Arbeiter:innenmacht

Syrien/Irak/Türkei: Rojava, Imperialismus und Revolution

Martin Suchanek, Neue Internationale 194, November 2014

Der heroische Widerstand der kurdischen Selbstverteidungseinheiten der YPG/YPJ steht im Moment zweifellos an vorderster Front des Kampfes für eine fortschrittliche Entwicklung im Nahen Osten.

Er verdient daher – unabhängig von unserer Haltung zur politischen Führung der Kämpfenden, zum Stand des politischen Bewusstsein und der strategischen Zielsetzung – unsere Unterstützung, weil er Teil des Befreiungskampfes einer unterdrückten Nation ist.

Zugleich wirft dieser Kampf auch eine Reihe politischer Fragen auf. Welche Haltung sollen RevolutionärInnen zu den politischen Umarmungsversuchen v.a. des US-Imperialismus einnehmen? Wird der kurdische Widerstand (und erst recht die syrische Revolution) zu einem untergeordneten Faktor einer US-geführten imperialistischen Intervention? Welche Strategie ist nötig, um die Errungenschaften Rojavas zu verteidigen? Wie kann die Revolution ausgeweitet werden?

Zielsetzung der US-Intervention

Der rasante Vormarsch des erz-reaktionären, klerikal faschistischen „Islamischen Staates“, die Eroberung Mossuls und großer Bestände an modernen Waffen haben den US-Imperialismus für eine neue „humanitäre“ Intervention auf den Plan gerufen.

US-Präsident Obama hat einen neuen „Krieg gegen den Terror“ ausgerufen. Zweifellos wurde er zu diesem Kriegszug mehr getrieben, denn dass er nach dem schmählichen Abzug der US-Truppen aus dem Irak und der Akzeptanz des Assad-Regimes als russischen und iranischen Verbündeten einen neuen Waffengang unbedingt wollte.

Allein, die US-Politik der letzten Jahrzehnte, die kapitalistische Krise und die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den imperialistischen Staaten haben Bedingungen geschaffen, die wieder mehr direkte Intervention der USA und ihrer Verbündeten erfordern. Nach dem Sieg im Kalten Krieg wollte die scheinbar für immer allein verbliebene „Supermacht“ USA eine „Neue Weltordnung“ schaffen, besonders im Nahen Osten, wo wir heute eher das Scheitern dieses Versuchs beobachten können.

Hier nur die wichtigsten Faktoren, die zur aktuellen Entwicklung führten:

  1. Der Versuch, eine „Neue Weltordnung“ zu errichten mit Fokus auf die Kriege gegen das irakische Regime, den Sturz Saddam Husseins und seiner Baath-Partei, hat den Irak nicht „neu geordnet“, sondern nachhaltig destabilisiert. Dieser Staat, ohnehin ein Kunstprodukt des Imperialismus nach dem Ersten Weltkrieg, steht vor dem Zerfall.
  2. Die neo-liberale Durchdringung der ganzen Region hat außerdem zur enormen Verschärfung sozialer Ungleichheit und der Klassengegensätze geführt.
  3. Krise, Krieg, Besatzung haben zum Tod Hunderttausender, Vertreibung, Verschärfung nationaler und religiöser Gegensätze geführt. Die große Mehrheit der Bauern und ArbeiterInnen ist verarmt, ja verelendet, aber auch große Teile der Mittelschichten und des städtischen Kleinbürgertums stehen vor dem Ruin.
  4. All das hat die Bedingungen für die arabische Revolution und – angesichts der tiefen Führungskrise der Arbeiterklasse, des Fehlen von revolutionär-kommunistischen Parteien, die auch nur die Vorhut des Proletariats organisieren – für das Anwachsen der Konterrevolution in zahlreichen Facetten geschaffen.
  5. Der Niedergang des US-Imperialismus, seine geringer werdende Fähigkeit, militärische Überlegenheit und Größe in eine dauerhafte, kontrollierte imperialistische Ordnung umzumünzen, hat dazu geführt, dass nicht nur imperialistische Rivalen (Russland, z.T. auch die europäischen Mächte und China) auf den Plan getreten sind, sondern auch regionale Mächte wie die Türkei, Saudi-Arabien, Iran oder selbst Qatar hoffen, ihren eigenen Einfluss zu stärken und sich auch von imperialistischer Dominanz etwas freier zu machen.

Syrische Revolution

Vor diesem Hintergrund brach die syrische Revolution aus. Aufgrund der brutalen Repression durch das reaktionäre Assad-Regime nahm die Revolution rasch die Form eines Bürgerkriegs, einer der zugespitztesten Formen des Klassenkampfes an.

Die Revolution ermöglichte es der kurdischen Nation, die drei Kantone, die Rojava bilden (darunter das heute umkämpfte Kobanê), praktisch unter ihre Selbstverwaltung zu stellen.

Geführt von der Schwesterpartei der PKK, der PYD, schlugen sie einen Kurs des so genannten „Dritten Weges“ ein, indem sie zwischen dem reaktionären Assad-Regime und den Kräften der syrischen Revolution manövrierten. Solcherart versuchten sie die kurdischen Siedlungsgebiete aus den Kämpfen weitgehend rauszuhalten und blieben auf Distanz sowohl zum Assad-Regime als auch zu den Kräften der syrischen Revolution um die „Freie Syrische Armee“, lokale Selbstorganisationseinheiten usw.

Zweifellos wurde dieser Schritt auch dadurch bewirkt, dass die Führung der syrischen Opposition in großer Mehrheit ganz wie Assad gegen das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes eingestellt war.

Dennoch war er von Beginn an kurzsichtig, borniert und politisch falsch. Erstens bedeutete es auch, dass die Führung der selbstverwalteten Gebiete für die kurdische Bevölkerung (und damit vor allem für die Arbeiterklasse) in den Großstädten wie Aleppo keine politisch Perspektive und Orientierung anbot.

Zweitens war die ganze Politik auf ein Gleichgewicht der sich befehdenden Kräfte im Bürgerkrieg berechnet. Ein Sieg Assads, das war immer klar, würde das Ende jeder kurdischen Selbstverwaltung und erneute, brutale, nationale Unterdrückung bedeuten. Dazu würde er natürlich auch nicht vor Massenmord zurückschrecken, nachdem er für den eigenen Machterhalt ohnedies schon 200.000 Tote und Millionen Flüchtlinge in Kauf genommen hat.

Ein Sieg der FSA – heute wohl eher in weiter Ferne – hätte auch zu Konflikten geführt, auch wenn es unter der FSA immer mehr Kräfte gab, die nicht unter Kontrolle ihrer zentralen Führungen stehen und die für das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen zu gewinnen gewesen wären und sind. Es ist ja auch kein Zufall, dass sich die PYD und die Selbstverteidigungseinheiten von Kobanê heute militärisch mit Brigaden der FSA verbündet haben (und mit keiner anderen Kraft in Syrien).

Rojava wäre ohne syrische Revolution nie entstanden. Es ist ein Produkt ebendieser und heute eines der letzten verbliebenen Zentren. Andererseits ist auch klar, dass es letztlich nicht gehalten werden kann ohne die Wiederbelebung und den Sieg der syrischen, ja der arabischen Revolution.

Irak, Türkei …

Was für Syrien gilt, gilt auch für die anderen Länder. Im Irak ist unter der reaktionären Führung von Barzani (DPK) und Talabani (PUK) ähnlich wie in Rojava ein selbstverwaltetes kurdisches Gebiet, der Ansatz eines kurdischen Staates, geschaffen worden – die Kehrseite des Zerfalls des Iraks (wie Rojava die Kehrseite des Zerfalls Syriens ist).

Die Zielsetzung der imperialistischen Mächte – insbesondere der USA – ist es, die in den 20er Jahren nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches geschaffene imperialistische Ordnung und Grenzziehung zwischen den Staaten irgendwie aufrecht zu erhalten. Der irakische oder syrische Staat sollen wieder zusammengeflickt werden. Ein Zerfall Jordaniens oder des Libanon würde diese Probleme weiter verschärfen.

Zugleich ist aber der Zerfall dieser Staaten kaum mehr aufhaltbar wegen Krieg, Besatzung, Krise, Wegbrechen des Baathismus, der für einige Zeit Repression mit Sozialintegration verbinden konnte.

Allein die Tatsache, dass die Politik der USA wie auch aller anderen imperialistischen Mächte diese „Ordnung“ nicht antasten, sondern wiederherstellen will, macht sie zu einer reaktionären und gibt ihr auch einen geradezu verzweifelten Charakter. In jedem Fall ist ohne blutige konterrevolutionäre Siege eine „Rückkehr“ zu einem „funktionierenden“ irakischen oder syrischen Staat undenkbar. In Syrien haben sich der US-Imperialismus und auch der Westen praktisch mit Assad und russischem Einfluss abgefunden.

Die strategische Gefahr ist der Verlust des Irak. Das Problem ist es, ein „zuverlässiges“ Vasallenregime einzusetzen. Die erz-reaktionäre religiös-sektiererische Politik des Maliki-Regimes hat erst die Bedingungen für den Aufstieg des IS und sein Bündnis mit den sunnitischen Stämmen und Offizieren aus der alten irakischen Armee geschaffen.

Der kurdische Teil des Irak erscheint da noch als der „zuverlässigste“ Verbündete – was jedoch zugleich enorme Probleme mit dem irakischen Regime und der Türkei aufwirft.

Letztere verfolgt das Ziel, ihren eigenen Einfluss zu erhöhen und hätte am liebsten ein UN-Mandat, um einen Teil Syriens in Form einer „Schutzzone“ in den v.a. kurdischen Grenzgebieten zu besetzen.

All das zeigt, dass die USA und ihre Verbündeten aus der westlichen und arabischen Welt selbst wieder mehr Präsenz zeigen müssen. Daher hat sich Obama auch ein praktisch unbefristetes Mandat für Luftschläge im Irak und Syrien geben lassen. Auch wenn er wahrscheinlich eine Bodeninvasion im Irak vermeiden will, so ist es angesichts der dortigen politischen Gemengelage unklar, wie das Land ohne Bodentruppen im Interesse der USA stabilisiert werden soll.

Rojava und militärische Intervention

Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage zu beantworten, wie die Arbeiterbewegung, wie RevolutionärInnen zu einer solchen Intervention stehen sollen. Es ist klar, dass nicht nur Bodentruppen, sondern auch Luftschläge der Imperialisten abzulehnen sind, dass die Linke, Gewerkschaften, die Arbeiterbewegung in den USA, Britannien, Frankreich und allen anderen Staaten, die sich für solche Schläge entscheiden, klar ihre Ablehnung zum Ausdruck bringen und dagegen mobilisieren müssen.

Auch wenn die USA zeitweilig Stellungen der Jihadisten um Rojava bombardieren (und wenn es natürlich vollkommen legitim ist, dass diese solche Angriffe ausnutzen), so müssen die Ziele der US-Bombardements in ihrer Gesamtheit und nicht als isolierte, auf Kobanê begrenzte Einzelakte begriffen werden.

Die imperialistischen Angriffe dienen nur dazu, eine reaktionäre Ordnung des Nahen Ostens neu zu festigen. Der Islamische Staat und seine Greueltaten dienen dabei als Vorwand, als ideologische Rechtfertigung.

Solche Angriffe oder eine Intervention der UN mit „Blauhelmen“ oder einer nicht näher definierten „Staatengemeinschaft“, also eine reaktionäre Vollversammlung aller imperialistischen Räuber und halb-kolonialen Regionalmächte, bedeuten nichts anderes, als der herrschenden Klasse das Recht zuzugestehen, als „Ordnungsmacht“ in der so genannten „Dritten Welt“ einzugreifen. Es bedeutet nichts anderes als die politische Unterordnung unter die eigene Bourgeoisie, es bedeutet ihr das Vertrauen auszusprechen, als „verlässlicher“ Verbündeter der Unterdrückten zu agieren.

Bewaffnung der KurdInnen

Anstelle einer solchen imperialistischen Intervention – ob nun mit Luftschlägen oder erst recht mit Bodentruppen – treten wir sehr wohl für die Bewaffnung der kurdischen KämpferInnen ohne jegliche wirtschaftliche und politische Bedingung ein.

Natürlich verfolgen die Imperialisten (oder andere Waffenlieferanten politischer Art) damit immer auch politische Ziele. Während jedoch Bodentruppen oder Lufteinheiten oder die Marine eines imperialistischen Staates immer unter dessen Kontrolle stehen und damit dessen Kriegszielen dienen, so ist es sehr wohl möglich, dass die ArbeiterInnen und Bauern eines aufständischen Volkes oder einer unterdrückten Nation die Kontrolle über die Waffen erhalten, die ihen selbst unter einer reaktionären Führung von imperialistischen Mächten geliefert wurden.

Ob das gelingt, ist letztlich eine Frage des politischen Kampfes, des politischen Kräfteverhältnisses.

In Rojava bedeutet das natürlich zuerst, dass die Waffen zum Zweck der Verteidigung der gemachten Errungenschaften eingesetzt werden. Hier sind vor allem zu nennen: Die Gleichberechtigung der Frauen, aller Religionen und Nationalitäten; die Enteignung des Großgrundbesitzes und damit verbunden ein wichtiger Schritt zu einer Agrarrevolution.

Allein dafür müssen RevolutionärInnen ohne Wenn und Aber eintreten. Natürlich können diese Waffen auch von der PYD missbraucht werden. Die Bewaffnung der KurdInnen aber mit Verweis auf diese hypothetische Möglichkeit abzulehnen, bedeutet aber nur, ihnen heute die Mittel zur Verteidigung ihres eigenen Lebens zu verweigern, entweder den Sieg des IS zu erleichtern oder die KurdInnen von der gnädigen Hilfe der Türkei oder der USA abhängig zu machen.

Die „Kommune von Rojava“

Die Notwendigkeit, den Kampf um Kobanê bedingungslos zu unterstützen, ändert jedoch nichts daran, dass die „Kommune von Rojava“ und die Politik der PYD auch mit marxistischen Kriterien beurteilt werden müssen.

Es wird dabei oft behauptet, dass Rojava ein anderes, fortschrittliches Gesellschaftsmodell realisieren würde. Unter einem anderen Gesellschaftsmodell jenseits des Kapitalismus verstehen wir jedoch mehr als die Reformen, die bisher in Rojava stattfanden, die ein demokratischeres politisches Regime und eine Enteignung des Großgrundbesitzes mit sich brachten – also radikale und grundlegende Elemente einer bürgerlichen Revolution.

Eine darüber hinausgehende Umwälzung, ein Angriff auf die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse hat jedoch nicht stattgefunden und ist auch nicht Teil des Programms von PYD und PKK.

Es entspricht vielmehr dem Versuch, einen „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu gehen, indem alle Eigentumsformen (also auch das Privateigentum an Produktionsmitteln) dem Gemeinwohl unterstellt werden sollen. Dies ist aber bestenfalls ein frommer Wunsch, wie die geschichtliche Erfahrung und die Analyse des Kapitals gleichermaßen beweisen.

Diese kleinbürgerliche Utopie spiegelt die Klassenbasis von PYD und PKK wider. Die beiden sind klein-bürgerlich nationalistische Bewegungen/Parteien, die durchaus mit revolutionären (nicht legalistischen/parlamentarischen) Mitteln für eine demokratische Umwälzung eintreten. Sozial stützen sie sich auf verschiedene Gesellschaftsklassen, die Bauernschaft, das städtische Kleinbürgertum und Kleinunternehmer und auch ArbeiterInnen. Ideologisch spiegelt sich das in einer Mischung aus stalinistischen wie libertär-anarchistischen Elementen wieder, die im so genannten „demokratischen Konföderalismus“ kodifiziert werden.

Es ist hier nicht genügend Raum, eine ausführliche Kritik dieses Konzeptes darzulegen. Wir vertreten jedoch die Meinung, dass diese Strategie letztlich nicht zur Befreiung des kurdischen Volkes von nationaler und sozialer Unterdrückung führen kann.

Warum? Weil es erstens die demokratischen Forderungen nicht in den Kontext einer Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft stellt. Weil es zweitens die kurdische Revolution nicht als Teil der permanenten Revolution im Nahen und Mittleren Osten, die Notwendigkeit der Errichtung von Arbeiter- und Bauernregierungen und einer Föderation Sozialistischer Staaten begreift.

Genau diese beiden Punkte sind jedoch zentrale, strategische Eckpfeiler einer revolutionären Arbeiterpolitik in Kurdistan wie in der ganzen Region. Auf sie muss sich eine revolutionäre Arbeiterpartei stützen, um die Revolution voranzutreiben – oder sie wird selbst zur Getriebenen im Strudel der Ereignisse.

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