Arbeiter:innenmacht

„Aus unseren Kämpfen lernen“ – aber wie?

Frederik Haber/Helga Müller, Infomail 1064, 14. März 2019

Unter obigem Motto fand die 4. Streikkonferenz vom 15. bis 17. Februar in Braunschweig statt. Mit rund 800 Teilnehmenden war sie die bisher größte ihrer Art. Offensichtlich gibt es Bedarf, über die Praxis der Gewerkschaften zu diskutieren. Von den Mitgliederzahlen her waren diese in den letzten 70 Jahren noch nie so schwach wie heute. Nur noch die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in Betrieben mit Betriebs- oder Personalräten, der Geltungsbereich von Tarifverträgen ist auf unter 50 Prozent gesunken.

Niedergang

Dieser Niedergang hat nicht nur auf Grundlage strategischer Niederlagen wie der Agenda 2010 stattgefunden, sondern setzte sich in den letzten Jahren auch ohne scharfe offene Angriffe und Rückschläge fort, in Zeiten, in denen die Gewerkschaftsführungen mit der Regierung kooperieren, ja sie sogar offen unterstützen; in Zeiten, in denen der DGB gemeinsam mit den Unternehmerverbänden „Hundert Jahre Mitbestimmung“ feiert.

Höchste Zeit also zu fragen, was die Gewerkschaften falsch machen. Ist es nur die Praxis oder steht dahinter auch eine bestimmte Politik? Die Rosa-Luxemburg- Stiftung als Veranstalterin der Braunschweiger Konferenz beschränkte sich allerdings bewusst auf ein Konzept, einzelne gute Beispiele zu präsentieren, die dann anderswo nachgeahmt werden können. Recht offen stellte ihre Vorsitzende dar, dass in den Gewerkschaftsführungen oft Leute sitzen, die nichts ändern möchten. Sie berichtete von der mühevollen Arbeit, diese trotzdem von der Notwendigkeit dieser Konferenz zu überzeugen.

Die einfache Frage, warum die Leute, die für den Niedergang der Gewerkschaften verantwortlich sind, an der Klassenzusammenarbeit um praktisch jeden Preis festhalten und daran auch nichts ändern wollen, noch hofiert, stellt sie nicht und offensichtlich nicht viele im Publikum: Gehören solche Leute nicht einfach rausgeschmissen?

Die VeranstalterInnen setzen denn auch darauf, möglichst viele regionale Verantwortliche als UnterstützerInnen zu gewinnen. Überhaupt sind viele Hauptamtliche dabei. Beim Branchentreff Metall stellen sie rund die Hälfte der Anwesenden. Mag sie auch Unbehagen über die derzeitige Politik nach Braunschweig getrieben haben, in der Diskussion verteidigen sie die Politik der Führung – sei es aus Überzeugung oder Reflex.

Der Tarifabschluss 2018 sei ein Einstieg in die Arbeitszeitdebatte und hätte eine Verkürzung der Arbeitszeit gebracht – meinte z. B. das IGM-Vorstandsmitglied Urban. Dass der Abschluss ein größeres Arbeitszeitvolumen ermöglicht und viele Unternehmen dies nutzen, wird genauso wenig erwähnt, wie dass der rechte Apparat der IGM mit diesem Abschluss die Arbeitszeitdebatte für beendet erklärt hat. Jegliche Strategie der Linken muss aber von der Realität ausgehen und nicht von Wunschdenken und Schönreden.

Rechtsruck und Gewerkschaften

Die Krise der Gewerkschaften drückt sich auch darin aus, wie sie mit dem Rechtsruck in der Gesellschaft umgehen. So sorgte sich die IG Metall bei den Betriebsratswahlen 2018 sehr um das Abschneiden einiger betont rechter, rassistischer und gewerkschaftsfeindlicher Listen. Nachdem diese aber nur wenige Mandate erzielt hatten, ist das kein wirkliches Thema mehr.

Dazu trug Klaus Dörre auf der Konferenz ein Referat vor, das darauf hinwies, dass „sich nur wenige Kandidaten gefunden haben, die sich während der Betriebsratswahlen auf Listen offensiv dazu bekennen, rechte Positionen zu vertreten, doch das bedeute nicht, dass diese nicht existieren.“ Allein 19 Prozent der Lohnabhängigen und 15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder haben bei der Bundestagswahl 2017 der AfD ihre Stimme gegeben – bei einem Gesamtergebnis von 12,6 Prozent ein deutlich überdurchschnittlicher Wert.

Er stellte dar, dass es nicht nur GewerkschafterInnen gibt, die sowohl „korrekte“ gewerkschaftliche Positionen vertreten wie auch rechtspopulistische Floskeln äußern, sondern auch überzeugte rassistische ReaktionärInnen, die manchmal eine führende Rolle in den betrieblichen Strukturen ausüben und als „gute InteressensvertreterInnen“ gelten. Wo diese einmal etabliert sind, wird das Thema vom Apparat tabuisiert, solange die Mitglieder oder Betriebsräte keine Konkurrenzliste aufmachen.

Das hätte viel Anlass zur Diskussion geben können und müssen. Es zeigt, dass die reformistischen BürokratInnen rassistische, nationalistische und rechtspopulistische Positionen dulden, solang diese Kräfte die Gesamtpolitik des Apparates nicht stören. Man könnte das als unausgesprochenes Stillhalteabkommen bezeichnen. Für die Linke in den Gewerkschaften bedeutet dies, dass es nicht reicht, nur gute, aktive Betriebsarbeit zu machen, auf „Organizing“ zu setzen und sich um die unorganisierten Bereiche insbesondere im prekären Sektor zu kümmern, der bekanntlich von der Bürokratie fast völlig vernachlässigt wird. Vielmehr muss dies mit einem aktiven Kampf gegen Rassismus verbunden werden – und eine solche Politik muss auch gegen den Apparat in den Gewerkschaften und in den Großkonzernen durchgesetzt werden.

Es liegt auf der Hand, dass diese nicht in „Bunt statt Braun“- Bekenntnissen aller Gutmenschen oder in gemeinsamen Erklärungen von Betriebsräten mit den Unternehmensleitungen bestehen kann. Die richtige Erklärung, dass die AFD „neoliberale“ und arbeiterInnenfeindliche Politik mache, bleibt solange weitgehend unwirksam, wie die Gewerkschaften auf Klassenzusammenarbeit mit den BetreiberInnen und ProfiteurInnen dieser „neoliberalen“ Politik setzen. Der Kampf gegen rechts ist in den Gewerkschaften zugleich einer gegen die Klassenzusammenarbeit und kann letztlich nur so erfolgreich sein.

Dies wird nicht nur in den Gewerkschaftsstrukturen kaum thematisiert. Auch in Braunschweig gab es keine Diskussion mit Dörre zu dessen Studien und teilweise provozierenden Thesen. Nur ein Workshop ganz am Ende der Tagung betrachtete den „Umgang mit Rechtspopulismus in Betrieb und Gewerkschaft“ – ansonsten wurde das Thema routiniert ausgesessen.

Beteiligung

Ein gutes Drittel der TeilnehmerInnen kann man als „jung“ (also unter 40) bezeichnen und insgesamt lag der Altersdurchschnitt deutlich unter dem der meisten Gewerkschaftsveranstaltungen. Aber die in Braunschweig versammelte „Gewerkschafts-Jugend“ war nicht sonderlich radikal. Es schienen viele Studierende unter ihnen zu sein, denen die Konferenz mal erlaubt, an Betriebsarbeit zu schnuppern, aber auch viele, die direkt an einem Aufstieg in den Apparat arbeiten.

Frappant war der geringe Anteil an MigrantInnen auf der Konferenz. Sie sind bekanntlich in der Gewerkschaft umso schlechter vertreten, je höher es in die Ränge der FunktionärInnen geht. In Braunschweig kamen gerade mal 16 Menschen zum Workshop über Migration. Das stand in eklatantem Gegensatz zu Bernd Riexingers Statement in der Podiumsdiskussion am Freitagabend, dass Streiks „heute jünger, weiblicher und migrantischer“ seien. Diese Aussage ist dort gültig, wo Streiks im Handel, bei ErzieherInnen und in ähnlichen Bereichen stattfinden. Sie wirft aber auch ein Licht darauf, dass genau diese KollegInnen in Braunschweig wenig anwesend waren, sondern vor allem die GewerkschaftssekretärInnen, die diese Kämpfe betreuen und organisieren.

Insgesamt war ver.di viel besser vertreten als die IG Metall – ein Indiz dafür, dass dort die Spielräume größer sind. Das liegt einerseits an deren branchenbedingter Vielfalt und einem relativ schwächeren Apparat, aber auch daran, dass die IG Metall die Schlachtschiffe des deutschen Groß- und Exportkapitals organisiert, insbesondere die Autoindustrie. Ihr Beitrag zu der dort herrschenden engen Zusammenarbeit mit dem Kapital ist es, alle eigenständigen Bewegungen und Initiativen zu ersticken, die die arbeitsteilige Produktion und den Umsatz gefährden könnten. Ja, es werden sogar störende Elemente in Kollaboration mit dem Management aus den Betrieben entfernt.

Pflegenotstand

Ein wichtiger Schwerpunkt der Konferenz war die Debatte zum Gesundheitswesen. Kein Wunder fehlen nach ver.di-Angaben über 100.000 Pflegekräfte. Ver.di hatte deswegen vor ca. 2 Jahren eine Kampagne zur Entlastung der Klinikbeschäftigten initiiert und in immerhin 13 Krankenhäusern Tarifverträge und schuldenrechtliche Abkommen für mehr Personal durchsetzen können, teilweise durch wochenlange Durchsetzungsstreiks wie an den Unikliniken in Essen und Düsseldorf. In den Medien ist seitdem die Personalmisere insbesondere in den Krankenhäusern immer wieder Thema. Selbst die Politik musste mit diversen neuen Gesetzen reagieren, die vorgeben den Personalnotstand zu bekämpfen. Von daher wurden auf der Konferenz diverse Arbeitsgruppen zur Bilanz der Entlastungskampagne und wie es damit weitergeht angeboten.

Trotz positiver Beispiele wie Abkommen und Tarifverträge für mehr Personal durchgesetzt werden konnten, wurde hier versäumt intensiv darüber zu diskutieren, welche Mittel die Belegschaften einsetzen müssen, um die Tarifverträge auch gegen den Willen der Klinikleitungen in der Realität umzusetzen. Trotz eines Beschlusses des Bundesfachbereichsvorstandes 3 (Fachbereich 3 ist in ver.di für den Gesundheitsbereich zuständig), die Kampagne fortzuführen und trotz des ernstgemeinten Appells eines linken Gewerkschaftssekretärs, die Umsetzung des Personalaufbaus gemeinsam mit allen Beschäftigten der 13 Krankenhäuser gegen die Verweigerungshaltung der Klinikleitungen durchzusetzen, wurde es versäumt zu diskutieren, wie genau dieses gemeinsame Vorgehen gegen den Willen des Apparats durchgesetzt werden kann. Lag doch eine der Schwächen der Kampagne genau darin, dass die ver.di-Verantwortlichen die Kampagne in keiner Phase des Kampfes so angelegt hatten, dass die Belegschaften aller Krankenhäuser in einen gemeinsamen Kampf für die Durchsetzung von mehr Personal entsprechend dem Bedarf geführt wurden.

Eigentlich eine gewerkschaftliche Binsenweisheit! Liegt doch die Kraft eines bundesweit angelegten gewerkschaftlichen Kampfes gerade darin, dass besser organisierte und kampffähigere Belegschaften schwächere mitziehen können und diese durch ein bundesweites Abkommen für mehr Personal davon profitieren können. Immer wieder wurde auch gemunkelt, dass der Bundesvorstand die Kampagne gerne nur noch auf Sparflamme hätte fortführen wollen bis sie dann zu guter Letzt ganz aufgegeben wird. Das konnte tatsächlich durch den Kampf der Belegschaften der 13 Krankenhäuser durchbrochen werden. Sehr richtig wurde in den Diskussionen von ver.di-Seite angemerkt, dass diese Kampagne mehr ist als der „übliche“ gewerkschaftliche Kampf um einen Tarifvertrag, diese darüber hinausgeht und auch eine politische Kampagne beinhaltet.

Aber anstatt Ross und Reiter zu nennen, dass es um einen politischen Streik geht gegen die Privatisierungspolitik der Regierungen und gegen die Einführung der sog. DRGs (Fallpauschalen), die die Privatisierung erst für Gesundheitskonzerne lukrativ gemacht haben, verwiesen die anwesenden Gewerkschaftssekretäre und die Vertreter der Linkspartei auf die diversen Volksbegehren in Hamburg, Berlin, Bremen und Bayern, die zum Ziel haben einen verbindlichen gesetzlichen Personalschlüssel durchzusetzen. Egal ob im Norden oder Süden der Republik – diese Volksbegehren haben den großen Nachteil, dass sie einerseits einem mehr oder weniger komplizierten gesetzlichen Verfahren unterworfen sind, das zum Ziel oder auch nicht führen kann und das andererseits vollkommen vom politischen Willen der jeweiligen Regierungen abhängig ist.

Perspektive

Insgesamt ist diese Konferenz nicht darauf ausgelegt gewesen, die linken, kritischen oder oppositionellen Teile in den Gewerkschaften zu radikalisieren und zu vereinen. Dazu wäre auch eine Kritik an der Praxis der Bürokratie – einschließlich des linken Flügels des Apparates – nötig gewesen. Die Vereinbarungen zur „Standortsicherung“ beispielsweise verlieren ihren spalterischen Charakter – die Sicherung der Arbeitsplätze auf Kosten anderer Belegschaften und der prekär Beschäftigten – nicht dadurch, dass sie von kämpferischen Aktionen begleitet werden und dem Kapital das eine oder andere Zugeständnis abknöpfen. Die permanente Rechtfertigung solcher Politik durch „linke“ SekretärInnen als einzig Mögliche und damit, dass die KollegInnen ja noch nicht so weit wären („Ich selber bin ja auch SozialistIn“) blockiert und beschränkt zugleich die Entwicklung des Klassenbewusstseins und der Entschlossenheit der AktivistInnen. Aus dem Munde linker GewerkschafterInnen sind die Rechtfertigungen oftmals wirkungsvoller als aus dem Munde derer, die schon die Ansätze von Kämpfen verhindern.

Hinzu kommt, dass die Fortsetzung der Politik der Sozialpartnerschaft durch gewerkschaftliche Unterstützung der Regierungspolitik von SPD und Linkspartei auch weitgehend ausgeblendet wurde.

Natürlich ist es für einzelne AktivistInnen enorm schwer, in der Masse von sowohl rückständigen Belegschaften als auch Gewerkschaftsstrukturen, die voll und ganz unter der Kontrolle der ReformistInnen stehen, den Spagat zu machen zwischen Mobilisierung für den Kampf, Kritik an den Apparatmethoden, der Entwicklung und Durchsetzung alternativer Strategien, die nicht nur kämpferischer sind, sondern zugleich eine antikapitalistische Perspektive entwickeln, die mit der Praxis verbunden sind.

Aber genau das erfordert eine verbindliche Organisierung der klassenkämpferischen Kräfte in den Gewerkschaften und Betrieben, die nicht nur um eine andere Politik vertreten, sondern auch darum kämpfen, die Macht des Apparates zu brechen – eines Apparates, der nicht nur eine sozialpartnerschaftliche und bürgerliche Politik in der Klasse betreibt, sondern der auch über tausende Fäden eng mit dem Herrschaftssystem des Kapitals verbunden ist. Schritte in diese Richtung unternahm die Streikrechtskonferenz nicht – und das war von der Linkspartei und den ihr nahestehenden Teilen der Gewerkschaftsspitzen auch nicht beabsichtigt.

Zur organisierten Opposition können wir nur auf Grundlage einer Aufarbeitung der Krise der Gewerkschaften und einer Verständigung gelangen, worin die Politik des reformistischen Apparates besteht. Dazu sind Verabredungen zum Kampf gegen die reformistische Bürokratie nötig.

Die nächste Gelegenheit dafür bietet sich voraussichtlich mit dem Projekt einer Strategiekonferenz im Jahr 2020. Die Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken hatte dafür im Vorfeld geworben und schon einige Resonanz erhalten. Ein kurzes Treffen für die Organisierung zählte dann immerhin 70 TeilnehmerInnen. Offensichtlich gibt es bei einigen das Bedürfnis, tiefer zu gehen, als nur Anregungen für eine bessere Praxis zu sammeln. Möglicherweise hat die Übermacht des Apparates in Braunschweig die Notwendigkeit, über Strategie nachzudenken, noch befördert. Zur Vorbereitung der Strategiekonferenz 2020 findet ein nächstes Vernetzungstreffen am 18. Mai 2019 in Frankfurt/Main statt.

Das strategische Ziel muss die Befreiung der größten Organisationen der ArbeiterInnenklasse von denen sein, die sie in der Zusammenarbeit mit dem Kapital und dessen Staat fesseln.

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