Arbeiter:innenmacht

Peru: ¡Que se vayan todos! Alle sollen gehen!

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 296, November 2025

Amtsenthebung der Präsidentin, mehrere nationale Protesttage, ein 30-tägiger Ausnahmezustand – die Ereignisse in Peru überschlagen sich. Dabei markierte der nationale Streik vom 15. Oktober einen neuen Wendepunkt im Klassenkampf. Was als Aufruf der Generation Z, der Student:innenbewegung und zahlreicher Arbeiter:innen- und Volkssektoren begann, verwandelte sich in einen riesigen Protest gegen das Regime. Von Puno bis Piura, von Cusco bis Trujillo gingen die Menschen auf die Straße, um zu rufen: „Es reicht!“ – gegen Hunger, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und institutionelle Gewalt, die das Land in ein Territorium der Angst und des Todes verwandelt hat. Es ist klar: Auch seine Regierung hat weder soziale Basis noch Legitimität. Sie stützt sich einzig auf korrupte Abmachungen des Kongresses und Bajonette der Repression.

Ein kurzer Abriss

Die ersten Berichte über massive Proteste gab es am 20. September 2025. Auslöser war die von der Regierung durchgedrückte Rentenreform. Der Wendepunkt der Proteste folgte wenige Wochen später: Am 8. Oktober überfiel eine bewaffnete kriminelle Bande ein Konzert der Cumbia-Gruppe Agua Marina auf einem Gelände, das von der Armee bewacht wird – ein Angriff, der landesweite Empörung hervorrief und den vollständigen Kontrollverlust des Staates im Kampf gegen das organisierte Verbrechen offenlegte.

Gepaart mit den bevorstehenden Parlamentswahlen 2026 begann sich auch das politische Bündnis, das Boluarte bislang im Kongress gestützt hatte, zunehmend aufzulösen. Ihre einstigen Verbündeten wandten sich ab, um eigene Interessen zu wahren und sich von der immer unpopuläreren Präsidentin zu distanzieren. Gleichzeitig strömten die Jugendlichen der Generation Z erneut auf die Straßen von Lima, forderten Boluartes Rücktritt, lieferten sich Zusammenstöße mit der Polizei und prangerten exzessive Repression an. Diese entschlossene, rebellische Jugendbewegung besiegelte schließlich die politische Isolation der Präsidentin.

Am 10. Oktober zog der Kongress der Republik Peru die Konsequenzen: In einer Blitzentscheidung erklärte er Boluarte wegen „dauerhafter moralischer Unfähigkeit“ für abgesetzt. Ihr wurde die politische Verantwortung für den Tod von über 50 Menschen während der Proteste 2022 und 2023 sowie Korruptionsvorwürfe um Luxusgeschenke und Rolex-Uhren zur Last gelegt. Mit 122 Stimmen von 130 – weit mehr als die erforderlichen 87 – wurde ihre Amtsenthebung beschlossen. Da es keine/n Vizepräsident:in gab, übernahm José Jerí, Präsident des Kongresses und Führer der rechten Partei Somos Perú, umgehend die interimistische Präsidentschaft – und eröffnete damit ein neues Kapitel in der politischen Krise des Landes.

Tödliche Repression

Aus diesem Grund riefen zahlreiche Organisationen zu einem landesweiten Protest auf – zuerst am 15. Oktober. In Lima wurde die Plaza Francia zum Epizentrum des Widerstands und Schmerzes. Dort wurde der junge Eduardo Ruiz Sáenz, Mitglied von Bloque Hip Hop, einem kulturellen Kollektiv, von einem Zivilpolizisten der „Terna“-Einheit erschossen – einer Truppe, die gezielt unter Demonstrierende eingeschleust wird, um Terror und Demobilisierung zu säen. Sein Tod war keine „übermäßige Gewalt“, sondern eine politische Hinrichtung, ein Zeichen, dass der Staat bereit ist, weiter zu töten, um ein zerfallendes Regime zu erhalten. Das Gesundheitsministerium meldete 15 Verletzte, darunter 2 in kritischem Zustand und 4 Journalisten, die durch Schrotkugeln getroffen wurden – ebenfalls Opfer der staatlichen Zensur.

Diese Verbrechen sind keine Einzelfälle, sondern die Fortsetzung desselben repressiven Regimes, das unter Dina Boluarte während der Proteste 2022/23 über 50 Menschen tötete. Heute wiederholt sich die Geschichte unter José Jerí: ein kapitalistischer Staat, der auf Forderungen der Massen mit Repression und Blut reagiert. Zwischen Boluarte und Jerí gibt es keine wesentlichen Unterschiede – beide sind Teil desselben bürgerlich-neoliberalen Blocks, der die Interessen des Großkapitals, der Bergbauunternehmen, der organisierten Kriminalität und des Militärs schützt.

Unterdessen hat das Kabinett Jerí noch immer kein Vertrauensvotum erhalten; ein Misstrauensantrag droht, das fragile politische Gleichgewicht zu erschüttern. Das ganze Land steckt in einer tiefen Krise, in der keine Institution mehr Legitimität besitzt und Repression soziale Unzufriedenheit nicht mehr eindämmen kann. So folgte dann am 20. Oktober bei dem Protest für Gerechtigkeit für Eduardo Ruiz und alle Gefallenen der sofortige Sturz der Jerí-Regierung sowie die Auflösung des korrupten und kriminellen Kongresses – als Teil eines wachsenden Widerstands, der das Ende des gesamten Systems verlangte.

Hintergründe

Mit José Jerí hat Peru nun sieben Präsidenten in sieben Jahren: Pedro Pablo Kuczynski, Martín Vizcarra, Manuel Merino, Francisco Sagasti, Pedro Castillo, Dina Boluarte und nun Jerí. Drei ehemalige Präsidenten – Alejandro Toledo, Ollanta Humala und Pedro Castillo – befinden sich wegen Korruption oder Machtmissbrauchs im Gefängnis. Diese rasante Abfolge spiegelt eine strukturelle Krise der klassischen bürgerlichen Institutionen wider, die nicht durch bloße Führungswechsel gelöst werden kann.

Peru befindet sich seit dem Ende des Rohstoffbooms im Jahr 2014 in einer tiefgreifenden sozialen und politischen Dauerkrise. Nach wie vor ist es der zweitgrößte Kupferproduzent der Welt sowie wichtiger Lieferant von Gold, Zinn, Zink und Erdgas. Dennoch hat seine Abhängigkeit von Importen landwirtschaftlicher Erzeugnisse, Düngemitteln und Kraftstoffen das Land in den letzten Jahren besonders anfällig für globale Erschütterungen gemacht – von den Auswirkungen des Ukrainekriegs bis zu den Preissteigerungen infolge internationaler Sanktionen. Hinzu kommt, dass die Corona-Pandemie bestehende Ungleichheit massiv verschärfte. Der Anteil der im informellen Sektor arbeitenden Bevölkerung schnellte zeitweise auf fast 90 % hoch, und das überforderte Gesundheitssystem brach in großen Teilen zusammen – mit einer der weltweit höchsten Covid-Todesraten pro Kopf. Noch Jahre später sind die sozialen und wirtschaftlichen Folgen spürbar: Armut, Arbeitslosigkeit und Inflation belasten insbesondere die Landbevölkerung und die ärmeren Stadtviertel.

Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erholt sich die peruanische Wirtschaft leicht – für 2025 wird ein Wachstum von rund 2,9 % erwartet. Doch die Kaufkraft der Bevölkerung bleibt durch hohe Preise und stagnierende Löhne geschwächt. Mit einer Staatsverschuldung von etwa 33 % des BIP steht Peru im regionalen Vergleich zwar besser da als viele andere Länder, doch der IWF moniert, dass die aktuelle Krise das Vertrauen in Investitionen bremst. Das ist aber nur ein Faktor, denn seit 2010 ist China rasant zum wichtigsten Wirtschaftspartner des Landes aufgestiegen: Die peruanischen Exporte stiegen von wenigen Milliarden Dollar Anfang der 2010er Jahre auf rund 24–25 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024, vor allem durch den Absatz von Kupfer, Gold und Fischprodukten.

Die USA bleiben mit einem Handelsvolumen von 26,7 Milliarden US-Dollar zwar ähnlich bedeutsam, verlieren jedoch wirtschaftlich an Gewicht und versuchen, ihren Einfluss über die militärische Zusammenarbeit zu sichern – etwa durch eine neue US-Ausbildungsmission für Armee und Polizei.

Diese Entwicklung bedeutet nichts anderes als eine Neuaufteilung der Abhängigkeit: zwischen chinesischem Kapital, das den peruanischen Boden ausbeutet, und dem US-Imperialismus, der seine Kontrolle über Polizei und Militär festigt.

Sozialistische Perspektive

Angesichts all dieser Tatsachen kann der Weg nicht einfach im Austausch einer Regierung durch eine andere bestehen. Perus Fujimori-Regime, entstanden unter Alberto Fujimori und bis heute unter der Verfassung von 1993 nachwirkend, schafft die Grundlagen für ein autoritäres, neoliberales Modell, das die Macht in den Händen einer kleinen Elite konzentriert. Es ist ein antidemokratisches System, das Korruption strukturell verankert und die Herrschaft jener Schichten absichert, die sich tief in den Institutionen des bürgerlichen Staates – Kongress, Regierung und Justiz – eingenistet haben. Gestützt wird dieses Regime von den Kapitalverbänden, vor allem der CONFIEP (Confederación Nacional de Instituciones Empresariales Privadas; der Nationale Zusammenschluss der Privatwirtschaft Perus) und dem Nationalen Abkommen, die als politische Schutzschirme der wirtschaftlichen Oligarchie fungieren.

Dieses System ist verantwortlich dafür, dass rund 70 % der Bevölkerung im „informellen Sektor“ arbeiten müssen, für den grenzenlosen Extraktivismus, der das Land verarmt, sowie für die Verschlechterung grundlegender Rechte wie den Zugang zu Gesundheit und Bildung, während sich eine besitzende Minderheit – Konzerne wie Megabergbauunternehmen, die natürliche Ressourcen zerstören, Banken und Pensionsfonds (AFPs) – immer weiter bereichert.

Erforderlich ist ein völliger Bruch mit dem Regime von 1993 und dem bürgerlichen Staat. Es braucht einen Prozess, der den Weg zu einer freien und souveränen verfassunggebenden Versammlung öffnet, die von den Straßen erzwungen wird und das Land auf neuen Grundlagen reorganisiert: der Macht der Arbeiter:innen und Bäuer:innen.

Zuzulassen, dass das bestehende oder ein neu gewähltes Parlament den Widerstand in eine bürgerliche verfassunggebende Versammlung lenkt, die von den offiziellen Institutionen organisiert wird, wäre ein fataler Fehler, der es den Bürgerlichen ermöglicht, sich neu zu formieren und für eine neue Offensive aufzurüsten. Deswegen müssen Revolutionär:innen für eine verfassunggebende Versammlung eintreten, deren Einberufung selbst von den lohnabhängigen und bäuerlichen Massen mit eigenen, vom Staat unabhängigen Strukturen und kontrollierten Mitteln erfolgt. Und sie müssen in einer solchen Versammlung einen offenen Kampf für eine sozialistische Umwandlung des Landes, für die Enteignung des peruanischen und ausländischen Großkapitals unter Arbeiter:innenkontrolle sowie des Großgrundbesitzes, für die Streichung der Auslandsschulden und für einen Sofortplan zur Bekämpfung von Armut führen.

Ein solches Programm könnte nicht von den Institutionen des bürgerlichen Staates oder einer noch so demokratischen konstituierenden Versammlung durchgeführt werden, sondern müsste von einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung vorangetrieben werden, die sich selbst auf Räte der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und einfachen Soldat:innen sowie bewaffnete Milizen der Massen stützt.

Der Weg dahin

Doch die zentrale Frage ist: Wie kommen wir dahin? Es gilt, die aktuelle Situation zu nutzen und in Betrieben, Stadtteilen, Universitäten und ländlichen Gemeinden für den Aufbau von Aktionskomitees zu agitieren, die die Kämpfe koordinieren, Streiks organisieren und Selbstverteidigungsstrukturen gegen Polizei und Militär aufbauen. Solche Organe können die Grundlage einer neuen, demokratisch gewählten Versammlung der Massenbewegung bilden. Drei zentrale Forderungen könnten diesen Prozess vereinen:

  • Wir kontrollieren: Enteignung von Bergbau, Energie und Häfen unter Arbeiter:innenkontrolle, damit die enormen Rohstoffgewinne nicht länger in den Taschen multinationaler Konzerne (vor allem aus China und den USA) verschwinden, sondern zur Finanzierung von Bildung, Gesundheit und Infrastruktur dienen.
  • Schluss mit Armut: Staatlich garantierter Mindestlohn und Preiskontrollen auf Grundnahrungsmittel und Treibstoffe, kontrolliert durch Gewerkschaften – um das Überleben der Millionen im informellen Sektor zu sichern und die soziale Verelendung zu stoppen.
  • Wir wehren uns: Bestrafung der Verantwortlichen der Massaker von 2022/23,
  • und 2025 und Aufbau von demokratisch organisierten Selbstverteidigungskomitees gegen Polizei- und Militärgewalt – nur so können wir uns gegen willkürliche Repression wehren und unsere Interessen verteidigen!

Dabei gilt es auch, die Gewerkschaften, darunter die CGTP – Zentralgewerkschaft Perus, die größte Gewerkschaft des Landes –, die in den letzten Jahren oft passiv geblieben oder sogar Komplizen der Regierung waren, unter Druck zu setzen, solche Forderungen anzunehmen und dafür zu mobilisieren.

In der Vergangenheit haben sowohl die Gewerkschaftsbürokratie als auch die Mitte-Links-Parteien eine entscheidende Rolle bei der Eindämmung des Mobilisierungsprozesses gespielt und wurden damit beispielsweise faktisch zur Stütze der Regierung Boluarte. Revolutionär:innen haben die Aufgabe, in den Gewerkschaften gegen die bürokratischen Führungen, die Streiks bremsen, Absprachen mit Unternehmer:innen schließen und jede echte Mobilisierung blockieren, organisiert anzukämpfen. Es gilt, Basisstrukturen aufzubauen, die die Kontrolle über Entscheidungen und Aktionen in die Hände der Arbeiter:innen zurückholen, um sie zu einem Werkzeug des Kampfes zu machen – nicht für symbolische Streiks ohne Perspektive, sondern für eine landesweite, koordinierte Mobilisierung im Interesse der arbeitenden Klasse.

Das Opfer von Eduardo Ruiz soll nicht vergeblich gewesen sein – sein Name muss zum Symbol des Widerstands werden. Seine Ermordung möge der Punkt sein, an dem das peruanische Volk „Es reicht!“ sagt und sich Arbeiter:innen und Jugendliche zu einem gemeinsamen, revolutionären Programm und einer Partei zusammenschließen, die all diese Kämpfe vereint. Dabei ist klar: Unser Kampf kann nur erfolgreich sein, wenn er sich bewusst gegen die imperialistische Ausbeutung richtet, die Peru seit Jahrzehnten in Abhängigkeit hält. Sollte es tatsächlich zu einer verfassunggebenden Versammlung kommen und revolutionäre Kräfte darin an Einfluss gewinnen, ist klar, dass die Imperialist:innen ihre Goldgrube nicht kampflos aufgeben werden. Umso zentraler ist daher der Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen in Betrieben, Stadtteilen und Gemeinden, die in der Lage sind, Angriffe von Militär, Polizei oder paramilitärischen Kräften abzuwehren. Gleichzeitig muss der Kampf in Peru als Teil eines gemeinsamen Klassenkampfes in Lateinamerika verstanden werden – verbunden mit denjenigen, die sich der US-imperialistischen Aggression in Venezuela widersetzen, und solidarisch mit den aktuellen Protesten wie in Ecuador. Nur durch internationalistische Solidarität und gemeinsame Organisierung kann die Arbeiter:innenklasse der Region die imperialistische Vorherrschaft brechen und eine neue, sozialistische Perspektive eröffnen.

  • Gerechtigkeit für Eduardo Ruiz und alle Gefallenen!
  • Weg mit Jerí, weg mit dem korrupten Kongress!
  • Nieder mit dem mörderischen Regime von ’93: Enteignung!
  • Für eine Arbeiter:innenregierung, die der imperialistischen Barbarei ein Ende setzt!

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