Arbeiter:innenmacht

Südafrika: Rechtswende des ANC – Stimmenverlust bei den Massen

Nick Roux, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Jeremy Dewar, Infomail 1259, 12. Juni 2024

Die siebte südafrikanische Wahl unter allgemeinem Wahlrecht erwies sich als Wendepunkt für die Partei, die vor 30 Jahren das Ende der Apartheid ausgehandelt hatte, den African National Congress. Am 29. Mai erhielt der ANC nur noch 40 % der Stimmen und 159 Sitze in der Nationalversammlung, statt 58 % und 230 Mandate. Seine tatsächliche Stimmenzahl sank von 10 Millionen auf 6,5 Millionen – bei einer Bevölkerung von 61 Millionen, die Mehrheit davon Jugendliche.

Der ANC-Vorsitzende Cyril Ramaphosa war zum ersten Mal in seiner Geschichte gezwungen, Koalitionspartner:innen zu suchen. Ramaphosa selbst ist eine höchst zwiespältige Figur: von einigen in seiner Partei gehasst, weil er 2018 den korrupten und inkompetenten Jacob Zuma ablöste; von vielen verabscheut, weil er sein persönliches Vermögen gemacht hat (zuletzt 2015 auf 450 Millionen US-Dollar geschätzt, seitdem ein Geheimnis) und gleichzeitig einer Wirtschaft vorsteht, in der ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung arbeitslos ist, eine Quote, die unter Jugendlichen auf 50 % steigt.

Economic Freedom Fighters stagnieren, Zuma legt zu

Doch während große Teile der ANC-Wähler:innenschaft verloren gingen, schien nichts davon von den offiziellen Oppositionsparteien aufgefangen zu werden. Die zweitgrößte Partei, die Demokratische Allianz, musste einen leichten Rückgang ihrer Stimmen von 22 % auf 21 % hinnehmen, obwohl sie drei Sitze hinzugewann.

Die DA setzt sich aus mehreren weißen Vorherrschaftsparteien aus der Apartheidzeit zusammen, vor allem aus der National Party, die jahrzehntelang mit eiserner Faust über die schwarze Mehrheit herrschte. Sie ist die Partei des „weißen Monopolkapitals“ und der weißen Großgrundbesitzer:innen sowie der westlichen multinationalen Konzerne, von denen sie ihre finanzielle Unterstützung erhält. In den Provinzen, in denen sie in Koalitionen an der Macht war, hat sie den Armen brutale Sparmaßnahmen auferlegt.

Die von Julius Malema geführten Economic Freedom Fighters (Kämpfer:innen für Wirtschaftsfreiheit) mussten ebenfalls einen leichten Rückgang ihrer Unterstützung hinnehmen, und zwar um einen Prozentpunkt auf 10 %. Malema gründete die EFF, nachdem er 2013 aus dem ANC ausgeschlossen worden war, und baute die Partei auf einem stalinistischen Programm von kapitalistischen Verstaatlichungen und Landenteignungen auf.

Ihr Jugendflügel war maßgeblich an den Student:innenkampagnen „Rhodes Must Fall“ (Rhodes, der britische Kolonialist, muss fallen) beteiligt. Ihr Aufruf zu einem Generalstreik gegen Stromausfälle („Loadshedding“) im März 2023 fiel jedoch flach, was den Mangel an Unterstützung für die EFF in den Gewerkschaften offenbart. Malema bemühte sich, das Image der Partei aufzuweichen und tauschte sogar die roten Barette und Hemden seiner Partei, deren Attraktivität abgenommen hatte, gegen Anzüge aus, um die ANC-Basis anzusprechen, aber mit wenig oder gar keinem Erfolg.

Die große Gewinnerin in der Wahl war die neue Partei uMkhonto weSizwe (Speer der Nation; MK), die nach dem bewaffneten Flügel des ANC im Antiapartheidkampf benannt ist und vom gestürzten ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma gegründet wurde. Zuma selbst wurde vom Verfassungsgericht wegen seiner Verurteilung im Jahr 2021 und seiner 15-monatigen Haftstrafe wegen Missachtung des Gerichts von der Kandidatur ausgeschlossen. Das hinderte MK jedoch nicht daran, 15 % der Stimmen zu gewinnen und die größte Partei in der Provinz KwaZulu-Natal zu werden.

In Zumas Amtszeit fiel  der wirtschaftliche Niedergang Südafrikas in den 2010er Jahren. Er erhielt angeblich hohe Schmiergelder aus Waffengeschäften und Privatisierungen, insbesondere von den anscheinend superreichen Gupta-Brüdern. Seine ebenso berüchtigte Behauptung, das HIV-Virus könne durch Duschen nach dem Sex abgetötet werden, brachte ihm große und dauerhafte Missachtung seitens Frauen, der LGBTIA+-Gemeinschaft und der Jugend ein. Dennoch genießt er nach wie vor große Unterstützung innerhalb des ANC, einschließlich vieler seiner gewählten Vertreter:innen.

Auch Zumas angebliche Linkslastigkeit in der Landfrage ist völlig abwegig. Während des Wahlkampfs stützte sich MKs Vorschlag, das Land zu verstaatlichen, unglaublicher Weise auf das britische Modell, wonach das Land im Besitz der Monarchie ist. Das hat natürlich nicht verhindert, dass im Vereinigten Königreich Großgrundbesitzer:innen über ihre Pächter:innen herrschen.

In Wirklichkeit bestand die Strategie von MK darin, den ANC zu zwingen, Ramaphosa fallenzulassen und eine Koalitionsregierung zu bilden. Zu ihrem Pech wird dies nie geschehen, da die Märkte darauf bestehen, dass Zuma nie wieder an die Schalthebel der Macht gelassen werden sollte.

Große Koalition

Stattdessen bildete Ramaphosa am 14. Juni eine weithin erwartete, aber in letzter Minute zustande gekommene Koalition vor allem mit der DA. Die Inkatha Freedom Party (Freiheitspartei), die in der Endphase des Antiapartheidkampfes eine konterrevolutionäre Rolle spielte, wurde zusammen mit drei anderen kleineren Parteien ebenfalls in die Regierung aufgenommen, vor allem um die Stärke der DA bei den Verhandlungen auszugleichen.

Das Ringen um die Verteilung der Ressorts zog sich über zwei Wochen hin, wobei die DA auf 30 % der Ministerien bestand. Am Ende musste sie sich mit sechs statt der erhofften elf begnügen und verlor den Kampf um das wichtige Ressort Handel und Industrie.

Ramaphosa wusste, dass die großen Geldgeber:innen der DA nicht zulassen würden, dass die Partei von einem Deal abrückt, nachdem die Monopolstellung des ANC endlich beendet war. Am Ende brachte der ANC-Vorsitzende acht weitere kleinere Parteien in die Koalition ein, um den kampflustigen Vorstoß der DA zu stoppen – aber es bildet ein Zeichen für die Spannungen, die in den nächsten Jahren auftreten werden.

In Wahrheit gibt es genug Gemeinsamkeiten, damit die Koalitionsparteien ihr Tagesgeschäft abwickeln können. Sowohl der ANC als auch die DA haben sich dem Neoliberalismus verschrieben – Steuererleichterungen für die Reichen, weitere Privatisierungen, brutale Kürzungen bei den Sozialausgaben und Beschneidung der Löhne und Gewerkschaftsrechte.

Während sich Südafrika nach der Finanzkrise 2008 relativ gut geschlagen hat, ist es seitdem ins Trudeln geraten. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt ist so tief wie 2005. Die Covid-Pandemie hat das Land besonders hart getroffen, was zum großen Teil auf den schlechten Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen zurückzuführen ist. Die Inflation liegt hartnäckig bei 5 – 6 %, für die Armen, die einen unverhältnismäßig großen Teil ihres mageren Einkommens für Lebensmittel und Energie ausgeben, sogar bei 20 %. Die Strom- und Wasserversorgung wird routinemäßig, fast täglich, unterbrochen.

Aussichten

Die Probleme für Ramaphosa sind eher strategischer und ideologischer Natur, aber sie werden Probleme aufwerfen, den ANC und die Dreierkoalition mit dem Gewerkschaftsbund COSATU und der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP) zusammenzuhalten. COSATU ist nach wie vor der größte Gewerkschaftsdachverband, hat aber im Laufe der Jahre mehrere Spaltungen erlitten und wichtige Mitgliedsorganisationen in den Bergwerken und der Metallindustrie verloren. Seine Führer:innen hielten es für notwendig, im vergangenen Juli einen Protestgeneralstreik wegen wirtschaftlicher Fragen und gewerkschaftsfeindlicher Gesetze einzuleiten. Möglicherweise wird er bald den Druck spüren, über Gestenpolitik hinauszugehen.

Auch die Süfarikanische Kommunistische Partei muss auf die rückläufige Entwicklung des ANC reagieren. Auf ihrer Konferenz im vergangenen Jahr wurde sogar erörtert, bei den Wahlen 2024 getrennt unter eigener Flagge anzutreten, was jedoch nicht der Fall war. Die stalinistische Partei hält immer noch an der Zweiphasenstrategie des verstorbenen Joe Slovo fest und sieht ihre Hauptaufgabe darin, die „Nationale Demokratische Revolution“ durch ihre „Befreiungsallianz“ mit dem ANC zu verteidigen. Aber sie will das Bündnis mit vierteljährlichen Treffen ihrer Bestandteile „rekonfigurieren“, um den Druck auf Ramaphosa aufrechtzuerhalten.

Insbesondere hat die SACP eine rote Linie unter die Unterstützung der Regierung für China und Russland über die BRICS-Allianz als Alternative zur G7, der Weltbank und dem IWF gezogen, sowie ihre Weigerung, sich den Sanktionen gegen Russland wegen seines Einmarsches in der Ukraine und der Verfolgung Israels wegen des Völkermordes in Gaza anzuschließen. Dies wird natürlich zu Reibereien mit der erklärtermaßen prowestlichen DA führen, aber sie wird auch Verbündete in der EFF und MK finden.

Für den ANC wird es in diesem Durcheinander auch schwieriger, seine eigene Partei in Ordnung zu halten. Innerhalb der Partei gibt es eine halboffene Fraktion, die eine Vereinigung mit Zuma befürwortet. Er wird sich gegen jeden Versuch wehren, die Regierungsgeschäfte transparenter zu gestalten, eine zentrale Forderung der DA und der hinter ihr stehenden Großunternehmen und ausländischen Investor:innen. Kurzum, die Probleme des ANC haben gerade erst begonnen.

Die unmittelbare Aufgabe, vor der Revolutionär:innen in Südafrika stehen, besteht darin, COSATU vom ANC zu trennen und ihn zu zwingen, sich im Kampf mit den anderen Gewerkschaften zu vereinigen. Vertrauensleute und Arbeiteraktivist:innen müssen eine kämpferische Einheitsfront gegen den bevorstehenden Angriff auf die Arbeiter:innenklasse fordern, der sich mit den im Amt befindlichen Minister:innen der DA, die ihn kaum erwarten können, noch verstärken wird.

Diese Aufgabe dürfte leichter werden, nachdem Ramaphosa sich nun offen auf die Seite der „weißen Monopolkapitalist:innen“ geschlagen hat. Aber es wird einen Streit mit der COSATU-Gewerkschaftsbürokratie bedeuten, die sich an ihren vertrauten Beziehungen zu den Minister:innen bestens gewöhnt hat. Vor allem wird es einen Wiederaufbau der Macht der Vertrauensleute innerhalb und zwischen den Gewerkschaften und ihren erbittert rivalisierenden Verbänden beinhalten müssen. Sie sollten ihre Führer:innen zur Rechenschaft ziehen und von ihnen verlangen, dass sie nicht nur mit dem ANC brechen, sondern sich der Aufgabe widmen, die Regierung der nationalen Einheit zu stürzen.

Doch der Weg zu einer Partei der Arbeiter:innenklasse, die sich auf die mächtigen gewerkschaftlichen und kommunalen Kampforganisationen stützt, war ein langer und kurvenreicher Weg. Seit Moses Mayekiso in den 1980er Jahren zum ersten Mal diese Parole ausgab, erfolgten auf dem Weg dorthin mehrere Fehltritte, zuletzt mit der absurden Tragödie der totgeborenen Socialist Revolutionary Workers Party (SRWP) von Irvin Jim (Generalsekretär der Metallarbeiter:innengewerkschaft). Aber all diesen Fehlern liegt die zweistufige Strategie des Stalinismus zugrunde, die den Kampf für den Sozialismus auf unbestimmte Zeit verschiebt.

Die südafrikanische Arbeiter:innenklasse braucht eine neue, revolutionäre Partei, die offen zu einer zweiten südafrikanischen Revolution aufruft und darauf hinarbeitet. Diesmal sollte sie sich nicht nur ein für alle Mal mit der Kontrolle der weißen Kapitalist:innen über Industrie und Land auseinandersetzen, sondern auch mit dem Kapitalismus allgemein, der in seiner ursprünglichen Form oder unter dem Deckmantel des Black Economic Empowerment (wirtschaftliche Ermächtigung der Schwarzen) die Arbeiter:innenklasse um die Früchte ihrer revolutionären Kämpfe gebracht hat.

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