – gibt es ein jüdisches Volk?

2.1 Ethnische und kulturelle Differenzierung

Insgesamt wird aus diesem Überblick klar, dass es schwer ist, überhaupt von „den“ Juden und Jüdinnen zu sprechen. Die Geschichte und kulturelle Entwicklung von Aschkenasim, Sephardim und Mizrachim ist so unterschiedlich, dass auch im heutigen Israel zwischen diesen Gruppen große ethnische Unterschiede weiterbestehen (ganz zu schweigen von den kleineren jüdischen Gruppen aus Äthiopien, Jemen und Indien, die heute auch in Israel leben). Während weltweit etwa zwei Drittel der Juden und Jüdinnen zu den Aschkenasim gerechnet werden, sind in Israel die „orientalischen“ Juden und Jüdinnen (zu denen zumeist die aus der islamischen Welt zugezogenen Sephardim gezählt werden) in der Mehrheit (3,8 der 6,6 Millionen Juden und Jüdinnen in Israel). Dies verweist auf eine weitere Differenzierung in der Welt des Judentums jenseits der langen geschichtlichen Entwicklung unterschiedlicher Gruppierungen in sehr verschiedenen Kulturräumen – und auf die großen Unterschiede im Judentum in und außerhalb Israels.

2.2 Reformjudentum

Als sich Ende des 18. Jahrhunderts das geistige Zentrum des Judentums in den deutschen Sprachraum verschoben hatte, begann nicht nur ein der spanischen Zeit vergleichbarer wirtschaftlicher und sozialer Aufschwung. In der Auseinandersetzung mit der Aufklärung und der europäischen Philosophie entstand auch, was im Judentum später die „Haskala“ genannt wurde – die „jüdische Aufklärung“. Unter den Bedingungen einer wachsenden Integration einer sich mehr oder weniger modernisierenden Gesellschaft war es vielen führenden Kräften im Judentum klar, dass viele überkommene alte Zöpfe, von den religiösen Vorschriften bis zu kulturellen Eigenarten, zu beenden seien und dass sich das Judentum eine moderne Form zu geben habe. In der Folge entwickelte sich zuerst in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das sogenannte „Reformjudentum“, das sich später auch „liberales“ oder „progressives“ Judentum nannte (25). Auch wenn sich Teile des mehr an Traditionen festhaltenden Judentums als „konservatives Judentum“ davon abspalteten – das Prinzip, dass der Kern der jüdischen Religion in den ethisch-moralischen Vorschriften besteht, während Riten, Feste, Vorschriften etc. der beständigen Veränderung unterliegen (z. B. auch, was die Rolle von Frauen betrifft), hat sich im „westlichen“ Judentum im Wesentlichen durchgesetzt. Heute sind „progressive“ oder „konservative“ Juden und Jüdinnen außerhalb Israels die überwiegende Mehrheit, während in Israel das orthodoxe Judentum weiterhin (auch über das offizielle Rabbinat) in religiösen Fragen den größeren Einfluss besitzt. Purim als jüdischer Fasching, Chanukka als „Weihnukka“ („Chrismukkah“), die Bar (Bat) Mitzwa als Familienevent à la Konfirmation oder Jugendweihe etc. – auch das Judentum verbürgerlichte im 19. Jahrhundert und profanisierte sich dabei in Anpassung an die „christliche“ Umgebung (Theodor Herzl feierte Chanukka unterm Weihnachtsbaum).

Einer der bekanntesten Vertreter der jüdischen Aufklärung war sicherlich Moses Mendelssohn, der nicht nur ein berühmter Berliner Philosoph war, sondern auch Begründer einer erfolgreichen Familie von UnternehmerInnen, Bankiers und KünstlerInnen. Seine Versuche, jüdische Identität jenseits von rabbinischem Traditionalismus zu definieren und mit einem Programm der politischen Emanzipation (Aufhebung diskriminierender Gesetzgebung) die Integration in moderne, möglichst säkulare Staaten anzustreben, wurde für das westliche Judentum für lange Zeit zum politischen Programm. Der jüdische Frühsozialist Moses Hess (eine Zeitlang Mitstreiter von Marx und Engels) formulierte es in historischer Perspektive: bei Mendelssohn finde man wieder die damals schon in Spanien vorexerzierte Lösung des Problems „wie man zugleich nationaler, patriotischer Jude im strengsten Sinne des Wortes bleiben und sich dennoch an dem Kultur- und Staatsleben desjenigen Landes, dessen Bürger man ist, so sehr beteiligen kann, dass dieses Land ein zweites Vaterland wird“ (26).

Für viele jüdische BürgerInnen war dieser Doppelnationalismus Programm – einerseits Mitglied des kulturell-geschichtlich bestimmten „jüdischen Volkes“, andererseits „guter“ Deutsche(r), US-AmerikanerIn, Franzose/Französin etc. zu sein. Moses Hess sah dies kritisch: Er bemerkte, dass ein Großteil der ärmeren Juden und Jüdinnen weiterhin brutal ausgegrenzt und diskriminiert war und auch gebildete Juden und Jüdinnen wie er mit wachsendem Antisemitismus konfrontiert waren. Er vertrat daher lange vor Theodor Herzl, dass die nationale Frage des Judentums nur durch eine Rückkehr nach Palästina gelöst werden könne – wenn auch mit der Perspektive eines sozialistischen Palästina. Im Unterschied zu Hess sah Marx in der „Judenemanzipation“ an sich durchaus eine progressive und berechtigte Bewegung. Allerdings sah er in der „politischen Emanzipation“ keine wirkliche Lösung der „jüdischen Frage“: Nur die soziale Emanzipation, nämlich die Aufhebung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten befestige, und nicht die formell-rechtliche Gleichstellung sei die Lösung (27).

2.3 Säkulares Judentum

Schließlich muss erwähnt werden, dass aus dem westlichen Judentum schon sehr früh auch säkulare Strömungen hervorgegangen sind. Schon der aus dem Sephardischen stammende Baruch de Spinoza kritisierte die Irrationalität nicht nur der jüdischen Religion, betonte die historische Gewachsenheit der „heiligen Schriften“ (deren göttliche Autorenschaft er nicht anerkannte und aus Sicht einer historischen Bibelkritik besprach) und strebte eine Begründung der Vernunft aus sich selbst heraus an. Sein Konzept der „sich selbst begründenden unendlichen Substanz“ (keine äußere, sondern eine immanente Ursache der Welt) führt geradewegs zur Hegel’schen „Totalität“. Diese als „Pantheismus“ verstandene Lehre wurde in der Folge als Weg zur Begründung des Atheismus gesehen. Bereits seine jüdische Gemeinde in Amsterdam hatte Spinoza exkommuniziert – und bis heute gilt er dem Rabbinat als gefährlicher „Häretiker“. „Verflucht sei er… Der Herr möge seinen Namen unter dem Himmel tilgen“, heißt es in der überlieferten Ausschlusserklärung. Gleichzeitig trat er nicht zum Protestantismus über, mit dessen Autoritäten er sich genauso anlegte. Als Ausgegrenzter unter den Ausgegrenzten verlor er sein Vermögen und seine Familie – aber behielt seine Unabhängigkeit, lebte als einfacher Handwerker und schrieb bei Nacht Werke von messerscharfer Logik. Die dabei entstandenen Bücher, so bemerkte sein Briefpartner und Bewunderer, der Gelehrtenfürst Gottfried Wilhelm Leibniz, gehörten zu denjenigen, die in Europa den „allgemeinen Umsturz“ vorbereiten würden (28). Für viele Juden und Jüdinnen war Spinoza seither ein Vorbild für einen eigenen, unabhängigen Weg. Moses Hess wählte für seine „Menschheitsgeschichte“ den Untertitel „Von einem Jünger Spinozas“; Marx beschäftigte sich nicht nur stark mit Spinoza, er verteidigte ihn auch im Nachwort des „Kapital“ gegen Moses Mendelssohn; und die Hymnen von Heinrich Heine auf Spinoza sind nur zu bekannt. Schließlich beruft sich die Bewegung des „jüdischen Humanismus“ bis heute auf Spinoza als ihren „Gründungsvater“. In Israel ist der Philosophieprofessor Yaakov Malkin („Judentum ohne Gott?“) ein bekannter Vertreter eines nicht-religiösen Judentums, das sich in vielen akademischen und sozialen Initiativen organisiert. Es ist bezeichnend, dass 2016 gerade Malkin eine schwerwiegende Morddrohung von religiösen ExtremistInnen erhielt, die ihn als Repräsentanten eines in der Bibel zur Ausrottung bestimmten kanaanitischen Stammes brandmarkten (29).

Gegenüber den verschiedenen religiösen Strömungen bezeichnen sich heute an die 40 % der Juden und Jüdinnen in Israel als „säkular“, ein hoher Prozentsatz sogar als atheistisch. Offensichtlich hat die Religion (außer in Bezug auf einige mehr kulturell bedeutsame Traditionen) im Judentum gegenüber früher stark an Bedeutung für die Bestimmung der „jüdischen Identität“ verloren. Auf die Entwicklung sozialistischer und zionistischer Strömungen, die sich in vielen Teilen mit dem säkularen Judentum überschneiden, wird später noch ausführlicher eingegangen.

2.4 Jüdische Identität und Israel

Diese verschiedenen Strömungen – liberales und konservatives Judentum, Sozialismus, Zionismus, Säkularismus, Orthodoxie – prägten die Auseinandersetzungen im Judentum nicht nur im 19. Jahrhundert. Auch wenn die Shoa viele Illusionen des liberalen Judentums zerstörte und die Gewichte stark zum Zionismus verschob, sind alle diese Lager bis heute neben den dargestellten ethnischen Vielheiten prägend. Diese Differenziertheit ist wesentlich für Probleme rund um die Definition von Antisemitismus. Denn wenn vom „Hass auf die Juden/Jüdinnen“ die Rede ist, wäre erst mal zu fragen, was überhaupt „jüdisch“ sein soll und was denn „die Juden“ sind. Offensichtlich ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft schon lange nicht mehr bestimmend. Die gemeinsame Abstammung (von Abraham, Jakob,…) ist einerseits ein unbrauchbarer religiöser Mythos, andererseits eine rassistische Konstruktion (allein das spanische Beispiel zeigt, wie sehr sich das Judentum auch mit anderen Ethnien vermischt hat; zusätzlich zeigt die oben dargestellte Analyse der Diaspora, dass schon das klassische Judentum ein Völkergemisch war, dessen gemeinsame Abstammung ein mythologisches Konstrukt ist). Ebenso sehr ist auch die Vorstellung von einem irgendwie geheim, über alle Grenzen zusammengehaltenen und organisierten „Weltjudentum“ ein verschwörungstheoretischer Nonsens – es gibt weiterhin außerhalb von Israel eine kulturell, sozial, politisch und religiös sehr vielfältige Diaspora, die gegenüber den in Israel lebenden Juden und Jüdinnen die Mehrheit darstellt und nicht mit der Politik des Staates Israel in eins gesetzt werden kann.

Es bleibt natürlich die gemeinsame Geschichte sowohl der Verfolgungen, aber auch der Blütezeiten und kulturellen Errungenschaften. Wenn es etwas Kennzeichnendes gibt, dann den Kosmopolitismus, die Fähigkeit, in vielen verschiedenen Regionen und Kulturen zu wirken, für deren Austausch zu sorgen und bei aller Aufnahme von Errungenschaften der Gastländer jeweils doch auch die eigene Identität zu erhalten. Dabei wurde zumeist vor allem mit dem Wort, der Schrift und dem Intellekt gearbeitet, nicht mit der Waffe. Dies führte natürlich nur zu oft zur Kollaboration mit den jeweils Mächtigen, deren Spielball man wurde und deren Willkür man letztlich ausgesetzt war. Insofern stellt der Zionismus einen starken Bruch mit dieser „pazifistisch-intellektualistischen“ Kaufleute- und Gelehrten-Tradition dar: Statt weiterhin der/die dienstfertige „Opferjude/-jüdin“ zu sein, war man überzeugt, dass man so werden müsse wie „die anderen Nationen“. Diese Herausbildung eines erst zionistischen, dann israelischen Nationalismus ist eine neue Form von jüdischer Identität – aber eine, die neben all den anderen, sich weiterhin erhaltenden, besteht! Allerdings hat diese Identität, wie jeder Nationalismus, einen sehr vereinnahmenden Anspruch. Letztlich behauptet der aktuelle Zionismus, dass Israel „der“ Staat „des“ jüdischen Volkes sei (dies wird ja jetzt auch amtlich so in der neuen Verfassung Israels festgelegt). All das andere jüdische Leben sei eigentlich nur durch die Existenz dieses jüdischen Staates möglich und Israel sei das gefundene Mittel, um der ewigen Geschichte von Flucht und Vertreibung der Juden und Jüdinnen ein Ende zu setzen, die Heimstätte, zu der letztlich alle Juden und Jüdinnen zurückkehren würden.

Die israelische Realität, die immer mehr von Militarisierung, Rechtsnationalismus, religiösem Eiferertum („Siedler“-Bewegung) und vielfältigem Rassismus geprägt ist, wirkt andererseits aber für viele Juden und Jüdinnen auch in Israel immer weniger anziehend. Die Auswanderung ist bereits seit einigen Jahren höher als die Einwanderung (30). Etwa eine halbe Million Israelis lebt heute im Ausland, von denen nach Umfragen kaum jemand nach Israel zurück will. Fast die Hälfte davon gibt dabei die zu starke Dominanz des Religiösen als Hauptgrund an (31). Inzwischen leben wieder 1,2 Millionen Juden und Jüdinnen in den Ländern der EU, und Deutschland ist eines der beliebtesten Einwanderungsländer (wo inzwischen wieder an die 200.000 Juden und Jüdinnen leben). Wie immer man dies bewertet, eines ist klar: Israel steht nur für einen Teil der jüdischen Menschen auf diesem Globus, und für viele Juden und Jüdinnen ist es nicht ihr begehrter Ort zum Leben.

Offenbar ist dies durchaus ein Problem für die israelische Regierung. In diesem Zusammenhang betonen zionistische Organisationen im Einklang mit israelischen Institutionen immer wieder das „Anwachsen des Antisemitismus“. Allgemein wurde mit der Migration muslimischer Flüchtlinge nach Europa die „Naivität“ der europäischen Liberalen gegeißelt. Terrorgefahr und Übergriffe gegen Juden und Jüdinnen werden von israelischen Medien und Politik immer wieder betont – natürlich garniert mit Berichten über z. B. französische Juden und Jüdinnen, die sich nach „Charlie Hebdo“ in letzter Not nach Israel in Sicherheit gebracht haben. Auch in Deutschland wurde durch die entsprechende Berichterstattung unter der jüdischen Bevölkerung eine große Verunsicherung und Anti-MigrantInnen-Stimmung produziert, aber es wurde vergessen zu erwähnen, dass viele jüdische Gruppen, bis hin z. B. zu den liberalen Gemeinden, dem durch Flüchtlingsarbeit entgegenzuwirken versuchen).

In der aufgeregten Situation der entscheidenden Knesset-Debatten um das Oslo-II-Abkommen erschien der damalige Oppositionsführer Benjamin Netanjahu am Balkon über dem Zionsplatz in Jerusalem vor einer Anti-Friedensdemonstrationen der israelischen Rechten. Vor zehntausenden DemonstrantInnen hetzte er gegen den „Ausverkauf“ der israelischen Interessen durch die Regierung Rabin/Peres. Er hörte auch nicht damit auf, als die Masse laut vernehmlich „Tod Rabin“ skandierte und Rabin-Strohpuppen verbrannt wurden. Einen Monat später, im November 1995, wurde Premierminister Rabin tatsächlich von einem religiösen Israeli ermordet (Netanjahu weist natürlich bis heute jede Mitverantwortung für diese Tat zurück). Diese Kette von Ereignissen gehört wesentlich zu dem, was man heute die fundamentale Umwälzung der politischen Verhältnisse in Israel nennt.

Netanjahu baute seine Angriffe auf Rabins „Zugeständnisse“, vor allem auf die Ablehnung der Formel „Land für Frieden“ auf. Mehrfach betonte er, wie die gesamte israelische Rechte, dass kein/e israelische/r PolitikerIn das Recht habe, auch nur ein Stück Land des von der Bibel versprochenen „Eretz Israel“ (der „Heimat Israel“) preiszugeben. Das ideologische Konstrukt des vor 3.000 Jahren angeblich gegründeten israelischen Gemeinwesens mitsamt des göttlichen Bundes, der den Anspruch auf ganz „Kanaan“ begründet, hat sich für einen Teil der israelischen Gesellschaft zur zentralen Frage der „jüdischen Identität“ verselbstständigt. Shlomo Sand hat in einem aktuellen Artikel in der „Haaretz“ (32) entwickelt, dass sich mit dem Scheitern des Oslo-Prozesses und der besagten konservativen Umwälzung die ursprüngliche Identitätsstiftung des säkularen Awoda-Zionismus (33) erledigt habe. Unfähig zu definieren, was ein „jüdischer Israeli“ ohne Bezug auf die Religion sei, bei gleichzeitigem Beharren auf dem in der Bibel begründeten Anspruch auf das „Land Israel“, gelang keine wirkliche Trennung von Religion und Staat. In welcher Form auch immer würde daher der Zionismus zur Begründung der rassistischen Unterdrückung der nichtjüdischen Bevölkerung dienen, die im angeblich „versprochenen“ Land lebe. Seit dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der Rechten in Israel wurde die Vorherrschaft des säkularen Awoda-Zionismus durch eine Koalition von religiösen TraditionalistInnen (die seit 1967 die Besiedlung des gesamten „Eretz Israel“ als religiöse Pflicht sehen) und ethnozentrierten NationalistInnen abgelöst. Die in Israel und den besetzten Gebieten lebenden AraberInnen werden als eine Art AusländerInnen gesehen, die man mehr oder weniger im „Eretz Israel“ dulden müsse. Der „uralte Anspruch“ auf das Land ist dabei für die Religiösen der Grund für die Unduldsamkeit, wobei gerade Jerusalem, Hebron und Jericho ganz zentral sind (gegenüber dem Israel in den Grenzen vor 1967), was zur Unmöglichkeit einer Anerkennung auch nur marginaler palästinensischer Selbstständigkeit in diesem Gebiet führt. Zugleich ist der Ethnonationalismus von RechtspopulistInnen wie Avigdor Lieberman ganz offen rassistisch, erklärt die AraberInnen „ihrem Wesen nach“ für nicht zur Arbeit und zu friedlicher Nachbarschaft fähig. Aus beiden Haltungen heraus ist eine Lösung, die das Selbstbestimmungsrecht der AraberInnen, die in Israel/Palästina leben, respektiert, reine Unmöglichkeit.

Wie Shlomo Sand darlegt, ist damit nur offengelegt, was der Zionismus von Anfang an war: ein rassistisches Projekt, das niemals seit seinem Auftreten in Palästina ernsthaft die Möglichkeit eines friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens mit den AraberInnen in der Region in freier Selbstbestimmung auf dem Zettel hatte: „Schlussendlich waren die sozialistisch-zionistischen Siedler in nichts moralischer als die Kippa-tragenden rechten Siedler heute. Sie waren nur heuchlerischer, was aber auch ein wichtiger Unterschied ist. Wenn Heuchelei die gute Miene zum bösen Spiel ist, so deutet sie zumindest in bestimmten historischen Situationen auf einen Reflex der Zurückhaltung. Heute fällt jede Zurückhaltung weg“ (34).

Man sollte daher nicht übersehen, wie gefährlich die Versuche der israelischen Führung und einiger zionistischer Organisationen sind, die Frage der Anerkennung von Israel in seiner gegenwärtigen Verfasstheit zum zentralen Kriterium für die Frage zu machen, ob jemand antisemitisch sei oder nicht. Der Antisemitismusbegriff wurde damit zum Kampfbegriff der sich in Israel immer mehr durchsetzenden rechten Identitätspolitik. Dass die Kritik am rassistischen Charakter der israelischen Politik „dem jüdischen Volk“ das Selbstbestimmungsrecht nehmen würde (wie das im Beispiel der IHRA-Definition von Antisemitismus gemacht wird), nimmt tatsächlich alle Juden und Jüdinnen in Geiselhaft, sich unverbrüchlich hinter Israel stellen zu müssen, und verengt jüdische Selbstbestimmung auf die Frage der unbedingten Verteidigung von Israel in seiner jetzigen Form. Auch in Israel lebende säkulare Juden und Jüdinnen wie Shlomo Sand und die Teile der Linken, die er repräsentiert, sehen im Zionismus einen systematischen Rassismus am Werk, der in der gegenwärtigen Regierungspolitik nur offen zum Ausdruck kommt. Die Fehlkonstruktion des zionistischen Charakters des Staates Israel zu kritisieren, heißt gerade nicht, das Selbstbestimmungsrecht der Juden und Jüdinnen in Israel zu leugnen. Nur wenn sich dieses Selbstbestimmungsrecht in Verbindung mit der freien und gleichberechtigten Entwicklung der PalästinenserInnen entfaltet, kann es sich tatsächlich verwirklichen. Marx formulierte es gegenüber der englischen ArbeiterInnenklasse in einer Resolution der „Internationalen Arbeiter Assoziation“ zur irischen Frage 1870 so: „Das Volk, das ein anderes Volk unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten.“ (35)

Die Verleugnung des rassistischen Charakters des israelischen Staates, um kein „Antisemit“ sein zu müssen, führt dazu, dass der immer offener zu Tage tretende Rassismus in Siedlungspolitik, Besatzungsterror oder Militärwillkür zu Elementen der „Selbstbestimmung des jüdischen Volkes“ erklärt wird. Dies ist ein Schlag auch ins Gesicht der zahlreichen Juden und Jüdinnen, die sich nicht in dieser „jüdischen Identität“ wiederfinden. Wie mehrere andere jüdische Organisationen hat die „Jewish Voice for Labour“ zu Recht zur Kampagne zionistischer Organisationen und Zeitungen in Britannien angemerkt (36): Wenn heute Labour unter Jeremy Corbyn zur „Hauptgefahr für das Judentum weltweit“ erklärt wird, da Corbyn das Beispiel der IHRA zunächst nicht anerkennen wollte, so stellt sich schon die Frage der Gewichtung linker Kritik an Israel gegenüber der Gefahr für Juden und Jüdinnen durch den Aufstieg der Rechten in Europa und den USA – und immerhin haben die Orbán, Le Pen, Strache, Kaczyski, Bannon etc. kein Problem mit der Anerkennung der IHRA-Definition. Letztere sehen sich ja in einer Front mit der gegenwärtigen israelischen Führung gegen die „Untermenschen“ mit muslimischem Hintergrund.

Es ist gerade die Achtung vor der Vielfalt des Judentums, die Ablehnung des Konstrukts „der Jude/die Jüdin“ ebenso wie das Auseinanderhalten von Judentum und dem Konstrukt des israelischen Staates, wodurch die Grundlage für den erfolgreichen Kampf gegen den Antisemitismus heute gelegt werden kann. Eine unkritische Haltung zu den rassistischen Tendenzen in Israel wird dagegen nur zur Front selbst mit RassistInnen führen.

3 Antisemitismus und „Kapitalismuskritik“

Eine der impliziten Definitionen „des Jüdischen“, die im Kern des Antisemitismus verwendet wird, ist die, „den/die Juden/Jüdin“ als die Verkörperung von Geld und Kapital zu sehen – das Zerrbild des/r schachernden und wuchernden Juden/Jüdin. Wie ist diese Identifikation zu erklären und welche gesellschaftliche Funktion hat sie? Eine Analyse der Geld- und Kapitalgenese, wie sie Marx geleistet hat, kann zum Verständnis führen, wie die „abstrakte Gewalt“, die hier entsteht, von den Betroffenen mit der Versuchung der „Personalisierung“, der „Verkörperung“ beantwortet wird. Im Übrigen ist diese Tendenz zur verkürzten Kapitalismuskritik in allen populistischen Bewegungen groß – weshalb auch der Antisemitismus zumeist in der einen oder anderen Form implizit mitschwingt (aktuell vor allem in Verschwörungstheorien rund um das globale Finanzkapital).

Gehen wir zunächst wieder zurück in das mittelalterliche Europa: In einer wesentlich auf Naturaltausch beruhenden Gesellschaft, in der zumeist Gebrauchswerte produziert wurden, in der Markt, (Fern-)Handel und Geld zwar existierten und notwendig waren, aber nicht im Zentrum wirtschaftlicher Aktivitäten standen, verkörperte, im wahrsten Sinne des Wortes, der/die Jude/Jüdin das „ fremde “, unverstandene, ja, unheimliche Geld.

Der einfache Naturaltausch Produkt gegen Produkt wirft keine Fragen auf, ebenso wenig das unverhüllte Ausbeutungsverhältnis Grundherr-Bauer/Bäuerin, beruhend auf außerökonomischer Gewalt.

Aber was ist Geld? Warum kann der/die jüdische HändlerIn, WucherIn und GeldwechslerIn offensichtlich ohne körperliche Arbeit davon leben? Warum führt häufig wirtschaftlicher Kontakt mit der Geldwirtschaft zu Verarmung und Verelendung von Bauern/Bäuerinnen und HandwerkerInnen? Im/in der Juden/Jüdin personalisiert sich die Angst vor der nicht verstandenen Armut und der Hass auf die „nicht arbeitenden Reichen“. Dabei spielt der christliche Arbeitsbegriff eine nicht unwichtige Rolle. In der Forderung „Bete und arbeite“ wird die Askese beschworen, die der Befreiung vom Bösen dient. Die (schwere körperliche) Arbeit diente dem Lob Gottes. Deshalb „kann die Vertreibung der Händler aus dem Tempel als eine der Schlüsselszenen des Neuen Testaments gelesen werden. Der Handel mit Waren und besonders mit Geld wurde fortan als etwas sittlich zu Verurteilendes und für die Seligkeit Bedenkliches bewertet.“ (37)

In der Reformation wird alles, was als „Nicht-Arbeit“ gesehen wird, als parasitär und Schmarotzertum gebrandmarkt. Es entstehen nicht nur Arbeits- und Zuchthäuser. „Luther entwarf ein Konzept der Zwangsarbeit für Juden, war aber zugleich skeptisch bezüglich des Erfolgs, da er der Meinung war, dass ‚sie keine Arbeit gewohnt seien‘. Er plädierte deshalb für ihre Vertreibung. “ (38)

Der Gegenüberstellung von (körperlicher) Arbeit als „Dienst an Gott“ und Handel/Wucher als „gottloses Teufelswerk“ folgt im modernen Kapitalismus in rassistischer Weise die Gegenüberstellung von „nationaler Arbeit“ („deutsche Arbeit“) und jüdischer „Nicht-Arbeit“. So kann der deutsche „Volkskaiser“ Wilhelm II. Reden zum „Schutz der deutschen“ Arbeit halten, und jeder wusste, wen das mit einschloss (die KapitalistInnen, das „schaffende Kapital“) und wer die Bedrohung der „deutschen Arbeit“ darstellte (die Juden/Jüdinnen, das parasitäre, „raffende Kapital“). Der Spruch über dem KZ „Arbeit macht frei“ ist kein Zufall, sondern zynische Folgerichtigkeit. Und es ist, nebenbei bemerkt, eine der bittersten Ironien, die die Geschichte zu bieten hat, dass der Zionismus mit seiner Forderung nach „jüdischer Arbeit“ (Awoda Ivrit) und „jüdischen Waren“ (Tozvet Ivrit) ebenfalls einem völkisch-nationalen Begriff von Arbeit folgt, in rassistischer Abgrenzung zur arabischen Bevölkerung in Israel/Palästina.

Die Abstraktion an sich, das Geld, und die damit verbundenen gesellschaftlichen Zwänge, werden im Juden/in der Jüdin als Person konkret, bekommen durch den Juden/die Jüdin ein Gesicht. Luther knüpft daran an, wenn er sagt, er habe nicht vor, „die Juden zu bekehren, welches ebenso möglich ist, als den Teufel zu bekehren…Summa es sind junge Teufel, zur Hölle verdammt.“ (39) Man „kennt“ jetzt die Maske des Teufels, man weiß jetzt, wer am eigenen Elend Schuld ist: der Jude/die Jüdin. Es muss hier allerdings gesagt werden, dass bei PuritanerInnen und CalvinistInnen eine Neubewertung des Geldes erfolgte und das Alte Testament gegenüber dem Neuen Testament an Bedeutung gewann, so dass in der Folge auch der Judenhass an Bedeutung verlor – was, das sei hier nur erwähnt, Folgen bis heute hat (etwa in der ambivalenten bis z. T. positiven Haltung den Juden/Jüdinnen gegenüber durch die ansonsten erzreaktionären Evangelikalen in den USA).

Den Juden/Jüdinnen haftet also etwas „Teuflisches“ an. Im Johannes-Evangelium sagt Jesus zu den Juden/Jüdinnen: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.“ (Joh. 8,44,) Die Figur des Teufels wird geradezu zu einer „Präfiguration des Rassebegriffs“ (G. Scheit) „Gäbe es den Teufel nicht, könnte vielleicht wirklich von einem ‚rein religiösen‘ Antijudaismus in den frühen Schriften des Christentums, ja, im Christentum insgesamt, gesprochen werden. Die Abgrenzung von den Juden würde in diesem Fall die Physis der Ausgegrenzten unangetastet lassen. Mit der besonderen Rolle aber, die dem Satan zufällt, lauert bereits im Evangelium die Möglichkeit des Rassenantisemitismus.“ (40) 

In einer Gesellschaft, in der es die „unsichtbare Hand“ des Marktes nicht gibt, in der selbst Staaten eher Personenverbände denn territoriale Einheiten sind, scheinen solche Personifikationen die naheliegende Erklärung. D. h., schon beim „traditionellen“ religiösen Antijudaismus greift es zu kurz, ihn nur als manipulative Herrschaftsideologie zu verstehen. Denn obwohl die Herrschenden die antijüdischen Vorurteile der Massen, insbesondere der Stadtarmut, benutzten, um die Unterdrückten zu lenken und abzulenken, hatte der Antijudaismus der Armen durchaus eigene, in den gesellschaftlichen Strukturen verwurzelte Aspekte. Die antijudaistischen Gewaltausbrüche der Armen konnten sich nämlich durchaus auch gegen die eigene „Obrigkeit“ wenden. Heute wie damals greift jede Manipulationstheorie, wonach die Unterdrückten von den Herrschenden nur gesteuert werden, zu kurz (dazu weiter unten).

„Was immer sich sonst noch über den Juden sagen ließ, er war zuallererst der ‚andere‘, der Christus und die Offenbarung verschmäht hatte. “ (41). Er war der Paria, dem alles zuzutrauen war, er war „Vorbote des Antichristen und der mächtige und geheimnisvolle Abgesandte der Kräfte des Bösen.“ (42). Hier konnte der moderne, rassistisch aufgeladene Antisemitismus leicht andocken. Die chiliastischen Erlösungswahnvorstellungen mittelalterlicher Armutsbewegungen, ursprünglich der Glaube an die Wiederkehr Jesu und die Errichtung seines tausendjährigen Reichs, finden ihre Fortsetzung im rassischen Antisemitismus, in der „mythischen Dimension der Rasse und der Heiligkeit des arischen Blutes“; einer „entschieden religiösen Version, der eines deutschen (oder arischen) Christentums, und führte zu einer Ideologie, die man als ‚ErlösungsAntisemitismus bezeichnen kann.“ (43)

Auch hier gibt es keine scharfe Trennung zwischen traditionellem, religiösem Antijudaismus und modernem rassebiologisch argumentierendem Antisemitismus. Schon bei der Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Spanien 1492 wurde ihnen vorgehalten, dass sie nicht „spanischen Blutes“ seien (und noch Lech Walesa betonte in einem Wahlkampf , dass er „polnischen Blutes“ sei, und jeder wusste, dass er damit antisemitische Vorurteile in Polen bediente).

In der unverstandenen Welt des Kapitalismus bietet diese Weltsicht eine einfache Orientierung in unveränderlich Gut (der/die Deutsche/ArierIn) und unveränderlich Böse (Wallstreet und Bolschewismus, gesteuert durch Juden/Jüdinnen). Gesellschaftlich-ökonomische Prozesse werden auf das Bedürfnis nach Sichtbarkeit von „Schuld“ heruntergebrochen.

Man kann Antisemitismus verstehen „als strukturelle Möglichkeit des individuellen und kollektiven Bewusstseins, das unbegriffene ‚Leiden‘ an der modernen Vergesellschaftung zu verarbeiten…“ (44). Weil das Kapital nicht als gesellschaftliches Ausbeutungsverhältnis erkannt wird, wird es nur auf der Erscheinungs- oder Zirkulationsebene wahrgenommen, dort, wo es nicht zu übersehen ist. Dementsprechend werden auch alle Übel dieser Welt am Geld festgemacht. Die antisemitische Propaganda kann hier an Alltagserfahrungen und Alltagssichtweisen anknüpfen, der nur mit klassenpolitischer Argumentation und Praxis zu begegnen ist und nicht mit reiner Aufklärung.

Und, hier nur ganz nebenbei, die Propaganda der KPD zum Thema Antisemitismus war zu großen Teilen von erbärmlicher Kurzsichtigkeit, Verkürzungen und Verharmlosungen geprägt. Im Kern wurde der Antisemitismus auf eine Herrschaftsideologie zur Verführung und Manipulation der Massen durch die Herrschenden reduziert.

4 Antisemitismus und Massenpsychologie

Ein entlarvendes Detail des „klassischen“ Antisemitismus in Europa sind die langlebigen Mythen rund um Vorwürfe von Ritualmorden an nicht-jüdischen Kindern, die angeblich von Juden/Jüdinnen aus bestimmten religiösen Gründen ausgeübt worden seien. Sie reihen sich ein in ein absonderliches Gebilde von Vorwürfen wie Hostienschändungen, Brunnenvergiftungen, Frauenraub, Pestverursachung, Verächtlichmachung des „Heilands“ etc. Zumeist waren die unmittelbaren Anlässe verbunden mit Pogromen oder schwerer Verfolgung und Vertreibung und führten danach zu einer langen Erinnerungskultur, z. B. in der Verehrung der angeblichen „Judenopfer“ (Wallfahrten, Reliquien, „Judensteine“, etc.). Die genauere Untersuchung eines klassischen Einzelfalls soll die Mechanismen aufzeigen, in denen sich der schon festgefügte Antisemitismus der frühen Neuzeit in „Volkswut“ entlud.

4.1 Der „Judenmord“ und die „Pogromstimmung“

Ein bekanntes Beispiel im katholischen Kerngebiet ist der Kult des „Simon von Trient“ (italienisch „Simone da Trento“) (45). Der 4-jährige Simon verschwand angeblich in den Ostertagen des Jahres 1475 von zu Hause. Sofort wurden die drei Häuser der 30 in Trient lebenden Juden und Jüdinnen durchsucht und diese unter Hausarrest gestellt. Als dann wenig später in der Nähe eines der Häuser die Leiche des kleinen Jungen gefunden wurde, kam es zu einem pompös aufgezogen Prozess unter Leitung des Bischofs von Trient. Übrigens betätigten sich während der ganzen Ereignisse fundamentalistische Bettelmönche als organisierte Einpeitscher der Menge. Interessant ist, dass sowohl der habsburgische Landesherr als auch das reiche benachbarte Venedig und sogar der päpstliche Legat zu Gunsten der beschuldigten Juden und Jüdinnen Partei ergriffen. Letzterer, der Dominikaner-Bischof Giovanni dei Giudici, erkannte sofort, dass die Vorwürfe haltlos und konstruiert waren und vertrat die offizielle Linie des Vatikans, dass die Ritualmordlegenden „Aberglaube“ seien. Diese seit dem Mittelalter verbreiteten Legenden besagten, dass Juden/Jüdinnen zum Pessachfest Blut minderjähriger Christenkinder für die rituelle Herstellung der Matzen (der traditionellen Brotfladen für das Fest) verwenden würden (die Entstehung dieser Legenden in der Kreuzzugszeit wurde im Kapitel zum mittelalterlichen Antijudaismus hergeleitet). Offiziell hatte der Vatikan mehrmals mit Berufung auf die tatsächlichen jüdischen Glaubensvorschriften diese Legende als Aberglaube zurückgewiesen. Als der Trentiner Mob mitbekam, dass der Vatikan „gegen sie“ Stellung bezog, musste der päpstliche Legat vor dem wütenden, von Bettelmönchen angeführten Mob ins benachbarte Rovereto fliehen. 14 unschuldige Juden wurden grausam verbrannt, die weiblichen Familienmitglieder und Kinder mussten konvertieren und ins Kloster gehen. Bemerkenswert ist, wie stark der Hass und die Aggression gewirkt haben müssen, dass selbst der beträchtliche Druck von Amtskirche, weltlicher Macht und möglicher ökonomischer Nachteile (Venedig war die wichtigste Handelspartnerin) weggewischt wurden, um „der Volksseele“ durch Folter und brutale öffentliche Hinmetzelung Befriedigung zu verschaffen. Man kann davon ausgehen, dass die später so blühenden Verschwörungstheorien vom jüdischen Einfluss auf den Vatikan, die HabsburgerInnen und allgemein auf „die Wirtschaft“ schon in damaliger Zeit Verbreitung fanden – so wie das in den schon zitierten Luther’schen Schriften allzu deutlich zum Ausdruck kommt.

Freilich hat ihr sanfter „Widerstand“ die Amtskirche später nicht daran gehindert, den „Simon von Trient“ seligzusprechen und kräftig an der danach aufblühenden Wallfahrt zum „wundertätigen“ Simon mitzuverdienen. (Die katholische Kirche hatte immer schon eine große Expertise in Fragen des Kindesmissbrauchs.) Tatsächlich wurde Simon zum Vorbild für unzählige andere angebliche „Judenopfer“ und die damit etablierten Wallfahrten. So z. B. das berühmte „Anderl von Rinn“ nahe Innsbruck, wo noch bis weit nach dem 2. Weltkrieg Wallfahrten zum „Judenstein“ stattfanden. Schon im 19. Jahrhundert hatten jüdische Gemeinden gegen solche Wallfahrten bei den kirchlichen Obrigkeiten interveniert. Die Amtskirche hatte dann immer im Prinzip den „Aberglauben“ verurteilt, aber mit Hinweis auf den zu erwartenden „Volkszorn“ vom Eingreifen abgesehen. Erst das 2. Vatikanische Konzil veranlasste langsame Veränderung, indem es alle mit Ritualmordlegenden ausgesprochenen Seligsprechungen aufhob. Als in den 1980er Jahren der Innsbrucker Bischof offiziell die Wallfahrt zum „Anderl von Rinn“ abschaffte, erhob sich wiederum der beschriebene Volkszorn. Selbst die Exkommunikation des Ortspfarrers konnte die „Gläubigen“ nicht an der Fortführung ihres antijüdischen Rituals hindern. Selbst nach dem in den 1990er Jahren explizit erfolgten Verbot durch den Bischof gibt es zum Jahrestag bis heute eine Karawane aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus, die hier auf Befragung gegen den vom „jüdischen Weltkapital“ gekauften Vatikan und Bischof protestieren, die die „Wahrheit über die Juden“ unterdrückten (46).

4.2 Die veränderten Bedingungen zu Beginn der Neuzeit

In dieser Geschichte der Ritualmordlegenden finden sich viele der zentralen Elemente des althergebrachten Antisemitismus: abenteuerliche Vorstellungen von menschenverachtenden religiösen Vorschriften/Ritualen/Handlungen; archaische Mythen von Blutopfern (sie wollen unser „reines Blut“ verunreinigen); die verderblichen Auswirkungen der Anwesenheit der Juden und Jüdinnen gerade auf Kinder und Frauen, aber auch allgemein für die „Normal“-Bevölkerung; schließlich der Hass auf die „großen MachthaberInnen“, die von den Juden und Jüdinnen gekauft seien und angeblich ihre schützende Hand über sie halten würden.

Dass sich der Zorn hier auch gegen „Mächtige“ richtet, wenn auch der Hauptschlag gegen die Juden und Jüdinnen geführt wird, zeigt den „irrationalen“ Druck, der hier bei den beteiligten Massen im Spiel sein musste, so dass man nicht davor zurückschreckte, sich selbst scheinbar mit den großen wirtschaftlichen und politischen Mächten anzulegen. Tatsächlich war die ökonomische Bedeutung der jüdischen HändlerInnen und HandwerkerInnen im 15. Jahrhundert (wie oben beschrieben) bereits so zurückgegangen, dass sie für die herrschenden Klassen in West- und Mitteleuropa keine wichtige Funktion mehr erfüllten bzw. dafür im entstehenden Kapitalismus längst genug Konkurrenz zur Verfügung stand. Die „großen Herren/Damen“ traten den antisemitischen Pogromen also trotz der angeblich ewigen Schutzprivilegien nur sehr verhalten entgegen und waren sicher nicht unglücklich darüber, dass sich die allgemeine Unsicherheit und Unzufriedenheit angesichts der sozialen Krisen des Frühkapitalismus gerade an den Juden und Jüdinnen austobte.

Der „klassische“ Antisemitismus war wohl im Mittelalter entstanden, hatte aber seinen „Durchbruch“ und seine „volle Blüte“ erst in der frühen Neuzeit entwickelt – also in der Entstehungszeit des Kapitalismus. Denn für die Mächtigen hatten die Juden und Jüdinnen ihre Rolle gespielt: Während man früher die Pogrome zur Schuldentilgung bei Gelegenheit entfesselte, um dann die Juden und Jüdinnen wieder zu rufen und ihnen zeitweise Schutz gegenüber dem „Volkszorn“ zu bieten, war Letzteres nun nicht mehr unbedingt vonnöten. Man protestierte halbherzig und ließ das Volk gewähren.

Dies zeigt natürlich, wie berechtigt es ist, den klassischen Antisemitismus mit bestimmten Facetten einer ungenügenden und falschen Kapitalismuskritik in Verbindung zu bringen, wie das oben schon dargestellt wurde. Die Krise der alten feudalen Gesellschaft, die scheinbar zerstörerische Wirkung des Geldes, ihre Personifizierung mit dem „Wirken der Juden/Jüdinnen“, all dies gipfelte in solchen Volksbewegungen gegen die Juden und Jüdinnen. Dabei zeigte sich an dem erwähnten Kindermord-Pogrom das Element, das den „zerstörerischen“ Aspekt des Geldes mit dem scheinbar religiös bewegten Massenbewusstsein verbindet: Die Wut gegen den JudenverteidigerInnen aus dem Vatikan ist der Indikator.

4.3 Die Psychologie des Pogromismus

Die Massenwut, die sich im Trientfall auch gegen die „JudenschützerInnen“ richtete, zeigt, wie zwanghaft der Irrationalismus hier wirkte. Es erinnert an Sigmund Freuds Vergleich des Verhaltens religiöser Menschen mit dem von ZwangsneurotikerInnen. Die Analyse des Unbewussten bei Freud zeigt, dass „unbewusst“ gerade nicht „unwirksam“ bedeutet – sondern ganz im Gegenteil. Das Verdrängte steht nur zu oft gerade im Gegensatz zum scheinbar bewusst Gewollten und führt zu Verhalten, das Freud „ambivalent“ nennt (die Dialektik würde „widersprüchlich“ dazu sagen). Dies wird umso verwirrender, als sich das Verdrängte selbst in seinem Kern verschieben, bewegen und verändern kann ebenso wie die bewussten Motive. Vieles an den scheinbar „irrationalen“ Handlungen von Menschen kann erst aus dieser dialektischen Bewegung von bewussten und unbewussten Triebkräften ihrer Motivationen erklärt werden.

Der Psychoanalytiker Mario Erdheim betonte die gesellschaftspolitische Dimension dieses von Freud entwickelten Begriffs des Unbewussten: „Das Unbewusste wird für die Herrschaft dann relevant, wenn es darum geht, zum Wandel treibende, an den Voraussetzungen der Herrschaft rüttelnde Widersprüche zu neutralisieren. In dem Maße, wie sich die Gesellschaft in Klassen spaltet und sich divergierende Klasseninteressen entwickeln, nimmt die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit zu“ (47). Die eigentlich möglichen Veränderungen und darauf basierenden Impulse der Unterdrückten werden verdrängt und Abwehr- und Anpassungsmechanismen entwickelt, um die wachsende Zahl der Entbehrungen, Erniedrigungen, Existenzängste etc. nicht in unmittelbare Aggression umschlagen zu lassen. „Durch Unbewusstmachung sollte verhindert werden, dass das durch die Machtträger hervorgerufene Anwachsen des Aggressionspotentials der Beherrschten in Kritik und aktiven Widerstand umschlagen könnte. … Gleichzeitig musste aber in Kauf genommen werden, dass die Aggression die ‚Exterritorialität des Unbewussten‘ (Freud) erlangte, d. h. vom Ich nicht mehr benützt, sondern bestenfalls abgewehrt werden konnte. … Wie Partisanen vom Wald aus jederzeit überraschend angreifen können, so kann auch diese Aggression von einem Augenblick auf den anderen zuschlagen und das Ich zu einem amokartigen, blinden Zerstörungswerk zwingen. Denkbar ist auch, dass die unbewusst gemachte Aggression kulturelle Einrichtungen, wie zum Beispiel die Religion, als Ersatzbefriedigungen verwendet, die einer eigenen, oft auch gegen die Herrschaft gerichteten Entwicklung folgen, der die herrschende Klasse ohnmächtig gegenübersteht“ (48).

In der Krise der Auflösung der Feudalverhältnisse im 15./16. Jahrhundert in Mitteleuropa tauchten durchaus Forderungen auf, die eine Möglichkeit der progressiven Veränderungen enthielten: Die Enteignung des Grundbesitzes, die Entschuldung der Bauern/Bäuerinnen, die Abschaffung der monetären Feudalabgaben, die Verteidigung der gemeinschaftlichen Nutzung von Gemeindeland, die Ausdehnung der städtischen Selbstverwaltung über die Städte hinaus, die Nutzung des technischen Fortschrittes der Städte für die Modernisierung der Agrarwirtschaft etc. Tatsächlich aber verschärfte sich die Ausbeutung durch die Monetarisierung des Feudalsystems und die wachsende Verwandlung verarmender Landbevölkerung in städtische Armut. Während sich die Aggression gegen die wachsende Ausbeutung und Verarmung in den Bauernkriegen z. B. auf eine positive, die Möglichkeiten der Veränderung aufgreifende Weise organisierte, war die allgemeine Antwort die der Repression und Verdrängung. Wie Erdheim es beschreibt, verschob sich das Aggressionspotential wesentlich in den Bereich der Religion, die zum Ersatz für die Abfuhr der aufgestauten Aggressionspotentiale wurde (damit sei nicht gesagt, dass diese bei den Bauernkriegen überhaupt keine Rolle spielte).

In diesem Zusammenhang wird auch das erneute Aufflammen des religiös fundierten Antijudaismus in dieser Zeit verständlich. „Das Volk“, das durch die Krise unbewusst den Aufstand gegen die Herrschenden wünscht, ist gleichzeitig von Schuldgefühlen gerade wegen dieses Wunsches geplagt. Die Aggression und der (für die bösen Gefühle) zu bestrafende Teil des Selbst werden auf einen alten äußeren Feind projiziert, nämlich die gerade vor Ort anwesenden Juden und Jüdinnen. Und dabei ist es ganz gleich, ob die Juden und Jüdinnen noch die ökonomische Funktion von einst erfüllen – sie werden zu den RepräsentantInnen der Krisen erzeugenden neuen Kapitalmächte. Ähnlich wie beim Kampf gegen die Menschen des „falschen Glaubens“ in den Religionskriegen dieser Zeit werden die realen Menschen zu einer Projektionsfläche für den eigenen Hass und zu den Schuldigen für all die Nöte der Zeit. Die überkommenen Mythen, Erzählungen, Pseudo-Beweise über die wahre Natur der So-und-so werden zu Instrumenten der Projektion. Fehlt nur noch der Anlass – und natürlich sind Morde, speziell an Kindern oder jungen Frauen, ein gern genützter Zünder, um Abwehrmechanismen des Ich bzw. das Realitätsprinzip außer Kraft zu setzen und die Aggressionspotentiale freizusetzen. Dazu lehrt die Psychoanalyse, dass in diesen Aggressionsausbrüchen über solche Ereignisse auch die unbewusste Selbstbestrafung für den eigenen Wunsch nach ebensolchen Tötungen enthalten ist, was die Wucht der Ausbrüche, die solche Ereignisse auslösen, erklärt. Man denke nur aktuell an Kandel: Als in dem kleinen Ort in Rheinland-Pfalz ein junger afghanischer Flüchtling wohl in einem Eifersuchtsdrama seine Freundin erstach, wurde der Ort wochenlang von wütenden Demonstrationen heimgesucht unter dem Motto „Mädchenmord – dank Merkel“. Ähnlich in Chemnitz, wo ein Mord, der einzelnen muslimischen Flüchtlingen angelastet wird, zum Anlass genommen wird für ungehemmte Massenaggression gegen alles was „ausländisch“ oder „anders“ aussieht. Waren es in Trient Bettelmönche und religiöse Losungen, so sind heute organisierte Nazis die EinpeitscherInnen, und Religion wurde durch nationalistischen Rassismus ersetzt.

Das Problem ist nicht die Aggression an sich – die im Rahmen der Selbsterhaltung und, wenn das rationale Ich letztlich die Kontrolle behält, ja auch in eine positive Richtung gelenkt werden kann. Es geht um die unbewussten Quellen der Aggression, die jede Kontrolle durchbrechen. Das Problem ist dann, dass „die Aggression nicht von Selbsterhaltung gesteuert wird, sondern von Narzissmus und Ambivalenz“ (49). Die Ambivalenz des Verdrängten, die Suche nach dem Ersatzobjekt für den eigentlich gewünschten Aufstand gegen die Herrschenden und die gleichzeitige Bestrafung dieses Ersatzobjektes gerade für diesen eigenen Wunsch wurde schon dargelegt. Eine noch gefährlichere Quelle ist der Narzissmus, da er tatsächlich zu eliminatorischen Einstellungen führt. Der Narzissmus stellt eine aufgrund von aktuellen traumatischen Erfahrungen bedingte Regression in eine der frühesten Kindheitsphasen dar. Charakteristisch beim Narzissmus ist die Vorstellung vom allseits bewunderten Selbst, das im Mittelpunkt der (damit sehr kleinen) Welt steht. In der Regression wird die Aufspaltung der Welt des Kleinkindes in die freundliche (eigentlich als Erweiterung des Selbst zu sehenden) Seite (vor allem durch die Mutter, soweit sie allzeit für die eigenen Bedürfnisse des Kindes bereit ist) und die böse Seite (z. B. die Mutter, die tatsächlich irgendwas verweigert oder gar nicht lieb ist) vollzogen. Im Märchen wird dies treffend durch die Spaltung in die gute Mutter und die böse Stiefmutter repräsentiert. Die Stiefmutter hat durch ihre Magie alles gegen die arme Prinzessin (oder den Prinzen) verschworen, auch den eigentlich guten König. Die Welt muss von dem Stiefmutter-Bann befreit werden muss, damit am Ende wieder alles gut ist – indem die böse Stiefmutter getötet, eliminiert wird!

Es ist wohl klar, dass die Juden und Jüdinnen in der Geschichte die Rolle der bösen Stiefmutter erhalten haben. Für die Gekränkten und Erniedrigten, denen „unverständlicherweise“ von den hohen Herren von Adel und Kirche nicht geholfen wird, erscheinen die Juden und Jüdinnen wie die bösen MagierInnen, die ihre einst so gute Herrschaft mit ihrer abstrakten, jüdischen Geldwirtschaft verzaubert haben. Die Juden und Jüdinnen, als Verkörperung der abstrakten Macht des Geldes, werden zur „bösen Seite der Macht“ des Narzissmus. Mit ihrer Vernichtung, so die Hoffnung, wird der „Papa wieder gut“, werden die Mächtigen sich unser erbarmen. Daher gehört die Wut auf die „JudenschützerInnen“ ganz unbedingt zum Ritual des Pogroms. Es ist der Teil des Rituals, in dem der König (oder „Mutti“) wach geküsst werden soll.

Erdheim verweist zu Recht darauf, dass narzisstisch bedingte Aggression bei den Herrschenden sogar noch weit verbreiteter ist als bei den Unterdrückten. Herrschaft an sich ist auf engste mit Narzissmus verbunden (man will bewundert werden, nicht geliebt). Umso mehr wird Aggression freigesetzt, je mehr die Unterdrückten unbotmäßig die Bewunderung verweigern, ja, gar gegen die Herrschaft aufbegehren. Die Herrschenden neigen sehr viel stärker zur unkontrollierten, eliminatorischen Aggression als die Unterdrückten. Der kurze, heftige Furor der Bauern/Bäuerinnen in den Bauernkriegen mag in schnellen Orgien der Befreiung heftig gewesen sein – er war aber nichts im Vergleich zur systematischen, massenmordartigen Hinrichtungswelle, an der sich die Herrschenden nach ihrem Sieg ergötzt haben. So war denn auch der eliminatorische Antisemitismus gerade bei den herrschenden Klassen in Deutschland nach den narzisstischen Kränkungen von Novemberrevolution bis Versailles besonders ausgeprägt.

4.4 Massenpsychologie des Faschismus

Auch ohne psychoanalytische Ausbildung hat Trotzki, der bekanntermaßen für eine ernsthafte Beschäftigung mit Freud eintrat, diese Mechanismen der Massenpsychologie meisterhaft analysiert, z. B. in seinen Untersuchungen des Faschismus. In seiner Kritik der KomIntern-Politik gegenüber dem Faschismus bemerkt er, dass die führenden KP-VertreterInnen den Charakter der faschistischen Gefahr verkannt hätten, unter dem Motto „Die Bourgeoisie kann doch keinen Aufstand gegen sich selbst machen“ (50). Trotzki dagegen hat erkannt, dass es gerade dem Faschismus gelinge, tatsächlich dem Bedürfnis des „Volksaufstandes“ entgegenzukommen und die Aggressionen auf entsprechende Ersatzobjekte zu richten – gleichzeitig aber die zentralen Ziele des Kapitals durch die Nutzung dieser „Aufstandsbewegung“ zur massenhaften Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung und ihrer demokratischen Errungenschaften zu instrumentalisieren. Dass diese Umlenkung des Aufstandswunsches gelingt, wird von Trotzki auch eindeutig analysiert: „Der italienische Faschismus erwuchs unmittelbar aus dem von den Reformisten verratenen Aufstand des italienischen Proletariats… Der Zusammenbruch der revolutionären Bewegung wurde zur wichtigsten Voraussetzung für das Wachstum des Faschismus“ (51).

Es waren gerade die Demoralisierung, die Perspektivlosigkeit nach der Niederlage, die eine neue, „nationale“ Alternative zum Kampf gegen die BedrückerInnen als möglich erscheinen ließ. Dieser folgten wohl viele, die sich durch die sozialistische Bewegung bedroht sahen, aber auch demoralisierte ArbeiterInnen können so für den Bruch mit ihrem Klasseninteresse gewonnen werden. Hier erweist sich die besondere Schwere des Problems für SozialistInnen und KommunistInnen: Je mehr man vor der möglichen Revolution zurückschreckt, je mehr man die Krise des Kapitalismus laufen lässt und sich mit kleinen „Zwischenschritten“ zufriedengibt, desto mehr wächst das reaktionäre Potential in den demoralisierten Klassen durch die Unbewusstmachung ihrer revolutionären Wünsche.

Hiermit ist ein zentrales Element der politisch-psychologischen Bedeutung des Antisemitismus entwickelt. Mit den Mechanismen von Projektion und Regression werden die Juden und Jüdinnen zum Ziel von Ersatz-Aufständen gegen das Kapital, speziell in Krisenzeiten. Seit der Krise der frühen Neuzeit ist der zuvor religiös bestimmte Antijudaismus zu einem im gesellschaftlichen Unbewussten fest verankerten Antisemitismus geworden. In Krisenzeiten konnten Aggressionspotentiale nunmehr immer wieder in mehr oder weniger gewalttätige Ersatz-Aufstände abgeführt werden. Wie Erdheim aber zu Recht auch sagt, wäre es dabei falsch, einfach nur von einer bewusst von den Herrschenden eingesetzten Sündenpolitik auszugehen. Vielmehr sind diese Mechanismen der unbewussten Krisenbewältigung oft von den Herrschenden kaum zu kontrollieren. Dies zeigt sich z. B. in den diversen antisemitischen Ausbrüchen zu unvorhergesehenen Anlässen in der Kaiserzeit des 19./20.Jahrhunderts in Deutschland. Etwa um 1900, als in der westpreußischen Kleinstadt Konitz ein Mann gefunden wurde, der scheinbar durch Ausbluten ermordet wurde. Sofort wurde ein jüdischer Metzger in alter Ritualmordlegenden-Form beschuldigt. Und getreu dem Muster wurde auch der aus der Hauptstadt entsandte Kriminalist, der widerlegende Indizien fand, der Judenschützerei beschuldigt und aus der Stadt getrieben. Natürlich wurde auch die Regierung beschuldigt, mit den Juden/Jüdinnen unter einer Decke zu stecken. Da dies beileibe kein Einzelfall ist, kann davon ausgegangen werden, dass dies nur ein Indiz für festgefahrene Mechanismen des gesellschaftlichen Unbewussten ist, die sich seit der Krise des 15./16. Jahrhunderts fest in Deutschland verankert hatten. Und dies bedeutete unter anderem Antisemitismus als „volkstümlicher“ Ersatz für den eigentlich notwendigen Aufstand gegen das Kapital – ein unbewusst gespeister Antisemitismus, der sich entgegen aller allzu einfachen Manipulationstheorien auch von den Herrschenden nur bedingt kontrollieren lässt.

4.5 Antisemitismus und „Kritische Theorie“

Antisemitismus- und Faschismustheorie stellen auch zentrale Themen der sogenannten „Kritischen Theorie“ dar, die vor allem im Umkreis des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ entstand. Begründet wurde dieses Institut in den frühen 1920er Jahren von der jüdischen Industriellenfamilie Weil, auch aus Sorge über die Erstarkung des Antisemitismus. Dazu kam, dass sich Felix Weil selbst zu einem radikalen Marxisten entwickelt hatte, der für die Gründungsphase eine erste „Marxistische Arbeitswoche“ mit solch zentralen Theoretikern wie Georg Lukács und Karl Korsch organisieren konnte. Während in dieser Frühphase des Instituts marxistische Gesellschaftstheorie im Vordergrund stand, wurde bald auch die Psychoanalyse zur Grundlage (unter anderem durch die Einbeziehung des Analytikers Erich Fromm). Als „analytische Sozialpsychologie“ versuchte die „Frankfurter Schule“ die marxistischen, gesellschaftstheoretischen Analysen solcher Phänomene wie des Antisemitismus durch psychoanalytische Erklärungen zu ergänzen. Als paradigmatisch dafür kann der Aufsatz von Theodor Adorno „Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda“ (52) gesehen werden, der in engem Zusammenhang mit den Arbeiten von Ernst Simmel zu Antisemitismus und Massenpathologie, bzw. von Max Horkheimer zum Komplex des „autoritären Charakters“ steht (53). Der Artikel stammt aus einem Forschungsprojekt „Antisemitismus“, das noch in der Exilphase des Instituts in den USA durchgeführt wurde und viele bis heute wirksame Untersuchungsmethoden zu dem Thema hervorgebracht hat.

Adorno setzt in dem Artikel die Herangehensweise von Freud derjenigen der voranalytischen Psychologie in Bezug auf Massenbewegungen entgegen. Letztere habe, z. B. bei Gustave Le Bon („Psychologie der Massen“), in der Herausbildung von „Massen“ grundlegend eine gefährliche und das Individuum bedrohende Erscheinung gesehen, die im Wesentlichen auf einem atavistischen Herdentrieb beruhe und von DemagogInnen mittels „Suggestion“ oder einer Art „Massenhypnose“ manipuliert würden. Freud bestreitet in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ dagegen die Existenz von so etwas wie einem „Herdentrieb“. Umgekehrt: das immer mehr individualisierte, vereinzelte „Ich“ der bürgerlichen Gesellschaft findet in der Masse eine Art „Fluchtweg“ aus den als Vereinzeltes sich immer drängender ergebenden inneren Konflikten. Statt also von einem „natürlichen Herdentrieb“ zur „nationalen Vereinigung“ getrieben zu werden, ist diese „Natürlichkeit“ vielmehr eine gesellschaftliche Konstruktion, die erst mit der Entwicklung einer hoch individualisierten Zivilisation möglich wird. In diesem Sinn sagt auch Simmel, dass der Antisemitismus nicht ein „Rückfall“ aus der Zivilisation ist, sondern eine notwendige Folge oder Begleiterscheinung der voranschreitenden Zivilisation.

Wenn nun die Herausbildung von reaktionären Massenbewegungen vor allem irrationaler Natur, da gegen die materiellen Interessen des Großteils der Beteiligten gerichtet, ist, was bringt dann die Bindung der Individuen an diese hervor? Nach Freud müssen solche „irrationalen Motive“ vor allem in unbewusst wirkenden Triebenergien gesucht werden, die mittels Verdrängung und Regression zu mächtigen, von den AkteureInnn selbst nicht durchschauten emotionalen Impulsen werden. Diese Energien können unter bestimmten Umständen durch Identifikationsfiguren und Feindbilderzeugung zu mächtigen politischen Waffen geraten.

Was sind nun nach Freud die psychischen Energien, die hier im Spiel sind? Freud schließt hier im Wesentlichen sexuelle Motive aus (auch wenn er auf unterdrückte homosexuelle Momente, die auch im Faschismus eine Rolle gespielt haben, durchaus hinweist). Im Allgemeinen führt direkte Sexualerfüllung eher weg von Massenbildung, hintertreibt strenge Abgrenzungszwänge – wie Freud so schön sagt, durchbricht die Liebe die Abgrenzungen „der Rasse, der nationalen Absonderung und der sozialen Klassenordnung und vollbringt so kulturell wichtige Leistungen“ (54). Traditionelle Massenorganisationen wie Kirche und Armee bestätigen dies durch ihre sexuellen Enthaltsamkeitsregeln (zumindest der Fassade nach).

Wenn also die Momente der irrationalen Massenbildung in der vorgenitalen Libidoentwicklung zu suchen sind, dann liegt es nahe, wiederum auf die narzisstische Regression zu stoßen, die wir schon bei der Psychologie des Pogroms besprochen haben. Die Einverleibung der Realität in das narzisstische Ich, die Vergrößerung der eigenen Persönlichkeit kann zur Identifizierung mit einem „größeren Ich“, einem kollektiven Ich werden. Adorno nennt diesen Prozess in Anlehnung an Freud „Idealisierung“ (55). Das Objekt der narzisstischen Liebe ist eigentlich das eigene, idealisierte Selbst. Es ist eine aufgeblasene Figur, in der sich das eigene, gedemütigte Ich wieder lieben kann. Die reaktionäre Führerfigur hat nichts vom autoritativen, großen und gebildeten Vater, sondern muss gewisse Züge des eigenen schwachen Ichs enthalten. Dies erklärt sicher die teilweise Lächerlichkeit und Gewöhnlichkeit von „Führerfiguren“ von Hitler bis Trump, die sie so geeignet macht als Identifikationsobjekte narzisstischer Selbsterhöhung. Gefährlich wird es, wenn sich diese narzisstische Identifikation überlagert damit, dass das eigene schwache Ich-Ideal (das zumeist in der Auseinandersetzung mit den Eltern herausgebildet wurde) durch eben denselben Ersatz-Vater verkörpert wird. D. h. die Über-Ich-Instanzen von Gewissen, Moralvorstellungen etc. werden durch das idealisierte Führer-Selbst bzw. das imaginierte kollektive Selbst, z. B. die „Volksgemeinschaft“ besetzt. In der modernen Massenkultur ist die narzisstische Identifikation nach Adorno z. B. in der Identifikation mit mittelmäßigen KünstlerInnen als großen „Stars“ Grundelement – dies ist aber noch unterhalb der Idealisierung, da hierbei die Überhöhung ins Ich-Ideal nur sehr beschränkt erfolgt. Es zeigt aber, wie sehr in der spätkapitalistischen Gesellschaft auch heute die Mechanismen der Idealisierung leicht wieder politisch angewendet werden können. Die „FrankfurterInnen“ betonten dabei stark die Tatsache des Autoritätsverlust der Elterngeneration (z. B. die „vaterlose Gesellschaft“ der Nachkriegsgeneration nach dem ersten Weltkrieg), durch die diese Ersetzung des überkommenen Über-Ichs gelingt und die Umformung in die „autoritäre Persönlichkeit“ erleichtert wird.

Narzisstische Selbstaufblähung ins Kollektiv und Unterwerfung unter das idealisierte Selbst als Ich-Ideal ermöglichen die irrationale Massenbindung an reaktionäre, den Interessen dieser Massen direkt zuwiderlaufende politische Bewegungen und Führergestalten. Das heißt nicht, die faschistischen oder reaktionären Massenbewegungen aus der Psychologie zu erklären. Wie Adorno bemerkt, erfordert die komplexe Psychologie der reaktionären Massenbildung die gezielte Hervorbringung durch politische Kräfte, die diese nutzen wollen. Dies muss nicht unbedingt bewusst und „massenpsychologisch“ geplant erfolgen – die reaktionären Organisationen sind zumeist schon aus Menschen zusammengesetzt, die eine Disposition für diesen Idealisierungsprozess besitzen. Es kommt darauf an, dass es Kapitalkräfte gibt, die das Potential solcher Gruppen auch für ihre Interessendurchsetzung nutzen wollen.

Zu der narzisstischen Überhöhung des guten eigenen Ichs gehört (wie schon ausgeführt) die Abspaltung des bösen Teils der eigenen Welt. Die reaktionäre Massenbildung durch narzisstische Identifikation kommt nicht aus ohne die Brandmarkung des inneren und äußeren Feindes. Alle Herabsetzungen und Entbehrungen des realen Ichs, die nun im Führer-Ich eine Lösung zu finden scheinen, werden auf dieses Feindobjekt projiziert, das nun als einziges der Lösung entgegensteht. Die gegen das Judentum gerichtete narzisstische Aggression haben wir schon in der Analyse der antisemitischen Pogrome dargestellt. Im entwickelten Kapitalismus, so die These von Adorno bzw. Simmel, kann sich diese Aggression erhöhen bis auf die Ebene der Psychose – ähnlich wie bei narzisstischen Störungen, die in schizoider Paranoia enden. D. h. der moderne Antisemitismus entwickelt ein „System des Wahns“, das in irrationaler Weise alle möglichen „Bedrohungen“ mit teuflischen Verschwörungen des „Weltjudentums“ in Verbindung bringt. Die Anschuldigungen mögen so abstrus sein wie möglich (siehe z. B. die „Protokolle der Weisen von Zion“), zentral ist die Funktion bei der aggressiven Selbstvergewisserung: „Es ist daher nicht überraschend, dass der einzelne Antisemit sich über den Inhalt seiner Anschuldigungen und Verleumdungen wenig Gedanken macht, solange sie seinem Bedürfnis nach Aggressionsentladung dienen. Ferner glaubt der Antisemit an seine falschen Beschuldigungen der Juden nicht trotz, sondern wegen ihrer Irrationalität. Der Vorstellungsgehalt dieser Anschuldigungen ist Produkt des Primärprozesses im eigenen Unbewussten; seinem bewussten Denken wird es erst durch Suggestion des Massenführers zugänglich“ (56).

Die Steigerung der antisemitischen Aggression hin zur Psychose erklärt auch die Möglichkeit der Monstrosität von Menschen, die die industrielle Massenvernichtung von Juden und Jüdinnen durchführen konnten. Das Projekt, mitten in einem große Ressourcen verschlingenden Krieg, war jenseits jeden ökonomischen und militärischen Sinns. Trotzdem wurde es mit der planmäßigen Rationalität eines/r psychotischen SerienmörderIn durchgeführt. Die Zwanghaftigkeit des Massentötens in seiner monströsen Irrationalität als Ganzes verschaffte offenbar den einzelnen TäterInnen die Befriedigung, Teil einer großen „nationalen Befreiungstat“ zu sein. Der/Die Einzelne war kein/e psychotische/r TäterIn, sondern repräsentierte zumeist den mittelmäßigen kleinen deutschen Beamtentypus – die „Banalität des Bösen“, wie es Hannah Arendt ausdrückte. Erst im faschistischen Apparat wurde er/sie Teil einer psychotischen Masse.

Auch wenn die massenpsychologischen Erkenntnisse der kritischen Theorie wichtiges zum Verständnis des Antisemitismus beigetragen haben, muss auf ein zentrales Problem hingewiesen werden. Anders als bei den zuvor genannten Erklärungen von Erdmann und Trotzki fehlt bei Adorno/Simmel der Bezug zum Klassenkampf vollständig. Bei den Erstgenannten kommt es aufgrund von Niederlagen in der Auseinandersetzung mit den Herrschenden bei einigen der Unterlegenen zu reaktionären Antworten, die emotional durch narzisstische Regression aufgeladen sind, während die Herrschenden Angriffe auf sich mit besonders gesteigerter narzisstischer Aggression beantworten. Bei Adorno/Simmel fehlt dieser Klassenbezug völlig. Vielmehr entwickelt Adorno die narzisstische Regression viel allgemeiner aus den Bedingungen der „Massenkultur“ in spätkapitalistischen Gesellschaften. Eine zentrale Aussage von Adorno dazu sei zitiert: „Die Menschen, mit denen er [der Faschismus] zu rechnen hat, befinden sich in der Regel in dem charakteristischen modernen Konflikt zwischen einer sehr entwickelten, auf Selbsterhaltung eingestellten Ich-Instanz und dem ständigen Misserfolg, den Ansprüchen des eigenen Ichs zu genügen. Aus diesem Konflikt resultieren starke narzisstische Triebimpulse, die nur durch Idealisierung, als teilweise Übertragung der narzisstischen Libido auf das Objekt, absorbiert und befriedigt werden können“ (57).

Worauf Adorno hier als Ursache der Idealisierung abzielt, ist die Vereinzelung des bürgerlichen Individuums in der Konkurrenz der Waren- und Arbeitsmärkte, oder wie es Lukács nannte, die „Verdinglichung“ (58). D. h. die Beziehungen zwischen den Menschen werden im entwickelten Kapitalismus immer mehr durch die Beziehung zwischen „Dingen“ in ihrer Warenform ersetzt, die eigenen Eigenschaften entfremden sich in verdinglichter Gestalt als Elemente der „Arbeitskraft“, deren plötzlicher Entwertung man machtlos gegenübersteht. Diese Herrschaft der Warenform über die Subjekte erzeugt also nach Adorno die Tendenz zur narzisstischen Regression, als scheinbare Wiedergewinnung von Subjektivität und Wiederherstellung von sozialer Gemeinschaft.

Sicherlich erzeugt die immer stärker werdende Tendenz zur Verdinglichung im Kapitalismus auch die Disposition zur narzisstischen Regression und damit zur leichten Evozierbarkeit von nationalistischem, rassistischem oder antisemitischem Hass. Die Auslassung der Klassenfrage an dieser Stelle führt jedoch zu einem insgesamt kulturpessimistischen Defätismus. Adorno erwähnt zwar in dem genannten Aufsatz die Möglichkeit, dass Massenbewegungen auch solidarisch und fortschrittlich sein können. Doch im Grunde widerspricht dies seiner eigenen Theorie des Spätkapitalismus, in dem die ökonomische Krisenhaftigkeit durch den „organisierten Kapitalismus“ aufgehoben und damit die Klassenbildung selbst systematisch blockiert wäre. Bei seinen späteren Schriften kommen folgerichtig Zweifel auf, ob nicht alle Massenbewegungen im Spätkapitalismus die Tendenz zum Faschismus haben. Es mag Bewegungen geben, die sich der Warenförmigkeit und autoritären Konkurrenz der FührerInnen entziehen (z. B. Ökologie, Hausbesetzungen, u. ä.), aber sie müssen wohl im Kapitalismus eher am Rand bleiben. Dagegen hat Lukács den Verdinglichungsbegriff eingeführt, um zu zeigen, dass es eben für das bürgerliche und kleinbürgerliche Bewusstsein keinen Ausweg aus dem Konflikt der nicht erfüllbaren Ansprüche an die Individualität gibt. Er sah also eine klassenspezifische Disposition zum Irrationalismus bei den bürgerlichen Klassen, insbesondere beim Kleinbürgertum. Dagegen ermöglicht die Stellung des Proletariats im Produktionsprozess es diesem, die Verdinglichung durch Solidarität und Entwicklung von Kontrolle über den Arbeitsprozess eben gerade zu durchschauen und letztlich zu überwinden. Auf der Grundlage von solidarischer Selbstorganisation und Entwicklung von Macht über den eigenen Arbeitsprozess ist daher auch eine Massenbewegung möglich, die selbstbewusste und kritikfähige Subjekte in einem demokratischen Prozess verbindet, der zugleich gegen die Mächte der Verdinglichung und ihrer bewaffneten Banden zur Gegenwehr in der Lage ist. Die Aufgabe des revolutionären Klassenbegriffs in der Frankfurter Schule markiert nicht nur einen grundlegenden Bruch mit dem Marxismus, sie führt auch dazu, dass sich Ideologiekritik mit kulturpessimistischem Grundton einerseits auf die Affirmation des Bestehenden bei realen sozialen Kämpfen andererseits zurückziehen muss.

Die Analyse des „autoritären Charakters“ und der „narzisstischen Massenkultur“ spielte um die 1968er Jahre in der westdeutschen Linken eine große Rolle. Sie führte einerseits zu kulturkritischen und antiautoritären Versuchen, die viel mit der Aufarbeitung der verdrängten Nazi-Vergangenheit zu tun hatten. Auch wenn auf der Ebene des Überbaus hier einiges in Bewegung kam, wurden die gesellschaftlichen Verhältnisse so nicht grundlegend herausgefordert. Adornos These von einem durch den Totalitarismus der Verdinglichung in der spätkapitalistischen Massengesellschaft immer bestehenden Hang zur Faschisierung führte letztlich dazu, dass viele Linke den Faschismus als permanente Gefahr (oder gar schon Realität sahen). Antifa-Aktivität als Hauptschwerpunkt sowie Ablehnung „autoritärer Strukturen“ wurden seither zu einem Charakteristikum der deutschen Linken. Die tatsächliche neuerliche Rechtsentwicklung seit einigen Jahren haben viele dann nicht erkannt (nach dem Motto: „Was unterscheidet denn die AfD von der SPD“?) bzw. sind mit ihren Methoden nicht dazu in der Lage, sie zu bekämpfen.

4.6 Antisemitismus und Fetischismus der Wertformen

Der 1979 erstmals auf Deutsch erschienene Artikel „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ (59) von Moishe Postone kann als eine Art „Erweckungsschrift“ für die sogenannten „antideutschen Linken“ gesehen werden. Allerdings gehen viele der Verkürzungen der Letzteren weit an der Qualität dieses Artikels vorbei.

Postone geht von der Frage aus, warum gerade die Juden und Jüdinnen im Zentrum der faschistischen Gewalt stehen mussten, warum der Antisemitismus zentral für die Nazis sein musste. Er geht also über die Analyse von Adorno/Horkheimer hinaus, die die Unabdingbarkeit irgendeines inneren Feindes für die politische Mobilisierbarkeit der „autoritären Charaktere“ sahen – da hätten dann ja auch ganz andere als „Sündenböcke“ dienen können. Bestimmte Aspekte des von den Nazis ausgelebten Antisemitismus zeigen, dass er über Vorurteile, Fremdenhass, ja Rassismus weit hinausginge. Die systematische Verfolgung und letztlich industriell betriebene Vernichtung ist weder ökonomisch (absolute Mehrwertproduktion) noch militärisch (Blockierung von Schienenwegen mitten im Krieg) noch psychologisch („autoritärer Charakter“) erklärbar: „Ist die qualitative Besonderheit der Ausrottung des europäischen Judentums einmal erkannt, wird klar, dass Erklärungsversuche, die sich auf Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie, sexuelle Unterdrückung oder die autoritäre Persönlichkeit stützen, viel zu allgemein bleiben“ (60).

Postone grenzt zunächst den „klassischen“ antijudaistischen und religiösen Antisemitismus vom „modernen“ Antisemitismus, wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, ab. Wir werden letzteren ausführlicher im nächsten Kapitel behandeln. Er betont jedoch als Kontinuum, dass auch der klassische Antisemitismus mit seiner Verteufelung des Judentums diesem eine besondere, hintergründige Macht zugesprochen hat. Rassismus unterstellt den fremden „Rassen“ immer schon eine bedrohliche Macht, gegen die es gelte, sich zu behaupten. Doch im Unterschied zu den als „Untermenschen“ gebrandmarkten „unterlegenen Rassen“, die nur als potentielle Bedrohung gesehen würden, würden die Juden und Jüdinnen als eine geheimnisvoll im Hintergrund wirkende tatsächliche Macht verteufelt. Schon im klassischen Antisemitismus wird diese Macht mit Geld und Zins in Verbindung gebracht. Im modernen Antisemitismus jedoch würde diese Macht um ein Vielfaches allgemeiner und bedrohlicher dargestellt. Postone verweist exemplarisch auf ein Nazi-Plakat, in dem der „fleißige, hart arbeitende Deutsche“ bedroht wird durch einen fetten US-Kapitalisten auf der einen Seite und einen mörderischen bolschewistischen Kommissar auf der anderen Seite – und über den Horizont der Weltkugel sieht man einen Juden hervorkommen, der die beiden Bedrohungen wie an Marionettenfäden steuert. Das „internationale Weltjudentum“ wird dargestellt als unfassbare, abstrakte Macht des Finanzkapitals im Hintergrund, die hinter allen schwer fassbaren Krisenhaftigkeiten stehe und darüber hinaus an der Untergrabung der überkommenen Kultur, an den bestehenden Gemeinschaften, der Schaffung des „Großstadtdschungels“, der „kosmopolitischen“ Kultur etc. Schuld sei. Es ist überdeutlich, dass der moderne Antisemitismus eine Verkörperung der Entwicklungsprobleme der kapitalistischen Gesellschaften durch das Judentum versucht. Die Frage ist, wieso eine solch irrsinnige Idee einen derart „naturwüchsigen“ Erfolg haben konnte – und haben kann.

Die Antwort findet Postone in Marx‘ Konzept des „Fetisch“, mit dem die Differenz vom Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse und ihren Erscheinungsformen erklärbar wird. Begründet ist dies im Doppelcharakter der Ware als Wert und Gebrauchswert: Ware, wie auch Wert schaffende Arbeit müssen immer sowohl in konkret stofflicher Form, im konkretem Arbeitsprozess, bestehen, wie auch als abstrakter Wert, allgemein gesellschaftliche, abstrakte Arbeit sein. Vermittelt wird dies durch die Wertform, die beides in Beziehung setzt. In der Wertform vergegenständlichen sich die beiden Pole des Verhältnisses in der stofflich konkreten Ware (Gebrauchswert) und der symbolischen, abstrakten Repräsentanz des Wertes, dem Geld. „Durch diese Form der Vergegenständlichung gewinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus ein Eigenleben, sie bilden eine ‚zweite Natur‘, ein System von Herrschaft und Zwängen, das – obwohl gesellschaftlich – unpersönlich, sachlich und ‚objektiv‘ ist und deshalb natürlich zu sein scheint“ (61). Die scheinbare Naturhaftigkeit der Vergegenständlichung des Werts in den beiden Seiten der Wertform verglich Marx mit einer Art „Fetischglauben“, einer Projektion eigentlich gesellschaftlicher Verhältnisse in ein Verhältnis zwischen Dingen.

Die unmittelbare und zumeist beschriebene Folge dieses Fetischismus ist die typische „Rationalität“ in bürgerlichen Gesellschaften: der Glaube an Sachgesetzlichkeiten der verschiedenen Wertformelemente (Kapital, Lohn, Markt etc.), denen man wie gegenüber einem Naturgesetz nicht zuwiderhandeln könne. Dies betont die Vereinseitigung der einen Seite der Wertform, der abstrakten zumeist mit dem Geld identifizierten Seite. Postone meint nun, dass das Verständnis des Antisemitismus die Vereinseitigung der anderen Seite der Wertform betrachten müsse. „Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieser Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen, zum Beispiel Geld als ‚Wurzel allen Übels‘. Dem wird die bestehende, konkrete Seite dann als das ‚natürliche‘ oder ontologisch Menschliche, das vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft stehe, positiv entgegengestellt“ (62).

Die „Naturalisierung“ von Arbeit, die weiterhin unter Bedingungen kapitalistischer Eigentums- und Austauschverhältnisse verrichtet wird, fetischisiert Arbeit zu „konkreter“ Arbeit, die ebenso vom Doppelcharakter konkrete Arbeit/Wert schaffende Arbeit geprägt ist – und damit weiterhin dem kapitalistischen Entfremdungsmechanismus unterliegt. Die „romantische“ Revolte der FaschistInnen gegen die Abstraktheit und Universalität kapitalistischer Rationalisierungsprinzipien endet in der Vergötterung der „völkischen“ Industrie als Fortentwicklung des „ehrlichen Handwerks“, die von der Herrschaft des unorganischen, unvölkischen, abstrakten Finanzkapitals befreit werden müsse. Daher der scheinbare Widerspruch im Faschismus zwischen „Revolte gegen das Kapital“ und Begeisterung für nationale Industrie, Technik und den Futurismus.

„Der ‚antikapitalistische‘ Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktes stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude“ (63). Der Drang zur Abwehr der abstrakt-allgemeinen Zumutungen der kapitalistischen Akkumulation wird also durch die Naturalisierung, „Vermenschlichung“ sowohl der Gebrauchswertseite („der ehrlich arbeitende/n Deutsche/n“) als auch der „Konkretisierung“ der Wertseite in Form „des/r Juden/Jüdin“ scheinbar in eine Auseinandersetzung von gesellschaftlichen Gruppen verwandelt.

Warum nun die Juden und Jüdinnen? Hier spielen einerseits historische Gründe eine Rolle. Einerseits die schon im klassischen Antisemitismus vorhandene Identifikation von Judentum mit Geld und Zins tragendem Kapital. Andererseits, dass sich mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert parallel die „Judenemanzipation“ vollzog, die es Juden und Jüdinnen ermöglichte, in vielen Berufen aufzusteigen, in denen sie aufgrund der traditionell guten kommerziellen Ausbildung Chancen dazu nutzen konnten. In Verbund mit ihrer Integration speziell in den bürgerlichen Liberalismus mussten sie vor allem vielen kleinbürgerlichen „KonkurrentInnen“ als Verkörperung des sie überrollenden kapitalistischen Modernisierungsprozesses erscheinen.

Neben diesen historischen Gründen nennt Postone jedoch zwei Faktoren, die sich direkt aus den Fetischformen ergeben. Erstens ergibt sich aus der Form des Kapitalkreislaufes, dem Fetisch des Kapitals als sich selbst verwertendem Wert die allgemeine Ablösung des mechanischen Modells im bürgerlichen Denken durch das biologisch-organische Paradigma. Dieser Biologismus zeigt sich nicht nur in organischen Gesellschaftsmodellen, sondern auch in einer Tendenz zum Rassismus. Dazu passt die Biologisierung der Herrschaft des Abstrakt-Allgemeinen der Wertform in Gestalt einer Rasse, die parasitär von den natürlich, konkret-produktiven Rassen lebend, vampirartig sich an die Spitze der Nahrungskette gesetzt hat – und wie ein Schmarotzer mit allen Mitteln biologisch vernichtet werden müsse.

Zweitens erzeugt die Ableitung der bürgerlichen Staatsform aus dem Kapitalverhältnis die Dopplung des Menschen in den konkreten „bürgerlichen Menschen“, mit all seinen privaten Verhältnissen und Ungleichheiten, und den/die abstrakt-gleiche/n „StaatsbürgerIn“ – von denen alle den gleichen Rechten und Pflichten unterworfen sind, ganz gleich, „wo sie herkommen“. Diese Doppelung ist zugleich Ausdruck der Auflösung traditionaler, „gewachsener“ Gemeinschaften und ihrer kulturellen Eigenheiten. „In diesem Sinne erfüllten die Juden nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion. Sie waren deutsche oder französische Staatsbürger, aber keine richtigen Deutschen oder Franzosen. Sie gehörten abstrakt zur Nation, aber nur selten konkret“ (64). Damit wurden Juden und Jüdinnen zumeist direkt mit der Auflösung der „Blut-und-Boden“-Bestimmung des in der nationalen Mythologie konstruierten „Volksstammes“ in Verbindung gebracht.

Insgesamt stellt der Antisemitismus nach Postone eine besonders gefährliche Form des Fetisches dar. Er ermöglicht die Bündelung des Unbehagens an der abstrakt-allgemeinen Rationalität des Kapitalismus in eine verkürzte, personalisierende Kapitalismuskritik. Durch die Ablenkung des „Aufstandes gegen den Kapitalismus“ auf die „Befreiung der Menschheit“ vom „parasitären Weltjudentum“ mussten die Nazis den Krieg gegen das Judentum permanent machen. Daher war die antisemitische Aggression nicht nur für die Machteroberung wesentlich. Es wäre falsch, so Postone, die Nazis an der Macht nur als gewöhnlichen Bonapartismus zu analysieren. Mit dem „Röhm-Putsch“ haben die Nazis keineswegs aufgehört, den „völkischen Kampf“ fortzuführen. Ihre Machterhaltung war wesentlich verknüpft mit der beständigen Steigerung antisemitischer Mobilisierung bis hin zur systematischen Eliminierung. „Die Ausrottungslager waren demgegenüber [der industriellen Fabrik gegenüber] keine entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre groteske arische ‚antikapitalistische‘ Negation gesehen werden. Auschwitz war eine Fabrik zur ‚Vernichtung des Werts‘, das heißt zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten. Sie hatte die Organisation eines teuflischen industriellen Prozesses mit dem Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu ‚befreien‘“ (65).

Postones These vom Antisemitismus als Form des durch den Warenfetisch fehlgeleiteten Denkens hängt stark von der Identifikation der abstrakten Seite der Wertformen mit „dem Judentum“ ab. Die Wirksamkeit der von Marx beschriebenen Fetischformen liegt ja darin, dass wir im Alltag des Kapitalismus wie selbstverständlich erleben, dass wir uns dem scheinbaren Eigenleben von Preisen, Löhnen, Zinsen und anderen Erscheinungsformen des Wertes wie Naturerscheinungen gegenüber zu verhalten haben. Doch welche „alltägliche Einübung“ soll die Sachzwangartigkeit des Marktes als „jüdisches Prinzip“ erscheinen lassen? Sicherlich gab es Ende des 19. Jahrhunderts eine gewisse Zahl jüdischer Kaufleute und Bankiers – doch waren auch schon damals (vor allem aus Osteuropa kommend) das jüdische Proletariat und jüdische Unterschichten in der Mehrheit. Die Identifikation „des Judentums“ mit der Zirkulationssphäre ist real gesehen daher weiterhin eine ideologische Projektion, die sich nicht direkt aus der Fetischbildung erklären lässt. Auch wenn die Fetischtheorie die Tendenz zur Vergegenständlichung der Abstraktheit der kapitalistischen Rationalisierungsprinzipien in Form von Sündenbockgruppen jenseits seiner tatsächlichen NutznießerInnen hervorbringt – dass es gerade die Juden und Jüdinnen sind, die davon betroffen sind, ist keineswegs zwingend, sondern Resultat bestimmter historischer, ökonomischer, sozialer, psychologischer und politischer Bedingungen.

Eine gängige Verkürzung von Postones Antisemitismus-Analyse ist es, jede Form der Personalisierung in der Kapitalismuskritik als „strukturell antisemitisch“ zu entlarven. Auf Postones Artikel kann sich dies nicht stützen, da er ja zeigt, dass es sich beim Antisemitismus gerade um eine fehlgeleitete Auflösung der Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse handelt – nicht, dass hinter der Verschleierung gar keine personalen Verhältnisse stehen! Postone analysiert hier ja, dass die scheinbare „Konkretheit“ von produktiver Arbeit etc. abgetrennt wird von der abstrakten Seite der Wertform, um scheinbar die Herrschaft des Werts zu überwinden. In der „Kritik der personalisierten Kapitalismuskritik“ wird jedoch zumeist übersehen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus nicht nur aus der Herrschaft der abstrakten Wertform bestehen. Das Kapital als Wertform ist als „Abstraktes“ nur auf der Ebene des „Kapitals im Allgemeinen“ festzustellen (wie es Marx im ersten Band des „Kapitals“ analysiert). Es kann natürlich nicht als Allgemeines konkret einzeln auftreten, sondern muss sich in besonderen Formen des Zirkulations- und (Re-)Produktionsprozesses verwirklichen. Damit nimmt es als Einzelnes die Gestalt von Industrie-, Handels-, Finanzkapital etc. an und verteilt – über die Konkurrenz vermittelt – den vom Kapital im Allgemeinen angeeigneten Mehrwert als Revenue für die KapitaleignerInnen (Ausgleichung der Durchschnittsprofitrate, Bildung der Zinsrate etc.). Also ist der Kapitalismus nicht einfach ein abstrakter Kapitalverwertungsprozess des „Kapitals an sich“, sondern funktioniert als Ausbeutungsprozess im Interesse der PrivateigentümerInnen an Produktionsmitteln – egal welcher Nationalität oder kulturellen Gruppe diese angehören mögen. Der „sich selbstverwertende Wert“ ist daher Grundlage für die Bildung eines Klassenverhältnisses, das durch die Fetischformen zugleich verschleiert wird. Während der Gesamtprozess die ProduzentInnen dazu zwingt, sich jenseits aller beruflichen und ethnischen Zugehörigkeiten – wie es Marx sagte – sich immer nüchterner, nackt als Ausgebeutete oder AusbeuterInnen zu sehen, so erzeugen die Fetischformen die Illusion von einer „natürlichen“ Gesetzmäßigkeit, nach der jede/r, der/die sich nur anstrengt, im Kapitalismus bekommt, was ihm/ihr zusteht. Die offensichtliche Falschheit von letzterem und das Zurückschrecken vor der nackten Tatsache der Entfremdung führt zur hasserfüllten Projektion des Grundproblems auf geeignete „äußere“ FeindInnen.

Was Postones Antisemitismustheorie fehlt, ist dieser Bezug auf die Klassenfrage. Marx sah den Kapitalismus neben dem Wert/Gebrauchswert-Widerspruch grundlegend durch den Klassenwiderspruch von Kapital und Lohnarbeit gekennzeichnet. Die beiden Widersprüche durchdringen sich an der Stelle des Konflikts zwischen Lohnarbeit und Kapital, bei dem die Wertbestimmungen um Arbeitszeit und Wertbestimmung der Ware Arbeitskraft notwendig in eine Antinomie, in Klassenkampf münden müssen. Der Klassenwiderspruch tritt danach an vielen Stellen der Herausbildung der Kapitalformen (bis hin zur Ebene des Staates) in immer neuen Formen auf. Zusätzlich ist der Klassenwiderspruch sowohl mit Entstehung als auch mit Überwindung des Kapitalismus verbunden durch den grundlegenden Widerspruch von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen. D. h. der Klassenstandpunkt des Proletariats ermöglicht eben auch eine Überwindung der Verdinglichungsformen des Wertes durch die unmittelbare Vergesellschaftung der Beziehung von Produktion und Verteilung – also das Übergehen in eine neue, sozialistische Produktionsweise.

Die Zielsetzung der Enteignung der EigentümerInnen an den Produktionsmitteln ist fern von einem Trieb zur biologischen Ausrottung von „parasitären Klassen“. Welche Repressionsmittel eine sozialistische Revolution gegen die bisher herrschenden Klassen einzusetzen hätte, ist Sache der selbstorganisierten VerteidigerInnen der zu erkämpfenden demokratischen Vergesellschaftung.

Die Loslösung von der Klassenfrage verunmöglicht es Postone gerade, die klassenspezifischen Momente des Antisemitismus zu erfassen. Bei ihm ist aufgrund des Fetischcharakters eigentlich jede/r (sogar „selbsthassende“ Juden/Jüdinnen) im entwickelten Kapitalismus anfällig für eliminatorischen Antisemitismus (dies wird von vielen „Antideutschen“ ja auch so verstanden). Tatsächlich war der radikale politische Antisemitismus bis in die späten 1920er Jahre eine stark auf bestimmte (klein-)bürgerliche Schichten beschränkte Erscheinung. Erst die Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung, ihre beständigen Kapitulationen, führten dazu, dass den Nazis auch ein Einbruch in demoralisierte Schichten des Proletariats gelang. Offenbar ist die Entwicklung des Klassenkampfes (in welcher Form auch immer), neben der ökonomischen und politischen Gesamtdynamik, sehr wohl entscheidend dafür, ob die falsche antikapitalistische Rebellion in der Form des radikalen Antisemitismus größere Anhängerschaft gewinnen kann oder nicht.

Losgelöst von der Klassenfrage muss also die Fetisch-Theorie des Antisemitismus zu einer ständigen Suche nach strukturellem Antisemitismus bei antikapitalistischen oder ökologischen („Biologismus!“) Bewegungen führen. Die Aufdeckung verkürzter Kapitalismuskritik, von Naturalismus oder biologistischen Ausdrücken wird zur Hauptbeschäftigung im „Kampf gegen jeden Antisemitismus“. Schließlich muss auch Postones Unvermeidlichkeit des Antisemitismus und der Einmaligkeit des Judentums als Personifikation verkürzter Kapitalismuskritik bezweifelt werden. Schon der italienische Faschismus zeigt, dass dort der Antisemitismus keine zentrale Rolle gespielt hat (ohne die Verfolgung von Juden und Jüdinnen als Pflichterfüllung gegenüber dem deutschen Bündnispartner dort kleinzureden). Offenbar ist das Element der Niederschlagung der revolutionären ArbeiterInnenbewegung der roten Jahre viel wesentlicher gewesen, aus denen der italienische Faschismus viel unmittelbarer hervorgegangen ist als der deutsche Faschismus (der zehn Jahre nach der letzten ernsthaften revolutionären Herausforderung an die Macht kam). Andererseits fehlt bei Postone ja auch das Element der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus: Für den italienischen Faschismus stand die Eroberung von Kolonien und der damit verbundene Rassismus viel mehr im Zentrum der Ideologie als der Antisemitismus. Die Hauptfunktionen des Faschismus bleiben, dass er unter Umständen für das Kapital eine notwendige Waffe zur Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung ist sowie zur nationalistisch-rassistischen Mobilisierung gegen „äußere FeindInnen“. Ob dabei der Antisemitismus oder eine andere Form des Rassismus zur Machteroberung und -erhaltung notwendig sind, hängt von den Umständen ab. Die von Postone beschriebene Fetischform kann bestimmte pseudo-antikapitalistische Züge des eliminatorischen Antisemitismus erklären. Eine allgemeine Theorie des Zusammenhangs von Antisemitismus und Faschismus wird damit aber nicht geliefert.

Die Ausläufer der Fetisch-Theorie sind in der deutschen Linken (nicht nur den „wertkritischen“ Anti-Deutschen) weithin bemerkbar. Exemplarisch sei hier die Jugendorganisation der Partei DIE LINKE angeführt. „[‘solid]“ hat in einer Resolution „Gegen jeden Antisemitismus“ auf ihrem Bundeskongress 2015 folgende „Definition“ des Antisemitismus niedergelegt: „Ein kritisches Verständnis von Antisemitismus geht in seiner Analyse nicht vom Objekt, sondern von der_dem Antisemit_in aus, welche_r die abstrakten Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft auf das Judentum projiziert. Antisemitismus richtet sich gegen ein überlegen und kontrollierend imaginiertes ‚jüdisches Prinzip‘, das die Ursache allen Übels darstellt. In der postnazistischen Gesellschaft tritt Antisemitismus häufig nicht mehr offen in der Verurteilung von Jüd_innen auf, dennoch ist er als Denkstruktur weiter vorhanden.“  (66)

Hier wird die Fetisch-Theorie (Personalisierung der abstrakten Seite der Wertform) verabsolutiert – alle Formen des Antisemitismus werden auf ein „Wesen“ zurückgeführt, es gibt keine unterschiedlichen Formen von Antijudaismus und Antisemitismus, es gibt keine historischen oder gar klassenspezifischen Bedingungen seiner Entstehung mehr – er wird rein essentialistisch auf den Fetisch zurückgeführt. Dies führt nicht nur zu einer großen Beliebigkeit und „Flexibilität“ des Antisemitismus-Vorwurfs – auch solche Phänomene wie der „Bayern-Hass“ von Nicht-FC-Bayern-Fußballfans in Deutschland kann als „struktureller Antisemitismus“ analysiert werden (so tatsächlich vom Bundesarbeitskreis [BAK] Shalom). Es abstrahiert tatsächlich damit auch von den Opfern, da die Personifizierung des Fetischs ja nicht unbedingt im Judentum erfolgen muss. Dieser verkürzte Antisemitismusbegriff ist dazu geeignet, selbst in projektiver Regression die Welt in Gut/Böse nach dem Prinzip der Entlarvung von strukturellem Antisemitismus zu teilen und alle Schuldgefühle über einmal selbst vertretene allzu „personalisierte Kapitalismuskritik“ auf politische GegnerInnen zu projizieren.

Bezeichnend an der Definition von „[‘solid]“ an der oben zitierten Stelle ist auch, dass gleich im nächsten Satz folgt, dass sich der zeitgenössische Antisemitismus vor allem in der diffamierenden Kritik an Israel äußere – eine Behauptung, die nur sehr schwer aus dem zuvor definierten Fetisch-Begriff ableiten lässt. Oder kann jemand darlegen, wie sich in der Wirkungsweise der Waffen der IDF ein „abstrakt jüdisches Prinzip“ äußern sollte? Der Schluss ist nur logisch, wenn „das Judentum“ mit Israel identifiziert wird – eine Identifikation, die gewöhnlich den AntisemitInnen vorgeworfen wird. Deutlich wird daran, dass es wenig um die tatsächlich z. B. in Deutschland real lebenden Juden und Jüdinnen oder das reale Israel und seine konkrete Politik geht – dass – wie Moshe Zuckermann (67) richtig bemerkt – Judentum und Israel hier vor allem Projektionsflächen dieser angeblichen Anti-AntisemitInnen sind, die zur Denunzierung von AntikapitalistInnen und AntiimperialistInnen dienen. Gerade für reformistische Jugendorganisationen hat sich diese Form der „Kritik von Kapitalismuskritik“ und angeblichem Anti-Antisemitismus als sehr wirkungsvoll erwiesen, um jegliche Linksabweichung und jeden Antiimperialismus moralisch zu verwerfen.

5 Antisemitismus und Rassismus

Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft insbesondere im Kolonialismus wurde es ideologisch fragwürdig, Menschen anderer Herkunft und Kulturen aufgrund religiöser Begründungen zu diskriminieren, zu unterjochen oder zu verfolgen. Ähnlich wie bei den Unterschieden der Geschlechter nicht mehr auf gottgegebene Hierarchien verwiesen werden konnte, wurde nun auch bei ethnischen „Bewertungen“ nach Rechtfertigungen in der Biologie gesucht. Im 18. Jahrhundert wurde noch nach sehr oberflächlichen äußeren Kriterien (Hautfarbe, Gesichtsformen, …) in „schwarze“, „weiße“ und „gelbe“ Rassen unterschieden. Teilweise wurden noch biblische Mythen herangezogen: So solle sich ja die Menschheit nach Noahs Söhnen in die SemitInnen (Kinder des Sem), HamitInnen (AfrikanerInnen) und JaphetitInnen (mehr oder weniger alle übrigen) geteilt haben. Während diverse „hamitische“ Rassentheorien inzwischen längst das Zeitliche gesegnet haben, überlebten die „semitischen Rassen“ ziemlich lange (heute jedenfalls noch im Begriff des „Antisemitismus“; Bemerkung: Die Argumentation, die AraberInnen seien doch auch SemitInnen, bringt nicht viel, weil dies natürlich bereits eine Rassentheorie voraussetzt).

5.1 Der biologistische Rassenbegriff

Mit der Entwicklung biologischer Theorien der Arten, spätestens mit Linné, setzte auch die Biologisierung des Rassenbegriffs ein. Nachdem die Sklaverei und die millionenfache Entmenschlichung schwarzer Menschen offensichtlich der Rechtfertigung durch „christliche“ oder moralisch höherwertige „Herrenmenschen“ bedurften, war es naheliegend, dass sich Theorien der „minderwertig“ entwickelten Rassen durchsetzten – dies noch verstärkt durch die Fortschritte im tierischen Zuchtwesen und den biologischen Vererbungslehren. Mit den Erfolgen der europäischen Kolonialreiche entstand in den herrschenden Klassen die Überzeugung, dass die „weiße Rasse“ zur Dominanz über alle anderen bestimmt sei und alle anderen Rassen untergeordnet oder möglicherweise zum Verschwinden bestimmt seien.

Um diese Mentalität mit einem Schlaglicht zu beleuchten, sei hier ein Zitat von einem eigentlich „fortschrittlichen“ britischen Autor angeführt, Herbert George Wells (Autor berühmter Bücher wie „Zeitmaschine“, „Krieg der Welten“), der Mitglied der Labour-Party war, sich als Sozialist sah und sogar der Russischen Revolution mit Sympathie gegenüberstand. Trotzdem lesen wir in seiner Schrift „Anticipations“ (1902) über seine Vision einer zukünftigen Welt („Zukunftsrepublik“): „Und wie wird die neue Republik die minderwertigen Rassen behandeln? Wie wird sie mit den Schwarzen umgehen?… Mit dem gelben Manne?… Mit dem Juden? Mit jenen Horden schwarzer, brauner, schmutzigweißer und gelber Menschen, die der neuen Notwendigkeit der Effizienz nicht Rechnung tragen? Nun, die Welt ist eine Welt und keine karitative Einrichtung, und ich gehe davon aus, dass sie verschwinden werden… Und die Methode, deren sich die Natur bisher bei der Gestaltung der Welt bedient hat, so dass Schwäche daran gehindert wurde, wieder Schwäche hervorzubringen … ist der Tod…. Wenn die Minderwertigkeit einer Rasse demonstriert werden kann, dann gibt es nur eines … zu tun – und das ist, sie auszurotten“ (68).

H. G. Wells ging davon aus, dass sich die Menschheit, um zu überleben, genetisch dem technischen Fortschritt anpassen müsse und dass daher die „minderwertigen Rassen“ wegen ihrer geringeren Rationalität die Existenz der Menschheit gefährden würden: Sozialdarwinismus mit „humanistischer“ Begründung! Tatsächlich finden sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch viel schlimmere Schriften über die Notwendigkeit der „Rassenauslese“. Politisch einflussreich geworden ist davon vor allem Gobineaus Buch „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ (69), das vor allem in der Mischung von Rassen die Ursache für den Niedergang bestimmter Völker oder Reiche sah. Houston Stewart Chamberlains „Werk“ über die Notwendigkeit der „Reinerhaltung der arischen Rasse“ und ihren notwendigen Kampf um die Weltherrschaft gegen „das Judentum“ ist stark von Gobineau beeinflusst und wurde zur Grundlage der „Rassentheorie“ im Entstehungsumfeld des Nationalsozialismus (besonders in „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“) (70). Direkt an Chamberlain schließt Hitlers „Chefideologe“ Alfred Rosenberg an, der im „Mythos des 20. Jahrhunderts“ (71) alle bekannten Mythen über „die Juden/Jüdinnen“ und ihre „Weltverschwörung“ (in die er insbesondere die Russische Revolution als wesentlichen Erfolg des „Weltjudentums“ einbezieht) mit den Theorien des Rassenkriegs von Gobineau und Chamberlain zusammenfasst. Als „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“ und Beteiligter an der Wannseekonferenz war Rosenberg nicht nur Theoretiker, sondern Praktiker der „Ausrottung minderwertiger Rassen“.

Mit Auschwitz hat der Rassismus aber lange nicht ausgedient. Auch wenn der Begriff der „Rasse“ danach immer fragwürdiger wurde, ist die Betonung der „Differenz“ (an welchen Merkmalen auch immer festgemacht) zwischen „zivilisierten“ Ethnien und den „anderen“ weiterhin strukturell dieselbe wie damals, als ein H. G.Wells noch wie selbstverständlich von „minderwertigen Rassen“ sprach.

5.2 Die Rassentheorie ist ohne naturwissenschaftliche Grundlage!

Inzwischen ist zumindest naturwissenschaftlich klar, dass der Begriffe der „Rasse“ im humangenetischen Sinn kein relevantes Konzept darstellt. In der Biologie sieht man biologische Arten als solche an, deren Mitglieder sich problemlos kreuzen und dies in „freier Wildbahn“ auch tun. Insofern gibt es natürlich seit Tausenden von Jahren nur eine noch lebende („rezente“) menschliche Art der Gattung Homo – also den homo sapiens. Von „Rassen“ spricht die Biologie, wenn sich innerhalb einer Art Differenzen ergeben, die auf dem Sprung zu einer neuen Art sind. Seit den großen Fortschritten der Humangenetik weiß man, dass die Menschheit ungeheuer weit von einer solchen Entwicklung entfernt ist. Wie Richard Dawkins in seiner Einführung in die Evolutionsbiologie schreibt: „Wenn man Proteinmoleküle aus dem Blut vergleicht oder die Gene selbst sequenziert, findet man zwischen zwei beliebigen Menschen, die heute leben, weniger Unterschiede als zwischen zwei afrikanischen Schimpansen“ (72). Zwischen zwei beliebigen Menschen findet sich eine genetische Übereinstimmung von etwa 99,5 %. In dem kleinen Bereich der Differenzen, in denen sich regionale Unterschiede durch mutierte Gene finden lassen, ergibt sich auch nur eine Varianz von 6–15 % – viel zu wenig, um im Sinn der Biologie von einer Rasse als Vorstufe zur Spezies-Differenzierung zu sprechen. Außerdem finden sich die Unterschiede in unwesentlichen, zufälligen Bereichen, die keine dominante oder rezente Wirkung entfalten (selbst Theorien davon, welche Hautfarbe letztlich sich bei der Menschheit durchsetzen würde, sind humangenetisch gesehen fragwürdig). Aufgrund der für eine Art ungewöhnlich großen Verbreitung der Spezies homo sapiens sind solche äußerlichen Unterschiede (z. B. in Bezug auf die Hautfarbe aufgrund der Umweltbedingungen) zu erwarten. Schließlich sind Elemente der kulturellen Wirkung (Theorie der „sexuellen Selektion“, z. B. aufgrund der Durchsetzung bestimmter Schönheitsideale) in Bezug auf äußerliche Merkmale (z. B. Haarfarbe) auch am Werk.

Die überraschende Einheitlichkeit der Menschheit (z. B. auch im Vergleich zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen) lässt sich nach der heute gängigen Theorie dadurch erklären, dass der homo sapiens vor rund 70.000 Jahren knapp vor dem Aussterben stand (die genetischen Indizien dafür sind ziemlich unzweifelhaft, nur für die Erklärung gibt es unterschiedliche Hypothesen, z. B. Klimaveränderungen durch Vulkanausbrüche). Die Menschheit war auf circa 15.000 Exemplare in einem eingrenzbaren geographischen Raum zusammengeschrumpft („Flaschenhals“-Theorie). Eine Entwicklung von genetisch wesentlich unterschiedlichen Rassen in einer evolutionsbiologisch gesehen verschwindend kleinen Zeit wie 70.000 Jahren ist völlig ausgeschlossen. Schließlich führt auch die immer globalere Vermischung der Menschheit dazu, dass auch für die lange Zeit (anders als in gewissen Science-Fiction-Filmen) zumindest auf „natürliche“ Weise nicht mit dem Erscheinen von neuen Mutantenrassen zu rechnen ist.

5.3 Unsinnige Versuche einer genetischen Begründung des Judentums

Ausgerechnet in Israel ist es heute üblich geworden, mit Hilfe der Genanalyse „beweisen“ zu wollen, dass alle Juden und Jüdinnen eine/n „letzte/n gemeinsame/n VorfahrIn“ im heutigen Israel/Palästina gehabt hätten, also Israel das Land „der VorfahrInnen“, die „Heimat aller Juden und Jüdinnen“ sei. Die oben besprochene immer ausufernder werdende Identitätspolitik in Israel hat inzwischen alle möglichen Wissenschaftsgebiete, vor allem aber Archäologie und Genetik, in Beschlag genommen, um die „revisionistischen“ LeugnerInnen der „Wahrheit“ der Bibel zu widerlegen. Für Ausgrabungen um den Tempelberg werden schon mal arabische Unruhen als Kollateralschaden provoziert, wenn nur kleine Bruchstücke gefunden werden, die angeblich unwiderleglich beweisen, dass es den ersten oder Salomonischen Tempel gegeben habe (man erinnere sich an die absurden Kontroversen um die Frage der Realität Trojas der homerischen Epen in Beziehung zu den Ausgrabungen Schliemanns).

In eine ähnliche Kerbe schlagen die „Beweise“ auf Grundlage von Genanalysen, nach denen so gut wie alle heute lebenden Juden und Jüdinnen aus dem Gebiet von Palästina stammen sollen. Dies richtet sich vor allem gegen die These von der missionarischen Diaspora vor dem Bar-Kochba-Aufstand bzw. die These, dass ein großer Teil der Aschkenasim als osteuropäische Juden und Jüdinnen eigentlich von konvertierten ChasarInnen abstamme (wie in Fußnoten 11 und 13 erwähnt, bestand im 9./10. Jahrhundert zwischen Wolga und Kaukasus kurzfristig ein jüdisches Königreich). 2002 veröffentlichte das „American Journal of Human Genetics“ eine Studie (73) der Universität London, in der aus Vergleichen von heute lebenden aschkenasischen Juden und Jüdinnen mit Vergleichsgruppen in den entsprechenden Regionen geschlossen wurde, dass die Aschkenasim zu 90 % aus dem Nahen Osten stammen würden. Es folgten weitere Studien insbesondere aus Israel, die weiter die Nachricht verbreiteten, dass die ChasarInnen-Theorie endgültig „naturwissenschaftlich“ widerlegt sei. Dies wird so auch allgemein in der Literatur verbreitet. Allerdings kam 2013 wiederum eine sehr breit angelegte Studie der „John Hopkins School of Medicine“ heraus, die genau das Gegenteil „bewies“: dass nämlich die kaukasischen Genmarker bei den Aschkenasim leicht dominant wären (74). Wie auch immer der wissenschaftliche Wert dieser sich widersprechenden Studien zu bewerten ist – sicher ist, dass man äußerst genau hinsehen sollte, was die Genetik tatsächlich über die „Herkunft“ bestimmter Menschen und Völker aussagen kann. Auch hier sei wieder auf die sehr eingehende Kritik von Fehlinterpretationen der Genmarker-Genealogie durch Richard Dawkins hingewiesen (75):

Ausgangspunkt ist, dass ein Gen im Unterschied zum Menschen immer nur ein „Eltern“-Gen hat, das zufällig vom Vater oder der Mutter „kopiert“ wurde. Ausnahmsweise werden Gene des Y-Chromosoms und solche der Mitochondrien-DNA (mtDNA) nur vom Vater bzw. nur von der Mutter vererbt. Dabei bleiben bestimmte Gruppen von Allelen gegenüber sexueller Rekombination so stabil, dass sie als Gruppe über lange Zeit in der Vererbung zusammenbleiben. So eine Gruppe nennt man einen Haplotyp. Auf dem Y-Chromosom und der mtDNA hat man nun bestimmte Stellen identifiziert, an denen sich mithilfe der Haplotypen ein jeweils weit zurück reichender Stammbaum erkennen lässt (76). D. h. es gibt Verzweigungspunkte, bei denen durch Mutation sich ein Haptlotyp in zwei oder mehr andere aufgeteilt hat. So hat sich der im Nahen Osten weit verbreitete J-Typ (Y-Chromosom) etwa vor 20.000 Jahren vom in Europa verbreiteten I-Typ verzweigt. Wichtig ist, dass diese Haplotypen völlig unwichtig in Bezug auf irgendwelche relevanten menschlichen Eigenschaften sind – sie sind reine genetische Marker, über die gewisse Verwandtschaftsbeziehungen ableitbar sind. Tatsächlich ist es so, dass es messbare unterschiedliche Häufigkeitsverteilungen für sehr großflächige Regionen gibt – gleichzeitig gibt es überall aber auch eine Durchmischung der Haplotypen. So ist im Nahen Osten mit fast 50 % der J-Typ zwar dominant, es gibt aber genauso den I- und R-Typ (die für Europa dominierenden Typen). Umgekehrt ist in Mittel- und West-Europa der J-Typ auch signifikant anzutreffen, in Spanien sogar zu 20 %.

Eine genaue Herkunft eines Menschen wird sich daher aufgrund des Haplotyps kaum beweisen lassen. Es ist wahrscheinlich, dass man bei einem heute lebenden jüdischen Menschen einen Haplotyp finden wird, der darauf hindeutet, dass er in den letzten 2.000 bis 10.000 Jahren einen männlichen Vorfahren im Nahen Osten oder im Mittelmeerraum hatte. Wenn man irgendein anderes Gen als diese Gruppe aus dem Y-Chromosom nehmen würde, würde man aber sicher auch einen Vorfahren in irgendeiner ganz anderen Region der Welt finden (mtDNA liefert aufgrund anderer Mutationsraten sogar nur für viel längere Zeiträume sinnvolle Aussagen über die weiblichen Vorfahren). Die Aussagekraft solcher Untersuchungen ist also eher sehr bescheiden. Es lassen sich höchstens grobe Wahrscheinlichkeitsaussagen über Wanderungsbewegungen von Großgruppen über längere Zeiträume anstellen, sofern man dies durch andere Belege (z. B. Archäologie) untermauern kann. Das Einzige, was diese Analysen über die regionalen Verbreitungen von Haplotypen klar zeigt, ist, dass sich im Raum Europa/Naher Osten/Mittelmeer in den letzten 10.000 bis 2.000 Jahren die Völker in großem Umfang „durchmischt“ haben. Die Vorstellung von sich klar von anderen abgrenzenden und nicht gemischt haltenden Familien-/Stammes-Verbänden, die als Einheit an „ihrer“ Scholle hafteten, ist eine Gobineau‘sche Absurdität, die durch diese Belege endgültig auf den Misthaufen der ideologischen Geschichtsauffassungen gehört. Insofern setzt der Versuch israelischer HistorikerInnen/GenetikerInnen, einen für Juden und Jüdinnen typschen Haplotyp (zumeist J1) als Marker zu verwenden, schon voraus, was bewiesen werden soll: dass das „jüdische Volk“ seit Tausenden Jahren als „unvermischte“ und abgeschlossene Einheit bestanden habe und die heutige Mischung von Haplotypen im Nahen Osten eine Entwicklung erst der letzten 2.000 Jahre sei. Auch die ChasarInnen-Theorie lässt sich so weder beweisen noch widerlegen: Einerseits finden sich Haplotypen, die im Nahen Osten vertreten sind, auch im ursprünglichen Siedlungsgebiet der ChasarInnen; andererseits weiß niemand genau, wer die heutigen Nachkommen der ChasarInnen genau sind, mit denen verglichen werden sollte (und z. B. im Kaukasus ist der Haplotyp J auch stark verbreitet).

Wenn daher Firmen wie iGENA heute Gentests für den Beweis jüdischer Abstammung um 99 Euro anbieten, so kann man das nur unter Geschäft mit der Dummheit abbuchen. Angesichts der Geschichte des Rassismus gegenüber Juden und Jüdinnen ist es allerdings makaber, wenn sich heute israelische Institutionen ernsthaft damit beschäftigen, gentechnische Beweise für die Herkunft aller Juden und Jüdinnen aus dem „Heiligen Land“ zu finden – und wohl am liebsten noch den Haplotyp finden würden, der Juden und Jüdinnen von den PalästinenserInnen unterscheidet (was, wie oben dargestellt wurde, so gut wie unmöglich ist). David Ben Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, vertrat noch in den 1920er Jahren die These, dass ein Großteil der damals in Palästina lebenden AraberInnen wohl von den Juden und Jüdinnen abstamme, die nach der Zerstörung des Tempels im Land geblieben sind (77). Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit, gemeinsame Vorfahren von Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen in dem einzig belegten jüdischen Gemeinwesen um die Zeitenwende zu finden, sehr viel größer als für alle möglichen anderen Völker. Mithilfe der Genetik wird sich jedenfalls keine Begründung für Rassismus zwischen den Völkern finden lassen.

5.4 Der Rassismusbegriff nach dem Ende des Rasse-Biologismus

Der Begriff der „Rasse“ ist also nicht nur diskreditiert, sondern auch wissenschaftlich wertlos (was nicht heißt, dass dieser Begriff nicht weiterhin pseudo-wissenschaftliche fröhliche Urstände feiert). Dagegen ist der Begriff des „Rassismus“ weiterhin vollauf berechtigt. Denn auch wenn dem Rassismus seine pseudo-wissenschaftliche Begründung, ja sogar sein zentraler Kampfbegriff abhandengekommen ist, bleibt das soziale Verhalten gegenüber ausgegrenzten Ethnien dasselbe. Wenn man nicht mehr genetische Abstammung für die „Minderwertigkeit“ verantwortlich machen kann, dann sind es eben die „fremde Kultur“, „Mentalität“, „Geschichte“ etc. Der zeitgenössische „Rassismus“ ist einer der „kulturellen Differenz“. Zwangsläufig wird mit dem Verlust des zentralen Begründungszusammenhangs der „Rasse“ und angesichts der Vielfalt an „fremden“ Kulturen (auch aufgrund der globalen Mobilität), die jetzt dem Rassismus anheimfallen, das Phänomen immer zersplitterter. Deswegen gibt es eine Diskussion darüber, ob man nicht eigentlich von „Rassismen“ statt einem „Rassismus“ sprechen könne oder ob angesichts dessen der Begriff überhaupt noch sinnvoll sei. Tatsächlich wirkt aber noch der alte Mechanismus: Immer noch werden bestimmte fremdartige, „rückständige“ Merkmale („Muslime folgen doch einer mittelalterlichen Religion, behandeln ihre Frauen schlecht, sind antisemitisch, sind grausam,…“) aufgrund einer als nahezu unveränderlich angesehen „Kultur“ festgeschrieben und dadurch naturalisiert und so eigentlich auch wieder pseudo-biologisch als vererbt betrachtet.

5.4.1 Der postkoloniale Diskurs

Besonders die „cultural studies“ und die „postkoloniale Theorie“ haben auf das Weiterbestehen des Rasse-Diskurses, auch nach der Widerlegung eines naturwissenschaftlichen Begründungszusammenhangs des Rasse-Begriffs, hingewiesen. Genannt sei hier vor allem der aus Jamaika stammende schwarze Kulturphilosoph Stuart Hall, der für beide Theoriestränge eine zentrale Person ist. Eine zusammenfassende Darstellung seiner Rassismus-Theorie hat er in der Harvard-Vorlesungsreihe „Das verhängnisvolle Dreieck: Rasse, Ethnie, Nation“ (78) publiziert.

Stuart Hall gehörte mit Eric Hobsbawm (79) zu den dominierenden Publizisten des britischen Eurokommunismus, besonders durch beider Beiträge in „Marxism Today“ Ende der 1970er Jahre bis 1991, das auch starken Einfluss auf die Debatten in der Labour-Party hatte. Entwickelt wurde dort die auch auf dem Kontinent verbreitete Revision des Marxismus, die die „Klassenpolitik“ im Wesentlichen durch eine an Gramsci orientierte Hegemonie-Kritik ersetzte, heute vertreten im Ansatz der „Netzwerklinken“. Hall und Hobsbawm gingen von einer radikalen Veränderung des Kapitalismus hin zum „Post-Fordismus“ aus, durch den sich die klassischen Großkonflikte des Klassenkampfes in eine Vielzahl von fraktalen Auseinandersetzungen aufgelöst hätten, in denen sich Grundwidersprüche des Kapitalismus widerspiegelten. Ähnlich wie beim strukturalistischen „Marxismus“ von Althusser sahen sie die „Identitäten“ der dabei um Hegemonie kämpfenden Milieus nur „im Letzten“ durch die ökonomische Basis determiniert. Stuart Hall blieb jedoch trotz seines Abgleitens in die Diskurs-Theorien von Foucault und Laclau (80) bei der Betonung des Klassencharakters solcher Identitätsbegriffe wie „Nation“ (im Unterschied zu Laclau betrachtet Hall diesen Begriff nicht „neutral“, d. h. von links und rechts besetzbar) (81).

Auch wenn wir also den Ausgangspunkt von Stuart Hall nicht teilen (die Kritik an den eurokommunistischen und an Gramsci orientierten Revisionen des Marxismus haben wir andernorts (82) ausführlich dargestellt), so sind Halls Beiträge zum Thema Rassismus doch wichtige Angelpunkte der zeitgenössischen Debatte zu diesem Thema. Schon Anfang der 1970er Jahre hatte Hall mit anderen Autoren des „New Left Review“ das einflussreiche Buch „Policing the Crisis“ über die neue Bedeutung des Rassismus für die Popularisierung des Neoliberalismus geschrieben (83). Darin führte er aus, wie Panikmache um die „wachsende Kriminalität“ von angeblichen „schwarzen Jugendbanden“ zu einem Aufschaukeln von Boulevardpresse und populistischer Law-and-Order-Politik dienten. Hall lehnte dabei jedoch den einfachen verschwörungstheoretischen Ansatz einer gezielten Kampagne oder eines Kurzschlusses von „Geldmacht und Presse“ ab. Er betonte stattdessen, dass sich bei diesen Pressekampagnen tiefere gesellschaftliche Strukturen zeigten, die einen rassistischen „Common Sense“ darstellten, einen ritualisierten Diskurs, der wesentlich sei für die Identitätsversicherung der „Mehrheitsgesellschaft“, gerade in Zeiten der Krisenhaftigkeit dieser Identität. Die Abgrenzung gegenüber den „gefährlichen Schwarzen“ diene zur Versicherung des angeblich gemeinsamen „Common Sense“ der weißen BritInnen und zur Abwehr einer möglichen alternativen Klassensolidarität unter den Unterklassen, die diesen gemeinsamen britischen „Common Sense“ im Interesse der neoliberalen Krisenpolitik hätte gefährden können. Umgekehrt seien damit schwarze Jugendliche in die Rolle einer radikalen Ersatz-Avantgarde gebracht worden, die ihrem politischen Bewusstsein kaum entsprach. Im Ergebnis habe sich möglicher Klassenkampf in die ritualisierte Konfrontation der Mehrheits-„Kultur“ mit verschiedenen sich abspaltenden mehr oder weniger widerständigen „Sub-Kulturen“ gewandelt.

Diese Bedeutung einer neuen gesellschaftlichen Konstellation von „Rassenkonflikten“ entwickelt Hall auch in seinem Harvard-Vortrag weiter. Hall geht davon aus, dass der Begriff „Rasse“ zwar diskreditiert sein möge, aber die dahinter stehende Kategorienbildungen – „die Schwarzen“, „die MuslimInnen“, „die Juden und Jüdinnen“,… weiterhin in allen möglichen politischen Diskursen aktiv sind oder sich immer wieder regenerieren. Auch wenn es nicht mehr „politisch korrekt“ ist, unmittelbar von körperlichen Eigenschaften wie Hautfarbe, Haarformen, Nasenformen usw. auf kulturelle, moralische, intellektuelle etc. Verhaltensweisen zu schließen, würde diese „Colour Line“ virtuell durchaus weiterbestehen (der Begriff der „Colour Line“ (84) wurde von dem afro-amerikanischen Soziologen William Edward Burghardt (W. E. B.) Du Bois um 1900 geprägt, um die Hierarchisierung der US-Gesellschaft nach bestimmten ethnischen und rassistischen Kriterien zu beschreiben). Hinter den „kulturellen Differenzen“ scheine weiterhin die „biologische Spur“ durch. Hall spricht von Äquivalenzketten (85), die letztlich die äußerlichen Merkmale mit der vermuteten Tiefenstruktur verbänden. Diese Tiefenstruktur zeige sich in der weiterbestehenden fundamentalen Annahme substantieller, „essentieller“, nicht-auflösbarer Unterschiede zwischen Menschenkategorien, eben dem verhängnisvollen Gespann von „Rasse, Ethnie, Nation“.

Er verweist hier auf die ersten Diskurse zum Rassebegriff zu Beginn der euro-imperialistischen Expansion, als TheologInnen angesichts der „UreinwohnerInnen“ in den neu entdeckten Gebieten diskutierten, ob es sich um Menschen, Ergebnisse einer untergeordneten Schöpfung etc. handele. Die Aufklärung, mit der Ablösung religiöser Begründungen der essentiellen Differenz, habe dann dieses selbe Bedürfnis durch den „wissenschaftlichen“ Begriff der Rasse ersetzt. Hall charakterisiert diesen Zug der „Aufklärung“ zu Recht mit folgender Episode: Als die RevolutionärInnen der Sklavenrepublik Haiti gegenüber der Französischen Republik für sich die Erklärung der Menschenrechte einforderten, reagierte die Nationalversammlung aus Paris mit der Bemerkung, dass diese Erklärung leider nur für „zivilisierte Völker“ gelte. Dies trifft den Kern des arroganten Universalismus-Anspruches der „westlichen Werte“, der allgemein und über alle Kulturen gestülpten Menschheitsprinzipien, dass nämlich mit „Menschen“ nur die Menschen im globalen „Westen“ gemeint sind. Der Kern des Rasse-Diskurses ist tatsächlich weiterhin die Aufrechterhaltung einer globalen Hierarchie von „zivilisiert“ bis „barbarisch“, die man entlang der virtuellen Colour Line je nach Bedarf verschiedenen nicht-westlichen Erscheinungen anheften kann.

Für Hall haben die Diskurse zu Rasse, Ethnie und Nation eine für die Bildung politischer Subjekte entscheidende Funktion in der Schaffung von „Identität“. Die essentialistische Unterscheidung von den „nicht-westlichen“, mehr oder weniger „nicht-zivilisierten Anderen“ ist zentral für die eigene Selbstvergewisserung. Gerade durch die Wackeligkeit dieser „Identität“ angesichts von sozialen und kulturellen Veränderungen im Inneren (nicht bloß durch Migrationsbewegungen) wird diese „Ich-Schwäche“ projiziert auf RepräsentantInnen des „Anderen“. Dieses „System der Repräsentation produziert die unfreien, infantilen, bösartigen, barbarischen, primitiven und hinterhältigen rassistischen Narrative“ (86), die gleichzeitig Projektionen eigener Ängste und Wünsche sind. Nicht verwunderlich spiegelt sich dieses Repräsentationssystem in der Identitätspolitik der von Rassismus Betroffenen. Hall bezieht sich speziell auf die verschiedenen Theorien und Bewegungen von Schwarzen in den USA und der Karibik, von Pan-Afrikanismus bis zu „Nation of Islam“. Letztlich wird der „rassistische Blick“ der Weißen gespiegelt, die essentialistische Zuschreibung der Andersheit akzeptiert und bloß um 180 Grad umgewertet. Hall akzeptiert durchaus, dass diese Identitätspolitik von Unterdrückten etwas anderes ist als die der UnterdrückerInnen. Sie ist Ausdruck des Widerstands, der Vereinigung gegen die UnterdrückerInnen und der Schaffung eines Raumes für die tatsächliche, eigenständige Differenzierung und Entwicklung. Andererseits ist klar, dass in dieser Form der Identitätspolitik die Verfestigung rassistischer Diskurse und die Ablenkung von dem eigentlichen Ziel der Befreiung angelegt sind.

5.4.2 Rasse-Diskurs und Antijudaismus

Hall hat sicherlich Recht, wenn er das „ursprünglich Andere“ des Europäertums vor Beginn der kolonialen Expansion, gleichermaßen in der Abgrenzung von Judentum und von Muslimen, bestimmt. Sowohl die „islamische Gefahr“ als auch die systematisch erzeugte Ausgrenzung der jüdischen „Nachbarn“ waren Kernelemente der Konstruktion einer „europäischen Identität“. Antijudaismus wie auch MuslimInnen-Hass sind die Urfiguren des europäischen Rasse-Diskurses, nach deren Muster die Abgrenzung zum „Barbarentum“ im Kolonialismus umso leichter funktionieren konnte. Es ist daher auch kein Wunder, dass sich der Antisemitismus mit dem Aufkommen des „aufgeklärten“ Rassismus in die anderen Rasse-Ideologien bruchlos einreihen konnte. Die in Teilen der deutschen Linken gängige Differenzierung des Antisemitismus vom Rassismus gegen Schwarze hat hierbei auch einen gefährlichen Aspekt: Das Argument, „gewöhnlicher Rassismus“ richte sich besonders gegen unterdrückte Bevölkerungsgruppen, während den Juden und Jüdinnen die „heimliche Weltherrschaft“ unterstellt würde, verkennt das viel wesentlichere Band des Rassismus – die angebliche Bedrohung der „überlegenen europäischen Zivilisation“ durch Fremde, Nicht-WestlerInnen. Opfer der Shoa wurden in überwiegender Zahl osteuropäische Juden und Jüdinnen, die in keiner Weise das Sinnbild des Kapitalfetischs nach Postone darstellten, sondern vor allem ProletarierInnen und Pauper waren. Die Nazis und ihre Vernichtungsmaschinerie präsentierten sich über allem als „Retter vor dem osteuropäischen Untermenschentum“, das sie immer wieder in diffamierend gedachten Bildern der Ostjuden und -jüdinnen präsentierten. Dabei konnten sie sich auch des verbreiteten Antisemitismus in Polen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine bedienen. Man muss die Shoa auch als eines der letzten westlichen Kolonialismusprojekte zur „Europäisierung“ von Osteuropa begreifen, wenn man die „Rationalität“ der industriellen Massenvernichtung verstehen will. Postone oder Adorno konnten dagegen nur die Mobilisierungsbedeutung des eliminatorischen Antisemitismus erklären. Als industrielle Massenvernichtung ist die Shoa zwar singulär in der Geschichte – nicht jedoch in Bezug auf die Fortsetzung der Barbarei der (west-)europäischen Kolonialisierungsgeschichte, die viele solcher Episoden von rassistischen Verbrechen kennt (vor allem die Verschleppung und Versklavung von Millionen von AfrikanerInnen).

5.4.3 Jüdische Identität im Verhältnis zu Rasse, Ethnie und Nation

Etwa 30 Jahre vor Halls Vortrag hatte Isaac Deutscher 1966 in der Londoner „Jewish Chronicle“ die Aufgabe gestellt bekommen, „jüdische Identität“ zu definieren und seine Antwort mit vielen autobiografischen Elementen veranschaulicht (87). Deutscher hatte im damals russischen Teil Polens vor dem Ersten Weltkrieg selbst eine orthodox-jüdische Erziehung bekommen, mit der er in Richtung Marxismus und jüdisch-russischer ArbeiterInnenbewegung gebrochen hatte. Damals berichtet er, hätten er oder seine FreundInnen sich kaum genötigt gefühlt, ihre „jüdische Identität“ zu bestimmen. Ihre Identität ging ganz in einer ArbeiterInnenbewegung auf, die zwar stark jüdisch geprägt war, aber sich kaum vor allem als „jüdisch“ definierte. Trotzdem habe sie eine Blüte jiddischer Literatur, eigene Intellektuelle, ein reges Versammlungs- und Kulturwesen, kurz eine starke Identität entwickelt. Zionismus und chassidische Orthodoxie waren gerade im Gegensatz zu dieser starken, sich vom traditionellen Judentum lösenden Diaspora-Kultur entstanden. Nachdem sich die Perspektive, in der ArbeiterInnenbewegung letztlich auch den Antisemitismus überwinden zu können, durch den Triumph der Nazis nicht erfüllt hatte und die osteuropäische Diaspora gründlich zerstört worden war, erst da haben sich die Verhältnisse völlig umgekehrt. „Und jetzt sollen wir die Vorstellung akzeptieren, dass ausgerechnet rassische Merkmale oder ‚Blutbande‘ die jüdische Gemeinschaft ausmachen? Wäre nicht genau das ein weiterer Triumph für Hitler und seine verkommene Philosophie? Wenn nicht die Rasse, was macht einen Juden aus? Religion? Ich bin Atheist. Jüdischer Nationalismus? Ich bin Internationalist. Nach keiner dieser Bedeutungen bin ich daher Jude. Wohl aber bin ich Jude kraft meiner unbedingten Solidarität mit den Verfolgten und Ausgerotteten. Ich bin Jude, weil ich die jüdische Tragödie als meine eigene empfinde; weil ich den Pulsschlag der jüdischen Geschichte spüre; weil ich mit allen Kräften dazu beitragen möchte, etwas für die wirkliche und nicht die trügerische Sicherheit und Selbstachtung der Juden zu tun“ (88).

Von einer „allumfassenden jüdischen Identität“ zu sprechen, hielt Deutscher also zu Recht für unsinnig. In den verschiedenen Diasporaländern und Regionen haben Juden und Jüdinnen ganz unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen gesammelt, aber sich auch ganz unterschiedlich in die jeweiligen Gesellschaften eingebracht. Dabei hat sich eine Vielzahl verschiedener Identitäten entwickelt. Der Anspruch des Zionismus, im angeblich nicht überwindbaren Antisemitismus die bestimmende Klammer für die Juden und Jüdinnen zu sehen, ist dagegen nur eine negative Identitätsbestimmung, die allein nicht trägt. Wie schon zuvor ausgeführt, musste sich die zionistische Ideologie in Israel letztlich zu einem Ethno-Nationalismus wandeln, also reaktionäre Identitätspolitik werden. Die nationalistische Rechte in Israel hat nunmehr die „jüdische Identität“ ins Zentrum der Verfassung gesetzt, und eines der zentralen Wahlkampfthemen der Rechten ist jeweils die Angstmache vor der „demographischen Bombe“, der angeblichen Gefahr, dass durch „die Fruchtbarkeit der AraberInnen“ (ein klassisches rassistisches Motiv gegenüber Subalternen) die „jüdische Identität“ Israels in Gefahr sei, wenn das Land aus mehr als 20 % AraberInnen bestünde (89).

Schon Deutscher hatte den Alleinvertretungsanspruch Israels und des Zionismus für „das jüdische Volk“ als nationalistische Vereinnahmung zurückgewiesen. Ebenso warnte er vor der neuerlichen „aufklärerischen“ Illusion in die „westlichen Demokratien“ – nicht unwesentlich angesichts des Fetischs von der „einzigen westlichen Demokratie in der Region“. Schon die jüdische Aufklärung hatte „zum Tanz um die Vernunft“ angesetzt und auf die Überwindung der alten Barbarei durch Toleranz und Aufklärung gehofft: „Aber gerade die Göttin der Vernunft hat sie im Stich gelassen, war sie doch eine höchst bürgerliche Gottheit, die Schutzheilige einer Gesellschaft, die vor lauter Geldmachen (keine ausschließlich jüdische Beschäftigung!) nicht dazu kam, ihre eigene Barbarei zu verdauen. Eine Gesellschaft also, die in jedem Augenblick akuter Gefährdung Rassismus und Nationalismus aufstachelt, die Xenophobie, den Hass auf den anderen und die Furcht vor den Fremden. Und wer ist so fremd wie der Jude?“ (90).

Die Juden und Jüdinnen in der Diaspora und in Israel sind inzwischen im „globalen Westen“ angekommen und scheinen auf der „sicheren Seite“ zu sein. Sie sind sozusagen die „Colour Line“ aufwärts geglitten, nachdem sie sich z. B. noch bis in die 1960er Jahre in den USA laut Deutscher als die „weißen NegerInnen“ fühlen mussten. Die große Migrationswelle aus Osteuropa in die USA hatte jüdische MigrantInnen und Schwarze in die typische Konkurrenz subalterner Ethnien gebracht und speziell nach dem Aufstieg vieler US-Juden und -Jüdinnen in die Mittelschichten eine Tendenz zum Antijudaismus in breiten Teilen der schwarzen Bevölkerung in den USA hervorgebracht. Israel gilt in fast allen Halbkolonien und bei vielen rassistisch Unterdrückten, z. B. den Schwarzen in den USA, als Sinnbild des Fortbestands der neokolonialen Ordnung unter US-Hegemonie. Die Juden und Jüdinnen können jederzeit wieder zum Sündenbock für einen krisenhaften Kapitalismus und seine verheerenden Auswirkungen in den Halbkolonien gemacht werden. Insofern bleibt die erlangte „Sicherheit“ für die Juden und Jüdinnen ein Trugbild, solange Kapitalismus und Imperialismus bestehen.

Andererseits lässt sich derzeit auch der „Antisemitismus“-Vorwurf zum Kampfbegriff des westlichen Rasse-Diskurses missbrauchen. Der in vielen antikolonialen und anti-rassistischen Bewegungen übliche Protest gegen die israelische Politik wird durch Vorwürfe des Antisemitismus und der Terroristenunterstützung als „rückständig“ und „barbarisch“ verunglimpft. Wieder einmal ist ein Mittel gefunden, z. B. MuslimInnen einen geringeren Zivilisationsgrad zuzusprechen, eben da sie „wesentlich antisemitisch“ seien. In Verkennung der Wirkungen der israelischen Politik auf Menschen aus Halbkolonien (besonders der muslimischen Welt) wird deren Antijudaismus umstandslos in eins gesetzt mit dem eliminatorischen Antisemitismus imperialistischer Länder. Gerade der sogenannte antideutsche Diskurs entlarvt sich hier deutlich als Produkt postkolonialer Ignoranz, der sich umstandslos in offen anti-muslimischen Rassismus verwandeln kann. Gerade die Redeweise von Israel als der „einzigen westlichen Demokratie“ in der Region macht die postkoloniale Denkweise nur allzu deutlich. So konnte sich Netanjahu als einer der ersten StaatschefInnen mit dem semifaschistischen brasilianischen Staatspräsidenten Bolsonaro über die gemeinsame Verteidigung „westlicher Werte“ durch Militäroperationen austauschen, ob nun in den schwarzen Favelas oder in den eingezäunten besetzten Gebieten des Westjordanlandes.

5.4.4 Positiv-Wendung der Diaspora

Dagegen ist die Umdeutung des Diaspora-Begriffs bei Stuart Hall durchaus zukunftsweisend (91). Hall verweist darauf, dass die um ihr Selbstbewusstsein ringende Bewegung der Schwarzen in den USA diesen ursprünglich jüdischen Begriff sehr früh übernommen habe. Als sich diese Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu organisieren begann, hatte man durchaus ähnliche Vorstellungen wie der Zionismus: Die aus Afrika Vertriebenen, in der schwarzen Diaspora Lebenden, entwickelten Ideen einer Rückkehr in ein vom Kolonialismus befreites Afrika. Der „Panafrikanismus“ war eine stark von AfroamerikanerInnen wie Marcus Mosiah Garvey geprägte Idee, die in der Phase der Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg in Afrika stark an Einfluss gewann. Allerdings wurde schnell klar, dass sich die Schwarzen in den USA weit von den sozialen und kulturellen Entwicklungen in Afrika entfernt hatten. Die schwarze Bewegung in den USA veränderte sich daher konsequent zu einer auf Nordamerika konzentrierten anti-rassistischen Bewegung bzw. einem schwarzen Nationalismus in der Black Power-Bewegung.

Hall sieht die Entwicklung des modernen Kapitalismus, die nicht erst mit der Globalisierung zur Erosion nationaler und ethnischer Grenzziehungen geführt hat, allgemein durch eine immer mehr um sich greifende „Diasporaisierung“ (92) der Gesellschaften geprägt. Statt sich illusorischen oder in ihren Auswirkungen gefährlichen „Rückkehrprojekten“ zu verschreiben, sollte die synkretistische, unzählige Kulturen verbindende Netzwerkgesellschaft aus Diasporagemeinden vielmehr als Chance einer Überwindung der alten, auf Differenzen beharrenden und Identitäten aufzwingenden Formationen wie Rasse, Ethnie und Nation gesehen werden. Letztlich verbleibt der im Westen vorherrschende Begriff der „notwendigen Integration in die Mehrheitsgesellschaft“ beim Mythos der vereinheitlichten und „zivilisierten“ europäischen Rasse stehen und verlangt nicht mehr und nicht weniger als die assimilierende Anpassung an den Westen und seine angeblich „universellen Werte“. So sah auch Deutscher die besondere Rolle der jüdischen Diaspora, als zwischen/über den europäischen Kulturen und Nationen stehend, sich sowohl außerhalb als auch innerhalb derer entwickelnd, diese befruchtend wie auch umgekehrt von ihnen jeweils geprägt zu werden. Gerade diese Sonderrolle, diese Position der Beteiligung wie auch der „Außenbetrachtung“ habe solche Persönlichkeiten ermöglicht wie Spinoza, Marx, Heine, Luxemburg, Trotzki oder Freud (um nur einige zu nennen).

Die Positiv-Wendung des Diaspora-Begriffs, die Anerkennung des Prinzips „Meine Heimat ist, wo ich lebe, wo immer auch meine Vorfahren hergekommen sind“ (93) ist sicherlich eine richtige Entgegnung gegenüber nationalistischen Integrations-/Assimilationsprinzipien einerseits und unzähligen nationalistischen Projekten der Rückkehr in die „alte Heimat“ andererseits. Doch sollte dabei bedacht werden, dass, solange es eine kapitalistische Klassengesellschaft gibt, Unterdrückung nationaler und ethnischer Minderheiten ein eingebauter Automatismus ist. Die mit der Globalisierungsperiode einhergehende reale weitere Diasporaisierung der Weltgesellschaft geht einher mit einer immer wiederkehrenden Auferstehung von nationalistischen und rassistischen Ausgrenzungen. Hier zeigt sich auch die zentrale Schwäche der Analysen von Stuart Hall: Die Hoffnung auf die Auflösungserscheinungen des „verhängnisvollen Dreiecks“ und die Macht der dezentralen kulturellen Vielfalt erweisen sich angesichts der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Vergesellschaftung als brüchig. Die Krisenhaftigkeit jeglicher kapitalistischen Umwälzung der Gesellschaft führt letztlich auf die barbarischen Elemente von Rasse, Ethnie und Nation zurück. Die Klassensolidarität, die Erfahrung der gemeinsamen Kampfinteressen und die Organisierung von Interesse quer zur nationalistisch/rassistischen Spaltung bleiben weiterhin die wesentlichsten Verteidigungslinien gegenüber den Abgründen der Krisenpolitik. Letztlich bleibt die Klassenfrage durch ihre zentrale Rolle bei der Überwindung von Kapitalismus und Imperialismus grundlegend dafür, dass Rasse und Nation auf der Müllhalde der Geschichte landen können.

5.4.5 Antisemitismus als Rassismus „sui generis“

Trotz dieser Einordnung des modernen Antisemitismus in den im westlichen Kolonialismus entstandenen Rassismus hat der Antisemitismus wesentliche Besonderheiten. Als Urform des Rassismus, die die Ausgrenzung der Juden und Jüdinnen seit dem Mittelalter darstellt, und durch die besondere Sündenbockrolle der Juden und Jüdinnen für die hässlichsten Auswirkungen von Kapitalismus und Moderne wurde der Antisemitismus zu einem Rassismus „sui generis“ (ein Rassismus der besonderen Art). Er ist auch deswegen eine besondere Form des Rassismus, weil er in Europa sehr viel weitergehende eliminatorische Folgen hatte, die zu einem historisch singulären Vernichtungsprozess führten (94). Die im Antisemitismus geweckten zerstörerischen Kräfte gehen auch über die Pogrom-Bewegungen, die wir für die frühe Neuzeit analysiert haben, weit hinaus. Dieser besondere Prozess in der kapitalistischen Entwicklung besonders in Deutschland muss im Folgenden nachgezeichnet werden.

6 Judentum, Kapitalismus und ArbeiterInnenbewegung

6.1 Judentum und die Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland

Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts schien sich die Geschichte des Judentums in Europa allgemein zum Besseren zu wenden. Die schon besprochene „Judenemanzipation“ seit Ende des 18. Jahrhunderts erlaubte zumindest dem wohlhabenden Teil der jüdischen Bevölkerung einen raschen Aufstieg. Während ehemalige jüdische LumpensammlerInnen die Gunst der Stunde nutzten und zu großen TextilunternehmerInnen wurden, stiegen die alteingesessenen ZunfthandwerkerInnen in den Textilgewerben rasch ab und mussten nun z. B. für „den/die Juden/Jüdin“ arbeiten. Damit war natürlich eine neue Quelle des pseudo-antikapitalistischen Antisemitismus geschaffen. 1819 kam es deutschlandweit zu den sogenannten Hep-Hep-Unruhen, in denen jüdische Geschäfte und Unternehmen überfallen und geplündert wurden (95). Neben HandwerkerInnen wurde der Mob vor allem von StudentInnen gebildet (letztere blieben in Form der Burschenschaften danach auch weiterhin eine hartnäckige Brutstätte des Antisemitismus). Diese Bewegung wurde letztlich durch die Metternich-Polizei unterdrückt und schien für lange Zeit eine Episode im unaufhaltsamen Aufstieg der bürgerlichen Juden und Jüdinnen zu sein. Für den Rest der kleinbürgerlichen und proletarischen Juden und Jüdinnen blieben bis nach 1848 viele der ausgrenzenden Bestimmungen und antisemitischen Übergriffe bestehen. Wie oben dargestellt, wissen wir das unter anderem aus den Ausführungen von Moses Hess. Der Antisemitismus hatte hier also auch die übliche Wirkungsweise des Rassismus nach „unten“ – dies dann umso mehr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Denn zwei Ereignisse änderten ab Anfang der 1870er Jahre die Entwicklung wesentlich. Einerseits führte die mit dem Finanzkrach 1871 beginnende zwanzig Jahre lange Stagnationsphase zu einer Diskreditierung der liberalen Eliten, was nicht nur zum Aufstieg der organisierten ArbeiterInnenbewegung beitrug, sondern auch zum Nährboden für populistische reaktionäre Bewegungen wurde. Unter anderem wurden die „jüdischen Liberalen und KapitalistInnen“ zu allgemeinen Sündenböcken für Bewegungen wie die Christsozialen in Österreich oder diverse deutschnationale Konservative in Deutschland. Es muss beachtet werden, dass kleine Bauern/Bäuerinnen und KleinbürgerInnen (im Handel und Handwerk) noch die größte gesellschaftliche Gruppe darstellten und besonders vom wirtschaftlichen Niedergang betroffen waren. Bevor sie eine Perspektive in der gerade stagnierenden Industrie finden konnten, waren sie von Schulden und Niedergang betroffen. Wiederum wurden die angeblich jüdischen GeldverleiherInnen und Bankiers zu den Sündenböcken dieser Schichten.

Zweitens setzte mit den anti-jüdischen Pogromen im Zarenreich in den 1880er Jahren eine massive Flüchtlingswelle osteuropäischer Juden und Jüdinnen Richtung Westen ein. Die Reaktion in den verschiedenen europäischen Ländern war ziemlich dieselbe wie die anti-muslimische Hetze, die nach 2015 und der jetzigen sogenannten Flüchtlingskrise  einsetzte. Die armen „Ost-Juden und -Jüdinnen“, die zu Tausenden als Flüchtlinge zuerst nach Deutschland oder Österreich-Ungarn kamen, waren mittellos und fanden wenig Beschäftigungsmöglichkeit im gerade krisengeschüttelten Mitteleuropa. Auch die liberalen jüdischen BürgerInnen konnten wenig mit ihnen anfangen und fürchteten ein Wiederaufflammen des Antisemitismus. Es gab zwar Auswanderung weiter in andere europäische Länder und die USA (und zum geringsten Teil nach Palästina), aber es kamen immer mehr als wieder weiterzogen. Ghettoisierung, geringe Integration etc. gingen Hand in Hand mit wachsender antisemitischer Propaganda und wachsendem Zulauf zu den antisemitischen Parteien in Deutschland und Österreich-Ungarn. Insofern entstand hier in Mitteleuropa eine unheilvolle Mischung aus dem klassischen „antikapitalistischen“ Antisemitismus gegen das „jüdische Kapital“ und aus dem klassischen Rassismus gegen sozial und kulturell „tiefstehende“ MigrantInnen. Dies bereitete den Boden für die breite Aufnahme der oben beschriebenen Theorien des Rassenkrieges gegen „das Judentum“ in der folgenden kapitalistischen Epoche, die die globalen Widersprüche dieses Systems erst richtig zum Ausbrechen brachte. Daher kann erst die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als die eigentliche Geburtsstunde des „modernen“ Antisemitismus gelten. Auf der Grundlage des überkommenen Antijudaismus bildete sich in Reaktion auf sozialistische und liberale politische Strömungen eine reaktionäre politische Bewegung, deren Kernelemente Rassismus und Antisemitismus waren. Ob unabhängig, oder in national-konservative oder monarchistische Parteien integriert, Antisemitismus wurde in Ländern wie Deutschland oder Frankreich zu einem Wesenselement der „politischen Rechten“.

In Frankreich kumulierte wachsender Antisemitismus 1894 in der „Dreyfus-Affäre“, als dem jüdisch-stämmigen Hauptmann Alfred Dreyfus eine Landesverratsaffäre untergeschoben wurde. Nach einem skandalös tendenziös geführten Prozess, der von schlimmen antisemitischen Mobilisierungen und Pressekampagnen begleitet war, wurde Dreyfus zu lebenslanger Haft und Verbannung verurteilt. Durch den Einsatz vieler mutiger Menschen und der sozialistischen Partei wurde der Prozess immer wieder aufgenommen, wobei Armee und Ministerien mehrfach Entlastungsbeweise verschwinden ließen bzw. den eigentlichen Landesverräter deckten. Alle diese Ereignisse wurden von antisemitischen Organisationen benutzt, um eine jüdische Verschwörung gegen die Ehre der Armee zu konstruieren. Wiederum wurde zahlreiche geheime Verbindungen „der Juden und Jüdinnen“ in Staat und Armee gesehen, die das katholische Frankreich stürzen wollten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es 1899 zu einem versuchten Staatsstreich der „Ligue des Patriotes“ (einer Vorläuferorganisation der „Action française“) kam, der allerdings scheiterte. Dreyfus wurde 1900 begnadigt und 1902 rehabilitiert. Trotzdem enthüllte die Affäre, wie stark mobilisierungsfähig für die politische Rechte der Antisemitismus inzwischen geworden war. Er schuf in Frankreich allerdings auch eine Tradition in der Linken zur eindeutigen Positionierung gegen den Antisemitismus – führende Vertreter der Pro-Dreyfus-Kampagne waren neben dem Dichter Émile Zola („J’Accuse…!“) die führenden sozialistischen Politiker Jean Jaurès und Léon Blum.

Im deutschen Reich zeigte der Berliner Antisemitismusstreik 1879 bis 1881, wie stark der Antisemitismus inzwischen das „Bürgertum“ ergriffen hatte. Dieser wurde durch Artikel des damals bekannten Historikers Heinrich von Treitschke losgetreten, der die voranschreitende Herausbildung eines dem neuen Reich entsprechenden deutschen Nationalgefühls durch „die Juden und Jüdinnen“ bedroht sah. Sie würden sich nicht an die christlich-deutsche „Leitkultur“ anpassen, seien nicht assimilierungsbereit und würden durch ihr Wirken das Bürgertum gemäß ihrem „undeutschen“ Liberalismus und Geschäftssinn bedrohen. Seine Tiraden gipfelten im Satz: „Die Juden sind unser Unglück“ (96) – er behauptete gar, dass dies unter den „gebildeten Deutschen heute“ Gemeingut sei. Ursprünglich bezogen vor allem nur jüdische ProfessorInnen gegen von Treitschke Stellung, während die Zentrumspartei seine Thesen vorsichtig übernahm. Überraschend nahm dann 1880 der damals berühmteste Historiker, Theodor Mommsen, vehement gegen „Rassenhass und mittelalterliche Vorurteile“ Stellung und organisierte eine breite Opposition gegen von Treitschke (97). Der intellektuellen Auseinandersetzung mit Mommsen erwies sich von Treitschke letztlich nicht gewachsen und ruderte in wesentlichen Punkten zurück. Der Antisemitismus war damit zwar nicht mehr „salonfähig“, aber wirkte danach umso heftiger unter der Oberfläche der akademischen Welt fort („Die Juden sind unser Unglück“ wurde später von den Nazis wiederbelebt). Wichtiger als die akademische Auseinandersetzung war auf politischer Ebene eine von von Treitschke unterstützte politische Bewegung, die für eine „Antisemitismuspetition“ eine Viertelmillion Unterschriften im ganzen Reich sammelte mit dem Ziel, die politische Gleichstellung (insbesondere das Staatsbürgerschaftsrecht für eingewanderte „Ostjuden du -jüdinnen“) zu verhindern. Der große plebiszitäre Zuspruch der Petition führte zu einer Akzeptanz antisemitischer Politik bei den Parteien der Rechten.

1894 stellte Mommsen, der auch einen „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ mitbegründet hatte, resigniert fest: „Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, daß man da überhaupt mit Vernunft etwas machen kann. Ich habe das früher auch gemeint und immer wieder gegen die ungeheure Schmach protestiert, welche Antisemitismus heißt. Aber es nutzt nichts. Es ist alles umsonst. Was ich Ihnen sagen könnte, was man überhaupt in dieser Sache sagen kann, das sind doch immer nur Gründe, logische und sittliche Argumente. Darauf hört doch kein Antisemit. Die hören nur auf den eigenen Haß und den eigenen Neid, auf die schändlichen Instinkte“ (98). Die hilflose Haltung des aufrechten, liberalen Professors aus dem Herzogtum Schleswig entspricht seinem Klassenstandpunkt – von dem der Bourgeoisie aus gibt es keine Lösung für das Phänomen des Antisemitismus.

6.2 Antisemitismus und Sozialdemokratie

Andererseits trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gesellschaftliche Kraft auf, die einen ganz anderen Lösungsweg aufzeigte (und heute in den historischen Betrachtungen zur jüdischen Geschichte zumeist ignoriert wird): die organisierte ArbeiterInnenbewegung. Waren es noch in der Hep-Hep-Bewegung der sich proletarisierenden HandwerkerInnen „die Juden/Jüdinnen“ und die neuen Maschinen, was als Verderben erschien, so kämpften jetzt nicht-jüdische und jüdische ArbeiterInnen gemeinsam gegen ihre Ausbeutungsbedingungen. In Gewerkschaften und den sozialistischen Parteien fanden gerade die unteren Schichten der Juden und Jüdinnen eine neue Heimat und Bedingungen zum Kampf um ihre Gleichberechtigung. Dazu kam, dass mit dem Marxismus eine Theorie in der ArbeiterInnenbewegung an Einfluss gewann, die eine durchdringende Kapitalismusanalyse jenseits verkürzter Personalisierungen lieferte und das Klasseninteresse des Proletariats in klarem Gegensatz zu solchen Phänomenen wie Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus und Antisemitismus herausarbeitete. Die an Marx und Engels orientierten Führungen der sozialistischen Organisationen stellten sich denn auch mehr oder weniger klar gegen den Antisemitismus. Exemplarisch sei auf den konsequenten Kampf von Engels gegen Eugen Dühring verwiesen, der den Kampf um soziale Fragen mit Nationalismus und Antisemitismus verbinden wollte. Dagegen wurde der Slogan „Antisemitismus ist der Sozialismus für Dumme“ (99) aufgegriffen.

Allerdings zeigt bereits die Resolution von Bebels „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ (100) auf dem SPD-Parteitag 1893 schwerwiegende Mängel in der Analyse des Antisemitismus. Auch wenn der reaktionäre Charakter des Antisemitismus auf der einen Seite aufgezeigt und betont wird, dass er den Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung auf einen kleinen Teil des Kapitals, die jüdischen KapitalbesitzerInnen ablenke, dass letztlich nur der Kampf für den Sozialismus den Antisemitismus erledigen würde, so wird doch auf der anderen Seite viel von der antisemitischen Mythologie über „das Wesen“ der Juden und Jüdinnen in Bezug auf Geldgeschäfte aufgegriffen und somit dem Antisemitismus auch eine widersprüchlich „revolutionäre“ Seite angedichtet. Die Massen der Mittelschichten, die von der Krise betroffen wären und sich in Folge von den antisemitischen Parolen verführen ließen, würden letztlich erkennen, dass die AntisemitInnen den Kampf gegen die Ursachen ihrer Verelendung nur unzureichend führen, um dann notwendig zu den KämpferInnen gegen die wahren Gründe ihrer Verelendung weiterzuschreiten – den SozialdemokratInnen. Hier zeigen sich bereits die verhängnisvolle Unterschätzung der Gefährlichkeit des Antisemitismus und der ökonomistische Irrglaube, dass durch den konsequenten Kampf um soziale Forderungen die fehlgeleiteten Massen auf lange Sicht schon die Täuschung der antisemitischen Politik durchschauen würden. Diese Fehler in der Unterschätzung der Wirkung des Antisemitismus wie auch in der Positionierung zum Rassismus (z. B. in der Kolonialfrage) sollten sich in der imperialistischen Epoche noch verschärfen und letztlich grausam rächen.

6.3 Kautsky und der „Jüdische Bund“

Allerdings hatte der langjährige „Chef-Theoretiker“ der SPD, Karl Kautsky, eine sehr klare Position zum Antisemitismus: „Die Antisemiten sind jetzt unser gefährlichster Gegner“ (101). Er erkannte sehr wohl die Gefahr der Spaltung und der Aggressionspotentiale, die sich letztlich auch gegen die sozialistische Bewegung richten könnten. Insofern kritisierte er auch diejenigen SozialistInnen, die angesichts der antisemitischen Kampagne in Frankreich um die „Dreyfus-Affäre“ neutral bleiben wollten, da es ja nur um einen jüdischen Bourgeois ging. Dazu formulierte Kautsky, was Grundlage jedes sozialistischen Programms sein müsse: dass der Kampf um die Befreiung der LohnarbeiterInnen nur erfolgreich sein könne, wenn er sich mit dem Kampf um die Freiheit „aller, die unterdrückt werden“, verbinde, und erwähnt neben dem Kampf um Frauenbefreiung und koloniale/rassistische Unterdrückung eben auch den gegen den Antisemitismus (102). Allerdings, und dies passt zum Zentrismus von Kautsky im Allgemeinen, führte er nie einen systematischen Kampf darum, diese Position zu einer offensiven Stellung gegen den Antisemitismus auch zur Parteilinie zu machen, sondern sie tolerierte die Taktik der deutschen und österreichischen Parteiführungen, nur verhalten gegen den Antisemitismus zu agieren, um keine Wählerstimmen deswegen zu verlieren. Kautsky beschränkte sich daher stark auf theoretische Interventionen (er ist derjenige der Klassiker des Sozialismus, der am meisten zu Judentum und Antisemitismus geschrieben hat). Bemerkenswert ist sein Buch „Judentum und Rasse“ (103), da es eines der ersten Bücher eines namhaften Publizisten war, das die Rassentheorie des Antisemitismus ausführlich und wissenschaftlich begründet zurückwies.

Zugleich war Ende des 19. Jahrhunderts die erste große, moderne jüdische Partei entstanden: der „Allgemeine jüdische ArbeiterInnenbund“ (kurz „Bund“ genannt). Der „Bund“ war nicht zufällig im zaristischen Russland (und dort vor allem in den polnischen und weißrussischen Gebieten) entstanden. Einerseits war dort z. B. gegenüber Deutschland (in dem bürgerliches und kleinbürgerliches Judentum sehr viel zahlreicher war) ein sehr viel zahlreicheres jüdisches Proletariat vorhanden, andererseits nahmen die Diskriminierung und Gewaltakte gegen Juden und Jüdinnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungemein zu. So konnte der „Bund“ nach seiner Gründung 1897 in kurzer Zeit mehrere Zehntausend Mitglieder gewinnen und sich auch auf die polnischen Gebiete in der Habsburgermonarchie ausdehnen (Jüdische Sozialdemokratische Partei). Kautsky begrüßte die Organisierung der jüdischen ArbeiterInnen, weil sie die „Juden, den Paria unter den Nationen, in eine mächtige revolutionäre Kraft“ verwandeln würde (104). Er erkannte mehr als andere, dass die Juden und Jüdinnen hier, im Rahmen der internationalen sozialistischen Bewegung, zum eigenständigen, selbstorganisierten Subjekt ihrer Geschichte geworden waren (daher setzte er sich auch für die stimmberechtigte Aufnahme des Bundes in die Zweite Internationale ein).

Tatsächlich löste aber die Frage des Bundes eine lange, heftige Debatte in der sozialistischen Bewegung um die Lösung der „jüdischen Frage“ aus, in der später auch die Frage des Zionismus eine Rolle spielte. Der Großteil der SozialistInnen lehnte es ab, in den Juden und Jüdinnen eine eigene Nation zu sehen (am vehementesten übrigens Rosa Luxemburg). Man sah, wie viele liberale Juden und Jüdinnen sich auch die Lösung der „jüdischen Frage“ wie auch des Antisemitismus in einer möglichst raschen „Assimilation“ in die europäischen Nationen (die „Assimilation“ war tatsächlich auch für viele jüdische Intellektuelle und AktivistInnen eine angestrebte „Zukunftsperspektive“) erhofften. Eine Minderheit um Kautsky, der hierin stark vom „Bund“ als Quelle zitiert wurde, sah das Judentum als „in Auflösung begriffene Nation“, deren Unterdrückung aber den Kampf um einige nationale Rechte im politischen („Autonomie“) und kulturellen (Schule, Sprache, Religion,…) Bereich rechtfertigen würde. Kautsky verband die Assimilations- mit einer Internationalismus-Perspektive: Im Rahmen der internationalen Kämpfe der ArbeiterInnenbewegung würde es letztlich zu einer solchen Vermischung der Völker kommen, dass auch die Unterschiede zwischen Juden und Jüdinnen und Nicht-Juden und -Jüdinnen auf lange Sicht verschwinden würden.

In der russischen Sozialdemokratie führte die Frage einer „jüdischen Nation“ und der daraus folgenden der Notwendigkeit einer eigenen jüdischen ArbeiterInnenpartei zu heftigen Auseinandersetzungen. Lenin lehnte die Vorstellung des „Bundes“ von getrennten Parteien, die dann in einer sozialistischen Föderation zusammenarbeiten würden, ab. Er vertrat dagegen die Position einer einheitlichen Partei, in der es autonome Sektionen für die jüdischen ArbeiterInnen geben müsse (105). Dies war einer der Streitpunkte, die 1903 zur Spaltung der russischen Sozialdemokratie führten. Kautsky vertrat zwar im Prinzip Lenins Position, akzeptierte aber letztlich inkonsequent den Bruch des Bundes mit der Gesamtpartei. Nach der Oktoberrevolution spaltete sich der „Bund“, und der „Kommunistische Bund“ wurde zu einer Stütze der Sowjetherrschaft.

Die Auseinandersetzungen um die nationale Frage in der ArbeiterInnenbewegung Anfang der 1900er Jahre führten allerdings auch zu einer Abspaltung von einigen tausend ArbeiterInnen Richtung Zionismus. Während der „Bund“ die zionistische Perspektive, also die Lösung der nationalen Frage durch die Schaffung eines eigenen jüdischen Staates, ablehnte (wie auch Kautsky), existierten bis 1901 zionistische Gruppen nur als kleine bürgerliche Zirkel in Russland oder Europa. Mit der Entstehung der „Jüdischen Sozialdemokratischen Partei – Poale Zion“ („ArbeiterInnen Zions“) hatte der Zionismus zum ersten Mal eine größere Partei hinter sich, die allerdings auch mit den bisher bürgerlichen Programmen des Zionismus in Widerspruch geriet. Ab etwa 1909 (dem zweiten zionistischen Weltkongress) änderte Poale Zion (damals selbst schon eine internationale Massenorganisation) den Charakter des Zionismus grundlegend zu einem praktischen Siedlungsprojekt in Palästina – mit „sozialistischem Anspruch“. Sie lieferte damit die Grundlage für den späteren Awoda-Zionismus. Kautsky kritisierte (wenn auch in sehr solidarischer Weise) die Politik von Poale Zion als „utopischen Sozialismus“, der unweigerlich an den Realitäten der kolonialen Herrschaft in der arabischen Welt scheitern müsse.

Im polnischen Staat der Zwischenkriegszeit war die jüdische Bevölkerung in die zionistischen Parteien und den „Bund“, umbenannt in „Polnischer Bund“, gespalten. Im Gegensatz zur Sowjetunion, wo viele „BundistInnen“ zum Kommunismus übergegangen waren, war der polnische „Bund“ ein Hort des Sozialdemokratismus und beteiligte sich trotz des grassierenden Antisemitismus staatstragend am antikommunistischen, polnisch-nationalistischen Regime, vor allem auf der Ebene der kommunalen Selbstverwaltung. Eine Perspektive für die Verbindung des Kampfes zwischen Sozialismus und Lösung der „jüdischen Frage“ wurde so nicht gefunden. Allerdings beteiligten sich die militärischen Organisationen des „Bundes“ nach Beginn des Zweiten Weltkrieges effektiv am Widerstand gegen die deutsche Okkupation. Insbesondere im Warschauer Aufstand spielten „BundistInnen“ eine herausragende Rolle. Nach 1945 wurde der „Bund“ in die Etablierung der stalinistischen Herrschaft in Polen integriert, so wie auch in der neugegründeten KP überproportional viele Juden und Jüdinnen vertreten waren. In paradoxer Weise wurde sowohl in den stalinistischen Säuberungen als auch in der Phase der Entstalinisierung unter Gomulka der Antisemitismus jeweils bis zum Exzess genutzt. Dies führte bis Ende der 1950 er Jahre zu einem endgültigen Verschwinden der „Bund“-Tradition in Polen.

Dagegen war durch die Migration seit Ende des 19. Jahrhunderts aus Osteuropa eine große Zahl von „BundistInnen“ in die USA ausgewandert. Dort entstand eine Vielzahl an jüdischen ArbeiterInnenorganisationen in der Tradition des „jiddischen Sozialismus“. Insbesondere die Textilindustrie war ein Zentrum jüdischer ArbeiterInnen, ebenso wie die dort tätigen Gewerkschaften (106). So wanderte denn auch das Zentrum des internationalen jiddischen ArbeiterInnenbundes in der Zwischenkriegszeit in die USA. Der „Bund“ trat gegen den Teilungsplan für Palästina ein und behielt auch nach der Gründung des Staates Israel die Position eines binationalen jüdisch-arabischen Staates unter Bedingungen der nationalen Gleichberechtigung bei. Die Tradition des jiddischen Sozialismus hat sich in verschiedenen linken Strömungen, z. B. innerhalb der „Democratic Socialists of America“ bis hin zu den jüdischen UnterstützerInnen von Bernie Sanders, fortgesetzt.

6.4 Lenin und die jüdische Frage

Waren die SozialdemokratInnen im Westen in ihrem öffentlichen Auftreten aus Angst vor Verlust von Wählerstimmen sehr vorsichtig in ihren Stellungnahmen gegen Antisemitismus, so blieben hier (wie in vielen anderen Dingen) die russischen Bolschewiki unter Lenins Führung glasklar und prinzipienfest. Gerade aufgrund der erstarkenden ArbeiterInnenbewegung und besonders nach der Revolution von 1905 verwendeten die Herrschenden im zaristischen Russland die Antisemitismuskarte in besonders übler Weise. Etliche Pogrome rund um angebliche Ritualmorde wurden inszeniert, Verschwörungstheorien ohne Ende fabriziert (die berühmt-berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ waren ein Produkt der zaristischen Geheimdienste und -polizei Ochrana), und allenthalben waren Presse und Universitäten voll von antisemitischer Hetze (107). In dieser Situation schrieb Lenin 1913 einen Gesetzentwurf für die sozialdemokratische Duma-Fraktion, in der er die Abschaffung aller die Juden und Jüdinnen diskriminierenden Gesetze und die Anerkennung von Minderheitenrechten (z. B. Schulunterricht auf Jiddisch) forderte. In seiner akribischen Art fügte Lenin über 100 Gesetzesstellen bei, die diskriminierenden Inhalt gegenüber Juden und Jüdinnen enthielten und geändert werden müssten. In der Erklärung an die GenossInnen zu dem Gesetzentwurf schrieb Lenin: „Keine einzige Nationalität wird in Russland so unterdrückt und verfolgt wie die jüdische. Der Antisemitismus schlägt unter den besitzenden Schichten immer tiefere Wurzeln. Die jüdischen Arbeiter stöhnen unter einem zweifachen Joch: als Arbeiter und als Juden. Die Verfolgung der Juden hat in den letzten Jahren ganz unglaubliche Ausmaße erreicht. (…) die Arbeiterklasse ist verpflichtet, ihre Stimme gegen die nationale Unterdrückung zu erheben“ (108). Lenin schrieb mehrere Artikel über die Bedeutung des Gesetzentwurfes und forderte die Parteiorganisationen zum Sammeln von Unterstützungserklärungen in der ArbeiterInnenschaft auf. Kaum eine der anderen Parteien der Zweiten Internationale hat öffentlich eine so entschiedene praktische Stellung gegen den Antisemitismus bezogen. Auch wenn der Gesetzentwurf natürlich abgeschmettert wurde, hat er doch die Stellung der Bolschewiki gegen den Antisemitismus ein für allemal klar gemacht.

6.4.1 Sozialistische Position zum Nationalismus

Dass Lenin, anders als viele SozialdemokratInnen im Westen, nicht darauf vertraute, dass der Antisemitismus schon mit dem Fortschritt des Klassenkampfes verschwinden würde, hängt mit seiner generellen Analyse der „nationalen Frage“ zusammen. In den Jahren zwischen der Revolution 1905 und dem Ersten Weltkrieg wurde für Lenin immer klarer, dass die nationalen Fragen in den „Vielvölkerstaaten“ (Zarenreich, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich), aber auch in Asien und der kolonialisierten Welt zu einem entscheidenden Faktor der Weltpolitik werden würden. In den Jahren 1912 bis 1914 (bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs) hielt sich Lenin im Exil in Galizien auf, das damals (seit der dritten Teilung Polens Ende des 18. Jahrhunderts) zu Österreich gehörte und an der Grenze zum zaristisch beherrschten „Kongresspolen“ lag. Er war damit mittendrin in den polnisch/jüdisch/ukrainischen Nationalitätenproblemen. In dieser Zeit hielt er nicht nur viele Vorträge zur nationalen Frage und leitete einen Parteikongress zu dieser Frage in der Nähe von Zakopane, er schrieb auch zwei zentrale Artikel dazu im theoretischen Organ der Bolschewiki, der „Prosweschtschenije“ („Aufklärung“): „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ und „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (109).

Ausführlich geht er dort auf Marx‘ und Engels‘ Position zur Frage des irischen Unabhängigkeitskampfes ein. Beide hatten ursprünglich erwartet, dass der Fortschritt der englischen ArbeiterInnenbewegung das Problem der Befreiung Irlands lösen würde, indem der Kampf gegen das englische Kapital auch die feudalen Unterdrückungsstrukturen in Irland auflösen würde. Zwei Faktoren ließen sie jedoch ihre Position verändern: Erstens erkannten sie, dass die englische ArbeiterInnenklasse politisch-ideologisch in wichtigen Teilen durch reaktionär-chauvinistische Positionen (z. B. durch die liberale Partei) gegenüber Irland beeinflusst wurde. Zweitens führte das Ausbleiben der progressiven Anstöße durch den englischen Klassenkampf dazu, dass sich agrarrevolutionäre und nationalistische Strömungen in Irland viel schneller zu einer republikanischen Bewegung verbanden als gedacht. „Wäre der Kapitalismus in England so rasch gestürzt worden, wie Marx anfänglich erwartete, so wäre in Irland für eine bürgerlich-demokratische, gesamtnationale Bewegung kein Raum gewesen. Nachdem sie aber einmal entstanden ist, gibt Marx den englischen Arbeitern den Rat, sie zu unterstützen, ihr einen revolutionären Anstoß zu geben und sie im Interesse ihrer eigenen Freiheit zu Ende zu führen“ (110).

Lenin zieht einige Schlussfolgerungen aus dieser Herangehensweise von Marx: Einerseits ist es für die Entwicklung von revolutionärem Bewusstsein der ArbeiterInnen in unterdrückenden Nationen entscheidend, gegen jede Form von Chauvinismus, von Unterdrückung und Diskriminierung anderer Nationen aufzutreten. Auch wenn es unpopulär ist, müssen SozialistInnen hier in der eigenen Klasse unmissverständlich auftreten und, wo nötig, Gegenpropaganda betreiben. Andererseits ist die Unterstützung von Bewegungen für nationale Unabhängigkeit von der Gesamtlage im Klassenkampf abhängig: Während die englische ArbeiterInnenklasse nicht in einem entscheidenden Kampf gemeinsam mit der irischen stand, war dies z. B. nach 1905 für die polnische und russische ArbeiterInnenklasse sehr wohl gegeben. Die Zweite Internationale stellte daher korrekterweise nicht die Losung für ein unabhängiges Polen ins Zentrum, da die russischen und polnischen ArbeiterInnen eben gerade im Kampf zum Sturz des Zarismus vereint waren. Zugleich verteidigte sie das prinzipielle Recht der PolInnen auf Lostrennung von Russland, sollte dies mehrheitlich gewollt sein.

Dies drückte sich auch in der Spaltung der polnischen ArbeiterInnenbewegung aus, deren rechter Flügel unter Piłsudski (Polnische Sozialistische Partei, PPS) die nationale Frage in den Vordergrund stellte, während die „Sozialdemokratie des Königreichs Polen, SDKP“ (Luxemburg, Jogiches, Marchlewski), ab 1900 „Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens, SDKPiL“, den internationalen Klassenkampf ins Zentrum stellte und dabei, im Gegensatz zu PPS, vor allem auch die Rechte der jüdischen ArbeiterInnen einbezog. Gerade der immer stärker werdende Antisemitismus des polnischen Nationalismus (auch in seiner „sozialistischen“ Form) war ein gewichtiger Grund für die antinationale Haltung der SDKP. Nach 1905 wurde die SDKPiL der russischen Sozialdemokratie assoziiert. Während Lenin mit Luxemburg in der Frage der generellen Linie des Vorrangs des gemeinsamen revolutionären Klassenkampfes übereinstimmte und klar aufseiten der SDKPiL gegenüber der PPS stand, führte er eine harte Auseinandersetzung mit Luxemburg um die Frage der Berechtigung und Bedeutung der Losung nach nationaler Selbstbestimmung. Luxemburg lehnte die Position der Zweiten Internationale ab, das Recht auf Loslösung zu verteidigen. Schon dies galt ihr als Zugeständnis an den Nationalismus.

Um die Bedeutung dieser Differenz zu verstehen, hier einiges zur grundlegenden Herleitung der Problemstellung bei Lenin: Er geht davon aus, dass es in Bezug auf den Nationalstaat zwei widersprüchliche Tendenzen im Kapitalismus gibt. Einerseits dränge der Verwertungszwang des Kapitals zur Herausbildung eines „nationalen Marktes“, der durch einheitliche Standards, Sprache, Verwaltung, Infrastruktur, Bildungswesen und staatliche Institutionen organisiert wird. Andererseits erzeuge die Weltmarkttendenz des Kapitals ständig ein Infragestellen nationaler Grenzen und eine Ausdehnung bestimmter nationaler Kapitale zu Lasten von anderen. Beide Tendenzen kämen kombiniert und ungleichzeitig vor, auch wenn zunächst, beim Kampf gegen die feudale Zersplitterung, das erste Moment als revolutionär-demokratisches dominiere. Es gebe daher so gut wie keine Nationalstaaten, die nicht nationale Minderheiten oder ganze andere Nationen in ihre Grenzen eingeschlossen hätten. Nationalismus unterdrückter wie unterdrückender Nationen sei daher ein dem kapitalistischen System inhärentes Phänomen, das in immer neuen Formen produziert werde. Die Position der ArbeiterInnenklasse, die durch den internationalen Klassenkampf bestimmt ist, könne nur in Opposition zu und Überwindung von jeder Form des Nationalismus bestehen: „Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht‘, ‚sauber‘, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, die Verschmelzung der Nationen zu einer höheren Einheit, die vor unseren Augen wächst, mit jedem Eisenbahnkilometer, mit jedem internationalen Trust,…“ (111).

Dieses Primat von Internationalismus und Aufhebung alles Nationalen (man sieht, wie weit weg Stalin tatsächlich von Lenin war) müsse aber in einer Gesellschaft, die durchzogen ist von nationaler Unterdrückung, von Unterdrückung ethnischer Minderheiten und unvollendeten Aufgaben der demokratischen Revolution erkämpft werden. Lenin malt das Bild einer Geschichte, die „im Westen“ Ende des 19. Jahrhunderts die bürgerlich-demokratische Revolution in festgefügten imperialistischen Nationalstaaten schon lange eingefroren hat, während sich seit 1905, vom Zarenreich angefangen, eine Masse neuer demokratischer Revolutionen an der „Peripherie“ ausbreitet: auf dem Balkan, in der Türkei, in China, schließlich in den unterdrückten Kolonialvölkern in Asien und Afrika. Überall dort stelle sich die Frage nach der Verbindung demokratischer Forderungen, dem Kampf um nationale Unabhängigkeit in Verbindung mit dem Klassenkampf des dort neu in die Kämpfe eintretenden Proletariats. In dieser gewaltigen neuen Erschütterung gerade die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht zu ignorieren, hieße, diese Bewegungen wiederum dem bürgerlichen Nationalismus zu überlassen.

Wie solle sich also das Proletariat zu Bewegungen gegen nationale Unterdrückung verhalten? Das Proletariat könne die Überwindung des Kapitalismus nur erreichen, wenn es seinen Klassenkampf mit dem Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung verbinde, darunter eben auch mit dem Kampf gegen nationale Unterdrückung, für Ausdehnung von Demokratie und gegen autoritäre Herrschaft, gegen jede Form von sozialer und klassenmäßiger Unterdrückung. Und was drücke das Prinzip des Kampfes gegen nationale Unterdrückung konkreter aus als das Prinzip, jeder Nation das Recht auf Lostrennung von einem sie unterwerfenden anderen Nationalstaat zuzugestehen? Das Selbstbestimmungsrecht bleibe eine hohle Phrase, wenn es nicht auch diese letzte Konsequenz, die Möglichkeit der Auflösung eines unterdrückerischen Nationalstaates, mit einbeziehe. Andererseits heiße dies noch lange nicht, dass die Lostrennung in jedem Fall vom Klassenstandpunkt her die richtige Folgerung wäre. Auch wenn das Recht zur Lostrennung verteidigt wird, so hänge es (wie im Fall Polens nach 1905 gezeigt) von den konkreten Kampfbedingungen gegen einen bestehenden Unterdrückerstaat ab, ob die Lostrennung auch von KommunistInnen propagiert werde. Zweitens hänge es auch von der Stärke und dem Charakter der nationalen Bewegung selbst ab. Lenin macht klar, dass das Proletariat zwar den Kampf gegen nationale Unterdrückung als fortschrittliche Tendenz unterstützt, gleichzeitig aber den Nationalismus selbst auch ablehnt: „Jede Bourgeoisie will in der nationalen Frage entweder Privilegien für ihre eigene Nation oder exklusive Vorteile für sie… Theoretisch lässt sich nicht mit Sicherheit voraussagen, ob die Lostrennung einer Nation oder ihre gleichberechtigte Stellung neben einer anderen Nation die bürgerlich-demokratische Revolution abschließen wird; für das Proletariat ist in beiden Fällen wichtig, die Entwicklung der eigenen Klasse zu sichern; für die Bourgeoisie ist wichtig, diese Entwicklung zu erschweren, indem sie deren Aufgaben zugunsten der Aufgaben der ‚eigenen‘ Nation in den Hintergrund schiebt. Daher beschränkt sich das Proletariat auf die sozusagen negative Forderung nach Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung, ohne einer Nation irgend etwas auf Kosten einer anderen Nation zu garantieren, zu gewährleisten“ (112).

Nichts könnte klarer zeigen, dass heute in Israel-Palästina eine grundlegende Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung vorliegt. Auch die „palästinensische Autonomie“ in Westbank und Gaza ist nichts anderes als eine neue Form des israelischen Besatzungsrechtes. Der Kampf um einen eigenen palästinensischen Staat ist daher als Kampf gegen eine nationale Unterdrückung gerechtfertigt und muss von SozialistInnen unterstützt werden. Andererseits ist der palästinensische Nationalismus selbst nicht „an sich“ fortschrittlicher als irgendein anderer Nationalismus. Auch wenn wir das Recht des Widerstands gegen die israelische Besatzungspolitik bedingungslos unterstützen, heißt dies nicht, dass wir in der Errichtung eines palästinensischen Staates unter den gegenwärtigen Führungen eine fortschrittliche Lösung des nationalen Problems in Palästina sehen. Es gibt für keine Ethnie in der Region irgendein „natürliches“, „historisches“ Recht auf „nationalen Boden“. Dort lebende Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen haben ein Recht auf gleichberechtigtes Zusammenleben. Daher lehnen SozialistInnen alle Tendenzen im palästinensischen Nationalismus ab, die eine Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus Palästina implizieren würden. Dies steht aber derzeit in keiner Weise im Vordergrund. Vielmehr ist es der israelische Staat, der in brutaler und barbarischer Weise PalästinenserInnen in Massen vertreibt und elementarer Rechte beraubt. Offenbar wäre auch ein losgetrennter palästinensischer Staat (in welchen Grenzen, mit welchem Status von Jerusalem und mit welcher Lösung für die Rückkehr von Flüchtlingen?) kein aussichtsreicher Weg für ein friedliches und ökonomisch gangbares Zusammenleben beider Nationen. Daher halten wir einen multiethnischen gemeinsamen Staat von Juden und Jüdinnen und PalästinernserInnen auf der Basis von Gleichheit und Gleichberechtigung für den einzig möglichen Lösungsweg für dieses Nationalitätenproblem. Nur so kann ein Ausgleich für ein friedliches Zusammenleben geschaffen werden. Lenin führt übrigens ausführlich als positives Beispiel die Schweiz als Beweis der Möglichkeit eines multinationalen Staates mit vielen Sprachen und dem Austarieren der unterschiedlichen regionalen und ethnischen Interessen an, auch wenn dieses Lösungsmodell aus der Frühzeit der bürgerlichen Revolutionen stammt.

6.4.2 Selbstbestimmung oder „Autonomie“?

In Bezug auf die „jüdische Frage“ in der Diaspora, insbesondere im damaligen Russland (in dem seinerzeit fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung weltweit lebte), setzte sich Lenin insbesondere mit der Politik des „Bundes“ auseinander, der sich auf die Losung der „nationalkulturellen Autonomie“ stützte. Es ging in der Diaspora immer um eine nationale Minderheit, die zwar in bestimmten Regionen mehr als in anderen konzentriert war, aber nie in einem Prozentsatz, der ein eigenes nationales Territorium definiert hätte. Die Frage der Lostrennung von oder der Schaffung eines eigenen Staates in Russland stand also nicht auf dem Programm. Der „Bund“ griff stattdessen auf das Programm der österreichischen Sozialdemokratie zurück, das diese ihrerseits im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat zur Lösung der nationalen Spannungen konzipiert hatte (113). Statt in der tschechischen, slowenischen, kroatischen etc. nationalen Frage das Recht auf Selbstbestimmung zu vertreten, versuchten die „Austro-MarxistInnen“, die nationalen Spannungen durch die Propagierung der „national-kulturellen Autonomie“ zu beschwichtigen. In Territorien mit bestimmter nationaler Zusammensetzung, in Volkszählungen erhoben, sollten die Mehrheitsnationen das Recht auf Bestimmung über das Schulwesen, die Kulturpolitik, Verwaltungssprachen u. ä. erlangen, während die Fragen von Haushalt, Sicherheit und allgemeiner Gesetzgebung weiterhin von der Zentralregierung entschieden werden sollten.

Die Grenzen dieser Politik, gerade in Bezug auf die österreichische Sozialdemokratie, zeigten sich beispielhaft an zwei Fällen: Einerseits waren gerade durch die kapitalistische Expansion im späten 19. Jahrhundert viele ArbeiterInnen durch das gesamte Reich migriert, z. B. viele TschechInnen nach Wien und Umgebung. Andererseits zerbrach aber letztlich die Einheit der tschechischen und österreichischen Partei im Jahr 1908 an der Forderung nach Verwendung der tschechischen Sprache auch an Wiener Schulen und Behörden. Der zweite Problemfall für die AustromarxistInnen war eben die jüdische Frage. In Galizien, mit über 10 % jüdischem Bevölkerungsanteil, wurde trotzdem die national-kulturelle Autonomie dort als ein Recht nur der polnischen Nationalität gesehen, so wie die österreichischen SozialdemokratInnen die Juden und Jüdinnen insgesamt wegen eines nicht vorhandenen „jüdischen Territoriums“ nicht als Nationalität anerkannten, der eine national-kulturelle Autonomie zugestanden werden könne. Lenin charakterisierte in der nationalen Frage das Konzept der national-kulturellen Autonomie als eine Form des Proudhonismus (114): So wie dieser eine Ökonomie des „gerechten Tausches“ ohne Antasten des Produktionsmittelbesitzes von PrivateigentümerInnen durch dessen „gerechte Verteilung“ erreichen wolle, so würden die AustromarxistInnen versuchen, einen Nationalismus ohne dessen „ungerechte“ Seiten zu etablieren: Nationen sollten fein säuberlich voneinander in deren „angestammten“ Territorien geschieden werden, in denen sie in Sprache und kulturellen Eigenarten für sich sein könnten. Sei erst einmal das nationale Problem so entschärft, würde der Nationen übergreifende Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie wie von selbst ins Zentrum der Auseinandersetzungen rücken. Der Austromarxismus verkennt somit die über die nationalen Grenzen hinausgehenden Tendenzen des Kapitalismus, seine Tendenz zur Vermischung von Nationalitäten und die wesentliche Vermengung von nationalen Problemen mit allen Problemen der Politik, insbesondere bei der Herausbildung von Unterdrückungsstrukturen. Letztlich „entschärft“ die Losung daher nicht die nationalen Probleme, sondern gibt der realen Unterdrückungspolitik, im Gegensatz zur Losung des Selbstbestimmungsrechts, „sozialistische“ Rückendeckung.

Der „jüdische Bund“ im benachbarten Zarenreich griff die Position der AustromarxistInnen trotz deren Politik in der jüdischen Frage begeistert auf, indem er sie um das Element der „Exterritorialität“ erweiterte. D. h., auch ohne eigenes „nationales Territorium“ sollten in jeder Region, gemäß der nationalen Zusammensetzung, für Minderheiten eigene Schulen, Kultureinrichtungen und die Verwendung der eigenen Sprache im Verwaltungswesen eingeführt werden. Lenin setzte hier zu einer grundlegenden Kritik am Nationalismus und an dem Begriff der „nationalen Kultur“ an (115): In jeder nationalen Kultur gebe es progressive und reaktionäre Momente, gemäß ihren Beziehungen zu den Klassen, zu demokratischen, sozialistischen oder aber bürgerlichen, klerikalen etc. Elementen; denn jede nationale Kultur (auch die unterdrückter Nationen) werde letztlich von den besitzenden Klassen beherrscht. Die „internationale Kultur“, die SozialistInnen letztlich anstrebten, sei eine, die die fortschrittlichen Elemente aller nationalen Kulturen in sich aufnehme, um sie von der „Herrenkultur“ zu befreien. In diesem Sinn strebe der Sozialismus nach „Assimilierung“ aller Kulturen im Internationalismus, und zwar im Sinn einer progressiven Aufhebung im dialektischen Sinn, nicht im Sinn einer „Auslöschung“. Gerade in der jüdischen sozialistischen und demokratischen Bewegung „haben sich die universal-fortschrittlichen Züge in der jüdischen Kultur deutlich gezeigt: ihr Internationalismus, ihre Aufgeschlossenheit für die fortschrittlichen Bewegungen des Zeitalters (der Prozentsatz der Juden in den demokratischen und proletarischen Bewegungen ist überall höher als der Prozentsatz der Juden in der Bevölkerung)“ (116). Diese jüdischen Beiträge in den fortschrittlichen Bewegungen würden überall dazu beitragen, dass die „besten Traditionen des Judentums“ in der „internationalen Kultur der ArbeiterInnenbewegung“ aufgingen.

Die Losung des Bundes würde dagegen gerade zu Absonderung, zu Separatismus führen: eben weil z. B. durch die getrennten Schulen, die gesonderten Kultureinrichtungen etc. in den bestehenden jüdischen Gemeinden, die zumeist weiterhin von konservativen und religiösen Führungen beherrscht würden, die rückständigen Elemente der „nationalen Kultur“ gefestigt würden, statt eine gemeinsame Auseinandersetzung gegen unterdrückerische und reaktionäre Kulturpolitik zu führen. Dies würde in der Konsequenz z. B. sowohl den Kampf gegen den klerikalen und militaristischen Einfluss auf die Schulen nach sich ziehen als auch die Berücksichtigung des Jiddischen im Unterricht (bei entsprechender SchülerInnenzahl) ermöglichen, und zwar nicht nur für jüdische Kinder. Letztlich bedeutet diese Lenin’sche Politik auch die Ablehnung des sogenannten Integrationsgedankens: Es gibt keine „nationale Leitkultur“, in die sich Minderheiten zu integrieren haben. Letztlich geht es um die Gleichberechtigung aller in einer Region vertretenen Nationalitäten, die eine gemeinsame internationale Kultur (mit möglicherweise vielen Sprachen) entwickeln werden. Diese Lösung von „Minderheitenfragen“ ermöglicht im Gegensatz zur segregierenden Politik des Austro-Marxismus sowohl eine Selbstbestimmung in Bezug auf Nationalitätenfragen als auch eine Verstärkung des Austausches und der Verschmelzung zwischen den Kulturen.

Dies ist auch letztlich Lenins Antwort auf die „jüdische Frage“: Es geht weder um Integration oder Assimilation der Juden und Jüdinnen der Diaspora (wie der Diaspora jeglicher Nationalitäten oder Ethnien), sondern, zunächst über den Weg der Gleichberechtigung und der Bekämpfung aller Diskriminierung, letztlich um eine internationale Kultur, eine Verschmelzung aller progressiven Elemente dieser Teilkulturen unter Aufbewahrung der jeweiligen geschichtlichen und sozialen Erfahrungen. Es ist klar, dass diese Perspektive der Überwindung von Nationalismus und Unterdrückung nationaler oder ethnischer Minderheiten nur im Zusammenhang mit einer sozialistischen Überwindung des Kapitalismus als Weltsystem denkbar ist.

6.5 Antisemitismus und Imperialismus

Der Erfolg des eliminatorisch ausgerichteten Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert lässt sich letztlich nur im Kontext des Imperialismus und des Scheiterns der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung im Hinblick auf die Überwindung des Kapitalismus verstehen. Seit den 1890er Jahren hat der liberale Kapitalismus sein Gesicht wesentlich verändert: Qualitätssprung in der Bedeutung des Weltmarktes, Verschmelzung von Finanz- und Industriekapital, immer größere international agierende Kapitale und darauf basierende aggressive Großmachtpolitik, eine Weltordnung, durch wenige ImperialistInnen bestimmt. Dies alles führte zum Aufbrechen der traditionellen nationalstaatlichen Politik, zu wachsender Kriegsgefahr und raschem sozialen Wandel (schneller Aufstieg und ebenso schneller sozialer Abstieg). Der Imperialismus zeigte sich somit als ein Nährboden für Herrenmenschenideologien, die „zur Herrschaft geborene Nationen“ von „shithole nations“ (Donald Trump) unterscheiden – und natürlich die ideologische Konstruktion von „Parasiten-Völkern“, die sich in „gesunde Herrenvölker“ einnisten.

Imperialismus bedeutet einerseits verschärfte Konkurrenz der Kapitale auf dem Weltmarkt und Kampf der Großmächte um die Aufteilung der Welt. Andererseits bedeutet er die Mobilisierungen im Inneren dieser imperialistischen Mächte für diesen Kampf. Zudem werden Teile der ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen durch die imperialistischen Extraprofite in bessere soziale Positionen gebracht (Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie). Soziale Besserstellung von zumindest einem Teil der „eigenen“ ArbeiterInnen führt auch zu Einschränkungen der Arbeitsmarktmigration (die bis dahin in Europa noch stark unreglementiert war) und zum Eindringen kleinbürgerlicher Kultur und nationalistischer Ideologie in gewisse ArbeiterInnenschichten. Mit dem Imperialismus wächst also das Potential an chauvinistischer Mobilisierungsfähigkeit des jeweiligen nationalen Kapitals für seine Weltmachtansprüche.

Daher erzeugt der Imperialismus die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit, den Rassismus nach außen und innen zu verschärfen. Die chauvinistischen Mobilisierungen zu Gunsten der „eigenen“ Besitzansprüche verbinden sich mit Begründungen über die Minderwertigkeit von Völkern, gegen die vorgegangen werden müsse. Der Imperialismus verkauft sich als „Volksgemeinschaft“, die um ihren „Platz an der Sonne“ oder ihren „Lebensraum“ zu kämpfen habe, und dass man, wenn man diesen Kampf nicht führt, als „Rasse“ zum Untergang verurteilt sei. Die Terminologie mag sich geändert haben, denn heute spricht man lieber vom „Zusammenstoß der Kulturen“ und der Notwendigkeit, unsere „Lebensweise“ zu verteidigen, aber das Prinzip der ideologischen Verschleierung der eigentlichen imperialistischen Ziele hinter strukturell weiterhin rassistischen Pseudobegründungen ist dasselbe.

Der Imperialismus schafft nun die kapitalistischen Krisen, die in den Grundwidersprüchen des Kapitals angelegt sind, keineswegs ab – im Gegenteil: Er verschärft die Heftigkeit der Krisen, die insbesondere das Kleinbürgertum immer wieder in seiner Existenz bedrohen und auch die scheinbaren Sicherheiten der bessergestellten Teile der ArbeiterInnenklasse wieder zerstören. Auch dann ist die Ablenkung der folgenden Massenverzweiflung auf die angeblich dem ganzen Volk gemeinsamen FeindInnen im Äußeren und Inneren für das Kapital wesentlich. Der Rassismus ist dabei eine nützliche Waffe. Für das Kleinbürgertum ist schon seit Beginn der Neuzeit das Judentum bei jeder Krise ein Hauptverdächtiger. In der Epoche des Imperialismus, in der Finanz- und Industriekapital zusammenwachsen, werden diese altbekannten FeindInnen nunmehr zum „Finanzjudentum“. Schon lange hatte das Kleinbürgertum ideologisch zwischen dem guten, gerechten Tausch der „kleinen Betriebe“ und den bösen Aspekten der großen Industrie und Geldwirtschaft unterschieden (siehe z. B. bei Proudhon). Nunmehr verfestigte sich der pseudo-antikapitalistische Antisemitismus immer mehr zu einer Abspaltung des bösartigen, „jüdischen Finanzkapitals“ von einer an sich produktiven und dem Volk wohlgesinnten nationalen Industrie. Bei den Nazis heißt das dann: das „raffende jüdische Kapital“ gegenüber dem „schaffenden deutschen Kapital“ (117). Nachdem andererseits sozialistische Organisationen für viele Juden und Jüdinnen zur politischen Heimat geworden waren und sich diese Organisationen auch mehr oder weniger gegen die „nationalen“ Agitationen wandten, war klar, dass die bürgerliche Ideologie den ganz großen Feind am Werk sah: die jüdische Weltverschwörung durch Finanzkapital auf der einen Seite, internationalistische SozialistInnen auf der anderen Seite, ergänzt durch die die „Volkskultur“ zersetzenden jüdischen Intellektuellen in Kunst, Wissenschaft und Presse.

Diese Tendenz zur Verschmelzung der „feindlichen Rassen“ in einen zusammengefassten Feind hat eine zwingende Logik, wie Abraham Léon bemerkte: „Ebenso wie es nötig ist, die verschiedenen Klassen in einer Rasse aufgehen zu lassen, muss diese Rasse auch einen gemeinsamen Feind haben: den internationalen Juden. Der Rassenmythos ist konsequenterweise von einem Gegenmythos begleitet: dem der Antirasse, des Juden. Die Rassengemeinschaft baut auf dem Hass gegen die Juden auf“ (118).

Dies ist ein entscheidender Punkt. Die Verschärfung des Rassismus im Imperialismus bedingt, dass der Antisemitismus tatsächlich eine neue Qualität bekommt: die Zuspitzung des Rassismus in der Konstruktion einer Rasse, die angeblich alle anderen Rassen als eine Art Antirasse bedroht. Natürlich können auch andere „Rassen“ wie z. B. heute in vielen Teilen Europas „die MuslimInnen“ als Antithese zur Evozierung der „Volksgemeinschaft“ dienen, die sich zur Verteidigung des Abendlandes zusammenzuschließen habe. Aber hier ist der reale Gehalt der angeblichen ökonomischen Bedrohung (Untergrabung des „Sozialstaates“ durch die Kosten der Migration und Sicherheitsmaßnahmen) nicht von derselben Tragweite. Beim Antisemitismus geht es um einen Protest, der einen „bösen“ Teil des globalen Kapitalismus im Verbund mit deren angeblichen Hilfskräften in Politik und Gesellschaft absprengen will. Er bedeutet die Schaffung einer zu eliminatorischen Aktionen bereiten rassistischen Volksgemeinschaft (oder „Rassegemeinschaft“, wie Léon es nennt). Er mobilisiert zum scheinbaren Aufstand gegen das jüdische Kapital, um dies zu benutzen, die eigentlichen GegnerInnen des Kapitals zu eliminieren – und um letztlich in Kauf zu nehmen, dass der irrationale Pogromismus gegen die Juden und Jüdinnen aller Klassen unkontrollierbar wird. Was auch immer die bürgerlichen Kreise, die die Nazis 1933 an die Macht brachten (mit dem Zweck der Zerschlagung von ArbeiterInnenbewegung und parlamentarischer Demokratie) von deren Antisemitismus hielten – ihnen musste bewusst gewesen sein, wie viele Elemente von Adel, Bourgeoisie, Beamtenschaft, Militärs, KleinbürgerInnen etc. zur tatsächlichen „Endlösung der Juden-/Jüdinnenfrage“ bereit waren. Der militärisch-industrielle Apparat, der zur millionenfachen industriellen Massentötung von 6 Millionen Juden und Jüdinnen eingesetzt wurde, war allerdings in seiner Dimension kaum vorstellbar. Die Shoa ist sicher die grauenvollste Ausprägung der Monstrositäten des Imperialismus.

Dass neben dem „jüdischen Kapital“ auch der internationale Sozialismus und viele Aspekte der kulturellen Moderne in dieses System der Antirasse gebracht werden, hat noch einen weiteren Aspekt. Sigmund Freud hat dies in den 1930er Jahren in seinen Analysen zum Antisemitismus (119) als verallgemeinerten Hass auf den Fortschritt bezeichnet. Der „jüdische Geist“ werde mit der Infragestellung von Traditionen und überkommenen Lebensweisen identifiziert, der alles mit abstrakten Prinzipien und einem universalistischen Gerechtigkeitsbegriff auf den Prüfstand setze. Selbstinfragestellung, Triebverzicht und geforderte Ich-Stärkung des Modernisierungsprozesses würden zu Abwehrreaktionen mit großem Aggressionspotential führen. Im Wesentlichen nimmt Adorno dies in der „Dialektik der Aufklärung“ wieder auf, wenn er den Antisemitismus als tief verwurzelt im modernen Zivilisationsprozess ansieht, als Leiden an „der mit Herrschaft verknüpften Rationalität“ (120). Wieder wird „der Jude/die Jüdin“ zur Verkörperung der sehr allgemeinen und komplexen kulturellen Widersprüche des neuzeitlichen Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesses. Am deutlichsten wird diese „Kehrseite“ der modernen Rationalität im Judentum verkörpert bei Friedrich Nietzsche, der „den Juden und Jüdinnen“ den „Sklavenaufstand der Moral“ vorwarf (121). Das von den Zwängen und Einengungen der rationalisierenden Institutionen befreite Individuum (für das Nietzsche bei vielen Postmodernen heute so geschätzt wird) war dann damit der „vom Judentum befreite“ Herrenmensch (122).

6.6 Trotzki zu Antisemitismus, Imperialismus und Perspektive des Judentums

Lew Bronstein, genannt Trotzki, war Kind von jüdischen Mittelbauern/-bäuerinnen in der Ukraine. Sein Vater hatte die Möglichkeit ergriffen, im jüdischen Ansiedlungsrayon in der Nähe von Odessa Land zu pachten, und hatte seinen Betrieb systematisch ausgedehnt. Trotz der Restriktionen, die nur 10 % der Juden und Jüdinnen zu höheren Schulen zuließen, konnte Trotzki sich den Weg bis zum Studium durchkämpfen. Er hatte also schon sehr früh mit den praktischen Folgen des Antisemitismus im Zarenreich Erfahrungen gemacht und war sich zeitlebens (wie er in späteren Schriften deutlich machte) der Wirksamkeit des Antisemitismus (nicht nur) in der russischen Gesellschaft bewusst. Er ging jedoch seit seinen ersten politischen Aktivitäten voll und ganz in der russischen und internationalen ArbeiterInnenbewegung auf und war nie auf den Gedanken gekommen, sich gesondert, in einer jüdischen Organisation wie dem „Bund“, zu betätigen. In einer Schrift aus dem Jahr 1937 sagt er: „Während meiner Jugend tendierte ich zu der Prognose, dass die Juden und Jüdinnen in den verschiedenen Ländern mehr und mehr dort assimiliert würden und so die ‚jüdische Frage‘ praktisch automatisch verschwinden würde“ (123). Dies waren im Grunde die Auffassung der ArbeiterInnenbewegung zu Beginn des Jahrhunderts und auch die der meisten säkularen Juden und Jüdinnen. Dabei macht Trotzki klar, dass er diese „Assimilations“-Perspektive nie als einen Zwang zur Aufgabe einer Identität gesehen habe. In Bezug auf ein geplantes Ansiedlungsgebiet für Juden und Jüdinnen in der Sowjetunion (Birobidschan) bemerkte Trotzki, dass es in einer sozialistischen Gesellschaft weder einen Zwang zur Ansiedlung in einem bestimmten Gebiet noch einen Zwang zur Assimilierung geben dürfe, zwischen denen man zu wählen habe: „Ist es nicht korrekt zu sagen, dass eine sozialistische Weltföderation die Möglichkeit eines ‚Birobidschan‘ für diejenigen Juden und Jüdinnen schaffen würde, die sich in einer autonomen Republik als einer Arena für ihre eigene Kultur organisieren wollen? Es muss vorausgesetzt werden, dass die sozialistische Demokratie keine Zwangsassimilation zulässt“ (124).

In Bezug auf die Assimilationsprognose bemerkte Trotzki 1937, dass er seinen ursprünglichen Optimismus wie viele andere habe aufgeben müssen: „Die historische Erfahrung des letzten Vierteljahrhunderts hat diese Perspektive nicht bestätigt. Der niedergehende Kapitalismus hat überall einen wild gewordenen Nationalismus hervorgebracht, von dem ein Element der Antisemitismus ist. Die jüdische Frage wurde extrem gerade in einem der entwickeltsten Länder, in Deutschland, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Andererseits haben sich die Juden und Jüdinnen in verschiedenen Ländern stärker zusammengeschlossen, haben ihre eigene Presse, ihre eigene Literatur in jiddischer Sprache befestigt. Man muss daher anerkennen, dass die jüdische Nation sich für längere Zeit als eigenständig darstellen wird“ (125).

6.6.1 Trotzki über den eliminatorischen Antisemitismus

Früher als viele andere KommunistInnen erkannte Trotzki die extreme Gefahr, die von den Nazis ausging, speziell auch für Juden und Jüdinnen. In den 1920er Jahren wurde er mit seinen Mahnungen noch als Schwarzseher und Phantast verurteilt – inzwischen haben sich seine Prognosen längst als überaus weitsichtig erwiesen. Trotzki ging nicht davon aus, dass es sich beim Faschismus einfach um eine besondere Form der Diktatur des Monopolkapitals handle. Er erkannte, dass Faschismus wesentlich auf einer anti-modernistischen Massenmobilisierung beruht, die sehr aggressive reaktionäre Momente weckt, die dann mit der Machtergreifung auch zu ständigem Terror benutzt werden, also nicht einfach nur ein Mittel zur Errichtung einer sonst wieder ganz „normalen“ Diktatur sind.

Im „Portrait des Nationalsozialismus“ analysiert Trotzki 1934 die Grundzüge der Nazi-Ideologie als Ausdruck eines durch die krisenhafte Entwicklung der Gegenwart verzweifelten Kleinbürgertums. Die vom Abstieg bedrohten Mittelschichten suchten nach einer höheren „Instanz, die über Natur und Geschichte steht, gefeit gegen Konkurrenz, Inflation, Krise und Zwangsversteigerung“ (126). Der grausamen Realität werde „der nationale Idealismus als Quelle des Heldischen entgegengestellt“ (127). In der post-religiösen Welt habe der Nationalsozialismus dieses „Höhere“ in der Rassenideologie gefunden: „Um die Nation über die Geschichte zu erheben, gab man ihr als Stütze die Rasse. Den geschichtlichen Ablauf betrachtet man als Emanation der Rasse. Die Eigenschaften der Rasse werden ohne Bezug auf die veränderlichen gesellschaftlichen Bedingungen konstruiert“ (128). Praktisch führe dies zu einer besonders aggressiven Form des Chauvinismus, einer extremen Ausgrenzungspolitik gegenüber allen als „nicht-germanisch“ Eingestuften und einer Todfeindschaft gegenüber allen Feinden von „Rassenpolitik“, also vor allem gegenüber Liberalen und SozialistInnen.

Diese rückständige Ideologie finde ihren Rückhalt in verzweifelten Teilen der Gesellschaft, da die kapitalistische Entwicklung auch nur bedingt zu einer entsprechenden geistig-sozialen Höherentwicklung geführt habe: „Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Geistern und Beschwörungen zu glauben (…). Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden müsste, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei“ (129).

Diese „unverdaute Barbarei“, dieses „Kulturexkrement“, einmal an die Macht gekommen, etabliert natürlich nicht die Herrschaft des Kleinbürgertums. Wirtschaftspolitisch unterscheidet sich der Faschismus nicht sonderlich von anderen kapitalistischen Krisenregimen – jedenfalls bleibt das Privateigentum an den Produktionsmitteln weitestgehend unangetastet. Die chauvinistisch-rassistischen Elemente der kleinbürgerlichen Massenmobilisierung werden dagegen innen- wie außenpolitisch weiterhin genutzt. Wirtschaftspolitisch trifft es natürlich auch Teile der jüdischen Besitzenden, die aber nur einen verschwindend kleinen Anteil am gesamten Kapital ausmachten. Seine wirtschaftspolitisch ohnmächtigen Handlungen muss der Faschismus durch umso heftigere antisemitische Aktionen verbergen, gepaart mit der Ideologie vom produktiven „deutschen“ Kapital, das vom „raffenden“ jüdischen befreit werden müsse. „Während er sich vor dem kapitalistischen System verbeugt, bekriegt der Kleinbürger den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im langschößigen Kaftan, der oft keinen Groschen in der Tasche hat“ (130).

Einmal an die Macht gekommen, würden die kleinbürgerlichen Illusionen, die „unverdaute Barbarei“, nicht einfach abgeschafft, sondern „von der Wirklichkeit abgetrennt und in Ritualhandlungen aufgelöst“ (131). Das Pogrom wird aus seiner mittelalterlichen Gestalt auf die Ebene der bürokratisch organisierten Aktion moderner Massenorganisationen gehoben. Im Kern jedoch erhebe sich der Faschismus „über die Nationen als reinste Verkörperung des Imperialismus… Die gewaltsame Zusammenfassung aller Kräfte und Mittel des Volkes im Interesse des Imperialismus … bedeutet die Vorbereitung des Krieges; diese Aufgabe duldet keinerlei Widerstand von innen und führt zur weiteren mechanischen Zusammenballung von Macht. Den Faschismus kann man weder reformieren noch zum Abtreten bewegen. Man kann ihn nur stürzen. Der politische Weg der Naziherrschaft führt zur Alternative Krieg oder Revolution“ (132).

Als die Alternative „Krieg“ immer klarer wurde, schrieb Trotzki 1938, wiederum als ungehörter „Prophet“: „Die Zahl der Länder, die Juden vertreiben, wächst ohne Unterlass. Diejenigen, die Juden aufnehmen, werden immer weniger. Dagegen wird die Verfolgung immer heftiger. Es ist ohne Schwierigkeit möglich, sich vorzustellen, was die Juden schon bei einem Ausbruch eines neuerlichen Weltkrieges erwartet. Aber auch ohne Krieg wird die nächste Entwicklung der weltweiten Reaktion zur physischen Ausrottung der Juden führen“ (133).

6.6.2 Kein Platz für jüdische Flüchtlinge?

Gleichzeitig warnte Trotzki vor Illusionen in den „demokratischen Imperialismus“. Die Krisenregime in den USA, in Frankreich und Britannien hatten ihrerseits viele Elemente des Faschismus aufgenommen – nicht nur, was rassistische Kolonialpolitik, mörderischen Antikommunismus, autoritäre Politik betraf, sondern auch die Beförderung eines wachsenden Antisemitismus. Besonders drückte sich Letzteres in einer immer restriktiveren Abschottung gegenüber jüdischen Flüchtlingen aus: „Die Frage, hundert zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen, wird zu einem ‚Hauptproblem‘ für eine derartige Weltmacht wie die USA. In einer Ära der Luftfahrt, des Telefons, des Radios und des Fernsehens wird die Reise von einem Land in ein anderes durch Pässe und Visa gelähmt. Die Periode des Nachlassens des Welthandels … ist gleichzeitig eine Periode der enormen Steigerung von Chauvinismus und Antisemitismus. In der Epoche seines Aufstiegs holte der Kapitalismus die Juden aus dem Ghetto und benutzte sie als Instrumente seiner Handelsexpansion. Heute bemüht sich die niedergehende kapitalistische Gesellschaft, die Juden bis zum letzten Tropfen auszupressen; 12 Millionen Menschen von den rund 2 Milliarden, die die Erde bevölkern, d. h. weniger als 1 %, können heute keinen Platz mehr auf unserem Planeten finden! Inmitten der Ausdehnung nutzbaren Landes und der Wundertaten der Technik … hat es die Bourgeoisie fertiggebracht, unseren Planeten in ein ekelerregendes Gefängnis zu verwandeln“ (134). Mit der Tendenz zu Rassismus, Verfolgung, Krieg und den so produzierten Migrationswellen bringt der Imperialismus zugleich die Tendenz zu repressiven Grenzregimen und Konzentrationslagern hervor.

Dass die „demokratischen ImperialistInnen“ auch nach 1945 trotz der Erkenntnisse, die aus der Befreiung der KZs hätten gezogen werden können, weiterhin durch Antisemitismus geprägt waren, zeigt eine Episode, die Isaac Deutscher über die alliierte Militärverwaltung in Deutschland 1946 berichtete. Der britische Stellvertreter Eisenhowers, Generalleutnant Frederick Edgeworth Morgan, erklärte in einem Economist-Interview, es „drohe“ ein „Exodus“ von Juden und Jüdinnen aus Polen. Diese hätten „die Taschen voller Geld“. Sie würden alle „unglaubhafte“ Geschichten von Verfolgung und Gewalttaten berichten. Er vermute eine Organisation dahinter, die das alles finanziere. „Er glaube, dass eine ‚Weltorganisation der Juden im Entstehen‘ sei, die einen ‚ausgearbeiteten Plan für einen zweiten Exodus‘ hätten“ (135). Neben dem Entsetzen über einen solchen Ausbruch antisemitischer Stereotype an der Spitze der alliierten Administration (Morgan war auch noch für die Organisation der Flüchtlingsfrage verantwortlich) fragte Deutscher: „Was hat die zivilisierte Welt den Überlebenden von Bergen-Belsen, von Auschwitz, Dachau und Majdanek zu bieten? … Ist es denkbar, dass die großen demokratischen Nationen dieser Welt so hilflos geworden sind, dass sie den Juden nirgendwo auf dem Erdball einen Streifen Land anbieten können, oder einige hunderttausend Visa, um in ihre Länder einreisen zu können? Oder sind sie etwa so arm geworden, dass sie keine Geste der Barmherzigkeit mehr übrig haben für die elendsten Hinterbliebenen und Opfer dieses Krieges – die Überreste eines außergewöhnlichen, eines unglücklichen, aber nicht völlig unbedeutenden Volkes?“ (136).

6.6.3 Perspektive des jüdischen Volkes nach der Shoa?

Diese Frage nach der Perspektive des jüdischen Volkes gerade unter den absehbaren Bedingungen der enormen Verfolgungen, die der moderne Antisemitismus in der Krise des Imperialismus hervorbringen würde, stellte auch Trotzki schon in den 1930er Jahren. Nachdem er, wie oben schon zitiert, die „Assimilations-Perspektive“ der alten ArbeiterInnenbewegung für inzwischen illusorisch erklärt hatte, hielt er zugleich weiterhin daran fest, dass eine fortschrittliche Lösung der Frage der jüdischen Nation nur im Rahmen einer globalen sozialistischen Perspektive möglich sei: „Ich weiß nicht, ob sich das Judentum je wieder als eigenständige Nation etablieren kann. Jedoch kann es keinen Zweifel daran geben, dass die materiellen Bedingungen für eine eigenständige jüdische Nation nur durch die proletarische Revolution hervorgebracht werden können. Es gibt auf unserem Planeten nichts, was den Anspruch einer Nation auf irgendein bestimmtes Territorium rechtfertigen würde“ (137).

Von diesem Prinzip ausgehend, beurteilte Trotzki sowohl die Massenmigration nach Palästina kritisch als auch den Versuch der UdSSR, eine autonome jüdische Region Birobidschan zu bilden. In Palästina würde die Massenmigration entweder mit Unterstützung des britischen Imperialismus durchzuführen sein oder im Widerstand gegen ihn. Und gerade als die antisemitische Verfolgung am schärfsten in Europa wütete, war das britische Einreiseregime nach Palästina am restriktivsten. Außerdem war auch Trotzki schon klar, dass ein jüdisch-arabischer Ausgleich unter den Bedingungen des britischen Mandats sehr schwierig sein würde. Er erkannte, dass in den arabischen Aufständen der 1930er Jahre berechtigter antikolonialer Widerstand mit „reaktionärem Islamismus und antisemitischem Pogromismus“ verbunden war (138). „Die Etablierung eines jüdischen Territoriums in Palästina oder irgendeinem anderen Land auf der Welt ist unvorstellbar ohne eine Einwanderung von großen Menschenmassen. Nur ein siegreicher Sozialismus könnte eine solche Aufgabe erfolgreich lösen. Dies müsste entweder auf der Grundlage einer gegenseitigen Verständigung erfolgen oder würde eine Art von internationalem proletarischem Tribunal erfordern, das die Frage aufnimmt und löst“ (139).

Tatsächlich führten die Einwanderungsbeschränkungen in die USA (Immigration Act von 1924), ähnliche Einschränkungen auf der ganzen Welt in den folgenden Jahren und der zunehmende Antisemitismus in den 1930er Jahren dazu, dass die bis dahin geringen Zahlen der zionistisch organisierten „Alija“ (der „Rückkehr“ in das gelobte Land) stark in die Höhe schnellten: Die fünfte Alija von 1930 bis 1939 verdoppelte die jüdische Einwohnerzahl in Palästina auf fast eine halbe Million. Danach wurde die Einwanderung illegal als „Alija Bet“ (Ha’apala) weiterorganisiert, was bis zur Staatsgründung Israels weitgehend über Untergrundorganisationen und in starker Konfrontation mit den britischen Behörden geschah. Wie schon gesagt, beinhaltete dies auch die Auseinandersetzung mit dem antijüdisch eingestellten alliierten Besatzungsregime in Europa (sowohl im Westen als auch in den von der Roten Armee besetzten Gebieten Osteuropas). Anders, als es Trotzki vorhergesehen hatte, war trotz aller Widrigkeiten eine Massenmigration nach Palästina erfolgt, die mit 650.000 Juden und Jüdinnen ein Ausmaß erreichte, das für eine Staatsgründung reichte. Die politische Führung (insbesondere nach den Unabhängigkeitskämpfen und der Einwanderungsorganisation) lag in den Händen des aus der Poale Zion hervorgegangenen linken Awoda-Zionismus. Dieser mag durchaus eine sozialistische Perspektive für das künftige Israel in seinen offiziellen Erklärungen vertreten haben. Anders als die, in Palästina marginalen, VertreterInnen des jüdischen Bundes trat er jedoch nicht für einen jüdisch-arabischen Ausgleich ein, sondern für einen rein jüdischen Staat.

Insofern bleibt Trotzkis Einschätzung richtig, dass die berechtigte Perspektive einer Massenflucht nach Palästina nur dann zu einer fortschrittlichen Lösung der Frage der jüdischen Nation geführt hätte, wenn sie mit der Frage eines jüdisch-arabischen Ausgleichs verbunden worden wäre. Isaac Deutscher hat das Problem des Fehlens einer solchen Perspektive mit folgender Parabel veranschaulicht: „Einmal sprang ein Mann aus dem obersten Stock eines brennenden Hauses, in dem bereits viele seiner Familienangehörigen umgekommen waren. Er konnte sein Leben retten, aber im Herunterfallen schlug er auf jemanden auf, der unten stand, und brach diesem Mann Arme und Beine. Der Mann, der sprang, hatte keine Wahl, aber für den Mann mit gebrochenen Gliedern war er die Ursache seines Unglücks. Wenn sich beide rational verhielten, würden sie keine Feinde werden. Der Mann, der aus dem brennenden Haus entkam, würde, sobald er sich erholt hätte, versuchen, dem anderen Betroffenen zu helfen und ihn zu trösten; und jener hätte vielleicht eingesehen, dass er das Opfer von Umständen geworden war, die keiner von beiden unter Kontrolle hatte“ (140).

In Übertragung auf den Gründungsprozess Israels hätten jedoch die gerade dem Inferno Entkommenen keinen Gedanken an einen Ausgleich mit den PalästinenserInnen verschwendet. „Israel hat die Berechtigung für den Groll der Araber niemals anerkannt. Von allem Anfang an hat der Zionismus auf die Schaffung eines rein jüdischen Staates hingearbeitet und war froh, die arabischen Bewohner des Landes loszuwerden. Keine israelische Regierung hat sich je ernsthaft bemüht, das Übel aus der Welt zu schaffen oder zu mildern. Sie lehnten es sogar ab, das Schicksal der riesigen Flüchtlingsmassen in ihre Überlegungen einzubeziehen, solange die arabischen Staaten Israel nicht anerkannten, d. h., solange die Araber sich nicht politisch ergaben“ (141).

Die „jüdische Frage“ hat sich seit 1948 sicherlich gewandelt. Heute gibt es einen Territorialstaat, in dem eine jüdische Nation besteht. Dieser Nationalstaat hat jedoch einige Besonderheiten, die aus der Art seiner Entstehung folgen. Aus einem Fluchtpunkt vor dem weltweiten Antisemitismus wurde Israel zu einem Kolonialprojekt – und dies ausgerechnet am Beginn einer Periode der (scheinbaren) Entkolonialisierung. Nach einer Phase der Auseinandersetzung mit der in Palästina herrschenden Kolonialmacht folgte ein Arrangement mit den alten europäischen und später mit dem neu eingreifenden US-Imperialismus. Der entstandene jüdische Nationalstaat beruht von Beginn an auf der Ausgrenzung der arabischen Bevölkerung der Region und einer extremen Militarisierung mit imperialistischer Unterstützung. Weder von der Politik noch von der ökonomischen Potenz her kann Israel die jüdische Diaspora als Ganzes aufnehmen, für diese sprechen oder gar als deren „Heimat“ angesehen werden. Israel und „das Judentum“ können deshalb weiterhin nicht in eins gesetzt werden, auch wenn die „Diaspora“ und Israel eine komplexe Beziehung haben.

Es ist unbestreitbar, dass es heute eine zahlenmäßig bedeutsame jüdische Nation in Palästina gibt und als solche auch in ihrer Existenz dort von SozialistInnen anerkannt werden muss – ebenso wie die palästinensische. Irgendwelche historischen oder mythologischen Ansprüche auf „unser Land“ haben für SozialistInnen keine Geltung. Die Frage ist vielmehr, wie beide Nationalitäten in Palästina zu einem gleichberechtigten und friedlichen Zusammenleben finden können. Wir gehen dabei wie Trotzki in den 1930er Jahren davon aus, dass dies nur in einer sozialistischen Perspektive möglich sein wird, die die Klassenfrage vor die nationale Frage stellt und auf diese Weise einen sozialistischen, binationalen Staat ermöglichen würde. Gegenwärtig jedoch ist der bestehende Staat Israel durch rassistische Ausgrenzung und Besatzung großer, von PalästinenserInnen bewohnter Gebiete geprägt. Der Widerstand der PalästinenserInnen ist hiermit ein berechtigter Kampf gegen die Unterdrückung nationaler Selbstbestimmung. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der jüdischen Nation in Palästina ist damit nicht gleichbedeutend mit der Anerkennung Israels als „jüdischer Staat“, weil damit in seinem Kern das nationale Selbstbestimmungsrecht anderer dort lebender Nationalitäten negiert wird genauso wie ein unberechtigter Vertretungsanspruch für alle weltweit lebenden Juden und Jüdinnen damit verbunden ist. Ebenfalls haben SozialistInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das „Königreich Polen und Litauen“ nicht anerkannt und es bekämpft, weil es das Konstrukt des russischen Imperialismus war, das die Selbstbestimmung osteuropäischer Völker, insbesondere der PolInnen, wesentlich unterdrückt hat. Sie haben stattdessen für die Überwindung dieses politischen Konstrukts durch eine sozialistische Föderation der betroffenen Nationen gekämpft.

6.7 Oktoberrevolution, Stalinismus und der Mythos vom „linken Antisemitismus“

6.7.1 Perspektive der Weltrevolution als Überwindung des Antisemitismus

Der Sieg des Faschismus und das mörderische Wirken des eliminatorischen Antisemitismus waren in keiner Weise notwendig und unvermeidlich. Das lässt sich nur durch die zumindest auf globaler Ebene ausbleibende sozialistische Antwort auf die Menschheitskrise namens Imperialismus verstehen. Die sozialistischen Mehrheitsparteien wurden durch die Verbürgerlichung von Teilen der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern und die Integration ihrer bürokratischen Apparate in Staat und Wirtschaft letztlich zu sozialchauvinistischen Bestandteilen des bürgerlichen Systems. Mit ihrer Kapitulation zu Beginn des Ersten Weltkriegs gingen die sozialistischen Mehrheitsparteien praktisch in das Lager der Konterrevolution über, um diese Rolle dann am Ende des Krieges, während der revolutionären „roten Welle“, konkret auszufüllen. Doch mit der Abspaltung der kommunistischen Parteien und der siegreichen Oktoberrevolution war eine revolutionäre Alternative entstanden, die in der notwendigen Radikalität dem imperialistischen Weltsystem die sozialistische Weltrevolution als Strategie entgegensetzte. Auch für viele Juden und Jüdinnen war die Perspektive der Weltrevolution mit der Hoffnung auf die Überwindung von Diskriminierung und antisemitischer Verfolgung verbunden, doch der jüdische „Bund“ beteiligte sich an dem Regime der Februarrevolution und glitt mehrheitlich mit den Menschewiki in das Lager der SozialchauvinistInnen ab. In der Folge spaltete sich die Linke des Bundes ab und unterstützte die Bolschewiki in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg. Der „Kommunistische Bund“ blieb bis Anfang der 1920er Jahre als eigenständige, aber mit der KPR(B) verbundene, Organisation bestehen.

In der frühen Sowjetunion wurden, entsprechend der Lenin’schen Nationalitätenpolitik, verschiedenste Maßnahmen zur Selbstbestimmung der jüdischen Menschen ergriffen. Dies betrifft nicht nur die Einführung des Jiddischen als Unterrichtssprache in Schulen ab einem bestimmten Anteil jüdischer SchülerInnen und die Förderung jiddischer Literatur, eines jüdischen Nationaltheaters und drei überregionaler Zeitungen. Es betrifft vor allem die Abschaffung aller diskriminierenden Beschränkungen für Juden und Jüdinnen in der traditionellen russischen Gesetzgebung sowie die Verwendung des Jiddischen als Amtssprache, wo notwendig. Zur Durchführung dieser Maßnahmen wurden auch jüdische MinderheitenvertreterInnen in die entsprechenden Sowjetorgane delegiert. In der Kommunistischen Partei wurde 1918 eine jüdische Sektion, die Jewsekzija, gegründet. Der jüdische „Kommunistische Bund“ integrierte sich 1921 in die Jewsekzija, während „Bund“ und Poale Zion bis 1926 legal weiterbestehen konnten. Es wurde zwar wie gegen alle religiösen und nationalistischen Strömungen (vor allem die Russisch-Orthodoxe Kirche) auch gegen das Rabbinat vorgegangen und das Hebräische im öffentlichen Gebrauch verboten, jedoch wurde mit dem Nationaltheater „Habimah“ (Die Bühne) das erste bedeutende jüdische Theater in hebräischer Sprache geschaffen. Dieses Theater migrierte 1928 nach Palästina und wurde der Kern des heutigen israelischen Nationaltheaters.

6.7.2 Die Degeneration von Sowjetunion und KomIntern und die Folgen

Die Niederlagen der revolutionären Welle des europäischen Proletariats nach dem Ersten Weltkrieg, die Isolierung der Sowjetunion, deren bürokratische Degeneration und die folgende Gleichschaltung und der Niedergang der KomIntern bildeten entscheidende Voraussetzungen dafür, dass Faschismus und eliminatorischer Antisemitismus in Europa den Siegeszug antreten konnten.

Schon 1919 standen die KomIntern und die neu gegründeten kommunistischen Parteien vor der Aufgabe, aus den Niederlagen politische Lehren zu ziehen – auch hinsichtlich des Auftauchens neuer militanter Formen der extremen Gegenrevolution, des Faschismus. Angesichts der Neuartigkeit dieser Form der Konterrevolution verwundert es nicht, dass die wichtigsten Charakteristika von Faschismus und Nationalsozialismus als reaktionär-kleinbürgerliche und „kämpferische“ Massenbewegungen nicht oder nur unzureichend erkannt wurden. So wurden darunter oft und geradezu inflationär einfach Formen extremer Repression der (halb)bonapartistischen Diktatur verstanden, im Extremfall wurden bereits frühe Versionen der „Sozialfaschismustheorie“ vertreten. Damit einher ging somit auch immer wieder eine Unterschätzung und Verkennung der Bedeutung des Antisemitismus als ideologisches, völkisch-nationalistisches Bindungsmoment, vor allem im Nationalsozialismus.

In ihrer Frühphase betrachtete die KPD den Antisemitismus und völkischen Nationalismus zweifellos als eine bedeutende Gefahr. Nicht zuletzt waren wichtige KPD-FührerInnen, z. B. Luxemburg, dann Leviné (der Führer in der Münchner Räterepublik), selbst prominente Ziele antisemitischer Hetze und Verschwörungstheorien. Zu Recht verurteilte die KPD nicht nur Anschläge der Rechten und die Hetze gegen die KPD und die ArbeiterInnenbewegung, sondern brandmarkte auch den reaktionären Charakter antisemitischer Angriffe gegen jüdische Intellektuelle und Bürgerliche, darunter auch die Ermordung Walter Rathenaus.

Die Analyse des Antisemitismus, und erst recht des Faschismus, blieb jedoch unzureichend. Dies musste notwendigerweise nicht nur mit einer Unterschätzung der faschistischen Gefahr einhergehen, sondern konnte unter veränderten politischen Konstellationen auch zu einer opportunistischen Anpassung an die nationalistische Rechte oder den Antisemitismus führen. Die Ruhr-Besetzung 1923 ging in der KPD und in der KomIntern mit einer Anpassung an nationalistische Stimmungen einher, weil die nationale Frage nicht den Rechten überlassen werden sollte.

Einen ersten Höhepunkt stellten die Schlageter-Rede Radeks und die folgende Eröffnung von (nur kurze Zeit andauernden) Diskussionen mit VertreterInnen der „nationalistisch-völkischen“ Opposition dar. Diese Abenteuer verwirrten jedoch nicht die Rechten, sondern die eigenen AnhägerInnen, erschwerten zugleich die Gewinnung sozialdemokratischer ArbeiterInnen und rechtfertigten im schlimmsten Falle den Antisemitismus.

Eine extreme Anpassung diesbezüglich finden wir in der Rede Ruth Fischers an der Humboldt-Universität am 25. Juli 1923 vor kommunistischen StudentInnen, zu der auch deren völkische KommilitonInnen eingeladen waren. Dort heißt es: „Das deutsche Reich (…) kann nur gerettet werden, wenn Sie, meine Herren von der deutschen völkischen Seite, erkennen, daß sie gemeinsam mit den Massen kämpfen müssen, die in der KPD organisiert sind.“ (142)

Und weiter: „Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber, meine Herren, wie stehen sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner…“ (143)

Diese abstoßenden politischen Abenteuer stießen jedoch auch auf offene Kritik – z. B. durch Zektin –, wobei diese Kritik eng mit den Auseinandersetzungen um die sogenannte Offensivtheorie, die nationale Frage und die Einheitsfrontpolitik verbunden war. Entscheidend ist jedoch, dass hier der Antisemitismus nur noch als verwerflich gilt, wenn er sich gegen die jüdischen ArbeiterInnen richtet. Die Hetze gegen jüdische KapitalistInnen wurde hingegen von der KDP schon recht früh verharmlost.

Nach 1925 und dem Sturz von Fischer/Maslow verschwinden laut Kessler die antisemitischen Ausfälle weitgehend aus der KPD-Politik, und sie spielen auch eine weit geringere Rolle als im Fraktionskampf in der Sowjetunion. Allerdings kommt es mit der Wende zur ultralinken Politik erneut zu schweren politischen Fehlern und einer systematischen Verharmlosung des Antisemitismus in der Politik der Nazis. Dieser wird ökonomistisch als „Trick“ bezeichnet, mit dem der Faschismus das KleinbürgerInnentum und die ArbeiterInnen täuschen wolle. Seine Hetze gegen das jüdische Finanzkapital wäre nur Schein, in Wirklichkeit würden sie das gesamte Kapital – auch die jüdischen UnternehmerInnen – verteidigen.

Bis 1933 vermochte die KPD also ähnlich wie andere Parteien der KomIntern die Bedeutung des Antisemitismus für die Politik des Nationalsozialismus nicht zu begreifen. Ihre Position durchläuft enorme Schwankungen, einschließlich von Phasen der politischen Anpassung und Verharmlosung.

Allerdings stellten für die KomIntern und die KPD der nach dem Ersten Weltkrieg aufkommende Faschismus und die qualitativ gestiegene Bedeutung des Antisemitismus für die Reaktion zweifellos neue Phänomene dar. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie nicht „sofort“ richtig verstanden wurden. In diesem Sinne waren Schwankungen unvermeidlich. Die zunehmende politische Degeneration der Kommunistischen Internationale und der Sowjetunion verhinderte nicht nur eine Überwindung dieser Schwächen, sondern verschärfte diese. Erstens erstickte sie die innerparteiliche Demokratie und damit die offene Diskussion um die theoretische und politische Klärung. Zweitens ging der Aufstieg der stalinistischen Bürokratie selbst notwendigerweise mit einer Rehabilitierung des Nationalismus einher.

Trotzki hat sicher Recht, dass mit dem Verspielen der deutschen Revolution, der Unfähigkeit, die Machtergreifung der Nazis zu verhindern, die KomIntern auf dem Weg in das Lager der Konterrevolution war. Der Stalinismus hatte sich spätestens mit der Volksfrontstrategie mit dem imperialistischen Weltsystem arrangiert, wenn auch aufgrund seiner sozialen Basis in ArbeiterInnenstaaten in widersprüchlicher Weise darin eingegliedert.

Die sogenannte Volksfront war nicht nur ein strategischer Fehler, durch den der proletarische Klassenstandpunkt und die revolutionäre Perspektive einer bürgerlich-demokratischen Zwischenetappe untergeordnet wurden. Die angestrebten BündnispartnerInnen, vor allem im Kleinbürgertum, wurden auch unkritisch ins „progressive“ Lager schöngeredet. Statt deren reaktionäre Tendenzen, wie sie sich im Faschismus klar gezeigt hatten, anzugreifen und sie zum Bruch mit den kleinbürgerlichen Illusionen zu bringen, wurden umgekehrt kleinbürgerliche Positionen übernommen, insbesondere was Nationalismus oder „Patriotismus“ betrifft. In der Ideologie der Trennung zwischen „patriotischen, produktiven“ Teilen der bürgerlichen Gesellschaft und „aggressiven Teilen des Monopol- und Finanzkapitals“ schlug man sogar in dieselbe Kerbe wie die Nazis. Bereits in der Volksfrontpolitik kam es zu einem völligen Bruch mit der revolutionär-marxistischen Ablehnung des Nationalismus, indem man angeblich progressiven Patriotismus vom imperialistischen Chauvinismus unterschied. Den Gipfelpunkt erreichte diese Wende im Patriotismus der „Vaterlandsverteidigung“ der Sowjetunion, in dem die gesamte russische Geschichte in eine Emanation des Fortschritts und der Verteidigungsnotwendigkeit gegen fremde AggressorInnen umgedichtet wurde.

Wie in vielen anderen Fragen zeigt insbesondere die Haltung zur jüdischen Frage den totalen Bruch des Stalinismus mit dem revolutionären Marxismus, der in der frühen Sowjetunion durchaus noch zu sehen war. Wenn heute die Aktivitäten Stalins und seiner NachfolgerInnen (auch im Westen) dafür verwendet werden, um zu zeigen, dass der revolutionäre Marxismus immer schon eine antisemitische Seite hatte, ja das Urmodell des „linken Antisemitismus“ sei, so ist dies eine völlige Verkennung des Bruchs in der Linken, der mit dem Sieg Stalins in der frühen Sowjetunion einherging. Die in diesem Artikel dargestellten Positionen Lenins und Trotzkis zur nationalen Frage und ihre klare Positionierung gegen den Antisemitismus waren von der Überzeugung bestimmt, dass die sozialistische Revolution ein internationaler Prozess sei, in dem der proletarische Klassenstandpunkt nur ein internationalistischer sein könne, der sich von nationalistischen und antisemitischen Haltungen befreien müsse. Ansonsten könne es sich nicht um einen sozialistischen Standpunkt handeln, und man werde hinter der Bourgeoisie hertrotten. Die stalinistische Wende zum „Sozialismus in einem Lande“, zur Wiederentdeckung von Patriotismus und völkischem Populismus, um die permanente proletarische Revolution zugunsten patriotischer Blöcke „progressiver“ Klassen etc. aufzugeben, bedeutete letztlich die Aufgabe des revolutionären Internationalismus zugunsten einer nationalen Außenpolitik der „real-sozialistischen“ Staaten. Für die linke Kritik, nicht nur durch die von Trotzki geführte Linksopposition, an dieser Aufgabe des revolutionären Internationalismus erfand der Stalinismus bald den Begriff des „wurzellosen Kosmopolitismus“. Während Stalin und seine BürokratInnen angeblich aus der „Mitte des russischen Volkes“ kämen (auch wenn Stalin selbst eigentlich Georgier war), seien die InternationalistInnen abgehobene Intellektuelle – oder eben Juden und Jüdinnen. Anfänglich schreckte die Bürokratie noch vor direktem Gebrauch des Antisemitismus zurück und verbarg die AdressatInnen der Angriffe hinter dem Schönsprech-Begriff „wurzellose KosmopolitInnen“. So wurde dieser Begriff im „Realsozialismus“ als Kampfbegriff sowohl gegen alles Jüdische als auch gegen die internationalistische Linke allgemein verbreitet. Wenn heute Sahra Wagenknecht und andere LinkspopulistInnen gegen „Linksradikale“ und BefürworterInnen offener Grenzen den Begriff des „Kosmopolitismus“ verwenden, kann vermutet werden, dass sie mehr oder weniger bewusst an diese Tradition anknüpfen.

6.7.3 Bürokratie und Antisemitismus

Trotzki erwähnt in seiner Schrift „Thermidor und Antisemitismus“ (144), dass bereits in den Fraktionsauseinandersetzungen 1923–1926 von der Stalin-Fraktion die Karte des Antisemitismus gespielt worden sei, indem verbreitet wurde, die AnhängerInnen der Linksopposition wären vor allem Juden und Jüdinnen (was nicht einmal der Wahrheit entsprach). War dies noch verdeckt geschehen, so wurde nach dem Wechsel von Sinowjew und Kamenew zur Linksopposition 1926 ganz offen gegen „jüdische Umtriebe“ agitiert. Als Trotzki Bucharin (damals noch ein zentraler Unterstützer der Stalin-Fraktion) auf diese Agitation ansprach, versprach dieser, sie zu unterbinden. Heraus kamen jedoch nur unverbindliche Distanzierungen vom Antisemitismus (145). Tatsächlich wurden die Ausschlüsse und Exilierungen der Linksoppositionellen mit Mobilisierungen verbunden, auf denen Slogans wie „Weg mit den Juden und Jüdinnen, rettet Russland“ die Runde machten. Als die Bürokratie zu den großen Säuberungen ab 1934 ansetzte, wurde die entsprechende „Einnordung“ auf die zu eliminierenden „FeindInnen“ schon mal dadurch vorbereitet, dass alle bisher bekannten Parteinamen von Bolschewiki wie Trotzki, Sinowjew, Kamenew durch ihre ursprünglich jüdischen Namen ersetzt wurden. Auch Trotzkis Sohn, Sergei Sedow (im Gegensatz zu seinem älteren Bruder ein völlig unpolitischer Naturwissenschaftler), der sein Leben lang den Familiennamen seiner Mutter getragen hatte, wurde plötzlich in der Presse zu Sergei Bronstein. Man warf ihm in einer Kampagne vor, die sowjetischen ArbeiterInnen über das Trinkwasser vergiften zu wollen (die antisemitischen Brunnenvergiftermythen lassen grüßen) und ließ ihn wie viele andere nach den Schauprozessen 1936 erschießen.

Trotzki erklärte dieses Wiederaufleben des Antisemitismus in der Sowjetunion erstens mit der tief sitzenden antisemitischen Kultur in Russland, die durch die kurzen Jahre des revolutionären Prozesses nach der Oktoberrevolution nur am Beginn der Auflösung stand. Mit der stalinistischen Konterrevolution und der Wiederkehr des „Patriotismus“ kam auch der alte großrussische Chauvinismus in all seinen Facetten erneut zum Vorschein, und dies beinhaltete eben auch den Antisemitismus. Zweitens aber sah Trotzki auch einen soziologischen Grund für eine neue Art des Antisemitismus: Da die Sowjetunion einen hohen Bedarf an Staatsbediensteten hatte und diese überproportional in der jüdischen Stadtbevölkerung fand, gab es in der Sowjetbürokratie einen höheren Anteil an Juden und Jüdinnen. Aufgrund der Mangelwirtschaft der frühen Sowjetunion war „der Hass auf die Bürokratie durch Bauern und Arbeiter ein fundamentaler Zug des Sowjetlebens“ (146). Insofern nutzte die Stalin-Fraktion den Antisemitismus einerseits als Ventil für den Unmut mit der Bürokratie – nach dem Motto „die Sowjetbürokratie wäre für euch da, wenn da nicht so viele Juden und Jüdinnen wären“. Andererseits wurden auf diese Weise alle anti-sowjetischen und konterrevolutionären Bestrebungen umgelenkt auf die Stärkung des „großen Führers“; Antisemitismus wurde zum ständigen Mittel innerparteilicher Säuberungen.

Trotzki charakterisiert die Sowjetbürokratie und ihre Führung, die ihre Privilegien in widersprüchlicher Weise weiterhin auf der Grundlage nachkapitalistischer Eigentumsverhältnisse erhielten, als geprägt durch das Gefühl eines ständigen Belagerungszustandes. Dies wurde neben der allgegenwärtigen Repression auf ideologischer Ebene im Wesentlichen mit drei Elementen beantwortet: einer dauernden Befeuerung mit diversen Kampagnen, die den Alltag durchzogen; der Schaffung privilegierter, arbeiteraristokratischer Schichten, die das Regime trugen; und schließlich einem unverhohlenen Zurückgreifen auf Nationalismus und andere reaktionäre Vorurteile, die auch den Antisemitismus einschlossen (147).

So wundert es nicht, dass auch die Fortschritte, die die Oktoberrevolution für das jüdische Leben gebracht hatte, unter Stalin nach und nach verschwanden: Abschaffung des jiddischen Schulunterrichts, Schließung der jiddischen Zeitungen, Säuberung der jüdischen Vertretungsorgane, Verbot aller selbstständigen jüdischen Organisationen (nicht nur der zionistischen). 1930 wurde selbst die Jewsekzija aufgelöst. Ihre FührerInnen, wie Semen Dimenstejn, wurden während der „großen Säuberungen“ 1936 als „TrotzkistInnen“ verfolgt und liquidiert.

6.7.4 Sowjetunion im zweiten Weltkrieg – Bollwerk gegen den Antisemitismus?

Isaac Deutscher hat in seiner bekannten Biographie über Stalin (148) die Schwankungen und letztlich Steigerungen des Antisemitismus im und nach dem Zweiten Weltkrieg ausführlich dargestellt. Besonders deutlich stellt Deutscher dar, wie sehr die Sowjetbürokratie nach Beginn der Nazi-Okkupation alle Register des Nationalismus und Chauvinismus zu ziehen begann. Der „große Vaterländische Krieg“ wurde in eine Reihe mit allen möglichen „Freiheitskriegen“ seit Iwan IV. (dem Schrecklichen) gesetzt. Diese „vaterländische Gesinnung“ beinhaltete die Verbreitung von Misstrauen gegen „WestlerInnen“ und andere „nichtrussische Elemente“.

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Okkupation Ostpolens durch die „Rote Armee“ kamen beträchtliche Teile der jüdischen Bevölkerung unter sowjetische Herrschaft. Da die kommunistische Organisation in Polen schwach war, griff die Sowjetbürokratie notgedrungen auf die Zusammenarbeit mit dem polnischen jüdischen „Bund“ zurück. Mit Genehmigung Stalins wurde ein „Jüdisches Antifaschistisches Komitee“ gegründet, zu dessen Führung die bekanntesten Persönlichkeiten des „Bundes“ gehörten: Henryk Ehrlich und Victor Alter. Nach dem Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion 1941 wurde dieses Komitee nach Moskau verlagert, während in den besetzten Gebieten bewaffnete Kräfte verblieben. Stalin misstraute jedoch jeglicher unabhängiger Organisierung und ließ die Führung des Komitees 1942 als „Nazi-Spione“ verhaften und liquidieren. Während des Krieges blieb die Sowjetpropaganda zu den Gräueln gegen die Juden und Jüdinnen unter deutscher Besatzung jedoch still, weil sie fürchtete, mit pro-jüdischen Stellungnahmen den russischen Patriotismus zu schwächen (149). Deutscher weist zu Recht auf den bezeichnenden Umgang mit dem Massaker von Babij Jar (ukrainisch: Babyn Jar) hin: An diesem Ort nahe Kiew fand Ende September 1941 eines der schrecklichsten Massaker an Juden und Jüdinnen durch Massenexekution von mehr als 33.000 Menschen an nur zwei Tagen statt (durch Einsatzgruppen von SS, SD und Wehrmacht). Dieser Kriegsgräuel konnte der sowjetischen Öffentlichkeit nicht entgehen. Die Parteipresse stellte zwar das empörende Ausmaß dar, verschwieg jedoch, dass es sich bei den Opfern ausschließlich um Juden und Jüdinnen handelte. Auch nach der Eroberung Kiews und in der Nachkriegszeit wurde weiterhin von Massakern an „sowjetischen StaatsbürgerInnen“ gesprochen – es wurde bis über Chruschtschow hinaus jegliches Mahnmahl oder jegliche Erinnerung an die Opfer als Juden und Jüdinnen verhindert (es sollte sogar über den Ort des Geschehens ein Sportstadium gebaut werden). In den 1960er Jahren führte diese Missachtung zu einer bedeutenden Rebellion sowjetischer Intellektueller: Jewgeni Jewtuschenkos Gedicht „Es gibt kein Denkmal in Babij Jar“ löste eine heftige Kampagne gegen „KosmopolitInnen“ aus, die mit der Hervorhebung des speziellen jüdischen Schicksals das Leiden der Sowjetbevölkerung herabsetzen und „Rassenhass“ schüren würden. Als der berühmte Komponist Dmitri Schostakowitsch dem entgegentrat und in seiner Symphonie Nummer 13 das Gedicht „Babij Jar“ Jewtuschenkos vertonte, konnte die Aufführung 1962 trotzdem nur mit äußerster Mühe durchgesetzt werden. Dieses Werk stellt ironischerweise eines der ergreifendsten künstlerischen Monumente zur Shoa dar – trotz oder gerade wegen des Widerstandes, gegen den das Werk zustande kam.

Auch wenn der „Roten Armee“ das Verdienst zufällt, Konzentrationslager wie Auschwitz befreit und viele Millionen Juden und Jüdinnen aus den Schrecken der Nazi-Herrschaft gerettet zu haben, so bleibt der Makel der Untätigkeit während des Warschauer Aufstandes (August bis Oktober 1944). Den sowjetischen Streitkräften wäre es ein Leichtes gewesen, hier (in Abänderung ihrer Offensivpläne) den jüdischen und polnischen KämpferInnen zu Hilfe zu kommen und somit das Massaker an 200.000 Menschen zu verhindern. Zu der Zeit wurde bereits die Nachkriegsordnung in Osteuropa vorbereitet, in der es nur die „Rote Armee“ als einzige bewaffnete Kraft im sowjetischen „Einflussbereich“ geben sollte. Zu dieser Nachkriegsordnung in Polen, im Baltikum, in der Ukraine und in Weißrussland gehörte auch, dass man gegen KollaborateurInnen bei antijüdischen Verbrechen kaum vorging und antisemitische Ausschreitungen weiterhin duldete. So wurde die Auswanderung der überlebenden Juden und Jüdinnen aus Osteuropa durch die sowjetische Politik wesentlich mitbefördert.

6.7.5 Die Sowjetunion und die Gründung des Staates Israel

In die Phase des Kriegsendes und der Nachkriegszeit gehört auch eine kurzzeitige Annäherung von Stalinismus und Zionismus. Durch das Bündnis mit den USA und Großbritannien und die Verhandlungen von Teheran, Jalta und Potsdam verfielen die StalinistInnen auf die Illusion einer Fortsetzung dieser Kooperation nach dem Krieg, wodurch die Welt in klar abgegrenzte Einflusssphären aufgeteilt sein würde. In Osteuropa sollten unter Kontrolle der sowjetischen Militärmacht „Volksdemokratien“ entstehen, während in Westeuropa und Griechenland, trotz großer kommunistischer Massenparteien, die „westliche Demokratie“ vorherrschen sollte. Anfang 1947 eröffneten jedoch die USA den „Kalten Krieg“ (offiziell mit der Verkündung der Truman-Doktrin im März dieses Jahres). Während noch in Potsdam dem britischen Imperialismus die Kontrolle über den Nahen Osten, Nordafrika und Griechenland überlassen worden war, erwiesen sich die BritInnen weder in Griechenland noch in Palästina ökonomisch und militärisch fähig, die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Dies veranlasste die USA, präventiv gegen das Vordringen des sowjetischen Einflusses in der Region auf den Plan zu treten. Die Sowjetunion stand mit der „Roten Armee“ im Norden des Iran und begann über nationalistische Militärs im Irak und in Syrien, ebenfalls die Schwächephase der BritInnen auszunutzen. So wurde auch Palästina zu einem Interventionsfeld sowohl der USA als der Sowjetunion. Stalin setzte darauf, dass, ähnlich wie in Osteuropa, auch in Palästina die linken ZionistInnen ein/e BündnispartnerIn für die Errichtung einer „Volksdemokratie“ sein könnten.

Der linke Zionismus organisierte sich vor allem um die „Hashomer Hatzair“ (Der Wächter; linke zionistische Jugendorganisation) und linke „Poale Zion“-Organisationen, die sich 1948 zur „Mapam – Vereinigte ArbeiterInnenpartei“ zusammenschlossen. Diese war lange die zweitgrößte Partei in Israel nach der „Arbeitspartei“ (Mapai – Israelische ArbeiterInnenpartei), die sich aus dem rechten Flügel der Poale gebildet hatte. Heute hält nur noch die „Meretz“ (Energie), die aus mehreren Umgruppierungen aus der Mapam hervorging, die Fahne des „linken Zionismus“ hoch. In der Phase um die Staatsgründung herum war Mapam eng mit dem Stalinismus verbunden, und dies nicht nur in Palästina, sondern auch in Osteuropa. Mapam/Hashomer-AktivistInnen waren wesentlich am Aufbau der „Haganah“ (Die Verteidigung) beteiligt. Die Haganah war nicht nur eine militärische Organisation in der Auseinandersetzung mit BritInnen und AraberInnen, sondern auch wesentlich für die Fluchtwege aus Osteuropa ins Mandatsgebiet zuständig. Diese Verbindungen wurden auch genutzt, um Waffen aus der Tschechoslowakischen Volksrepublik nach Palästina zu befördern. Dies geschah natürlich mit voller Unterstützung durch Stalin. Somit wurden sowohl die Haganah als auch die „Palmach“ (Einsatztruppen) als Vorläuferinnen der israelischen Armee zentral durch „sowjetische Geschwisterhilfe“ aufgebaut. Während die Mapam diese Verbindung zum „volksdemokratischen Lager“ nutzte und mithilfe ihres agrarsozialistischen Programms (sie war wesentliche Trägerin der linken Kibbuz-Bewegung; Kibbuz: Sammlung, Versammlung, Kommune) auch die Schaffung eines „sozialistischen“ Israel vorantreiben wollte, hatte die Mapai andere Pläne. Nach Staatsgründung, Massenvertreibung von PalästinenserInnen aus dem Teilungsgebiet und dem Sieg im ersten israelisch-arabischen Krieg wurde das Bündnis mit der Sowjetunion nicht vertieft. Die neue Staatsräson eines mit allen Mitteln zu verteidigenden „jüdischen Territoriums“ ließ eine Übereinkunft mit Britannien und Frankreich opportuner erscheinen. Diese versprachen eine erfolgversprechende Eindämmung des arabischen Nationalismus und seiner antikolonialistischen Bestrebungen gegenüber Israel. Spätestens nach dem Umsturz in Ägypten (Nasser, 1952) setzte die Sowjetunion in der Region auf die Karte des arabischen Nationalismus und brach mit den einstigen zionistischen Verbündeten. Endgültig wurde dies mit der Suezkrise 1956 vollzogen, mit der die USA und die Sowjetunion die alten europäischen imperialistischen Mächte Britannien und Frankreich großteils aus der Region verdrängten. Israel mutierte zum engsten Verbündeten der USA in der Region (150).

6.7.6 Die „antizionistische“ Wende der Sowjetunion

Die Änderung der Bündnisorientierung Israels nach 1948 führte auch in der Sowjetunion zu einer anderen Haltung gegenüber dem Zionismus. Auch wenn zionistische Organisationen, zumindest in Osteuropa, noch bis Anfang der 1950er Jahre aktiv sein konnten, wurde die Lage für jüdische Organisationen in der Sowjetunion immer schwieriger. Trotzdem wurde die spätere Ministerpräsidentin Golda Meir als erste Botschafterin Israels 1948 von einer spontanen Masse jüdischer SowjetbürgerInnen in Moskau empfangen, und dies in einer innenpolitischen Situation, in der Stalin mit äußerster Härte gegen jegliche unabhängige politische Regung vorging. Dies mag zusammen mit der Politik Israels dazu geführt haben, dass die sowjetische Führung Ende der 1940er Jahre mit einer neuerlichen Welle antijüdischer Aktionen begann (151). Zunächst wurden im Rahmen der gerade sowieso vor sich gehenden Säuberungen (Liquidierung der Leningrader Parteiführung aus innerfraktionellen Gründen) auch gleich sämtliche jüdischen Organisationen ausgeschaltet. Das „jüdische antifaschistische Komitee“ wurde als „zionistisches imperialistisches Element“ diffamiert, und alle Führungspersönlichkeiten wurden liquidiert, darunter der langjährige sowjetische Gewerkschaftsführer Losowski. Wiederum fielen 1950 viele „wurzellose KosmopolitInnen“, darunter prominente KünstlerInnen und ParteifunktionärInnen, dem stalinistischen Terror zum Opfer.

Aber auch in den inzwischen aus „Volksdemokratien“ in „sozialistische Geschwisterstaaten“ gewandelten Staaten Osteuropas wurde der Antisemitismus zum wesentlichen Element der Politik. Wieder trifft Trotzkis Analyse des spezifischen Antisemitismus unter den Bedingungen der bürokratischen Herrschaft zu. Aufgrund der Geschichte der Linken und der soziologischen Zusammensetzung der Bürokratie waren auch in Polen und der Tschechoslowakei viele ParteifunktionärInnen jüdischer Herkunft. Der Unmut gegen die stalinistische Bürokratie konnte so auch hier auf die „volksfernen KosmopolitInnen“ gelenkt werden. Dies wurde Anfang der 1950er Jahre zu einer Reihe von „Säuberungen“ genutzt. Als einer der Höhepunkte wurde im November 1952 überraschend der Generalsekretär der KPTsch, Rudolf Slánsky, verhaftet und einer „trotzkistisch-titoistisch-zionistischen“ Verschwörung angeklagt. Im Prozess wurde Israel als imperialistisches Spionagezentrum dargestellt, das einen neuen Weltkrieg gegen die Sowjetunion vorbereiten würde. Angeklagt wurden auch zwei Führer der Mapam, die mit Slánsky den von Stalin angeordneten Waffendeal vor der Staatsgründung Israels organisiert hatten. Natürlich war dies auch eine Reinwaschung Stalins für seine Fehleinschätzung in Bezug auf die Entwicklung Israels. Slánsky spielte offenbar für Stalin (der den Prozess persönlich angeordnet hatte) die Rolle des Sündenbocks. Andererseits diente der kaum verhohlene Antisemitismus im Prozess der Mobilisierung der Volksstimmung zugunsten der „volksnahen“ Teile der Bürokratie. Ironischerweise wurden nach Stalins Tod antisemitische Kampagnen für die Säuberung von „stalinistischen VerbrecherInnen“ genutzt, für die auch wiederum Juden und Jüdinnen aus der Parteiführung herhalten mussten. So wurden die jüdisch-stämmigen Politbüromitglieder Berman und Minc 1957 von Gomulka in Polen als Verantwortliche der „Irrtümer und Fehler der Stalin-Ära“ aus der Partei ausgeschlossen.

Noch kurz vor Stalins Tod im März 1953 erreichten die anti-jüdischen Verfolgungen in der Sowjetunion ihren Höhepunkt. Im Zusammenhang mit dem sich abzeichnenden Machtkampf um die Nachfolge Stalins fabrizierte die Fraktion um den Geheimdienstchef Beria das sogenannte „Ärztekomplott“. Jüdische ÄrztInnen, die als „zionistisch-trotzkistisch-titoistische“ AgentInnen entlarvt worden waren, seien Schuld am Tod mehrerer prominenter ParteiführerInnen gewesen (die wahrscheinlich von Beria selber umgebracht worden waren). Die darauf einsetzende Hetze und Verfolgung gegen jüdische AkademikerInnen (nicht nur ÄrztInnen) erinnert an die finstersten Zeiten des Zarismus. Wahrscheinlich hat nur Stalins Tod eine Eskalation in ein massenhaftes Pogrom verhindert. Mit der Ausschaltung Berias war auch das „Ärztekomplott“ schnell vergessen.

Auch wenn in der Sowjetunion nach Stalin antijüdische Verfolgungen in diesem Ausmaß nicht mehr vorkamen, blieben viele Elemente der stalinistischen Politik gegenüber den sowjetischen Juden und Jüdinnen erhalten. Eigenständige kulturelle und nationale Vertretungsorgane blieben weiter verboten so wie auch das kulturelle und religiöse jüdische Leben schwer behindert wurde. Die Beschuldigung, ein/e „ZionistIn“ zu sein, gehörte bis zum Ende der Sowjetunion neben dem Trotzkismus-Vorwurf zu den schärfsten Waffen der Bürokratie. Damit verbunden waren Juden und Jüdinnen beständig verdächtig, AgentInnen fremder Mächte zu sein und wurden so an vielen Arbeitsstätten diskriminiert. Ansonsten lebten Juden und Jüdinnen seither frei von den schlimmsten Verfolgungen im Vergleich zum Zarenreich oder zu der Herrschaft Stalins. Die fortgesetzte Diskriminierung führte jedoch zur ständigen Tendenz zur Auswanderung nach Israel, die nach dem Ende der Sowjetunion zu einer Massenauswanderung wurde.

6.7.7 Ein „linker Antisemitismus“?

Während der Antisemitismus mit dem revolutionären Marxismus unvereinbar ist, kann von einer Unvereinbarkeit hinsichtlich des Stalinismus keineswegs gesprochen werden. Im Gegenteil: Dass der Stalinismus für Antisemitismus derartig anfällig ist, stellt ein Ergebnis des Bruchs mit dem internationalistischen proletarischen Klassenstandpunkt dar. Es resultiert aus der konterrevolutionären Abkehr von der Perspektive der permanenten Revolution – zugunsten besonderer „nationaler Wege“, die verbunden sind mit Konzessionen an (klein-)bürgerlichen Nationalismus und letztlich auch Chauvinismus. Der Bruch mit der Lenin’schen Methode in der Nationalitätenfrage (Bekämpfung des Nationalismus, verbunden mit der Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung) führt zur ideologischen Kapitulation vor klassenübergreifender Politik für „das Volk“. Damit sind auch die Ablehnung des „wurzellosen Kosmopolitismus“ und der Antisemitismus nicht weit. Dies zeigte sich durchaus auch nach 1968, als speziell in Deutschland viele plötzlich „links“ Gewordene in maoistischen Sekten dem völkischen Gedanken frönten. Eine bezeichnende Episode liefert dazu die Geschichte des jüdischen Autors Peter Weiss. Als einer der bedeutendsten Schriftsteller der 1960er Jahre wurde er in der Linken allgemein geschätzt wegen seiner klaren dramaturgischen Aufbereitung der Frankfurter Auschwitz-Prozesse und ebenso wegen seiner Vietnam-Stücke. Als er jedoch aufgrund der Revolution in Lateinamerika die stalinistische Etappentheorie zu kritisieren begann und ein Stück zur Rehabilitierung Trotzkis schrieb („Trotzki im Exil“), war es mit der Freude der „Linken“ vorbei. Die Generalprobe im Düsseldorfer Schauspielhaus wurde von stalinistisch-spontaneistischen Gruppen gestürmt. In der „linken“ Presse waren die üblichen Anschuldigungen des „wurzellosen Kosmopolitismus“ zu lesen. Eine „orthodoxe“ stalinistische Zeitung verstieg sich sogar zu der Behauptung, bei dem Schriftsteller sei doch wohl „das Blut“ dicker als die marxistische Grundeinstellung (anspielend auf die gemeinsame jüdische Herkunft von Trotzki und Weiss) (152). Wenn heute ehemalige Mitglieder stalinistischer Kampfgruppen ihre Kritik am „linken Antisemitismus“ und an der „Spur des Antisemitismus“ im „Traditionsmarxismus“ beschwören, so sollten sie damit aufhören, ihre eigene konterrevolutionäre Vergangenheit als Pseudo-MarxistInnen mit der wirklichen Tradition des revolutionären Marxismus zu verwechseln.

7 Antisemitismus und der Islam

7.1 Ist der Islam „antisemitisch“?

Während der religiös bestimmte Antijudaismus im Großteil der Geschichte der muslimischen Welt im Vergleich zu der des Christentums relativ gering ausgeprägt war, gruben die fundamentalistischen IslamistInnen alle erdenklichen Schmähungen Mohammeds über die Juden und Jüdinnen aus dem Koran aus und vervollständigten sie richtiggehend zum System. Daraus wird von einigen AutorInnen und insbesondere rechtspopulistischer Propaganda geschlussfolgert, der Islam an sich sei grundlegend antisemitisch und der islamistische Terror nur eine konsequente Umsetzung der inhumanen Lehrsätze des Koran (153).

Tatsächlich sind solche Verkürzungen fern jeder historisch-kritischen Analyse der Ursprünge des Islam und der Entstehungsgeschichte des Korans. Der Koran entstand in einer stark vom Christen- und Judentum geprägten Region und war in vielem eine Reaktion auf gesellschaftlich-religiöse Problemstellungen, die von den christlich-jüdischen Gesellschaften ungenügend gelöst worden waren. Der Koran macht von Anfang an klar, dass er sich als Fortführung der jüdischen und christlichen heiligen Schriften sieht. Er sieht Mohammed als Abschluss der Kette der Propheten von Moses (Musa) bis Jesus (Isa) so wie er für die AraberInnen ebenso die Abstammung von Abraham (Ibrahim) postuliert, wenn auch von dessen Sohn Ismael (nicht wie bei den Juden und Jüdinnen von Isaak). Eine theologisch entscheidende Stelle des Koran ist die vierte Sure ab 152: Dort werden die Juden und Jüdinnen als die „Menschen der Schrift“ bezeichnet, mit denen Gott (Allah) ursprünglich den Bund geschlossen habe. Sie hätten die Gebote jedoch wiederholt gebrochen, so dass immer wieder neue Propheten gesandt werden mussten. Mit der (versuchten) Tötung von Jesus sei dann der Bund mit den Juden und Jüdinnen endgültig zerbrochen. Gegenüber den ChristInnen wird jedoch behauptet, dass diese sich durch die Gestalt des Jesus insofern täuschten, als sie seine Göttlichkeit annahmen. Das sei zwar verständlich gewesen, habe aber zu dem Frevel geführt, nicht mehr an die Einheit Gottes zu glauben. In Zeile 157 der besagten Sure wird dann behauptet, dass Jesus nur zum Schein am Kreuz gestorben, tatsächlich aber rechtzeitig in den Himmel zur Seite Gottes gehoben wurde. Damit sind für MuslimInnen die Juden und Jüdinnen denn auch nicht die Mörder Jesu.

Das religionsgeschichtlich Entscheidende an diesem Narrativ ist, dass es allzu offensichtlich an verschiedene christliche Sekten-Diskurse der Koran-Entstehungszeit anknüpft, die sich genau um die Fragen des „Bundes“ mit bestimmten Völkern und der „Göttlichkeit“/“Menschlichkeit“ Jesu bewegten (154). Der Koran hatte gegenüber den sehr viel komplexeren christlichen und jüdischen Religionsvorstellungen und -geboten schlicht eine viel einfachere Struktur. Es gibt letztlich einen Gott, einen Propheten (der die Vorgeschichte abschließt), und die Unzahl der Gebote der Halacha (der jüdischen Rechtslehre) wird in der Scharia auf wenige Prinzipien reduziert. Es ist falsch, dass sich der Islam im 7. Jahrhundert nur militärisch in der christlich-jüdischen Welt durchsetzte. Er brachte den Menschen viel Vertrautes und entlastete sie von unnötigem religiösen Ballast – kurz: Auch wenn die byzantinischen und germanischen Fürstentümer militärisch besiegt wurden, so musste nicht viel Gewalt angewandt werden, um einen Großteil der Bevölkerung zum Übertritt zum Islam zu bewegen. Gleichzeitig galt für die „Menschen der Schriften“, also Juden und Jüdinnen oder ChristInnen, die nicht konvertierten, nach dem oben dargestellten Narrativ ein Schutzstatus. Die Scharia bzw. ihre Auslegung durch Rechtsgelehrte führte Regeln ein, nach denen die „Dhimmis“ („Schutzbefohlene“) zu behandeln seien und welche Rechte sie haben sollten. Ähnlich wie im christlichen Mittelalter waren Dhimmis mit einer speziellen „Schutzsteuer“ belegt.

Insgesamt gehört also der Islam genauso zu „unserem“ Kulturkreis wie Christen- und Judentum und hat sich, offensichtlich mit vielen Ähnlichkeiten, aus denselben entwickelt. Wenn der Islam faschistisch oder menschenverachtend sein soll, dann könnte man dies mit derselben Logik auch für Christentum und Judentum ableiten. Entscheidend ist, dass sowohl im christlichen Europa als auch in der islamischen Welt die Religion letztlich den gesellschaftlichen Verhältnissen in der jeweiligen Region unterworfen war, d. h., dass die Entwicklung der Produktionsverhältnisse und Klassenauseinandersetzung die jeweilige Ausprägung und Entwicklung der Religion bestimmten – nicht umgekehrt. Die Religion wurde nur zu einem Mittel der Politik, Herrschaftsausübung und -legitimation bzw. als Begründung für politische Veränderungen benutzt. Die seit dem islamischen Mittelalter stagnative Entwicklung von Ökonomie und Klassenverhältnissen führte im Islam zu sehr viel weniger großen Veränderungen, als sie das Christentum und Judentum durch die kapitalistische Dynamik der europäischen Neuzeit erlebt haben. Die relative „Ruhe“ für Juden und Jüdinnen in der islamischen Welt gegenüber Europa erklärt sich also weniger aus einer speziell „toleranteren“ Religion, sondern aus der geringen Notwendigkeit, die jüdische Nischenwirtschaft in den islamischen Ländern bis ins 20. Jahrhundert hinein grundlegend in Frage zu stellen. Andererseits erklärt diese stagnative Entwicklung, dass die einst dem „Westen“ vorauseilende, moderne islamische Religion, erstarrte und mit ihren Rechts- und Moralvorstellungen hinter einem Christentum hinterherhinken musste, das sich viel stärker an eine sich dynamisch verändernde neuzeitliche Gesellschaft anpassen musste (wie z. B. in der „Reformation“ geschehen).

7.2 Geschichte des Antisemitismus in der muslimischen Welt

Die Geschichte radikaler islamistischer Sekten ist denn auch vor allem das Ergebnis des Zusammenpralls der stagnativen islamischen Welt mit „dem Westen“, besonders seit Beginn des Kolonialzeitalters. Entgegen auch vielen pragmatischen und mehr oder weniger liberalen Rechtsschulen im Islam haben sich zwar über die Jahrhunderte immer wieder fundamentalistische und gegenüber Nicht-MuslimInnen unterdrückerische Strömungen entwickelt. Mit der Konfrontation mit dem Westen begannen sie jedoch, rapide an tatsächlichem Einfluss zu gewinnen. So z. B. die WahhabitInnen, die seit dem 18. Jahrhundert nicht nur reaktionäre Scharia-Vorstellungen, sondern auch die These vom permanenten Dschihad gegen Ungläubige entwickelten (die WahhabitInnen dominieren heute nicht nur das Saudi-Regime). Die Geschichte des modernen Islamismus wird jedoch im Allgemeinen an der Gründung der „Muslimbrüderschaft“ in Ägypten in den 1920er Jahren festgemacht. Sie entstand einerseits aus einem anti-kolonialen Impuls, aber gleichermaßen in Ablehnung der liberalen und sozialistischen Bewegungen, die sich teilweise ebenso in der anti-kolonialen Opposition befanden. Insofern ist der moderne Islamismus eine anti-westliche Utopie von einer, natürlich unmöglichen, Rückkehr zu den „seligen Zeiten islamischer Größe“, zur Einheit des Islam im legendären Kalifat.

Es ist auch sicher richtig, dass die Führer der Muslimbrüderschaft die Nazis und italienischen FaschistInnen als ihre Verbündeten im Kampf gegen die britischen Kolonialherren sahen und auch ungefiltert wesentliche Teile von deren antisemitischen Hetzschriften übernommen haben (155). Unsäglicherweise ist seitdem „Mein Kampf“, aber besonders das Fake der „Protokolle der Weisen von Zion“, auf Arabisch übersetzt. Die Charta der Hamas (die aus dem Ableger der Muslimbrüderschaft in Palästina entstand) zitiert immer wieder aus den „Protokollen der Weisen von Zion“, um zu begründen, warum „die Juden und Jüdinnen“ die Wurzel allen Übels seien und aus Palästina vertrieben werden müssen. Bekanntlich suchte der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, Unterstützung bei den Nazis und fand nach seiner Flucht aus Palästina in Nazi-Deutschland Unterschlupf, von wo er den arabischen Aufstand mit antisemitischer Hetze zu befeuern versuchte. All das hat sicher dazu beigetragen, dass der moderne Islamismus einen primitiven Weltverschwörungs-Antisemitismus als eines seiner Kernelemente enthält. Teile dieses Islamismus wie z. B. der sog. Islamische Staat, die sich gewalttätig organisieren und auch alle anderen Strömungen im antiimperialistischen Kampf bis aufs Messer bekämpfen, müssen inzwischen sicherlich als ein neuer Typus eines (islamistischen) Faschismus bezeichnet und bekämpft werden.

Dies kann jedoch nicht von allen IslamistInnen gesagt werden, wie der Hamas oder den ägyptischen Muslimbrüdern – also von Gruppen, von denen sich die radikalen IslamistInnen zumeist abgespalten haben. Der Islamismus konnte in den letzten Jahrzehnten ja nur durch das Versagen und die Niederlagen von säkularen Bewegungen wie dem pan-arabischen Nationalismus groß werden. Von daher wurden viele „zivile“ Elemente von diesen Bewegungen übernommen und zum Teil pragmatische Übereinkommen mit ihnen getroffen. So hat die Hamas die „Protokolle der Weisen von Zion“ aus ihrer Charta gestrichen (156), hat mit säkularen Palästinenser-Organisationen Abkommen geschlossen und sich in einigen Bereichen zivile Strukturen gegeben. Hamas oder andere Sektionen der Muslimbrüderschaft haben sich auch mit bestimmten Regimen in den Golfstaaten bzw. dem AKP-Regime verbündet, die von radikalen IslamistInnen bekämpft werden. Insofern haben sich diese Teile des Islamismus in eine mehr bürgerlich-nationalistische Richtung entwickelt – ohne ihre Gefährlichkeit für demokratische und linke Kräfte zu verlieren und weiterhin antisemitische Grundorientierungen aufrechtzuerhalten. Genauer auf die Einschätzung der Hamas und unsere Haltung gegenüber der von ihr geführten Bewegung in Gaza gehen wir in Kapitel 9.3 ein.

8 Antisemitismus unter muslimischen MigrantInnen in Europa

Seit einiger Zeit mehren sich die Berichte und Meldungen, die einen wachsenden Antisemitismus unter muslimischen MigrantInnen behaupten. Auf die politischen Konsequenzen, die daraus folgen, wurde schon hingewiesen. Der israelische Politikwissenschaftler David Ranan (der derzeit am Forschungszentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin arbeitet) veröffentlichte im Frühjahr 2018 eine Studie zu diesem Thema, die die Diskussion zumindest versachlichen kann (157).

8.1 Zur Problematik von Antisemitismusstudien

Es gibt inzwischen natürlich eine Unzahl an Studien zum Thema „Antisemitismus“. Zunächst stellt sich die Frage, welche Definition von „Antisemitismus“ überhaupt verwendet wird, wenn in diesen Studien von „wachsendem Antisemitismus“ die Rede ist. Wie wir bereits ausgeführt haben, sind diese Definitionen selbst ein Feld starker politischer Interessenskonflikte geworden. Man kann von Minimaldefinitionen ausgehen, die Antisemitismus als „Hass gegen Juden und Jüdinnen“ definieren, die diese zu Sündenböcken für die von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen erzeugten Krisenphänomene machen, was sich in hohem Aggressionspotential bis hin zum Auslöschungswunsch äußert. Doch wie soll ein solcher „Hass“ gesellschaftlich festgestellt, gar „gemessen“ werden? Ranan (158) stellt mehrere der üblichen Untersuchungsmethoden vor, etwa die schon sehr lange (seit 1913) durchgeführten Befragungen der Anti-Defamation-League (Anti-Diffamierungs-Liga, ADL). Die ADL stellt im Wesentlichen 11 Fragen, die typische antijüdische Stereotype enthalten. Werden 6 dieser Fragen gemäß dem Stereotyp beantwortet, gilt der/die Befragte als „antisemitisch“. Typische dieser Sätze sind „Juden verfügen über zu viel Macht in den internationalen Finanzmärkten“ oder „Juden haben zuviel Kontrolle über die US-Regierung“. Zu Recht meint Ranan dazu, dass mit diesen Fragen zwar klar werde, dass der/die Befragte starke Vorurteile und Verschwörungstheorien gegenüber Juden und Jüdinnen hegt, aber deswegen nicht notwendigerweise einen mit Aggressionen aufgeladenen Hass gegenüber Juden und Jüdinnen haben muss, der zu heftigen Aktionen bis hin zu Ausrottungsphantasien führen müsse. Sprich: Die Schlussfolgerung auf Antisemitismus ist stark hypothetisch. Für Deutschland etwa kommt die ADL zu dem Ergebnis, dass 56 % der Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund antisemitisch seien, gegenüber 16 % der sonstigen Bevölkerung. Über den Grad der reaktionären Einstellungen, die hinter den Antworten auf die Stereotypen-Fragen steckt, sagt dies aber wenig aus. Es kann durchaus sein, dass unter der geringeren Zahl der Deutschen (die seit ihrer Schulzeit gelernt haben, wie man solche Fragen „korrekt“ beantwortet) trotzdem weitaus mehr Menschen mit klassischer Sündenbock-Aggression gegenüber Juden und Jüdinnen stehen als bei den Befragten mit muslimischem Migrationshintergrund. Bei diesen – und dies ist die zentrale These von Ranans Untersuchung – ergibt sich die Bereitschaft, unsinnige Stereotype über Juden und Jüdinnen anzunehmen, aus der Empörung über die Politik Israels gegenüber den PalästinenserInnen und dem Kurzschluss daraus, dass auf „den Juden/die Jüdin“ allgemein zu beziehen. „Wenn Muslime über Israel sprechen, meinen sie auch Israel. … Ohne Zweifel lässt sich festhalten, dass antizionistische Äußerungen bei den meisten Muslimen keine Ersatzkommunikation darstellen, um verborgene antijüdische Haltungen zu kaschieren“ (159). D. h. während bei Muslimen im Allgemeinen die Empörung über die Politik Israels das Primäre ist, was bei einigen dann sekundär mit antijüdischen Vorurteilen begleitet wird, sind bei einigen Deutschen (und anderen EuropäerInnen) die antisemitischen Einstellungen das Primäre, um sich dann tatsächlich hinter „Israelkritik“ zu verbergen.

Es gilt also, unterschiedliche Formen des Antisemitismus tatsächlich zu differenzieren und nicht alles in einen strukturellen und universellen Antisemitismus ohne Unterschiede einzupassen. Schließlich müssen die Kontexte für die Entstehung des jeweiligen Antisemitismus verstanden werden, um auch die unterschiedlichen Ursachen und Handlungsdispositionen zu erfassen. Nur so kann er in seiner jeweiligen Form auch wirksam bekämpft werden.

Aber auch Studien, die unterschiedliche „Antisemitismen“ zu untersuchen vorgeben, sind letztlich von derselben Methode gekennzeichnet. So unterscheidet die für Deutschland sehr prominente Bielefelder „Mitte“-Studie (160) von 2016 zwischen „klassischem“, „sekundärem“ und „israelbezogenem“ Antisemitismus. Im Unterschied zu klassischem Antisemitismus stellt der sekundäre Antisemitismus eine „Wiederkehr des Verdrängten“ in unterschwelliger, verkleideter Form dar. Er ist eine Abwehrleistung gegen die Wucht der Erinnerung und eine Verschiebung der Schuldgefühle auf andere. Exemplarisch geht es um „Schlussstrich“-Forderungen, um Verharmlosungen der Shoa, um Erklärungen, die die Juden und Jüdinnen implizit mitschuldig an den Verbrechen der Nazis machen etc.. Offensichtlich findet man solchen sekundären Antisemitismus zuhauf bei der AfD. Bemerkungen über das „Denkmal der Schande“ oder die Nazi-Zeit als „Fliegenschiss“ der ansonsten so großartigen Geschichte der Deutschen (die eben auch eine Jahrhunderte lange Geschichte des pogromistischen Antisemitismus ist, die in der Shoa einen durchaus folgerichtigen Abschluss fand) brauchen nicht weiter kommentiert zu werden. Dieser offenkundige strukturell verschobene, sekundäre Antisemitismus wird aber mit weitaus weniger öffentlichem Protest begleitet als der sogenannte „israelbezogene Antisemitismus“.

Problematisch auch an der Bielefelder Studie ist die Verwischung der Unterschiede zwischen Israel-Kritik, wie sie aus migrantischen Milieus kommt, und dem sekundären Antisemitismus. Ja, in der Studie wird der Eindruck erweckt, dass israelbezogener Antisemitismus das viel größere Problem sei. Mit den Methoden der ADL wird auch hier wieder mit Suggestivfragen gearbeitet – und man kommt zu dem Ergebnis, dass der klassische Antisemitismus nur bei 6 % liege, der sekundäre bei 26 %, der israelbezogene jedoch sogar bei 40 %. Dabei werden so „entlarvende“ Fragen gestellt wie: „Stimmen sie dem Satz zu: Ich werde wütend, wenn ich sehe, wie Israel die Palästinenser behandelt…“ (161).

Die AutorInnen der Studie gehen in ihren Erklärungen davon aus, dass eine „‘neutrale Kritik‘ an Israel zwar möglich sei, aber äußerst selten vorkomme. In der Regel werde Kritik an Israel antisemitisch unterfüttert bzw. scheine sie antisemitische Assoziationen zu evozieren“ (162). Offenkundig stehen also die Ergebnisse der Studie schon fest, bevor eine Untersuchung stattfindet. Mit Schnellschlüssen von Antworten auf Suggestivfragen, Postulaten über „typische antisemitische Argumentationen“ (dazu zählen auch strukturell durchaus sinnvolle Vergleiche der israelischen Besatzungspolitik mit der Apartheidpolitik in Südafrika), Fehlen an Differenziertheit zwischen migrantischer, linker und rechtsextremer Israel-Kritik wird pauschal ein massiver Anstieg von „israelbezogenem Antisemitismus“ scheinbar „objektiv gemessen“. Dabei wird übersehen, dass der latente, mit aggressivem Verdrängungspotential belastete sekundäre Antisemitismus die langfristig weitaus gefährlichste Form von aktuellem Antisemitismus in Deutschland ist. Er hat sich in der Mitte der Gesellschaft eingenistet und kann aggressiv jederzeit wieder in klassischen Formen eskalieren (siehe den Angriff auf ein jüdisches Restaurant während der Hetzjagd in Chemnitz im Herbst 2018).

Da rechtspopulistische Organisationen wie die AfD oder die FPÖ inzwischen gelernt haben, ihren latenten Antisemitismus mit einer extrem affirmativen Haltung gegenüber den rechten Regierungen in Israel zu verbinden (und es auch tatsächlich Verbindungen mit der radikal-nationalistischen „Israel Beitenu“-Partei (Unser Zuhause Israel) des israelischen Rechtspopulisten und aktuellen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman gibt), erscheinen sie heute als die geringere Gefahr als „das muslimische Milieu“. So weit kann die Verblendung führen, wenn die Frage des Antisemitismus in Deutschland hauptsächlich an der Stellung zur aktuellen israelischen Politik festgemacht wird. So werden denn bei der Zeitschrift „Bahamas“, bezeichnend für die sogenannte anti-deutsche Linke, die AfD zur „Volkspartei des gesunden Menschenverstandes“ und die Proteste der antirassistischen Linken gegen sie zur Verharmlosung des Holocaust, weil ja unterstellt werde, die AfD plane einen „Holocaust gegen die Muslime“ (163).

8.2 Antijudaismus unter muslimischen MigrantInnen

Es wäre natürlich falsch zu leugnen, dass es einen muslimischen Antijudaismus gibt. In der Studie von David Ranan wurden 70 Tiefeninterviews geführt – also im Gegensatz zu pauschalen Suggestivfragen wurde mit zufällig ausgewählten MigrantInnen auch tatsächlich gesprochen und nach Hintergründen der Auffassungen nachgefragt. Im Unterschied zum Nonsens der tendenziösen „empirischen Sozialforschung“ kann es bei dieser Methode auch zu tatsächlichen Erkenntnissen kommen. Dagegen herrscht auch bei großen Teilen der „anti-deutschen Linken“ ein naiver Glaube an „objektive“ empirische Erfassungsmethoden des Antisemitismus vor, wie etwa der lächerlich-naive „3D-Test“ (164) – ein Zeichen, wie tief inzwischen die „Kritik an der bürgerlichen Wissenschaft“ bei der „Linken“ gesunken ist.

 Zusammenfassend kommt Ranan zu folgenden Schlüssen:

Einerseits ist ein „muslimischer Antisemitismus“, der sich direkt aus dem Koran speist (gemäß der Theorie vom grundlegend antisemitischen oder faschistischen Charakter des Islam) kaum feststellbar. Soweit die berüchtigten Zitate im Koran überhaupt bekannt waren, spielten sie keine Rolle. Man kann davon ausgehen, dass dies nur bei dem sehr kleinen Teil der MigrantInnen eine Rolle spielt, die tatsächlich dem fundamentalistischen oder radikalisierten Islamismus zugehörig sind.

Andererseits sind Stereotype über Juden und Jüdinnen (über ihre Geldmacht und ihren weltpolitischen Einfluss) tatsächlich weit verbreitet. Dabei wurden diese Stereotype aber zumeist als Begründungen für den Erfolg der israelischen Politik genannt. D. h. die zentrale Ursache für die Hartnäckigkeit der Weitergabe dieser Stereotype ist die Situation in Nahost. Auffällig ist auch, dass, je weiter die Entfernung von Palästina, desto ungenauer auch das konkrete Wissen um Israel. Hier wird dann deutlich, dass der Israel/Palästina-Konflikt zur allgemeinen Chiffre für rassistische und kolonialistische Unterdrückung wird, wie sie MigrantInnen mit muslimischem Hintergrund erleben. Gerade MigrantInnen aus Palästina machen einen viel klareren Unterschied zwischen Israel/Zionismus und „den Juden und Jüdinnen“ im Allgemeinen.

Es sollte klar sein, dass man Antisemitismus von deutschen Rechtsextremen und den Antijudaismus unterschiedlicher Schattierungen von MigrantInnen nicht auf derselben Ebene behandeln kann. Es wäre falsch, wenn man gegenüber diesen MigrantInnen eine gleichartige Ausgrenzung und Konfrontation betreiben würde. Eine Missachtung der eigentlichen Ursachen ihres Antijudaismus kann schnell in überheblichen imperialen Rassismus umschlagen. Das heißt, der Antijudaismus muss natürlich einerseits auch in dieser Form bekämpft, aber die Unterscheidung zwischen dem „Jüdischen“ im Allgemeinen und der Politik Israels auf der anderen Seite klar betont werden – ebenso die Bedeutung und Tragweite des Antisemitismus und seiner eliminatorischen Konsequenzen in der Shoa (womit auch der Verzicht auf solche Slogans wie „Kindermörder Israel“ erklärt werden muss – auch wenn dies für Betroffene von israelischen Bombenangriffen eine andere Bedeutung hat, ist klar, dass im Kontext deutscher Politik und Geschichte solche Slogans ganz andere Wirkung haben). Auch wenn linke Organisationen aus der Region, mit denen wir zusammenarbeiten, klare Unterscheidungen zwischen Zionismus und Judentum im Allgemeinen machen, können wir nicht ausschließen, dass an gemeinsamen Aktionen auch migrantische Menschen teilnehmen, die solche antijudaistischen Kurzschlüsse lautstark kundtun. Während Organisationen wie „[‚solid]“ in der Resolution „Gegen jeden Antisemitismus“ (165) diese Gefahr bereits als Grund sehen, dass man sich an solchen Aktionen nicht beteiligen könne, sehen wir es gerade als Gelegenheit an, an der Überwindung solcher Einstellungen zu arbeiten. Der gemeinsame Kampf um gerechte, tatsächliche Anliegen, das Eingehen auf sie und die geduldige Überzeugungsarbeit sind hier wirksamer, als auf Ausgrenzung und Denunziation zu setzen. Unser Ausgangspunkt besteht in der Solidarität mit den Unterdrückten, selbst wenn sie reaktionäre Vorurteile und Einstellungen haben mögen – nur so können sie für eine internationalistische Perspektive gewonnen werden.

8.3 Zur politischen Bedeutung des Antisemitismus-Vorwurfs

Abschließend soll nochmals auf die sehr spezielle und sich verändernde Bedeutung des Antisemitismusvorwurfs für die aktuell Regierenden in Israel eingegangen werden. David Ranan, als ein in Israel aufgewachsener Mensch, sagt zu Recht: „Mit Antisemitismus wird Politik gemacht. Nach vielen Jahren, in denen mit Antisemitismus gegen Juden Politik gemacht wurde, wird jetzt mit Antisemitismus von jüdischer und israelischer Seite Politik gemacht. Die israelische Regierung bezeichnet externe Kritiker und Gegner gern als Antisemiten oder antisemitisch“ (166). Dies habe sich mit der extremen Rechtsentwicklung der israelischen Politik in den letzten Jahren verschärft. Es war schon früher üblich, dass die israelische Rechte Antizionismus als Folge eines den AraberInnen inhärenten Antisemitismus gesehen habe, während „die Linke“ den Antizionismus als eigenständig anerkannte. Inzwischen würde an einem Narrativ eines „muslimischen Antisemitismus“ gearbeitet, der „die Juden“ mit einer neuerlichen Shoa bedrohe, damit die israelische Gesellschaft in einer Art dauernder Mobilisierung gehalten werden könne. „Im Januar 2014 sagte Israels Justizministerin „Tzipi“ Livni, dass die Behauptung, Kritik an Israel wegen seiner Siedlungspolitik sei antisemitisch, ein Argument ist, in das sich diejenigen flüchten, die gar kein Abkommen mit den Palästinensern haben wollen“ (167). Ohne sich in irgendeiner Weise mit der Politik Livnis oder anderen VertreterInnen des „Friedensprozesses“ in ein Boot zu setzen – an dieser Stelle traf Livni absolut den Punkt: Der „Kampf gegen den Antisemitismus“ ist für die israelische Rechte (und ihre neo-konservativen Verbündeten in den USA) zur Chiffre für eine extrem aggressive Neuordnung im Nahen Osten geworden, die Abkommen oder Friedensregelungen mit den PalästinenserInnen für ebenso unmöglich erklärt, wie es mit den AntisemitInnen damals in München 1938 tatsächlich unmöglich war. Es ist klar, dass die Linke einen derart gewendeten Antisemitismusbegriff, der zur Legitimation eines neokolonialistischen Projekts wird, nicht akzeptieren kann, sondern aufs Schärfste bekämpfen muss. Der Kampf gegen jeden Antisemitismus kann nur ein antiimperialistischer sein – oder er wird dessen Wurzeln nicht wirklich überwinden können!

9 Antizionismus und Antisemitismus

Seit der Gründung des Staates Israel 1948 kann die Bestimmung dessen, was Antisemitismus heute bedeutet, nicht ohne die Frage des Verhaltens gegenüber Israel oder dem Zionismus (als der Bewegung zur Gründung als Staat der Juden/Jüdinnen und heute der Erhaltung Israels als Heimat und Rückzugsort für alle Juden und Jüdinnen) geleistet werden. Bei den Auseinandersetzungen um die heutigen offiziellen Definitionen des Antisemitismus bei der UNO, der EU, der deutschen Bundesregierung etc. intervenieren israelische Institutionen oft sehr heftig, um die Frage des „israelbezogenen Antisemitismus“ angemessen einfließen zu lassen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, was tatsächlich das Verhältnis von Antisemitismus und möglichen Formen des Antizionismus sein kann. Am radikalsten hat es in diesen Diskussionen ein Brigadegeneral der israelischen Streitkräfte (Yossi Kuperwasser) so zusammengefasst:

„Antisemitismus und Antizionismus sind im Grunde die gleiche Idee, nur anders verkleidet. Deren gemeinsame Motivation ist Hass auf Juden und das gemeinsame Ziel ist, ihnen die Rechte, die andere Völker und andere Menschen genießen, zu entziehen.“ (168)

Daher erstmal hier kurz gefasst unsere Einschätzung des Zionismus, bevor wir auf die Frage eingehen, inwiefern ein Antizionismus, der sich klar vom Antisemitismus abgrenzt, berechtigt und möglich ist.

9.1 Der Zionismus – eine bürgerlich-nationalistische Ideologie

Es war unvermeidlich, dass der ansteigende Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu Reaktionen in der jüdischen Bevölkerung führen musste. Und entsprechend ihrer Klassenspaltung fielen die Antworten unterschiedlich aus.

Dem jüdischen Großbürgertum ging es anfangs vor allem darum, die armen, in prekären Verhältnissen lebenden ostjüdischen EinwanderInnen möglichst „kostengünstig“ loszuwerden, und es förderte aus dieser Motivlage heraus die Auswanderung nach Palästina.

Die jüdische ArbeiterInnenbewegung in Osteuropa (insbesondere „Der Bund“) war in ihrer großen Mehrheit für die Befreiung von Unterdrückung durch Erkämpfung einer sozialistischen Gesellschaft und schon von daher entschieden antizionistisch.

Der Zionismus war zunächst im Wesentlichen eine kleinbürgerlich-nationalistische Strömung. Auf dem ersten „zionistischen Weltkongress“ 1897 in Basel trafen sich gerade einmal 204 Abgesandte, die weder über Verankerung in der ArbeiterInnenbewegung noch bedeutende Unterstützung durch die Bourgeoisie verfügten. Im „Basler Programm“ wurde als Ziel formuliert: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen“. Zum ideologischen und organisatorischen Führer des entstehenden Zionismus wurde der Wiener Journalist Theodor Herzl gewählt, dessen Werk „Der Judenstaat“ (169) zur „Bibel“ des Zionismus wurde.

Die Angst vor der Auflösung einer „jüdischen Identität“ einerseits und andererseits davor, dass die jüdischen Flüchtlinge aus Osteuropa den Antisemitismus in West- und Mitteleuropa neu entfachen bzw. verstärken würden, bildeten wesentliche Triebfedern bei der Entstehung des Zionismus. Als Lösung strebte der Zionismus einen „eigenen“ Nationalstaat an. Aber abgesehen davon, dass mit dem Aufkommen des Imperialismus der bürgerliche Nationalstaat in Europa seine progressive Rolle weitgehend ausgespielt hatte, fehlten dafür auch alle Voraussetzungen (z. B. gemeinsames Territorium, gemeinsame Hochsprache etc.).

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die zionistische Ideologie von Anfang an von tiefen Widersprüchen durchzogen war:

Erster Widerspruch: Der damals entstandene jüdische Nationalismus (Zionismus), darauf hat schon Roman Rosdolsky hingewiesen, stellt dabei eine Art umgekehrten Antisemitismus dar, indem er die gesamte Welt zum Feind der Juden und Jüdinnen erklärt. Der Zionismus will die Juden und Jüdinnen vor Verfolgung retten, aber nicht einfach aus jüdischer Solidarität, sondern ausschließlich im Rahmen des Projekts eines jüdischen Nationalstaates. Dabei schreckte der Vater des Zionismus, Herzl, auch nicht vor einer ausgesprochen zynischen Gedankenführung zurück, denn er brauchte den Antisemitismus, wollte er sein politisches Projekt verwirklichen. Und so wünscht er auch folgerichtig: „Aber wir müssten noch tiefer hinuntersteigen, wir müssten noch tiefer fallen, noch mehr Beleidigungen ertragen müssen, wir müssten noch mehr geschlagen werden, verachtet geplündert und misshandelt als das noch heute mit uns geschieht, damit wir reif werden für die Idee…“ (170). Er konnte nicht ahnen, in welch katastrophaler Weise diese Gedanken Realität werden würden.

Die Auflösung und Beendigung der Zerstreuung der Juden und Jüdinnen über die ganze Welt (Diaspora) ist bis heute ein Kernelement der zionistischen Ideologie. Erst mit der vollständigen Beendigung der Diaspora im Staat Israel sei das Staatsziel erreicht. Doch die Auflösung der Diaspora hat die Existenz eines militanten und massenhaften Antisemitismus geradezu als Voraussetzung – nur so wäre garantiert, dass die Juden und Jüdinnen der Welt nach Israel kommen würden.

Zweiter Widerspruch: Über zwei Jahrtausende war der Bezug auf „Eretz Israel“, auf Jerusalem rein religiös und spirituell. Nun wird er vom Zionismus nationalistisch aufgeladen und somit zugleich säkularisiert. Da aber im Staat Israel die eingewanderte Bevölkerung äußerst heterogen ist, bleibt als einzige Gemeinsamkeit die Religionszugehörigkeit. „Religion sedimentierte sich, so besehen, von Anfang an als unsichtbarer, gleichwohl integraler Bestandteil der säkularen zionistischen Ideologie.“ (171) Nationalismus und Religion sind hier, entgegen allen säkularen Beteuerungen, untrennbar miteinander verwoben.

Der dritte Widerspruch besteht darin, dass die „Befreiung“ der einen die Unterdrückung der anderen bedeutet. Die „Befreiung“ der Juden und Jüdinnen wird von Beginn an, zumindest von Herzl, als kolonialistisches Projekt gesehen. Herzl: „Wenn seine Majestät der Sultan (des Osmanischen Reiches) uns Palästina gibt, werden wir… dann (für Europa) ein Bestandteil des Walls gegen Asien sein. Wir werden Pioniere gegen die Barbarei sein.“ (172) Die Schaffung Israels als einen kolonialistischen Siedlerstaat ist von vornherein intendiert und angelegt. Wollten die ZionistInnen ihren Traum verwirklichen, waren sie von Beginn an auf die Unterstützung einer oder mehrerer imperialistischer Mächte angewiesen.

Nach 1918 war es dann vor allem der britische Imperialismus, dem man sich andiente, nach 1956 dem der USA. In den Worten des ersten Ministerpräsidenten Israels, Ben Gurion: „Ich für meinen Teil habe nicht mehr daran gezweifelt, dass das Gravitationszentrum unserer politischen Arbeit sich von Großbritannien nach Amerika verlagerte, das sich als Großmacht in der Welt den ersten Platz gesichert hat.“ (173)

Die vierte Ungereimtheit besteht in der Behauptung, dass die Juden und Jüdinnen schon immer in ihre „ursprüngliche und ihnen daher zustehende Heimat“ zurückgewollt hätten. Einmal abgesehen davon, dass diese Behauptungen einer historischen Überprüfung in keiner Weise standhalten, so ist dies, auch wenn die Behauptungen wahr wären, eine erbärmliche Begründung. Ansprüche, die sich auf eine (vorgebliche) Realität beziehen, die zweitausend Jahre zurückliegt, Ansprüche, die dann noch religiös aufgeladen werden, sind nicht nur anachronistisch, sondern würden, verallgemeinert, die Welt in ein einziges blutiges Gemetzel versinken lassen!

Neben der absurden Behauptung, die Nichtjuden/-jüdinnen bzw. AraberInnen seien (seit 2000 Jahren!!!) zu Unrecht in Palästina, schwankt die Haltung des Zionismus in seiner Haltung zur arabischen Bevölkerung zwischen Ignoranz und Rassismus. Die Argumentation wechselt nach Bedarf:

a) Nichtthematisierung: John Rose (174) weist darauf hin, dass Herzl in seinem Werk „Der Judenstaat“ die AraberInnen nicht einmal erwähnt. b) Leugnung: Das Land sei weitgehend leer, d. h. „ein Land ohne Volk, für ein Volk ohne Land“. c) Offener Rassismus: Die AraberInnen seien unfähig, das Land richtig zu bearbeiten (so Ben Gurion und Schimon Peres).

Angesichts dieser ideologischen Ausrichtung (und natürlich auch praktischen Umsetzung) kann man nur dem jüdischen Wissenschaftler Uri Davis beipflichten: „Anti-Zionist zu sein, bedeutet, das politische Programm der zionistischen Organisation abzulehnen. Anti-jüdisch zu sein, bedeutet, rassistisch zu sein. Anti-Zionismus ist nicht Antisemitismus, ebenso wie es in Südafrika nicht bedeutete, gegen die Weißen zu sein, wenn man gegen die Apartheid war.“ (175) Dass in Deutschland das proisraelische Bürgertum eine demagogische Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus vornimmt, ist politisch nachvollziehbar. Wenn aber Linke diese Gleichsetzung nachäffen, so kann man wohl nur von ideologischer Verblendung ausgehen.

9.2 Entstehung des Staates Israel

Als am Ende des Ersten Weltkriegs klar wurde, dass Palästina künftig von Britannien kontrolliert würde, machte der britische Außenminister Balfour der zionistischen Bewegung das Angebot, dort eine „Heimstätte“ zu finden. Schon lange vorher hatten die KolonialstrategInnen des Vereinigten Königreichs erkannt, dass eine Kontrolle Palästinas ohne ein verstärktes jüdisches Siedlungsprojekt dort schwer möglich sei. Einige KolonialbeamtInnen sahen sogar vor, dass man die dort bisher lebende Bevölkerung in Reservate umsiedeln müsse, ähnlich wie in Nordamerika.

Das britische Mandatsgebiet Palästina wurde so nach einer ersten (größeren) Einwanderungswelle Anfang der 1920er Jahre zu einer typischen britischen Siedlerkolonie. Linke ZionistInnen kritisierten zwar sehr wohl die Behandlung der arabischen Bevölkerung und die schleichend vor sich gehende Okkupation, die damit begann. Mehrheitlich war der Zionismus jedoch auch in seiner labouristischen Form von Anfang an nicht auf eine friedliche Koexistenz oder gar multi-ethnische Gesellschaft in Palästina ausgerichtet. Die arabischen Aufstände in den 1920er und 1930er Jahren waren eine logische Konsequenz der Kolonialpolitik und folgten dem überall in der Welt zu beobachtenden Muster von anti-kolonialistischen nationalen Aufständen. Heute werden daraus häufig antisemitische Pogromversuche gemacht, da sich die Aufstände auch zu Übergriffen auf jüdische SiedlerInnen ausweiteten. Damit soll auch gerechtfertigt werden, dass sich der Zionismus schon von Anfang an stark militarisiert hat mit der klaren Zielrichtung, jederzeit gegen „arabische UnruhestifterInnen“ vorgehen zu können. Wie andere weiße Siedlerbewegungen in Kolonialgebieten auch entwickelte der Zionismus ein System der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und letztlich auch repressiven Diskriminierung der Mehrheitsbevölkerung in der Region.

Mit der Entstehung des Staates Israel 1948 wurden drei wesentliche Grundpfeiler in dessen politische Architektur eingebaut:

Erstens waren die führenden politischen Kräfte der Staatsgründung, insbesondere die „Mapai“ (Arbeiterpartei Israels), entschlossen, einen rein jüdischen Staat zu gründen, und lehnten einen gemischten jüdisch-arabischen Staat grundsätzlich ab. Angesichts der arabischen Mehrheitsbevölkerung in Palästina war die Perspektive dieser Kräfte von Anfang an „Aufteilung des Landes“ (176). Sowohl die Verhandlungen um den UN-Teilungsplan im November 1947 als auch die Friedensverhandlungen nach dem „Unabhängigkeitskrieg“ (tatsächlich kam es bis 1949 nur zu einigen Waffenstillstandsabkommen mit den arabischen NachbarInnen und für lange Zeit zu keinen Friedensverträgen) wurden von der israelischen Führung mit dem Ziel einer Aufteilung des ursprünglichen Palästina, und somit eines möglichst großen rein jüdischen Staates in diesem Palästina, geführt. Von rechts erhob dagegen die „Cherut“ (Freiheitsbewegung; Vorläuferin des heutigen „Likud“; Zusammenschluss) den Vorwurf, „jüdisches Kernland“ zugunsten eines „falschen Friedens“ aufzugeben. Die „Mapam“ dagegen trat für die Besetzung von ganz Palästina ein, um dort ein Regime „fortschrittlicher PalästinenserInnen“ zu errichten, mit dem es einen jüdisch-arabischen Ausgleich geben könne. Ben Gurion erteilte diesen „Einstaaten-Ideen“ von rechts und links eine klare Absage: Ein jüdischer Staat in ganz Palästina sei unmöglich, da es dann dort mehr AraberInnen als Juden und Jüdinnen geben würde, wenn man gleichzeitig ein „demokratisches“ Israel errichten wolle. „Wollen Sie im Jahr 1949 einen demokratischen Staat Israel im ganzen Land, oder wollen Sie, dass wir alle Araber vertreiben; oder wollen Sie Demokratie in diesem Staat?“, fragte Ben Gurion die Opposition (177); er jedenfalls wolle einen demokratischen jüdischen Staat, auch wenn dieser nicht das ganze Land besitze.

Diese Fragestellung beherrscht natürlich die israelische Politik bis heute – und umso mehr, seit nach 1967 tatsächlich Westjordanland und Gaza von Israel besetzt sind. Auch trotz „Oslo-Abkommens“ gibt es in Palästina bis heute praktisch eine „Einstaatenlösung“, unter Aufrechterhaltung der Fiktion einer Aufteilung des Landes. Gleichzeitig, und dies ist der zweite bestimmende Faktor der israelischen Politik, gibt es von Beginn an eine diskriminierende Stellung gegenüber den sich im israelischen Herrschaftsgebiet befindenden AraberInnen. Schon die Fiktion einer „gerechten Teilung“ des Landes beinhaltete von vornherein unausgesprochen die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem „jüdischen Anteil“ an Palästina. Während und in Folge des Unabhängigkeitskrieges mag diese Vertreibung Hunderttausender noch mehr oder weniger ungeplant vor sich gegangen sein. Doch schon während der Waffenstillstandsverhandlungen machte die israelische Politik klar, dass sie eine Rückkehr der Flüchtlinge als eine „existenzielle Gefahr“ ansehen würde. So erklärte der damalige israelische Außenminister Mosche Scharet: „Das spektakulärste Ereignis der jüngeren Geschichte Palästinas, gewissermaßen spektakulärer als die Gründung des jüdischen Staates, ist die massenhafte Evakuierung (sic!) seiner arabischen Bevölkerung… Die Chancen, die sich aus der gegenwärtigen Realität für eine dauerhafte Lösung des quälenden Problems des jüdischen Staates ergeben, sind (…) weitreichend (…). Die Wiederherstellung des Status quo ante ist undenkbar“ (178). Die AraberInnen, die es trotzdem geschafft hatten, im Staat Israel zu bleiben (179), sollten sich „integrieren“ bzw. unter strenger Kontrolle stehen. Die Fiktion des „demokratischen jüdischen Staates“ beruht darauf, dass die unter Kontrolle Israels lebenden AraberInnen wie „Fremde“ (Flüchtlinge im eigenen Land) behandelt werden, die dort nur „geduldet“ sind. Durch die Teilung in israelische AraberInnen, PalästinenserInnen in de facto besetzten Gebieten und palästinensische Diaspora wurden die PalästinenserInnen praktisch zur „Minderheit“, wenn man jeweils die anderen Teile je nach Bedarf weglässt. Die Kombination von israelisch beherrschtem Einstaatensystem und „Teile und Herrsche“ gegenüber den PalästineserInnen bedeutet zugleich, dass sich Israel notwendigerweise wie ein Apartheidstaat aufführen muss. Jegliche Bewegung Richtung eines tatsächlich demokratischen Gesamt-Palästina, das jüdische und arabische BewohnerInnen gleichberechtigt, wird von den Herrschenden in Israel grundsätzlich als Infragestellung des jüdischen Charakters Israels abgewehrt.

Die lange wie eine Heilslösung dagegen gesetzte Zweistaatenlösung, also die Umwandlung des Teilungs-Provisoriums in eine staatliche Form, scheitert an den Widersprüchen des ursprünglichen Teilungsprinzips: Zum einen ignoriert es das Rückkehrrecht der Flüchtlinge und sanktioniert das Prinzip der Bevölkerungssegregation. Weiterhin beschränkt es die PalästinenserInnen auf einen kleinen und ökonomisch ungünstigen Teil von Palästina, der auch noch zu einem beträchtlichen Teil von der jüdischen Bevölkerung als „Siedlungsgebiet“ beansprucht wird. Schließlich bleibt die Frage von Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten und deren multiethnischer Charakter immer ungelöst. Die mit den Oslo-Verträgen versuchte Zweistaatenlösung ist seit mehreren Jahren gescheitert und durch ein intermediäres israelisches Besatzungsregime ersetzt worden. Mauer, Siedlungen, Grenzregime, Befugnisse des israelischen Militärs und die Kooperation mit der „Palästinensischen Autonomie“ (180) (die großteils von ausländischer Finanzhilfe abhängig ist) machen aus dem Westjordanland ein koloniales Anhängsel Israels, das seinerseits in 3 Zonen aufgespalten ist. Die PalästinenserInnen in Zone C leben de facto unter dauerndem Ausnahmezustand, belagert von israelischer Armee und militanten SiedlerInnen. Seit dem Abzug Israels aus dem Gaza-Streifen vegetiert dieser weiterhin auf der Grundlage einer israelisch-ägyptischen Blockade vor sich hin, ohne jegliche Entwicklungsperspektive. Diese Form von kolonialem Regime im Westjordanland und Gaza könnte zur Erfüllung der Perspektive der israelischen Rechten, eines rein-jüdischen Gesamt-Palästina, führen. Dies würde allerdings mit einer humanitären Katastrophe einhergehen, die Israel in der gesamten arabischen Welt noch mehr zum Feindbild machen würde und zu vielen weiteren blutigen Konflikten genügend Anlass geben wird. Daher kann eine vernünftige Perspektive nur in der Überwindung der Teilungspolitik hin zu einer wirklich demokratischen Einstaatenlösung für Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen liegen.

Der dritte entscheidende Faktor, der mit der Gründung des Staates Israels entschieden wurde, ist dessen kapitalistischer Charakter. Trotz der „sozialistischen“ Programme der staatsgründenden Parteien Mapai und Mapam und der starken sozialistischen Tendenzen der nach Palästina flüchtenden Juden und Jüdinnen wurden die Auseinandersetzungen um die Wirtschaftsorganisation in den Gründungsjahren eindeutig in Richtung Privateigentum entschieden. Daran änderten auch die Experimente im Genossenschaftswesen (z. B. die Kibbuzim) und der große Einfluss der Gewerkschaften (vor allem der Histadrut; Zusammenschluss, Allgemeiner Verband der ArbeiterInnen im Lande Israel) nichts. Aufteilung des „eroberten“ Landes, Bauarbeiten für die großen Zuwanderungen und die militärische Aufrüstung wurden im Wesentlichen nach kapitalistischen Prinzipien organisiert und für die ursprüngliche Akkumulation eines israelischen Privatkapitals genutzt, das sich anfänglich stark im Windschatten eines von der Histadrut organisierten Staatskapitalismus entwickelte. Natürlich hängt diese Entscheidung auch mit der Weichenstellung in Richtung Konfrontation mit der arabischen Umgebung zusammen, die man aufseiten Israels nur durch Unterstützung durch die verbündeten ImperialistInnen meinte bestehen zu können. Nach der Episode der Zusammenarbeit mit den traditionell in der Region aktiven britisch-französischen KolonialistInnen konnte man nach deren Debakel in der Suez-Krise die USA als neuen Verbündeten in der „postkolonialen“ arabischen Welt gewinnen. Diese „Westintegration“ bedeutete in Kombination mit den extrem hohen Ausgaben für das Militär, dass israelischer Staat und Ökonomie von Anfang an stark abhängig vom Finanzzufluss aus den imperialistischen Zentren waren – und bis heute sind. Die durchaus mögliche Perspektive einer Integration in eine sich vom Kolonialismus befreiende arabische Welt wurde also von Anfang an ersetzt durch die Abhängigkeit vom Imperialismus und die Bereitschaft, diesem der verlässlichste Bündnispartner in der Region zu sein. Die staatskapitalistische Periode ist seit der neoliberalen Wende der 1990er Jahre längst vorbei. Heute sind israelische Privatkonzerne weltweit bedeutsam, vor allem in IT- und Rüstungsindustrie. Damit hat sich auch die extreme soziale Spaltung der israelischen Gesellschaft, zusätzlich zur arabischen Segregation, zu einer Gefährdung der „Einheit des jüdischen Staates“ entwickelt. Die nationalistische Karte ist für die Herrschenden deshalb umso wichtiger, um die tatsächlich wachsende Klassenspaltung Israels zu bändigen.

Tatsächlich bildet nur eine sozialistische Perspektive die Möglichkeit für eine demokratische Einstaatenlösung. Wie anders als durch Kollektivwirtschaft sollte eine gerechte Aufteilung des urbaren Bodens, der Wasserreserven, der landwirtschaftlichen Maschinen etc. unter Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen gleichberechtigt möglich sein? Wie anders sollte ein Brechen der Macht des israelischen Kapitals möglich sein als durch den gemeinsamen Klassenkampf? Und wie kann die Abhängigkeit Israels vom US-Imperialismus überwunden werden, wenn nicht durch eine revolutionäre transnationale Bewegung zur Zerschlagung des bestehenden nationalistischen Unterdrückungsapparates? Doch ist eine solche Perspektive nur denkbar, wenn sich die politischen und sozialen Kräfte in Israel, die aus den Klassenkämpfen entstehen, von der zionistischen Ideologie und der Akzeptanz der permanenten Entrechtung des arabischen Teils der Bevölkerung in ganz Palästina verabschieden. Der palästinensische Widerstand ist seit Jahrzehnten durch nationalistische und islamistische Führungen in die Sackgasse geführt worden. Auch für ihn zeigt deshalb nur die sozialistische Perspektive einen Weg aus der permanenten Niederlage und die Möglichkeit, durch eine gemeinsame jüdisch-arabische Bewegung aus der Falle der nationalistischen Scheinlösungen entkommen zu können.

9.3 Antizionismus ist legitim!

Die AraberInnen und PalästinenserInnen tragen keine Verantwortung für die Shoa, Pogrome, industriellen Massenmord und die Vertreibung von Millionen europäischer Juden und Jüdinnen durch die Nazis. Dass die große Einwanderungswelle nach 1945 in Palästina die demographischen Verhältnisse wesentlich verändert hat, hätte an sich noch nicht zu der Zuspitzung der Situation 1948 führen müssen. Aber die konstanten Vertreibungen von PalästinenserInnen, die Umsiedlungspläne, die mit dem Teilungsplan von 1947 einhergingen, und die Etablierung eines eigenen hochgerüsteten jüdischen Staates mussten in der arabischen Welt als weiteres Projekt für ihre koloniale Unterdrückung gesehen werden. Der Widerstand dagegen war berechtigt und kein antisemitischer Akt in Verleugnung des großen Leidens der jüdischen EinwanderInnen. Die Niederlage der arabischen Armeen, die Etablierung eines zionistischen Staates auf der Grundlage einer Vertreibung von 750.000 PalästinenserInnen und seine enge militärisch-politische Anbindung an die USA machten Israel von Anfang an zu einem eindeutig rassistischen und imperialistischen Projekt. Es basiert einerseits auf der systematischen Ausgrenzung der in seinem Staatsgebiet lebenden arabischen Bevölkerung (ob mit israelischer Staatsangehörigkeit oder in den besetzten Gebieten), andererseits auf einem gewaltigen Militarismus.

Angesichts der Bedeutung des Nahen Ostens für Weltwirtschaft und Weltpolitik ist es klar, dass der Vorposten Israel für die imperialistische Kontrolle der Region von unschätzbarem Wert war und ist. Noch jeder US-Präsident hat vorgerechnet, wie viel mehr Israel für US-Interessen wert sei als die jährlichen Haushaltsmittel speziell für US-Militärhilfe (4,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr und noch viel mehr, laut Donald Trump). Wie jedoch schon ausgeführt, hat sich Israel zwar weit über eine ökonomisch subventionierte „Siedlerkolonie“ hinausentwickelt. Weiterhin bleibt aber die zionistische Unterdrückungspolitik gegenüber der arabischen Bevölkerung auf israelischem Territorium und in den besetzten Gebieten bestimmend für den Charakter des Staates.

Antizionismus, der sich gegen die Rolle Israels in der Region, die systematische Ausgrenzung der arabischen Bevölkerung und die Besatzungspolitik richtet, ist legitim und notwendig. Wie dargelegt, sind diese drei Elemente keine „Zufälligkeiten“ oder „Nebenerscheinungen“, sondern gehören seit der Gründung des Staates Israel zu seinen bestimmenden Merkmalen. Sie sind in der Politik der ethnischen Teilung Palästinas und dem Anspruch, einen „rein jüdischen Staat“ in dem für sich reklamierten Teil Palästinas zu bilden, inhärent gegeben. Israel in seiner jetzigen Verfassung und Form ist daher notwendigerweise ein Apartheidstaat und Vorposten des Neokolonialismus. Ein konsequenter Antizionismus kann aber nicht bei der Kritik am Staat Israel stehenbleiben, sondern muss eine fortschrittliche Lösung für die Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen in der Überwindung des bestehenden Staates Israel aufzeigen. Die „Einstaatenlösung“ bedeutet nicht die Ersetzung des dominierenden „jüdischen Staates“ durch einen „arabischen Staat“. Eine fortschrittliche Lösung kann nur ein binationaler Staat, mit gleichberechtigten jüdischen und palästinensischen Bevölkerungen sein, der entsprechende Minderheitenrechte in allen Gebieten garantiert.

Die Existenz einer jüdischen Nation in Palästina, d. h., die Berechtigung von Millionen Juden und Jüdinnen, dort zu leben, ist unleugbar und daher auch von SozialistInnen zu verteidigen. Jeder „Antizionismus“, der dies leugnet und Juden und Jüdinnen aus Palästina vertreiben will, ist daher in unseren Augen reaktionär. Aufgrund des Niedergangs des arabischen Nationalismus und Stalinismus sind heute Teile des palästinensischen Widerstands unter der Führung antisemitischer Organisationen wie der „Hamas“. Die Hamas-Ideologie ist offenkundig nicht auf einen binationalen Staat in Palästina ausgerichtet, ganz abgesehen von den reaktionären sozialen und ökonomischen Zielsetzungen für ein islamisches Palästina. SozialistInnen können diese Organisation politisch natürlich nur ablehnen und bekämpfen. denn deren „Antizionismus“ ist tatsächlich verkappter Antisemitismus.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Tausenden AktivistInnen in Gaza, die sich gegen die israelische Blockade und Zermürbungsstrategie zur Wehr setzen, im Unrecht wären, nur weil Hamas in Gaza politisch dominiert. Diese Dominanz ist Ausdruck der Perspektivlosigkeit als Folge des permanenten Verrats der korrupten Fatah (Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas) und der fehlenden sonstigen relevanten politischen Alternativen. Die Strategie der Hamas, durch Zusammenarbeit mit bestimmten reaktionären Golfstaaten und durch militärische Kraftmeierei, ohne entsprechende Mittel, die Verhandlungsposition gegenüber Israel verbessern zu wollen, unterscheidet sich letztlich kaum von der ebenso erfolglosen Fatah. Letztlich kann der palästinensische Widerstand nur gegen diese Führungen erfolgreich sein.

Trotzdem müssen wir anerkennen, dass die Mehrheit der mutigen und verzweifelten AktivistInnen gegen die israelische Besatzungspolitik weiterhin Hamas und Fatah als ihre Führungen anerkennt und ihren Aufrufen folgt. Sofern es sich dabei um berechtigte Akte der Selbstverteidigung, des Protestes gegen den unterdrückerischen Militärapparat und des Widerstandes gegen das Besatzungsregime handelt, werden wir diese Aktionen unterstützen, auch wenn wir die Führung durch die Hamas und deren politische Ziele gleichzeitig kritisieren. SozialistInnen können nicht passiv beiseitestehen, wenn die israelische Armee massive Schläge gegen Gaza setzt, und zu den palästinensischen KämpferInnen sagen, dass wir neutral blieben, solange sie sich nicht von der Führung der Hamas entfernt hätten. Uns ist bewusst, dass der Antisemitismus der Hamas dabei ein besonderes Problem ist, das auch offen benannt werden muss. Aber es muss klar sein, dass der militärische Apparat der Hamas ein lächerlicher Zwerg gegenüber der riesenhaften israelischen Armee ist. Eine Umdeutung dieser Auseinandersetzung in „jüdischen Widerstand“ gegen eine „Hamas-SS“ (wie das bei anti-deutschen Linken durchscheint) ist daher völlig deplatziert. Natürlich würde eine tatsächlich für die jüdische Existenz in Palästina bedrohliche Hamas eine ganz andere Positionierung für SozialistInnen ergeben. Doch geht es derzeit nicht um eine ausgemalte Situation, sondern um die gegenwärtige (und wohl noch längere Zeit zu erwartende) Verteilung der Kräfte und das aktuelle Unterdrückungsverhältnis.

Kein ernsthafter Mensch kann natürlich garantieren, dass die heute Unterdrückten (nicht nur in Palästina), sollten sie ihre UnterdrückterInnen besiegen, in Zukunft nie repressiv und unterdrückerisch handeln können. Doch wenn dies ein Argument gegen einen Befreiungskampf sein soll, wird damit jeder demokratische Kampf gegen nationale oder rassistische Unterdrückung in Frage gestellt, ja in gewisser Weise selbst der für die sozialistische Revolution. Auch diese kann unter Umständen degenerieren und – siehe Stalinismus – zu einer bürokratischen Diktatur werden. Doch worin besteht die Lösung des Problems? Offenkundig darin, eine revolutionäre, internationalistische Führung des Kampfes aufzubauen, die sich als konsequenteste Vertreterin der Unterdrückten in der Praxis erweist und so andere Klassenkräfte politisch zurückdrängen kann. Eine solche Politik setzt aber die Solidarität mit dem Befreiungskampf voraus, auch wenn er von reaktionären Kräften dominiert wird. Alles andere bedeutet, die Unterdrückten im Stich und den UnterdrückerInnen freie Hand zu lassen.

Hamas und Co. sind zudem nicht nur meilenweit davon entfernt, ihre reaktionären Ziele in die Tat umsetzen zu können. Sie haben sich auch als politisch unfähige Führung erwiesen. Unsere Unterstützung gilt nicht den proklamierten Zielen der nationalistischen oder islamistischen Führungen des Widerstands, wohl aber dem Befreiungskampf, der legitimen Selbstverteidigung und dem Streben nach Selbstbestimmung der PalästinenserInnen, unter welcher Führung sie derzeit auch stehen mögen.

9.4 Israel – ein Schutz gegen Antisemitismus?

Auch die Auffassung, dass Israel endlich das Instrument sei, mit dem Juden und Jüdinnen eine langfristige Garantie für Selbstverteidigung vor antijüdischer Verfolgung haben würden, ist sehr fragwürdig. Ein Staat von 6 Millionen Juden und Jüdinnen, der auf der Unterdrückung von (die palästinensische Diaspora mitgerechnet) 9 Millionen PalästinenserInnen beruht, mit denen sich etwa 350 Millionen AraberInnen solidarisch fühlen, bedarf eines beträchtlichen militärischen Aufwands, um sich unter Bedingungen kompromissloser Nicht-Friedenspolitik in der Region behaupten zu können. Sollte, aus welchen weltpolitischen Gründen auch immer, das Interesse der Großmächte an Israel verlorengehen, kann dies für die dort lebenden Juden und Jüdinnen rasch zu einer sehr bedrohlichen Situation führen. Jedenfalls führt die kompromisslose zionistische Apartheidpolitik der letzten Jahrzehnte zu einer schiefen Ebene Richtung Rechtspopulismus und immer extremer werdendem anti-arabischen Rassismus. Inzwischen hören sich die Pläne der Regierungsparteien immer mehr nach denjenigen der Reservatspläne der vormaligen britischen KolonialbeamtInnen an. Die unbegrenzte Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten und das Agieren der israelischen Sicherheitskräfte mitsamt der Beerdigung jeglichen Friedensprozesses lässt unweigerlich eine nächste Vertreibungswelle befürchten. Dies deutete sich auch bei der jüngsten Knessetwahl 2019 an, bei der Netanjahu unter anderem mit dem Versprechen gewann, Teile der Westbank zu annektieren. Außerdem hat sich die extreme Rechte weiter etabliert und wurde sogar zur „Königsmacherin“. Die „Union der rechten Parteien“ (Listenverbindung dreier religiöser Rechtsparteien), nunmehr eine wichtige Koalitionspartnerin, enthält auch die „Vereinigte Nationalpartei“ (Tkuma; Wiedergeburt) des Bezalel Smotrich, der Frieden in Palästina nur für möglich hält, wenn alle Nicht-Juden/-Jüdinnen es „verlassen“ haben (181).

Der arabische Anti-Zionismus ist also an sich eine gerechtfertigte Reaktion auf nationale Unterdrückung und das imperialistische Ausbeutungsregime im Nahen Osten. Er hat an sich nichts zu tun mit einer Herrenvolkideologie, die mit der Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung ihre eigenen imperialen Abenteuer und Pogrome zu rechtfertigen versucht. Auch nach Deutschland geflüchtete PalästinenserInnen und AraberInnen haben natürlich das Recht, diese Protesthaltung zu zeigen, und nicht die Verpflichtung, die Schuld des eliminatorischen deutschen Antisemitismus als eine Art „Integrationsleistung“ mit auf sich zu nehmen. Daher ist auch die Verbrennung einer Nationalfahne (und eine solche ist auch die Fahne des Staates Israel vornehmlich, so sehr der Davidstern auch religiös interpretierbar ist) in einer großen Demonstration an sich kein Zeichen des Antisemitismus, sofern dies nicht mit der Herabwürdigung sonstiger Symbole des Judentums und pauschalisierender antijüdischer Hetze verbunden ist. Auch das Verbrennen türkischer Fahnen auf kurdischen Demonstrationen ist ja keine anti-muslimische oder generell gegen alle TürkInnen gerichtete Symbolik, sondern veranschaulicht nur die Entschlossenheit zum Widerstand gegen die Politik des türkischen Staates.

Ebenso ist auch die beliebte Zuschreibung von „sekundärem Antisemitismus“ (Schuldentlastung über: „Die Juden und Jüdinnen sind ja auch RassistInnen und FaschistInnen“) für diejenigen Deutschen, die sich mit palästinensischem Protest solidarisieren, verallgemeinernd und falsch. Natürlich ist es für die deutsche Solidaritätsbewegung notwendig, klarzumachen, dass sich die Kritik gegen die Politik des israelischen Staates richtet, und jegliche generalisierende Behauptung in Bezug auf „die Juden und Jüdinnen“ und ihre Verantwortung für diese Politik zurückzuweisen. Schließlich kommt es ja auch auf die israelische Linke, die sozialen Bewegungen und letztlich die israelische ArbeiterInnenklasse an, den Irrweg des Zionismus zu überwinden und gemeinsam mit den PalästinenserInnen eine Gesellschaft des gleichberechtigten Miteinanders von AraberInnen und Juden und Jüdinnen in Palästina, das Rückkehrrecht für alle Vertriebenen und einen gemeinsamen multi-ethnischen Staat zu erkämpfen.

Gleichzeitig ist nicht zu leugnen, dass der „Antizionismus“ als Cover für den Antisemitismus dienen kann. Wir haben dies z. B. an der Politik stalinistischer Organisationen schon dargestellt. Auch rechte Gruppierungen nutzen Israel gern als Instrument für ihren Geschichtsrevisionismus. Schließlich ist auch bei arabischen NationalistInnen und bei IslamistInnen eine taktische Verkleidung ihres Antisemitismus durch die Benutzung des Antizionismus anzutreffen. Ein erfolgreicher internationalistischer Kampf, der den Antizionismus beinhaltet, muss sich dringend von allen solchen Formen des verkleideten Antisemitismus distanzieren, ihn entlarven und politisch bekämpfen.

9.5 Internationalismus und Anti-Zionismus

Vollkommen falsch ist es jedoch, arabischen und palästinensischen Menschen im Allgemeinen den Antisemitismus der IslamistInnen als Allgemeingut zu unterstellen. Die Muslimbrüder waren lange in den arabischen Ländern eine verschwindende Minderheit. Erst mit der Erfolglosigkeit der anderen „westlichen“ Konzepte kam die Stunde der IslamistInnen. Der Aufstieg der Hamas begann erst in den 1990er Jahren, zunächst sogar von der israelischen Regierung als Gegengewicht zur PLO gefördert.

Der teilweise Erfolg solcher Gruppen bedeutet nicht automatisch, dass ihr Programm und ihre Ideologie tatsächlich tiefe Verbreitung haben. Auch die Strategie der Hamas und ihrer korrupten Führung hat zu weitgehender Desillusionierung ihr gegenüber geführt. Zu behaupten, weil die Hamas (noch) eine Führungsposition in Gaza einnimmt, seien alle EinwohnerInnen Gazas eliminatorische AntisemitInnen und deswegen ihre Zerbombung durch die IDF gerechtfertigt, ist nicht nur zynisch, sondern auch direkt rassistisch und pro-imperialistisch.

Der Arabische Frühling hat deutlich gezeigt, wie notwendig eine alternative, sozialistische Führung jenseits des Islamismus und der vom Westen abhängigen korrupten Herrschaftsapparate in der arabischen Welt ist. Mit der Niederlage der Revolutionen sind viele damals aktiv Gewordene und oftmals zur Flucht Gezwungene jetzt auf der Suche nach neuer Orientierung. Für viele gehört der Protest gegen die neuen/alten Diktaturen, die sich radikalisierenden IslamistInnen genauso zur Grundorientierung wie der Protest gegen die für die Region immer unheilvoller werdende Politik des rassistischen israelischen Staates. Der Kampf gegen antisemitische und faschistische Strömungen im Islamismus muss von den MigrantInnen selbst geführt und von uns unterstützt werden. Die Instrumentalisierung des pauschalen Antisemitismusvorwurfes gegen alle muslimischen MigrantInnen und sein Verwenden als Repressionsmittel ist dabei nicht nur nicht hilfreich. Er ist im Kern selbst rassistisch, dient zur Diffamierung und Stigmatisierung von MigrantInnen und MuslimInnen, die gegen die Unterdrückung ihre Stimme erheben, und somit zur Rechtfertigung der Politik des zionistischen Staates und der imperialistischen Mächte. Und natürlich wird er vor allem gegen politisch aktive linke MigrantInnen verwendet werden – gerade um jede fortschrittliche Perspektive mundtot zu machen. Der Kampf gegen den Antisemitismus beinhaltet daher die Einbeziehung eines gerechtfertigten und antiimperialistischen Antizionismus, der jede Form des Antijudaismus ablehnt. Wie schon in Lenins und Trotzkis Perspektive werden sich das Problem des Antisemitismus und der „Nah-Ost Konflikt“ nur im Rahmen einer antiimperialistischen, proletarischen, internationalistischen Revolution lösen lassen. Jede nationalistische bzw. national-religiöse Antwort wie Zionismus, Islamismus oder arabischer Nationalismus stellt nur einen sicheren Wege in die nächste Katastrophe dar.

Endnoten

(1) Aus Jewgeni Jewtuschenkos Gedicht „Nad Babim Jarom pamjatnikov njet“ („In Babi Jar steht kein Denkmal“), das 1961 in der Sowjetunion an das fehlende Gedenken zum Massaker an mehr als 33.000 Juden und Jüdinnen durch die deutsche Wehrmacht 1941 erinnerte.

(2) Für den industriellen Massenmord an den europäischen Juden und Jüdinnen werden generell unterschiedliche Begriffe verwendet. „Holocaust“ ist eigentlich ein griechisches Wort, das sich auf Brandopfer bezieht und seit mehreren Jahrhunderten in der englischsprachigen Literatur für verschiedene Völkermorde verwendet wurde. Nach 1945 verschob sich die Verwendung dieses Begriffs vor allem in den USA zu einer Bezeichnung des NS-Vernichtungswerkes. Wegen seiner Hintergründe in religiösen Ritualen, seiner allgemeinen Verwendung für verschiedene Völkermorde als auch wegen der Kommerzialisierung in der US-Holocaust-Gedenkkultur ist der Begriff allerdings nicht unumstritten. Daher haben wir uns hier entschieden, den allgemein im Hebräischen üblichen Begriff „Shoa“ („das große Unglück“), der auch im entsprechenden jüdischen Gedenktag Namen gebend ist, zu verwenden.

(3) IHRA: Working Definition of Antisemitism. Beschlossen auf dem Plenum in Budapest 2016: https://www.holocaustremembrance.com/node/196.

(4) „Diaspora“ kommt aus dem Griechischen (das Verb „diaspeiro“ bedeutet „zerstreuen“, „entsenden“) und wird im griechischen Neuen Testament zur Bezeichnung der Zerstreuung der Juden und Jüdinnen in alle Welt verwendet bzw. zur Bezeichnung der Länder, in die Juden und Jüdinnen zerstreut wurden. Interessant ist, dass „Diaspora“ im Neuen Testament (das ursprünglich auf Griechisch geschrieben wurde) für die „Entsendung“ der ChristInnen in alle Welt steht (aus: Wilhelm Gemoll, „Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch“, Wien/Leipzig 1908).

(5) Die römischen Quellen zum Aufstand finden sich in: Cassius Dio: „Römische Geschichte“; Eusebius: „Kirchengeschichte“. Archäologische Belege für die bei Cassius Dio beschriebenen Zerstörungen finden sich u. a. durch die Inschriften an zu dieser Zeit neu gebauten Gebäuden, die als Grund des Neubaus den „tumultus iudaicus“ nennen.

(6) Ein gemeinsames kanaanitisches Wort ist „El“, das gemeinhin mit „Gott“ übersetzt wird und in vielen Formen (z. B. „El …“ = „Gott von….“, „Elochim“ = „Göttlichkeit“) vorkommt. So bedeutet „Isra-El“ eigentlich „Kämpfer für Gott“ (der Beiname für Jakob, laut Bibel der Stammvater der zwölf jüdischen Stämme, die damit „Kinder Israels“ genannt werden). Israelis sind also wörtlich übersetzt DschihadistInnen, denn im Koran ist allgemein vom „dschihad Fi sabili Llah“ („Kampf um Gottes willen“) die Rede.

(7) Shlomo Sand, „Die Erfindung des Landes Israel“, Berlin 2016 (im Hebräischen Original 2012 erschienen). Siehe vor allem das Kapitel II, „Mytherritorium“, ebd., S. 91 ff.

(8) Die Konfrontation mit dem Baalkult wird z. B. sehr ausführlich in der Geschichte des Propheten Elias erzählt. Besonders schockierend für das patriarchale Judentum war, dass es sich um eine Zwei-Gottheit handelte: eine männliche und weibliche, verbunden in einer Geschwisterehe. Im Judentum wurde die Schwester eliminiert, und es wurde darüber getobt, dass trotzdem selbst im „Tempel“ immer noch die Statue der weiblichen Gottheit in Nacktheit aufgestellt war. Die Verunglimpfung der Baalreligion als zügellos, götzenhaft und blutrünstig wurde später vom religiösen Antijudaismus gegen das Judentum selbst gerichtet: siehe im Kapitel zum mittelalterlichen Antijudaismus.

(9) So geht Shlomo Sand (a. a. O., S. 103 f.) davon aus, dass der jüdische Monotheismus in Babylon stark durch die Auseinandersetzung mit dem persischen Zoroastrismus/Zarathustrismus geprägt wurde. Das persische Reich begründete seinen universalistischen Anspruch durch die Allmacht des einen Gottes, Ahura Mazda, der allerdings im ewigen Kampf gegen sein duales Gegenteil (Gut-Böse), Ahriman, begriffen ist. Die PerserInnen wiederum nutzten die Spaltung der kanaanitischen Gesellschaft in die mit ihnen verbundenen monotheistischen Juden und Jüdinnen und die „heidnische“ Normalbevölkerung („Teile und Herrsche“). Allerdings lehnte der jüdische Monotheismus den Dualismus konsequent ab (und unterscheidet sich dadurch auch wesentlich vom Christentum, der dem Satan wieder eine göttliche Qualität gab).

(10) Die Transformation der ökonomischen Rolle der PhönizierInnen in Richtung Judentum wurde schon im 19. Jahrhundert von dem Historiker und Rabbiner Levi Herzfeld ausführlich dargestellt, in: „Handelsgeschichte der Juden des Alterthums“, Braunschweig, 1879.

(11) So wurde die Erstürmung von Jerusalem im Jahr 70 u. Z. durch 3 Elite-Legionen durchgeführt, unter ihnen die berüchtigte Legio Decima Fretensis. Nachdem es sich um eine der größten Städte der damaligen Welt handelte, führte das rücksichtslose Vorgehen der Legionäre zu einem Massenmord an Zehntausenden Menschen. Auch der Brand des zentralen Heiligtums, des jüdischen Tempels, und seine Zerstörung (bis auf den bekannten Mauerrest, der heute die Klagemauer darstellt) war für die Legionäre ein (nicht unbedingt beabsichtigter) Kollateralschaden. Auch die Kreuzritter gingen später bei ihrer Erstürmung von Jerusalem nach dem Motto „Der Herr erkennt die Seinen“ vor – der Kampf um die „Heilige Stadt“ wurde zum Fanal des Vernichtungskrieges.

(12) Neben dem Tanach, der „jüdischen Bibel“ (die als zentrale Lehre die Tora, die fünf Bücher Mose, enthält, die in die hellenistische „Pentateuch“-Übersetzung eingingen), ihrer Auslegung im Talmud (der eine babylonische und eine jerusalemische Version kennt), Midrasch und Tosofat (die rabbinischen Lehren) ist die Befolgung der 613 Mitzwot (der religiösen Gebote, zu denen die bekannten 10 mosaischen Gebote gehören) zentral für den jüdischen Glauben. Von Moses Maimonides stammt die Auflistung aller 613 Mitzwot. Mit ihrem 13. Geburtstag gelten mit dem Ritus Bar/Bat Mitzwa alle Mitzwot für den Jungen/das Mädchen.

(13) Siehe dazu Abraham Léon, „Judenfrage und Kapitalismus“, München 1971 (auch unter: „Die jüdische Frage – Eine marxistische Darstellung“, 1946). Auch wenn im Einzelnen richtige Kritikpunkte an Léon geäußert wurden und er seine These von den Juden und Jüdinnen als „Volksklasse“ geografisch und zeitlich überdehnt, so teilen wir doch die zentralen Aussagen dieses bahnbrechenden Werkes.

(14) Zur Bedeutung der jüdischen FernhändlerInnen im Frühmittelalter siehe z. B.: Gene W. Heck, „Charlemagne, Muhammad and the Arabic Roots of Capitalism“, De Gruyter, Berlin, New York 2006. Arabische AutorInnen hatten einen eigenen Namen für die jüdischen FernhändlerInnen: RadhanitInnen. Eine Primärquelle ist die Schrift von Ibn Chordadbeh, „Buch der Wege und Länder“ (um 847 u. Z.), in dem er ausführlich die Handelsrouten und –güter der Radhaniten beschreibt (Ibn-Khordadbeh, „Le Livre des Routes et des Provinces“, Französische Übersetzung: C. Barbier de Meynard, Journal Asiatique, Januar/Februar 1865). In Westeuropa endete ihre Route in Spanien bzw. Südfrankreich. Es gab aber wohl auch eine Ostroute über das Chasarenreich. Umstritten unter HistorikerInnen ist vor allem die Bedeutung des Sklavenhandels in diesen frühmittelalterlichen Handelsbeziehungen zwischen „Ost“ und „West“ bzw. der Umfang, in dem die RadhanitInnen tatsächlich Juden und Jüdinnen waren. Erwiesen ist auch, dass die Herrscher der ChasarInnen im 8. Jahrhundert zum Judentum übergetreten sind.

(15) Die hebräische Bezeichnung „SeFaRD“ war eine im Tanach gebrauchte Bezeichnung für eine mythische Gegend, die später als geographische Bezeichnung auf die iberische Halbinsel übertragen wurde. Die Geschichte und Bedeutung der Sephardim für das Judentum im Mittelalter ist einer der Gründe, warum Léons Volksklassen-Theorie ihre Grenzen hat, da es hiermit eine zentrale Region gab, in der die jüdische Gesellschaft sozial sehr differenziert war.

(16) „Aschkenas“ ist ein im Tanach vorkommender Personenname. Aus ungeklärten Gründen wurde er im Mittelalter von in das deutsche Reich eingewanderten Juden und Jüdinnen als Stammvater der Germanen angesehen. Später wurden mit „aschkenasisch“ alle im Mittelalter in Mitteleuropa lebenden Juden und Jüdinnen (mit Deutschland als Zentrum) bezeichnet. Durch die spätere Migration nach Osteuropa hat sich die geografische Ausdehnung der Aschkenasim stark verbreitert. Inwiefern und in welchem Umfang sich auch nach Osteuropa geflüchtete ChasareInnen nach der Niederlage gegen die Rus dazufügten, ist umstritten.

(17) siehe Léon, a. a. O. S. 81 f.

(18) ebd., S. 84 f.

(19) In Frankreich führte Philipp II. (1198) den „produit des juifs“ (Judenertrag) ein und stellte sie unter seinen „Schutz“ – und vor allem seine Kontrolle; 1394 unter Karl VI. wurden die Juden und Jüdinnen endgültig aus Frankreich vertrieben. In England wurden die Juden und Jüdinnen bereits seit der normannischen Eroberung mit einer königlichen Steuer belegt; zur Begleichung der Schulden diverser Kriege wurden 1290 durch Eduard I. die Juden und Jüdinnen des Landes verwiesen (sprich enteignet) und ab dann nicht mehr geduldet. In Deutschland führte Kaiser Friedrich II. 1236 die „Kammerknechtschaft“ für alle Juden und Jüdinnen ein. Sie waren zwar damit unmittelbar dem kaiserlichen Schutz unterstellt, gleichzeitig als quasi Leibeigene auch zu willkürlicher Steuerleistung verpflichtet. Dies wurde von den HabsburgerInnen bis ins 18.Jahrhundert fortgesetzt.

(20) Zur besonderen Situation der Juden und Jüdinnen in Polen-Litauen und im Zarenreich bis zum 19. Jahrhundert siehe: Léon, a. a. O., S. 120 ff.

(21) Siehe Bericht in „Der Standard“ über eine Studie, die im „Journal of Human Genetics“ veröffentlicht wurde: https://derstandard.at/1227287822229/Genetische-Ueberraschung-fuer-spanische-Maenner.

(22) Siehe dazu: Max Sebastián Hering Torres, „Rassismus in der Vormoderne, Die ,Reinheit des Blutes’ im Spanien der Frühen Neuzeit“, Frankfurt am Main 2006.

(23) Siehe dazu: Rena Molho, „Der Holocaust der griechischen Juden“, Bonn 2016. Hier wird auch auf die nicht gerade rühmliche Geschichte des griechischen Umgangs mit diesen Ereignissen und Antisemitismus im Allgemeinen eingegangen.

(24) Vom hebräischen Wort „MiZRaCH“ für „Osten“.

(25) Zur Bedeutung des „Reformjudentums“ als Projekt der Integration in die entstehenden bürgerlich-liberalen Nationalstaaten im starken Gegensatz zum später aufkommenden Zionismus siehe: S. Sand, a. a. O., S. 229 f.

(26) Moses Hess, Ausgewählte Schriften, „Rom und Jerusalem“, hrsg. von Horst Lademacher, Wiesbaden 1981, S. 259. Natürlich ist die Ähnlichkeit zu der schon geschilderten Position von Moses Maimonides überdeutlich.

(27) Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, Berlin/O. 1974. Es muss bemerkt werden, dass der erste Teil dieser Schrift eine sehr richtige Kritik am bürgerlichen Emanzipationsbegriff und seiner Voraussetzung, der Spaltung des Menschen in den/die „BürgerIn“ und den „Privatmenschen“, entwickelt („gleiches Recht“ gilt nur für Ersteren). Im zweiten Teil der Schrift wird allerdings eine Definition vom Begriff des Judentums als „Wucherertum“ geliefert, die zeigt, dass Marx zu diesem Zeitpunkt von einer dialektisch-materialistischen Analyse noch entfernt war. Die Emanzipation der Juden und Jüdinnen als „Vernichtung des Judentums“ kann also nicht als Position des „entwickelten Marxismus“ angesehen werden.

(28) Zitiert nach: August Thalheimer, „Spinozas Einwirkung auf die deutsche Literatur“: http://www.mxks.de/files/klasse/Thalheimer.KlassenverhSpinoza.part3.html

(29) Bericht von Deutschlandradio-Kultur: „Ungläubig in Jerusalem“, 12.8.2016: https://www.deutschlandfunkkultur.de/saekulare-juden-unglaeubig-in-jerusalem.1079.de.html?dram:article_id=362953.

(30) Siehe die Berichte des israelischen „Central Bureau of Statistics“. Die Zahlen für z. B. 2015: 16.700 AuswanderInnen gegenüber 8.500 EinwanderInnen.

(31) Siehe zu den Motiven von schon Ausgewanderten: https://www.deutschlandfunk.de/israelische-einwanderer-wunschland-deutschland.886.de.html?dram:article_id=385476. In der Zeitung Haaretz wurde eine Umfrage veröffentlicht, nach der sogar 40 % der Israelis über Auswanderung nachdenken: https://www.heise.de/tp/features/Auswanderung-aus-Israel-politische-und-soziale-Klaustrophobie-3369692.html.

(32) Shlomo Sand, How Israel went from Atheist Zionism to a Jewish State, Haaretz, 21.1.2017.

(33) “haAwoda” ist die „Partei der Arbeit”, die aus der sich sozialistisch nennenden Mapai-Partei hervorgegangen ist. Mapai war die führende politische Kraft in der Gründungsperiode Israels (z. B. unter ihrem Führer Ben Gurion). Sie hat bei den letzten Wahlen 2015 18 % der Stimmen bekommen, während sie Anfang der 1990er Jahre noch weit über 30 % lag. Sie ist heute im Wahlbündnis „Zionistische Union“ zusammen mit der national-liberalen Ha Tnu’a (Die Bewegung) von „Tzipi“ Livni.

(34) Shlomo Sand, „Israel isn’t fascist, but it still needs the world to save it“. Haaretz, 13.8.2016.

(35) Karl Marx, „Konfidentielle Mitteilung, 5. Die Resolution des Generalrats über die irische Amnestie“, in: MEW 16, Berlin/O. 1973, S. 417.

(36) Siehe die Stellungnahme der „Jewish Voice for Labour“ gegen die Kampagne, die israelbezogenen Beispiele der IHRA-Definition in der Labour-Party anzuerkennen: https://www.jewishvoiceforlabour.org.uk/blog/mischievous-and-malicious-attack-on-labour/.

(37) Holger Schatz/Andrea Woeldike, „Freiheit und Wahn deutscher Arbeit“, Hamburg 2001, S. 16. Grob vereinfacht und verkürzt könnte man sagen, dass das Alte Testament für beide, Juden/Jüdinnen und ChristInnen, religiöse Gültigkeit hat, während das Neue Testament nur von den ChristInnen „anerkannt“ wird.

(38) zitiert nach Gerhard Scheit, „Verborgener Staat, lebendiges Geld“, Freiburg (Brsg.) 1999, S. 65. Siehe dazu auch Mord- und Gewaltphantasien Martin Luthers in seiner Schrift: „Von den Juden und ihren Lügen“, Hrsg.: Karl-Heinz Büchner/Bernd P. Kammermeier/Reinhold Schlotz/Robert Zwilling, Aschaffenburg 2016.

(39) Scheit, a. a. O., S. 18.

(40) Ebd., S. 28 f.

(41) Saul Friedländer, „Das Dritte Reich und die Juden“, München 2000, S. 98.

(42) Ebd., S. 98.

(43) Ebd., S. 101.

(44) Scheit, a. a. O., S. 558 f.

(45) Philip Zeidler, „Die Ritualmordlegende um Simon von Trient“, Erfurt 2013.

(46) siehe Bericht über eine aktuelle „Judenstein“-Wallfahrt: http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/e_bibliothek/antisemitismus-1/kult-um-anderl-von-rinn-totgesagte-leben-laenger/Sabine%20Wallinger-%20Totgesagte_leben_laenger.pdf.

(47) Mario Erdheim, „Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit“. Frankfurt am Main 1984, S. 222.

(48) Ebd, S. 258

(49) Ebd., S. 389 f.

(50) Leo Trotzki, „Schriften über Deutschland“, Hrsg: Helmut Dahhmer, EVA, Frankfurt am Main 1969, S. 234.

(51) Ebd., S. 231.

(52) Dieser Artikel findet sich wie viele andere grundlegende Artikel aus dem Umkreis der Frankfurter Schule, soweit sie sich vor allem auf die Psychoanalyse beziehen, im zweibändigen Sammelband „Analytische Sozialpsychologie“, herausgegeben von Helmut Dahmer, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980 (hier zitiert nach dem Reprint von 1992). Hier: Theodor W. Adorno, „Die Freudsche Theorie und die Struktur faschistischer Propaganda“, Band 1, S. 318. Ersterscheinung: 1951.

(53) Siehe: Ernst Simmel, „Antisemitismus und Massenpsychopathologie“ (1946), in: „Analytische Sozialpsychologie“, Band 1, a. a. O., S. 282; Max Horkheimer, „Autorität und Familie in der Gegenwart“ (1949), in: „Analytische Sozialpsychologie“, Band 1, a. a. O., S. 343.

(54) Sigmund Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), in: „Analytische Sozialpsychologie“, Band 1, a. a. O., S. 38. Zitierte Stelle: S. 49.

(55) Adorno, a. a. O., S. 328.

(56) Simmel, a. a. O., S. 296.

(57) Adorno, a. a. O., S. 328.

(58) Georg Lukács, „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“, in: „Geschichte und Klassenbewusstsein“, Amsterdam 1967, S. 94–228; Erstausgabe: Berlin 1923. Ein zentrales Werk der marxistischen Philosophie des 20. Jahrhunderts!

(59) Moishe Postone, „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ (1979). Hier zitiert nach der Ausgabe von: Initiative Sozialistisches Forum, „Kritik & Krise“, Nr. 4/5, Freiburg 1991, Übersetzung Schumacher/Diner.

(60) Ebd., S. 1.

(61) Ebd., S. 3.

(62) Ebd., S. 4.

(63) Ebd., S. 6.

(64) Ebd., S. 7.

(65) Ebd., S. 7.

(66) [‚solid], Gegen jeden Antisemitismus, Bundeskongress 2015, https://www.linksjugend-solid.de/2015/09/11/gegen-jeden-antisemitismus/.

(67) Moshe Zuckermann, „Der allgegenwärtige Antisemit“, Frankfurt am Main 2018, S. 83 f.

(68) H. G. Wells, 1901, zitiert nach: Richard Dawkins, „Geschichten vom Ursprung des Lebens“, Berlin 2008, S. 567

(69) Joseph Arthur de Gobineau, „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“, 4 Bände, Paris 1853–1855.

(70) Houston Stewart Chamberlain, „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“, München 1899.

(71) Alfred Rosenberg, „Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts“, München 1930.

(72) Dawkins, a. a. O., S. 568. Bemerkung: Hier und im Folgenden verwenden wir rein naturwissenschaftliche Darstellungen von Richard Dawkins, der allerdings nicht nur Biologe, sondern auch ein bekannter Religionskritiker ist. Wir folgen anderen Methoden der Religionskritik – aber das ist hier kein Thema.

(73) Siehe einen Bericht dazu in der New Your Times: http://www.humanitas-international.org/perezites/news/jewish-dna-nytimes.htm.

(74) Siehe einen Bericht dazu in der Wiener „Presse“: https://diepresse.com/home/science/1333528/Dejavu_Woher-stammen-die-Aschkenasim?_vl_backlink=/home/science/index.do.

(75) Dawkins, a. a. O., S. 90.

(76) Genaueres zur Geschichte und Verteilung von Haplogruppen, siehe z. B.: „Die Ursprünge des Menschen“, Spektrum (der Wissenschaften) Kompakt, Mai 2013 bzw. April 2014: https://www.spektrum.de/shop/spektrum-kompakt/.

(77) Nach Shlomo Sands oben zitierten Artikel in der Haaretz, 21.1.2017. Mit der fortschreitenden Kolonisierung von Palästina „vergaß“ Ben Gurion diese Position allerdings gründlich und ging von einer Unmöglichkeit des Zusammenlebens von AraberInnen und Juden/Jüdinnen in einem Staat aus.

(78) Stuart Hall, „Das verhängnisvolle Dreieck – Rasse, Nation, Ethnie“, Berlin 2018. Basierend auf einer Vorlesungsreihe zu diesem Thema 1994 in der Harvard University.

(79) Eric Hobsbawm war einer der bedeutendsten jüdischen Intellektuellen im von ihm als das „kurze zwanzigste Jahrhundert“ bezeichneten Zeitabschnitt (1917–1991). In Alexandria als Sohn einer britisch-österreichischen Familie geborener Jude wuchs er in Wien auf, wurde in Belin der frühen 1930er Jahre kommunistisch politisiert und machte in London akademische Karriere als Historiker. In seiner Gesamtschau folgte dem Zivilisationsbruch zwischen Erstem Weltkrieg und der Shoa eine von kaum jemandem erwartete, als „goldenes Zeitalter“ verklärte Atempause von „Wirtschaftswunder“, „Postkolonialismus“ und „friedlicher Koexistenz“, die aber zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wieder in eine Krisenperiode überging.

(80) Zur Kritik von Mouffe und Laclau siehe: Martin Suchanek, „Sackgasse Linksreformismus“, in: Revolutionärer Marxismus 50, Berlin 2018, S. 172–235.

(81) Siehe dazu: Alex Callinicos, Stuart Hall in perspective, Nachruf vom April 2014, International Socialism, Issue 142, S. 139 f., online: http://isj.org.uk/stuart-hall-in-perspective/.

(82) Siehe z. B. in „Modell Oktoberrevolution“, RM 49, Berlin März 2017, wo wir Gramsci, Althusser und die zeitgenössische Transformationslinke auf der Grundlage der Tradition des revolutionären Marxismus kritisch bearbeitet haben.

(83) Stuart Hall (unter Mitwirkung von Brian Roberts und John Clarke), „Policing the Crisis: Mugging, the State, and Law and Order“, London 1978.

(84) Die Hautfarbe steht hier für eine Reihe „grober körperlicher Merkmale“ wie Haarfarbe, Körperbau, Gesichtsform, etc. Wie Autoren wie Appiah, Du Bois, Fanon feststellen, geht es weniger um die angeblich dahinterliegenden genetischen Unterschiede als vielmehr darum, dass Klassifizierung ermöglicht wird, da diese Unterschiede durch das Auge so gut sichtbar seien. Bestimmte soziale Rollen werden so „in die Haut eingeschrieben“, werden den Betroffenen selbst zur „zweiten Haut“. Fanon spricht vom Prozess der „Epidermisierung“. Siehe: Hall, Das verhängnisvolle Dreieck (siehe oben), S. 82 f.).

(85) Stuart Hall, Das verhängnisvolle Dreieck, a. a. O., S. 79 ff.

(86) Ebd., S. 94.

(87) Der Artikel „Wer ist Jude“ wurde auf Deutsch veröffentlicht in: Isaac Deutscher, Die ungelöste Judenfrage – Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus, Berlin/W. 1977. Letztere Aufsatzsammlung wurde im englischen Original 1968 veröffentlicht.

(88) Ebd., S. 68.

(89) Dieses Narrativ wurde spätestens 2003 durch Benjamin Netanjahu zum Standardrepertoire israelischer Politik, siehe: https://www.haaretz.com/1.4802179.

(90) Deutscher, a. a. O., S. 33.

(91) Hall, Das verhängnisvolle Dreieck a. a. O., S. 174 ff.

(92) Ebd., S. 174

(93) Wahlspruch des antizionistischen jüdischen Bundes, siehe mehr dazu im Kapitel über die ArbeiterInnenbewegung.

(94) Die genannten Gründe für den Unterschied von Antisemitismus in seinen Grundlagen und der besonderen Schärfe seines Vernichtungspotentials können dafür ausschlaggebend sein, dass man Antisemitismus und Rassismus begrifflich trennt. Da allerdings auch der Antisemitismus selbst sehr verschiedene Formen annehmen kann, von denen die meisten strukturelle Ähnlichkeiten mit anderen Rassismen haben, verwenden wir, wenn auch im Bewusstsein seiner Grenzen, den Begriff des „Rassismus sui generis“.

(95) siehe: Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/Michael A. Meyer, „Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit“, Band 2, „Emanzipation und Akkulturation 1780–1871“, München 1996, S. 43 ff.

(96) In diesem Satz gipfelten die Tiraden von Treitschkes in dessen großmannssüchtigem Weltpolitik-Überblick „Unsere Aussichten“, Preußische Jahrbücher, Band 44, Berlin 1879, S. 559–576. Er bemerkt darin eine Flut an antisemitischen Aktivitäten „im Volk“, die er dann als „gesunden Volksinstinkt“ erkennt, der in richtige Bahnen gelenkt werden müsse. Seine Ausführungen gipfeln in der Warnung, dass auf die „Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischkultur“ folgen könnte. Dagegen müsse von „unseren israelitischen Mitbürgern“ verlangt werden, „sie sollen Deutsche werden und sich schlicht und recht als Deutsche fühlen“ (S. 573).

(97) Siehe vor allem Theodor Mommsens mehrfach aufgelegtes Büchlein „Auch ein Wort über unser Judenthum“, Weidmann, Berlin Dezember 1880 (https://digital.ub.uni-potsdam.de/content/titleinfo/171289). Darin weist er den Mythos der „Jahrtausende alten“ germanischen Abstammung zurück, betont die Vermischung verschiedener Kulturen, die sich in Mitteleuropa schon immer abgespielt hat, und fragt, ob man sich als Berliner seinen jüdischen Nachbarn tatsächlich fremder fühle als einem Sachsen oder Pommern. Schließlich bemerkt er, dass es alles andere als ein Unglück sei, dass die jüdischen Beiträge zur neuren deutschen Kultur die alten landsmannschaftlichen Verknöcherungen aufbrechen würden.

(98) Aus den „Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, Berlin 1894, https://periodika.digitale-sammlungen.de/abwehr/Band_bsb00000898.html.

(99) Anders als vielfach wiedergegeben, stammt der Ausspruch nicht von August Bebel, sondern vom liberalen österreichischen Abgeordneten Ferdinand Kronawetter, der mit der österreichischen Sozialdemokratie eng verbunden war. Er wurde von vielen SozialdemokraInnten weltweit verwendet. Leider hat sich Bebel sogar davon distanziert, wird aber absurderweise als ihr Urheber bezeichnet: http://falschzitate.blogspot.com/2017/12/der-antisemitismus-ist-der-sozialismus.html

(100) August Bebel, Antisemitismus und Sozialdemokratie, Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Köln a. Rh. 1893“, Dietz, Berlin/Bonn 1978 (Reprint) S. 223 f. http://www.archive.org/stream/protokollderverh1893soziuoft#page/222/mode/2up

(101) Karl Kautsky, zitiert nach: Jack Jacobs, „Sozialisten und die ‚Jüdische Frage‘ nach Marx“, Mainz 1994. S. 22.

(102) Karl Kautsky, zitiert nach Jacobs, a. a. O., S. 48.

(103) Karl Kautsky, „Judentum und Rasse“, Stuttgart 1914; Neue Zeit-Ergänzungsheft.

(104) Jacobs, a. a. O., S. 121.

(105) Lenin, Die Stellung des ‚„Bund“‘ in der Partei, Lenin Werke Band 7, Berlin/O. 1976, S. 82 ff.

(106) Der Mitbegründer und langjährige Präsident der AFL (der „American Federation of Labor“) war der jüdische Zigarrenarbeiter Samuel Gompers. Die Textilarbeitergewerkschaften in der AFL waren lange eine Domäne jüdischer EinwanderInnen. Dies sind nur Beispiele der bedeutenden Beiträge jüdischer EinwanderInnen für den Aufbau der US-amerikanischen ArbeiterInnenbewegung.

(107) Tatsächlich war die 1905 entstandene Organisation „Bund des russischen Volkes“ die weitaus mitgliederstärkste politische Organisation im Zarenreich und hatte neben extrem reaktionären klerikal-konservativen und chauvinistischen Positionen auch einen aktionsbereiten antisemitischen Kern. Die Verlage des „Bundes“ druckten die „Protokolle der Weisen von Zion“ und waren so wesentlich für ihre Verbreitung. Im Rahmen der „Schwarzen Hundert“ beteiligten sich paramilitärische UnterstützerInnen des „Bundes“ auch an der Vorbereitung von Pogromen. Es ist bezeichnend für die Situation im heutigen Russland, dass es zu einer positiven Umwertung dieser Organisation kommt und sich neue „national-patriotische“ Parteien auf deren Tradition berufen. Selbst in der Sowjetunion eckte 1961 Jewgenij Jewtuschenko bei der Staatsführung an, als er im Gedicht „Babi Jar“ an die Geschichte des russischen „Bundes“ erinnerte und darin betonte, dass mit dessen Untergang der Antisemitismus in Russland nicht verschwunden ist.

(108) Lenin Werke, Band 20, Berlin/O. 1961, S. 166.

(109) Lenin Werke, Band 20, a. a. O., S. 1–37, S. 395–461.

(110) Ebd., S. 446.

(111) Ebd., S. 19.

(112) Ebd., S. 413.

(113) Siehe insbesondere: Otto Bauer, „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“, Wien 1907. Siehe insbesondere das Kapitel „Nationale Autonomie der Juden“, in der der Jude Otto Bauer vom baldigen Verschwinden der „jüdischen Frage“ durch Assimilation ausgeht.

(114) Lenin Werke, Band 20, a. a. O., S. 19.

(115) Ebd., S. 7 ff.

(116) Ebd., S. 10.

(117) Ein Hauptmotiv in der „Analyse“ von Hitlers „Mein Kampf“ zur Definition seines „nationalen Sozialismus“.

(118) Abraham Léon, „Judenfrage…“, a. a. O., S. 172 f..

(119) Sigmund Freud, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion – Schriften zur Religion“, Frankfurt am Main 1975, S. 116 f.

(120) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, „Dialektik der Aufklärung“, Frankfurt am Main 1969, S. 71.

(121) Friedrich Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“. In: Gesammelte Werke, Köln 2012, S. 631.

(122) Nietzsches großer Heros, der Gesamtkunstwerkschöpfer Richard Wagner, hat nicht nur eine fürchterliche antisemitische Schrift über „Das Judentum in der Musik“ verfasst, das zur Blaupause für kleinbürgerlichen Antijudaismus in der Kunst wurde. Er hat insbesondere im „Der Ring des Nibelungen“ ganz im Nietzsche’schen Sinn das Unbehagen an der Moderne in starke mythologische Bilder gefasst des vergeblich sich gegen die „naturwidrige“ Gesetzlichkeit erhebenden Helden.

(123) In: Interview with Jewish correspondents in Mexico (18.1.1937), erschienen u. a. in den jiddischen Zeitungen „Der Tog“ und „Forwaerts“ (24.1.1937) in den USA. Hier zitiert aus: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, Pathfinder Press, New York 1970, S. 28. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.

(124) In: Thermidor and Anti-Semitism, Artikel erschienen in „New International“, 1940. Hier zitiert aus: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, a. a. O., S. 40. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.

(125) Ebd., S. 28.

(126) Leo Trotzki, „Porträt des Nationalsozialismus“, zuerst erschienen in „Die neue Weltbühne“, Juli 1933 [Die „Weltbühne“, die vor allem mit den Namen Tucholsky und von Ossietzky verbunden ist, war eine der bekanntesten intellektuellen Zeitschriften des „Linksbürgertums“ der Weimarer Republik. Speziell Tucholsky schätzte Artikel von Trotzki besonders und ließ sich durch Anfeindungen von sozialdemokratischer und stalinistischer Seite nicht beeindrucken. Nach der Machtergreifung wurde die „Weltbühne“ verboten und erschien aus dem Exil – zunächst aus Wien – als „Neue Weltbühne“ in kleiner Auflage weiter. Dort wurde Trotzkis „Porträt“, das er im Juni 1933 in seinem Exil in Prinkipo geschrieben hatte, veröffentlicht. Tucholsky staunte, wie jemand aus soviel Entfernung eine viel klarere Sicht auf die Ereignisse in Deutschland haben könne als die vor Ort Lebenden, hier zitiert aus: „Schriften über Deutschland“, a. a. O., S. 575.

(127) Ebd., S. 575.

(128) Ebd., S. 575 f.

(129) Ebd., S. 578

(130) Ebd., S. 577.

(131) Ebd., S. 579.

(132) Ebd., S. 579

(133) „Appeal to American Jews menaced by fascism and Anti-Semitism, Dezember 1938, zitiert nach: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, a. a. O., S. 41. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.

(134) In: „Manifest der 4. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution“ (1940). Zitiert nach: Leo Trotzki, „Schriften zum imperialistischen Krieg“, Frankfurt am Main 1978, S. 139.

(135) In: Isaac Deutscher, „Überreste einer Rasse“, veröffentlicht im „Economist“, 12.1.1946. Zitat von Generalleutnant Morgan aus „The Times“, 3.1.1946. Zitiert nach: Isaac Deutscher, Die ungelöste Judenfrage, a. a. O., S. 53.

(136) Ebd., S. 57.

(137) In: „On the ,Jewish Problem’“, Interview mit der Zeitschrift „Class Struggle“, Februar 1934. Zitiert nach: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, a. a. O., S. 25.

(138) Ebd., S. 25.

(139) Ebd., S. 25 f.

(140) In: Isaac Deutscher, „Der israelisch-arabische Krieg vom Juni 1967“, New Left Review. Zitiert aus: Isaac Deutscher, „Die ungelöste Judenfrage“, a. a. O., S. 91 f.

(141) Ebd., S. 92.

(142) Ossip K. Flechtheim, „Die KPD in der Weimarer Republik“, EVA, Frankfurt am Main 1973, S. 173.

(143) Mario Keßler, „Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik“, UTOPIE kreativ, H. 173, März 2005, S. 226; < https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/173/173_Kessler.pdf.

(144) Trotsky, „Thermidor and Anti-Semitism“, The New International, 1937; zitiert nach: ders., „On the Jewish Question“, a. a. O., S. 31 ff. Übersetzung von Zitaten aus dem Englischen durch den Autor.

(145) Ebd., S. 37.

(146) Ebd., S. 32.

(147) Ebd., S. 37.

(148) Isaac Deutscher, „Stalin – eine politische Biographie“, Reinbek bei Hamburg 1992 (rororo-Reprint; Die Originalausgabe erschien 1949 auf englisch bei Oxford University Press)

(149) Ebd., S. 761.

(150) Siehe ausführlich: Wiebke Bachmann, „Die UdSSR und der Nahe Osten: Zionismus, ägyptischer Antikolonialismus und sowjetische Außenpolitik bis 1956“, München 2011.

(151) Zu den genannten Verfolgungen in dieser Zeit siehe: Deutscher, „Stalin…“, a. a. O., S. 763 f.

(152) Siehe: Werner Schmidt, „Peter Weiss – Biografie“, Berlin 2016. Die Anfeindungen gegen Weiss vom „Realsozialismus“ bis in die „Sponti-Bewegung“ wird ausführlich dargestellt im Kapitel „Persona non grata“. Das Zitat mit dem „dicken Blut“ stammt aus dem Organ der „orthodoxen“ Kommunistischen Partei Schwedens dieser Zeit, „Norrskensflamman“ (Weiss war im zweiten Weltkrieg ins schwedische Exil geflüchtet und Mitglied des „eurokommunistischen“ Flügels der schwedischen KommunistInnen). Siehe dazu: S. 276f.

(153) Siehe z. B.: Hamed Abdel-Samad, „Der islamische Faschismus“, München 2014.

(154) Siehe dazu die 7-teilige Dokumentation „Jesus und der Islam“, arte, 2015 (Dezember).

(155) Siehe z. B.: Abdel-Samad, a. a. O., S. 34 ff. (Kapitel „Die Muslimbrüder und die Nazis“).

(156) Siehe: David Ranan, „Muslimischer Antisemitismus“, Bonn 2018, S. 171. Liest man jedoch die Charta, wird klar, dass zwar der Bezug auf die „Protokolle“ gestrichen wurde, die Weltverschwörungstheorien gegenüber den „FeindInnen“ (das dort verwendete Wort für „Juden/Jüdinnen“) unvermindert enthalten sind.

(157) A. a. O.

(158) Ebd., S. 62 f.

(159) Ebd., S. 43.

(160) Gespaltene Mitte – feindselige Zustände, rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, IKG Bielefeld (in Zusammenarbeit mit der Friedrich Ebert Stiftung), 2016.

(161) Ranan, a. a. O., S. 71.

(162) Zitat von den Bielefelder Autoren, Ranan, a. a. O., S. 77.

(163) http://redaktion-bahamas.org/artikel/2016/73-die-volkspartei-des-gesunden-menschenverstandes

(164) Ranan, a. a. O., S .41.

(165) Die Linksjugend [`solid], „Gegen jeden Antisemitismus“, Beschluss des Bundeskongresses 2015: https://www.linksjugend-solid.de/2015/09/11/gegen-jeden-antisemitismus/

(166) Ranan, a. a. O., S. 21.

(167) Ebd., S. 25.

(168) David Ranan, a. a. O., S. 39, Zitat von Y. Kuperwasser aus Flashpoint 27.

(169) Theodor Herzl, „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“, Leipzig und Wien, 1896.

(170) Zitiert nach Eli Lobel, „Die Juden und Palästina“, in: Sabri Geries/Eli Lobel, „Die Araber in Israel“, München 1970, S. 66.

(171) Moshe Zuckermann, „Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt“, Wien 2014, S. 49.

(172) zitiert nach Ehud Adiv, „Politik und Identität“, in: Ilan Pappe/Jamil Hilal (Hrsg.), „Zu beiden Seiten der Mauer“, Hamburg 2013, S. 32.

(173) Lobel, a. a. O., S. 36.

(174) John Rose, „Mythen des Zionismus – Stolpersteine auf dem Weg zu Frieden“, Zürich 2006, S. 147.

(175) Uri Davis, „Die Kolonialherren im geographischen Palästina beim Namen genannt“, in; Pappe/Hilal, a. a. O., S. 397.

(176) Man muss bei der Frage von Teilung (und auch Zweistaatenlösungen) immer bedenken, dass es um eine im Vergleich sehr kleine Fläche geht. Das heutige Israel ist etwa so groß wie das Bundesland Hessen, die Hälfte davon nimmt aber die Wüste Negev ein. Die Bevölkerungsdichte und die Konkurrenz um die fruchtbaren Böden sind daher sehr groß.

(177) Zitiert nach: Tom Segev, „Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates“, München 2010, S. 52.

(178) Ebd., S. 63.

(179) Tatsächlich war dieses „Verbleiben“ zum Teil Resultat der Waffenstillstandsverhandlungen und des Drucks der britischen „Schutzmacht“, die das „Flüchtlingsproblem“, das sich ihnen für ihre arabischen „Verbündeten“ aufgetan hatte, durch „Rücknahmekontigente“ für Israel zu mildern suchte.

(180) Im Zuge der Oslo-Verträge wurde 1994 die „Palästinensische Autonomiebehörde“ eingerichtet, die de facto Regierungsfunktionen in den „palästinensischen Autonomiegebieten“ ausübt. Sie hat offiziell in der sogenannten Zone A öffentliche und sicherheitspolitische Kontrolle, in Zone B nur Verwaltungsfunktion und ist in Zone C der israelischen Verwaltung untergeordnet. Wenn auch die israelische Armee offiziell nur die Zone C kontrolliert, ist sie die einzige wirkliche militärische Macht in der ganzen Region. Zusätzlich ist die palästinensische „Autonomie“ noch durch die Teilung zwischen Gaza (unter Kontrolle der Hamas) und Westjordanland (unter Kontrolle der Fatah) gespalten, so dass die PA im Wesentlichen nur im Westjordanland ihre beschränkten Funktionen erfüllen kann. Da die Zone C nicht nur 62 % des Westjordanlandes, sondern auch landwirtschaftlich wertvolle Gebiete umfasst, leben dort fast 200.000 PlästinenserInnen in Nachbarschaft zu jüdischen Siedlungen unter fast ständiger militärischer Besatzungskontrolle.

(181) Siehe z. B.: Haaretz, Radical Settler, Proud ‚Homophobe‘ and Wunderkind: Meet the new leader of Israel’s Far Right; 15.Januar 2019. https://www.haaretz.com/israel-news/elections/.premium-radical-settler-proud-homophobe-and-wunderkind-new-leader-of-israel-s-far-right-1.6846001

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