Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 35, Juli 2005
Die USA beherrschen die Welt politisch, ökonomisch und militärisch. Die herrschende Klasse der Europäischen Union ist zutiefst gespalten in der Frage, wie sie darauf reagieren soll. Die folgende Analyse behandelt die Frage, welche Faktoren die Herausbildung eines einheitlichen imperialistischen Blocks der EU begünstigen und welche dieser Entwicklung im Wege stehen.
Seit Jahrzehnten ist das Projekt der europäischen Vereinigung ein zentraler Gegenstand auf der Tagesordnung der herrschenden Klassen Europas. Während es in der Vergangenheit ein wichtiges Thema war, ist es heute – angesichts der wachsenden Dominanz Amerikas – zu einer Frage über Leben und Tod für den europäischen Imperialismus geworden.
Einerseits ist es erstaunlich, die enormen Veränderungen, die Westeuropa in den letzten zehn Jahren durchgemacht hat, zu beobachten. Heute zahlen wir nicht nur in den meisten EU-Ländern mit dem Euro und reisen ohne Beschränkung durch die Union, sondern mittlerweile unterliegen auch die meisten nationalen Gesetze den EU-Richtlinien. Und nun wurde die EU um verschiedene osteuropäische Länder vergrößert.
Nichtsdestotrotz sieht sich das imperialistische Projekt der europäischen Vereinigung großen und wachsenden Herausforderungen gegenüber. Tatsächlich steigt unter dem weltweiten Kapitalismus die ökonomische Konkurrenz und die imperialistische Rivalität.
Das trifft umso mehr in der Periode nach dem 11. September zu, seit die USA ihren Griff auf die ganze Welt verstärken. Der Druck auf die europäischen Mächte, einen homogenen Block zur Herausforderung der amerikanischen Übermacht zu bilden, wächst daher enorm. Aber genau hier begegnet die europäische Bourgeoisie massiven Hindernissen und sieht sich in Gefahr, hinter die „Hypermacht“ auf der anderen Seite des Atlantik wesentlich zurückzufallen.
Die grundlegendste Erscheinung der heutigen kapitalistischen Weltwirtschaft ist die Tendenz zur Stagnation, die ihre Ursache in der Krise der Kapitalakkumulation, der Überproduktion und dem tendenziellen Fall der Profitrate hat.
Trotz einer Reihe von Erfolgen der Bourgeoisie in den letzten 20 Jahren als Konsequenz der Globalisierung und der rücksichtslosen neoliberalen Offensive (drastische Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und Ausplünderung der Halbkolonien) und trotz einer Anzahl massiver technologischer Revolutionen konnte der Kapitalismus keine neue Wachstumsdynamik entwickeln. Das weltweite Wirtschaftswachstum geht seit den frühen 1970er Jahren laufend zurück (siehe Tabelle 1), die Ungleichheit sowohl zwischen den Klassen als auch den reichen und den armen Ländern wächst und Armut und Arbeitslosigkeit steigen. Der Kapitalismus ist im gegenwärtigen Stadium – Globalisierung – von einer Tendenz der Stagnation gekennzeichnet.
1960-1969: + 3,7%
1970-1979: + 2,1%
1980-1981: + 1,3%
1990-1999: + 1,1%
2000-2003: + 1,0%
Während die weltweite Produktivität – gemessen am BIP – zwischen 1950 und 1973 um 4,9% gewachsen ist, sank sie auf 3,0% zwischen 1973 und 1992 und auf 2,7% zwischen 1992 und 2001 (2).
Dieselbe Entwicklung entfaltete sich in der imperialistischen Welt (s. Tabelle 2).
Region………………………………………….Eurozone………USA…….Japan
BIP-Wachstum 1973-1990…………………….2,3……………3,0……….2,8
BIP-Wachstum 1990-2003…………………….2,1……………3,2……….1,1
BIP-Wachstum pro Kopf 1973-1990………. 2,0……………1,8……….3,0
BIP-Wachstum pro Kopf 2000-2003………..1,7……………1,6……….0,9
In den letzten zwei Jahrzehnten blieb die Kapitalakkumulation gedrückt – sie stieg nicht wieder auf die Höhen der 1950er- und 1960er-Jahre an und fiel am Ende des Jahrhunderts wieder tief. In den USA erlitten die Unternehmen außerhalb des Finanzsektors einen klaren Niedergang der Kapitalakkumulation. Während der 1960er- und 1970er-Jahre wuchs der Kapitalstock zwischen jährlich 3 bis 4%; seit den 1980ern ging dieses Wachstum auf rund +1.5% zurück und sogar weniger zur Jahrhundertwende (s. Grafik 1).
Diese Entwicklung ist kein US-amerikanisches Ausnahmephänomen, sondern kann auch im imperialistischen Europa beobachtet werden. Die französischen marxistischen Ökonomen Gerard Duménil und Dominique Lévy zeigten vor kurzem eine ähnlichen Niedergang der Kapitalakkumulation in Frankreich (s. Grafik 2) und merkten an:
„Das Ausmaß des Falls ist bereits in den USA groß. In Frankreich war dieser Niedergang sogar noch spektakulärer. Sowohl die Profitrate als auch die Akkumulationsrate fielen von 8% 1960 auf 1 oder 2% oder weniger nach 2000. Die Welle struktureller Arbeitslosigkeit in Frankreich hat ihren Ursprung in diesem Zusammenbruch der Investitionen.“ (5)
Als Ergebnis nehmen die parasitären Charakterzüge des Imperialismus immer extremere Ausmaße an. Eine weit verbreitete Meinung unter linken (und bürgerlichen) AkademikerInnen besagt, daß der europäische Kapitalismus sich fundamental von seinem nordamerikanischen Gegenspieler unterscheidet (das sogenannte „Rhein-“ versus das „Angelsächsische Modell“). Während letzterer spekulativ, parasitär und überschuldet sei, sei der erstere produktiv und gesund. Wenngleich es offensichtliche Unterschiede zwischen der US-/britischen und der französisch/deutschen Ökonomie gibt, überwiegen doch bei Weitem die Ähnlichkeiten. Zum Beispiel ist der Anteil am Gewinn, den Unternehmen an ihre AktionärInnen als Dividende auszahlen, auf 90-100% gestiegen (in den USA und in Frankreich), d.h. der Anteil des einbehaltenen Gewinns tendiert gegen Null! Ein weiteres Element des wachsenden Parasitismus, der auf beiden Seiten des Atlantik besteht, ist die explodierende Verschuldung von Staat, Unternehmen und KonsumentInnen (7).
Zusammenfassend können wir die generelle Entwicklung des globalen Kapitalismus sowohl in den USA wie auch in Europa als eine in Richtung Stagnation und Parasitismus beschreiben.
Während diese grundlegenden Ähnlichkeiten in Rechnung gestellt werden müssen, ist es genauso wichtig, die Stärkung des US-Kapitals gegenüber seinem europäischen Konkurrenten im letzten Jahrzehnt zu sehen. Betrachten wir die wesentlichen Fakten. Die EU verfügte bereits vor der EU-Osterweiterung über eine größere Bevölkerung als die USA – ein Vorsprung, der mit dem Eintritt der zehn neuen Beitrittsländer noch mehr ausgebaut wurde -, doch ökonomisch ist sie schwächer (s. Tabelle 3 und 4).
Region………………………………………………….USA…………..EU-15
Bevölkerung (Jahr 2000, in Mil.)…………………282…………….388
BIP (2002, in Mrd. US-Dollar)………………….9,8937,4………7,874,8
BIP/Kopf (in US-Dollar)……………………………34,900………..20,800
Region…………………………………………………USA…………….EU-15
Anteil an der Bevölkerung………………………..5%……………….6%
Anteil am Welt-BIP………………………………..31,2%……………25%
Wie aus den Zahlen zu ersehen ist, sind die USA nicht nur wirtschaftlich stärker als die erweiterte EU, sondern haben auch eine viel produktivere Ökonomie. 2001 – d.h. als sich die US-Wirtschaft in voller Rezession befand – war das BIP pro Kopf um 40% höher als das der EU-15! Dieser Vorteil wurde mit der Vergrößerung der EU um die zehn neuen Beitrittsländer substantiell größer, weil deren industrielle Entwicklung weit hinter jener der westeuropäischen imperialistischen Ökonomien nachhinkt.
In Bezug auf das Monopolkapital – die größten Konzerne der Welt – ist die Dominanz der USA noch eindrucksvoller. Unter den 100 größten Multis sind 57 US-amerikanischen Ursprungs, jedoch nur 30 aus Europa. Unter den Top Ten sind nur Platz 8 und 9 nicht in amerikanischer, sondern europäischer Hand (BP und Shell). Und von den größten 1000 Konzernen gehören 488 den USA, aber nur 273 der EU (davon 77 britische, 48 französische und 35 deutsche). (10)
Dieser Rückstand des EU-Kapitals hat sich im letzten Jahrzehnt noch verschärft. Aus Tabelle 2 erkennt man, daß das BIP-Wachstum in der EU 1973-1990 2,3% betrug und 1990-2003 2,1%, in den USA hingegen im gleichen Zeitraum 3.0% bzw. 3,2%.
Mit dem Blick auf Tabelle 5 sieht man, daß durch das Wachstum der Arbeitsproduktivität das US-Kapitals in den 1990ern die Ausbeutung der Arbeitskraft viel stärker ausweiten konnte als seine europäischen Kontrahenten.
Jahr…………………………1969-79……………..1979-90…………..1990-2000
USA……………………………..1,3………………….1,15…………………..1,8
Eurozone………………………3,2…………………..1,9……………………1,6
Ein weiterer Indikator ist der wachsende Anteil der USA am Welthandel, wohingegen jener der EU im gleichen Zeitraum zurückging. 1991 hatte die EU einen Anteil von 15% an den Weltexporten und 17% bei den Weltimporten, doch dieser Anteil sank bis zum Jahr 2001 auf 14,8% bzw. 15%. Die USA hingegen konnten ihre Anteile an den Weltexporten von 14,7% auf 19% deutlich ausbauen und bei den Weltimporten knapp halten (12,5% bzw. 12,3%) (12).
Bekanntlich drückt sich diese wirtschaftliche Stärke der USA auch in politischer Macht aus – beginnend beim Einfluß in wichtigen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank bis hin zu den Vereinten Nationen.
Auf militärischem Gebiet ist die Vorherrschaft der USA verglichen mit seinem europäischen Konkurrenten noch deutlicher. Hier geben die USA 3-4mal mehr aus als die 15 EU-Staaten zusammen!
Zusammengefaßt konnte der US-Imperialismus in den 1990ern seine wirtschaftliche, politische und militärische Hegemonie im Vergleich zu seinen europäischen Konkurrenten ausweiten.
Um die Gründe für Europas Rückstand auf ökonomischem Gebiet herauszufinden, ist es nötig, einen zweiten Blick darauf zu werfen. Wir haben gezeigt, daß der US-Imperialismus nicht nur wirtschaftlich stärker ist als die EU, sondern daß in den 1990ern auch seine Produktivität stärker zunahm. Doch an diesem Punkt müssen einige Relativierungen gemacht werden. Das US-BIP ist wie gesagt um 40% pro Kopf höher als das der EU-15. Doch wenn man die Produktivität pro Arbeitsstunde betrachtet, sieht die Sache anders aus. Das Niveau des BIP pro Arbeitsstunde in der Eurozone liegt bei 96% von dem der USA. Das Bild wird noch deutlicher, wenn man die einzelnen Staaten betrachtet.
Hinsichtlich der Wachstumsrate des BIP pro Arbeitsstunde liegt Europa sogar noch besser als die USA (s. Tabelle 7).
Eine Studie der Credit Suisse First Boston fand heraus, daß das Nettoinlandsprodukt pro Stunde zwischen 1992 und 2002 in den USA jährlich um durchschnittlich 1,1%, in der Eurozone hingegen um 1,4% wuchs (15).
Wir sehen also, daß das europäische Kapital in Bezug auf die effiziente Nutzung der Arbeitsstunden seiner Beschäftigten ganz klar nicht hinter den USA herhinkt. Aber – und das ist ein großes ABER – wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, hat die US-Bourgeoisie mehr Erfolg in der massiven Steigerung der Ausbeutungsrate bei seiner ArbeiterInnenklasse.
Belgien………………….107
Frankreich…………….. 106
Deutschland……………96 (inkl. Osten; Westdeutschland über US-Niveau)
Italien…………………….84
UK…………………………82
Region…………………………………………………Eurozone…………….USA
Stundenproduktivität 1973-1990………………….2,9%……………….1,2%
Stundenproduktivität 1973-1990………………….2,0%……………….1,8%
Amerikanische ArbeiterInnen mögen gemessen an einem spezifischen Quantum Arbeitszeit nicht produktiver sein, doch sind sie gezwungen, länger für ihren Boss zu arbeiten. Und: viel mehr AmerikanerInnen sind gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen als das in Europa der Fall ist.
Schauen wir uns zuerst die Arbeitszeit an. Im Jahr 2000 verbrachten amerikanische ArbeiterInnen 1.877 Stunden in ihrem Job verglichen mit 1.480 Stunden ihrer deutschen KollegInnen (d.h. um 22% weniger), 1.562 ihrer französischer (d.h. um 17% weniger), 1.643 italienischer und 1.708 britischer KollegInnen. In fast allen imperialistischen Ländern konnten Werktätige in den letzten Jahrzehnten ihre jährliche Arbeitszeit verringern; nicht jedoch in den USA. Von 1979 bis 1999 verlängerte sich das durchschnittliche amerikanische Arbeitsjahr um 50 Stunden, d.h. um fast 3%. Das durchschnittliche deutsche Arbeitsjahr hingegen schrumpfte um 12%. Der linke US-Ökonom Richard B. Du Boff schreibt: „Tatsächlich verbringt der durchschnittliche Werktätige in den USA jetzt mehr Zeit in der Arbeit als 1950.“ (16)
Doch der/die einzelne amerikanische Beschäftigte arbeitet nicht nur länger. Er/sie bekommt auch weniger bezahlt als früher. Seit dem Höhepunkt 1973 sanken die realen Stundenlöhne für US-Arbeitskräfte – besonders dank des massiven Wachstums der Niedriglohnjobs im Dienstleistungssektor – bis in die späten 1990er um mehr als 15% (17). Im Produktionssektor stiegen die Realstundenlöhne zwischen 1984 und 1999 um magere 8%, während sie in Deutschland im selben Zeitraum um 35% stiegen! Wie Robert Brenner schreibt: „Sogar 2000 lagen die Realstundenlöhne in der Produktion und Jobs ohne Führungsaufgabe noch immer offenkundig unter – und die Armutsrate über – den Höchstraten von 1973.“ (18)
Tatsächlich lagen die durchschnittlichen Wochengehälter der ProduktionsarbeiterInnen bzw. der Angestellten ohne Führungsstellen außerhalb der Landwirtschaft im Jahr 2001 auf dem Niveau von 1962!
Dazu kommt das fehlende Sozialsystem der USA. Während in Europa – trotz aller Gegenreformen in der Vergangenheit – noch ein nennenswertes Pensions-, Gesundheits- und Arbeitslosensystem existiert, kann das von den USA nicht behauptet werden. Zum Beispiel hat die schlechter verdienende Hälfte aller Werktätigen keinen Pensionsanspruch. (19)
Kurz gesagt gelang es der amerikanischen Bourgeoisie, eine historische Umverteilung des Einkommens von Löhnen zu Profiten zu initiieren. Während zwischen 1947 und 1979 das Wachstum bei Familieneinkommen für alle Bevölkerungsgruppen relativ einheitlich war (zwischen +94% und +120%), fiel es zwischen 1977 und 1994 für die Mehrheit, hingegen wuchs es für das reichste Prozent dramatisch (+72%!). Heute verdient das reichste Prozent 40% des Wohlstands; nur einmal lag das seit dem Ersten Weltkrieg höher – 1929. (20)
Darüber hinaus gelang es der US-Bourgeoisie in den letzten Jahrzehnten, die Bevölkerung dazu zu zwingen, jedweden Job anzunehmen und gleichzeitig erst später in Ruhestand zu treten. „Zwischen 1973 und 1998 stieg der Prozentsatz der amerikanischen Bevölkerung in Beschäftigung von 41 auf 49%. Doch in Deutschland und Frankreich fiel dieser Prozentsatz bis auf 44 und 39%.“ (21).
Um es in die Sprache des Marxismus zu übersetzen: der US-Bourgeoisie mag es in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen sein, den relativen Mehrwert stärker als ihr europäischer Gegner zu steigern; aber sie brachte es zustande, die ArbeiterInnenklasse so zu schwächen, daß sie den absoluten Mehrwert viel mehr erhöhen konnte.
Außerdem ziehen die USA – als reichste Macht der Welt – jedes Jahr viele Millionen neuer, oft junger, ImmigrantInnen an, die massiv ausgebeutet werden können. Zwischen 1974 und 1998 wanderten 10,9 Millionen ImmigrantInnen nach Westeuropa, aber 16,7 Millionen in die USA – einem Land mit wesentlich geringerer Bevölkerung. Somit stieg der Anteil der US-EinwohnerInnen, die nicht im Land geboren sind, von 4,8% 1970 auf 9,7% 1999.
Man muss den großen demografischen Vorteil der USA bedenken. Eben weil es ein traditionelles Siedler- und Einwanderungsland ist, haben sie eine viel jüngere Bevölkerung als Europa. In der Eurozone waren im Jahr 2000 16,5% 65 oder mehr Jahre alt; der Anteil dieser Altersgruppe in den USA betrug jedoch nur 12,5%. Ganz anders hingegen in der EU: Dort soll Prognosen zufolge die arbeitsfähige Bevölkerung in den nächsten 25 Jahren um 5% zurückgehen.
Schließlich ist auch der Klassenkampf ein Faktor. Zwischen 1992 und 2001 befanden sich die US-amerikanischen Lohnabhängigen weniger als 50 Tage pro 1.000 Beschäftigten im Streik – in Dänemark, Italien, Finnland, Irland und Frankreich waren es dagegen zwischen 80 und 120 Tagen und in Spanien 271. Im Durchschnitt traten ArbeiterInnen in der EU um 150% mehr in Streik als ihre KollegInnen in den USA.
Dazu kommt die viel größere organisatorische Stärke der europäischen ArbeiterInnenbewegung. Natürlich unterscheidet sich in Europa diese organisatorische Stärke von Land zu Land. Außerdem muß man bedenken, daß die offizielle Anzahl an Gewerkschaftsmitgliedern nicht unbedingt alles über die aktuelle Stärke der ArbeiterInnenbewegung aussagt. Spanien und Frankreich sind dafür gute Beispiele – dort gibt es einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von nur 13,5% bzw. 12,2% (in den 1990er Jahren), aber eine sehr militante ArbeiterInnenklasse. Das hängt mit der spezifischen Rolle der Gewerkschaftsmitglieder in den Unternehmen zusammen. Dennoch sagt es einiges, daß trotz des Schwundes in den letzten Jahrzehnten im Durchschnitt noch immer mehr als 30% der europäischen ArbeiterInnen Gewerkschaftsmitglieder sind, während es in den USA nur 13,4% sind (und im privaten Sektor nur 9,4% – die geringste Rate seit 1902!) (22).
Mit den Worten eines führenden Ideologen der neoliberalen Konterrevolution, dem angelsächsischen Historiker Niall Ferguson, kann der Vorteil der US-Bourgeoisie im Vergleich zu den europäischen UnternehmerInnen folgendermaßen zusammengefaßt werden: „All das ist der wahre Grund, warum die amerikanische Wirtschaft sich in den letzten zwei Jahrzehnten über ihre europäischen Mitstreiter erhoben hat. Es geht nicht um Effizienz. Es ist einfach so, daß die Amerikaner mehr arbeiten. Europäer haben längeren Urlaub und gehen früher in Pension; und noch mehr Europäer sind entweder arbeitslos oder im Streik.“ (23)
In marxistischer Terminologie können wir den Vorteil des US-Kapitals dahingehend zusammenfassen, daß es in der Schwächung der ArbeiterInnenklasse und vice versa in der Steigerung der Ausbeutungsrate in der Periode des globalen Kapitalismus mehr Erfolg gehabt hat, als das in Europa der Fall war.
Als wir hier die europäische Wirtschaft mit den USA verglichen, behandelten wir sie als eine Einheit. Aber das ist nur bis zu einem gewissen Grad legitim, weil das europäische Kapital kein homogener Block ist. Weder politisch noch militärisch und nicht einmal ökonomisch.
Die Integration der EU-15 als ein wirtschaftlicher Block verlief langsamer als die weltweite Globalisierung. Als Ergebnis sank der Anteil des Binnenhandels der EU im Vergleich zum gesamten EU-Handel von 64.0% (1995) auf 61,6% (2002) bei den Exporten und von 65,2% (1995) auf 61,9% (2002) bei den Importen. (24)
Es wäre dennoch eine voreilige Schlussfolgerung zu sagen, daß die EU in ihrem Projekt der ökonomischen Integration einfach versagt. Denn wenn man den EU-Außenhandel betrachtet, wird klar, daß mehr als 15% der EU-Exporte und 13% der EU-Importe von bzw. an die Beitrittsländer kamen bzw. gingen. Nicht alle Beitrittsländer traten tatsächlich dieses Jahr in die EU ein, dennoch ist klar, daß ein wesentlicher Teil des EU-Außenhandels mit den osteuropäischen Ländern verlief, die im Sommer 2004 Teil der EU wurden. Daher hat die EU-Integration in den letzten Jahren sich nicht verlangsamt.
Gleichzeitig muß gesagt werden, daß der EU-Handel mit den USA in den letzten zehn Jahren von einem Anteil von 21,2% am EU-Export (1990) auf 24,3% (2001) gestiegen ist, während der Anteil der EU-Importe von 20,8% (1990) auf 19% (2001) leicht sank (25). Zusätzlich zu den USA haben auch Rußland und China an Bedeutung als Handelspartner für das europäische Kapital gewonnen – besonders für seine stärkste Nation Deutschland.
Um den Charakter der Angriffe zu verstehen, denen die europäische ArbeiterInnenklasse in der kommenden Periode ausgesetzt sein wird, ist es notwendig, die Herausforderung für die UnternehmerInnen zu begreifen. Wir leben in der Periode des globalen Kapitalismus, in der sich die Merkmale der imperialistischen Epoche verschärfen. Das bedeutet, daß vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Stagnation der Wettbewerb zwischen monopolistischen Kapitalgruppen massiv zunimmt und damit einhergehend die Notwendigkeit der Bildung starker politischer und militärischer Blöcke zur Unterstützung ihrer Monopole. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind bis jetzt bei weitem die erfolgreichste Macht im Rennen um die Weltherrschaft. Und sie waren erfolgreich darin, andere imperialistische Staaten „auf Ration zu setzen“, um Trotzkis Formulierung aus seiner Schrift „Amerika und Europa“ zu verwenden. Das bedeutet, daß die USA sich ihre Konkurrenten (Europäische Mächte, Rußland oder China) entweder unterordnen oder ihre ablehnende Haltung zu einem irrelevanten Faktor degradieren (wie wir das an den Beispielen des Afghanistan- und Irak-Krieges sehen konnten).
Doch dieser Prozess ist sehr widersprüchlich. Die amerikanische Macht scheint auf militärischer Ebene omnipotent zu sein, doch obwohl die USA auch in der Weltwirtschaft eine Supermacht darstellen, sind sie keine „Hypermacht,“ um einen bekannten französischen Begriff zu verwenden. Die führenden europäischen Mächte – Deutschland und Frankreich – arbeiten beharrlich am Ziel der Errichtung der EU als einer alternativen Macht, unabhängig von den USA. Doch auf diesem Weg werden sie wiederholt gezwungen, Kompromisse sowohl mit Washington wie auch mit Rivalen innerhalb der EU einzugehen.
Die zentrale strategische Aufgabe der europäischen Bourgeoisie ist daher die verstärkte Entwicklung der EU als ein starker Herausforderer für die USA. Dazu muß sie einen qualitativen Schritt in Richtung einer ökonomisch wettbewerbsfähigen, politisch einheitlichen und militärisch (von den USA) unabhängigen Macht unternehmen und somit ein starker Mitspieler im globalen Spiel werden, der zur Herausforderung der USA fähig ist. Der Ausgang dieses Projekts des EU-Imperialismus, das in den nächsten paar Jahren umgesetzt werden soll, ist ausschlaggebend für die Herausbildung der EU als einem ernsthaften Konkurrenten für den US-Imperialismus.
Beginnen wir mit der wichtigsten Aufgabe der europäischen Bourgeoisie für ihr Projekt: der Niederringung der ArbeiterInnenklasse. Um gegen die USA zu bestehen, muß das europäische Kapital seiner ArbeiterInnenklasse eine strategische Niederlage zufügen, um so die Ausbeutungsrate substantiell zu erhöhen. Es muß die enormen Erfolge, die Reagan, Clinton und Bush in den letzten Jahre hatten, wiederholen. Damit sollen nicht die bisherigen– oft erfolgreichen – neoliberalen Angriffe der europäischen Bourgeoisie geleugnet werden. Aber sie sind bei weitem nicht genug, um den Vorsprung Amerikas aufzuholen.
Somit ist es die wesentlichste Aufgabe der europäischen Bourgeoisie, die Arbeitskosten extrem zu senken, um so den Mehrwert zu steigern. Das muß auf zwei Ebenen geschehen – erstens bei den real ausgezahlten Löhnen und zweitens bei den Sozialleistungen, die einen guten Teil des europäischen Lohnsystems ausmachen.
Da Europa der Kontinent mit der bestorganisierten und in diesem Sinne mächtigsten ArbeiterInnenklasse ist, werden die UnternehmerInnen es nicht schaffen, die Löhne und die sozialen Errungenschaften anzugreifen, ohne gleichzeitig die organisierte ArbeiterInnenbewegung – v.a. die Gewerkschaften – zu schwächen.
Die substantielle Erhöhung der Ausbeutung ist die Vorbedingung für jedwede Stärkung der europäischen Bourgeoisie auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Gebiet. Doch sie ist nur eine Vorbedingung und nicht an und für sich ausreichend.
Wie oben erwähnt, liegt das europäische Monopolkapital in der globalen Arena weit hinter seinem amerikanischen Mitstreiter. Zugegeben, es hat einen massiven Prozeß der Zentralisierung und Kapitalkonzentration in Europa gegeben. Als Resultat konnten die Monopole ihr Gewicht in der EU erhöhen. Darüber hinaus hat es einen Umverteilungsprozeß unter den großen Monopolen gegeben. Die deutschen und französischen Firmen konnten ihre Position auf Kosten der britischen und italienischen verbessern. Gemeinsam machen die deutschen und französischen Monopole mehr als 58% der Umsätze der Top 100 Konzerne aus. (26)
Dennoch ist das europäische Kapital viel schwächer als das der USA und es ist mit der Tatsache konfrontiert, daß es immer noch kein pan-europäisches Kapital gibt. Das europäische Kapital ist weiterhin national definiert, d.h. es spiegelt das Faktum wieder, daß die Überwindung der nationalen Grenzen noch nicht vollständig erfolgt ist.
Wir haben dieses Problem der europäischen Bourgeoisie bereits in den frühen 1990ern analysiert (27). Trotz zunehmender Anstrengungen Frankreichs und Deutschland ist hier noch kein durchschlagender Erfolg zu verzeichnen. Die einzige Ausnahme ist die europäische Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie – die imperialistischen Staaten haben sich auf eine Kooperation geeinigt und arbeiten gemeinsam an Airbus, Eurofightern und anderen Projekten.
Das deutet bereits auf eine wichtige Schlußfolgerung hin. Der Prozeß der europäischen Vereinigung kann kein spontaner sein – nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Es gibt kein organisches Erstarken eines pan-europäischen Kapitals. Wir leben nicht in der Periode des aufkommenden Kapitalismus, als Nationalstaaten geformt wurden und das Kapital sich darüber ausbreitete. Wenn ein Kapital nicht das Privileg hat, eines der ersten aufsteigenden kapitalistischen Mächte zu sein, braucht es massive staatliche Intervention, um sich eine entsprechende Position zu erkämpfen.
Heute in der imperialistischen Epoche, unter Bedingungen des globalen Kapitalismus mit seinem enormen Wettbewerb und Rivalität, ist jede organische Formierung transnationalen Kapitals eine Illusion. Wir dürfen nicht vergessen: die am meisten multinationalen, weltweit präsenten Kapitalien sind jene der führenden Weltmächte – der amerikanischen (und der britischen als früherer Weltmacht). Diese konnten die Märkte dank ihrer riesigen ökonomischen, politischen und militärischen Macht öffnen. Solch ein Prozeß ist innerhalb der EU unmöglich. Keine Macht ist stark genug, im Alleingang den anderen innerhalb der EU ihren Willen aufzuzwingen und sie zu unterwerfen.
Somit kann der Prozess der europäischen Vereinigung und die Schaffung eines pan-europäischen Kapitals nur das Ergebnis massiver, bewußter Intervention eines pan-europäischen imperialistischen Staatsapparats sein.
Aus all diesen Gründen ist die europäische herrschende Klasse gezwungen – „bei Strafe des Untergangs“ (Marx) -, einen einheitlichen europäischen Staatsapparat zu schaffen, um die EU als eine alternative Supermacht zu formieren und ihre Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse durchzusetzen. Die neue EU-Verfassung ist ein wesentliches Werkzeug zur Schaffung der Rahmenbedingungen für die dafür notwendigen Attacken des Kapitals.
Die Verfassung stellt klar, dass die neoliberale Doktrin maßgebend für die Wirtschaftspolitik der EU ist (28): „Die Mitgliedstaaten und die Union handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb…“ (Article III-70)
Sie bildet die gesetzliche Basis für eine sich über die Nationalstaaten erhebende europäische Staatsstruktur. Sie läßt keinen Zweifel daran, wo das neue Machtzentrum liegt. Artikel I-10 besagt: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.“ Jede nationale Gesetzgebung und Verfassung, alle nationalen Arbeitsgesetze, Kollektivverträge etc. wären daher den EU-Richtlinien untergeordnet.
Außerdem wird jeder Mitgliedsstaat durch jedes internationale Abkommen, das von der EU unterzeichnet wird, gebunden (z.B. Internationaler Währungsfonds oder Welthandelsorganisation): „Die Union besitzt Rechtspersönlichkeit.“ (Artikel I-6)
Und auch in Artikel I-9 und I-10 erklärt die Verfassung als eines ihrer „fundamentalen Prinzipien“ das „Prinzip der Subsidiarität“. Das bedeutet: „ Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus der Verfassung oder aus Handlungen der Organe der Union ergeben.”
Was also ist die Kompetenz der EU und was jene der nationalen Mitgliedsstaaten? Es gibt eine im Verfassungsentwurf sogenannte „exklusive Kompetenz“ für die EU: „Weist die Verfassung der Union für einen bestimmten Bereich ausschließliche Zuständigkeit zu, so kann nur sie gesetzgeberisch tätig werden und rechtlich bindende Rechtsakte erlassen; die Mitgliedstaaten dürfen in einem solchen Fall nur dann tätig werden, wenn sie von der Union hierzu ermächtigt worden sind, oder um von ihr erlassene Rechtsakte durchzuführen.“ (Artikel I-11). Das betrifft “die Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, die den Euro eingeführt haben, die gemeinsame Handelspolitik, die Zollunion, die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik.” (Artikel I-12)
Dann gibt es die Kategorie der “geteilten Kompetenzen”, für welche gilt: “Die Union teilt ihre Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten, wenn ihr die Verfassung außerhalb der in den Artikeln 12 und 16 genannten Bereiche eine Zuständigkeit zuweist.” Das betrifft den “Binnenmarkt, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Landwirtschaft und Fischerei, ausgenommen die Erhaltung der biologischen Meeresschätze, Verkehr und transeuropäische Netze, Energie, Sozialpolitik hinsichtlich der in Teil III genannten Aspekte, wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt, Umwelt, Verbraucherschutz, gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich des Gesundheitswesens.” (Artikel I-13).
Dazu kommt die Aufgabe der EU der “Koordination der Sozial- und Beschäftigungspolitik” und der Außenpolitik und Verteidigung: “Die Zuständigkeit der Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt sich auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität und achten die Rechtsakte der Union in diesem Bereich. Sie enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit schaden könnte.” (Artikel I-15).
Was als Kompetenzgebiet der Mitgliedsstaaten bleibt, sind – wir zitieren Artikel I-5 – die “grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.“ Mit anderen Worten, die Nationalstaaten beschränken sich auf die alleinige Funktion der inneren Unterdrückung.
Das Scheitern der Internationalen Regierungskonferenz im Dezember 2003 hatte seine Ursache in den Differenzen über die Verteilung der Nationalstaaten im Ministerrat. Aber das lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit vom viel grundlegenderen politischen Vorhaben ab. Denn es handelt sich nicht nur um einen simplen Transfer der politischen Macht von den Nationalstaaten zu einer neuen europäischen Staatsstruktur. Der Verfassungsentwurf, der zur Zeit von den Mitgliedsstaaten diskutiert wird, repräsentiert de facto ein supranationales bonapartistisches Projekt.
Die neue Zentralmacht des EU-Staatsapparats soll die Europäische Kommission sein: „ Europäische Gesetze und Rahmengesetze werden nach den in Artikel III-302 festgelegten Einzelheiten des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens auf Vorschlag der Kommission vom Europäischen Parlament und vom Ministerrat gemeinsam erlassen.” (Artikel I-33). Artikel I-25 drückt es explizit aus: “Soweit in der Verfassung nichts anderes festgelegt ist, kann ein Gesetzgebungsakt der Union nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden.”
Um es klar zu sagen: es ist die Europäische Kommission und niemand sonst, der dazu befugt ist, Gesetzesentwürfe dem Europäischen Parlament zu präsentieren. Das lässt die Macht des Parlaments näher an die russische Duma unter dem Zar rücken als an ein modernes bürgerliches Parlament, das der Souverän des Volkes sein soll. Die einzige Ausnahme davon ist: „Mindestens eine Million Bürgerinnen und Bürger aus einer erheblichen Zahl von Mitgliedstaaten können die Kommission auffordern, geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verfassung umzusetzen.”
In Wahrheit bedeutet das, daß es mit der neuen Verfassung eine massive Machtkonzentration in der Europäischen Kommission geben wird. Das Europäische „Parlament“ hat dann das Recht, dem zuzustimmen oder nicht. Doch hier muß der allgemeine Verfassungsrahmen in Betracht gezogen werden, der bereits die Umrisse für eine neoliberale, militaristische Politik vorgibt.
Wie wird diese Europäische Kommission gewählt? „Unter Berücksichtigung der Wahlen zum Europäischen Parlament schlägt der Europäische Rat diesem im Anschluß an entsprechende Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.” (Artikel I-26). Dann ernennt (!) der Kommissionspräsident 13 Kommissäre, die er aus einer Liste von 75, die die Mitgliedsstaaten erarbeitet haben, auswählt, ebenso wie andere Kommissäre.
Unter wessen Kontrolle agiert die Europäische Kommission? „Die Kommission übt ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit aus. Die Europäischen Kommissare und die Kommissare dürfen bei der Erfüllung ihrer Pflichten Anweisungen von einer Regierung oder einer anderen Stelle weder anfordern noch entgegennehmen.” (Artikel I-25). Die Möglichkeiten der Absetzung der Kommission durch das vom Volk gewählte Parlament sind äußerst beschränkt: „Wird wegen der Tätigkeit der Kommission ein Mißtrauensantrag eingebracht, so darf das Europäische Parlament nicht vor Ablauf von drei Tagen nach seiner Einbringung und nur in offener Abstimmung darüber entscheiden. Wird der Mißtrauensantrag mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit der Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments angenommen, so muß die Kommission ihr Amt niederlegen.” (Artikel III-243).
So führt die neue Verfassung zur Herausbildung eines imperialistischen EU-Staatsapparat auf der Basis eines bürgerlichen Parlamentarismus mit starken bonapartistischen Elementen in Form der Europäischen Kommission.
Während die Verfassung und die neuen EU-Strukturen die Nationalstaaten nicht überwinden werden – innerhalb der Kommission, des Rats und des Parlaments gibt es weiterhin ein Tauziehen um nationale Interessen -, repräsentieren sie nichtsdestotrotz einen wesentlichen Schritt vorwärts in die Bildung eines supranationalen europäischen Staatsapparats.
Eine ähnlich fundamentale Änderung kann auf dem Gebiet der Außen- und Militärpolitik beobachtet werden: Chirac und Schröder waren nicht aus altruistischen Gründen gegen den Irak-Krieg, sondern weil er die weltpolitische Macht der USA stärkte. Tatsächlich sieht die herrschende Klasse Europas ihre Rolle ganz klar nicht als regionaler Spieler, der nur von den USA als Weltpolizist abhängt, sondern als unabhängiger „global player“.
Der Kampf gegen den Terrorismus ist der ideale Vorwand dafür. Die neue Weltsicht der europäischen Herrschenden tritt offen zu Tage in der Rede des EU-Präsidenten Javier Solana vom Jänner 2004: „Verantwortung hat auch eine globale Dimension. Terroristische und kriminelle Netzwerke haben globale Reichweite. Wir können sie nur dann effektiv angreifen, wenn wir global denken und handeln. Der Großteil des in Europa verkauften Heroins stammt aus Afghanistan. Unsere innere und äußere Sicherheit sind unlösbar miteinander verbunden. Wenn wir unsere Bürger zu Hause schützen wollen, müssen wir darauf vorbereitet sein, im Ausland wirkungsvoll zu handeln. Vorbeugung ist der Kern dieses Zugangs.” (30)
Gegen die unilaterale Vorgangsweise der Regierung Bush sagte er in diplomatischen Worten: “Ich glaube, daß unsere zukünftige Sicherheit mehr – nicht weniger – von einem effektiven multilateralen System abhängen wird, einer regelgeleiteten internationalen Ordnung und gutfunktionierenden internationalen Institutionen. Multilateralismus ist kein Instrument der Schwachen. Es ist ein Instrument der Weisen.“
So ist es keine Überraschung, daß z.B. die neue Sicherheitsdoktrin Frankreichs sich das – einer früheren Kolonialmacht gebührende – Recht vorbehält, im Fall der Notwendigkeit „Präventivschläge“ zu setzen. Und die einflußreiche deutsche konservative „Konrad-Adenauer-Stiftung“ veröffentlichte neulich ein Dokument mit dem vielsagenden Titel „Vorbeugende Militäreinsätze“, in dem für die Notwendigkeit der Erkenntnis plädiert wird, daß neue Bedrohungen, eine neue militärische Doktrin in Form von „Präventivschlägen“ verlangen. (31)
Doch um eine Macht ähnlicher Größenordnung wie die USA zu werden, braucht Europa einen grundlegenden Wandel in seiner Militärpolitik. Während die USA mehr als 4% ihres Brutto-Inlandsprodukts für die Verteidigung ausgibt, verwendet Europa nur 1,5% seines (geringeren) Brutto-Inlandsprodukts. Es fehlt auch die notwendige Menge an professionellen Kräften sowie Interventionstaktiken. Außerdem gibt es in Europa viel mehr Widerstand der Arbeiterklasse und der Jugend gegen militärische Abenteuer.
Die neue Verfassung selber ist eindeutig bezüglich der Stärkung der militärischen Rolle und Fähigkeiten der EU. Militärische Aufrüstung wird zur verfassungsmäßigen Grundlage der Union erhoben: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“ (Artikel I-40). Man kann sich in den kommenden Jahren auf eine Kombination aus massiven Kürzungen im Sozialbereich und einem enormen Anstieg der Militärausgaben gefasst machen.
Worum es geht, wird in der Verfassung unumwunden ausgesprochen: um die Fähigkeit des europäischen Imperialismus, rund um den Globus Krieg zu führen, um seine politischen und ökonomischen Interessen („Werte“) zu verteidigen.
So ermächtigt die Verfassung die Union zum Führen von Kriegen sowie zu Militärinterventionen in Drittstaaten um den „Terrorismus zu bekämpfen“: „Die in Artikel I-40 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“ (Artikel III-210)
Und sie erlaubt den Gebrauch der europäischen Streitkräfte der Union „zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen“ (!) (Artikel I-40). Und zwar sowohl weltweit als auch innerhalb der Europäischen Union. Mit anderen Worten: die neue Verfassung legitimiert die herrschende Klasse hochoffiziell, ihre Streitkräfte nicht nur zur Verfolgung ihrer strategischen Interessen gegen halb-koloniale Völker in der III. Welt einzusetzen, sondern auch als Bürgerkriegsarmee innerhalb der Europäischen Union!
Wie auf anderen Gebieten hat weder das Europäische noch irgendein nationales Parlament irgend etwas bei den militärischer Interventionen der EU mitzureden. Die Entscheidungen werden vom Ministerrat getroffen.
Die EU war sogar noch deutlicher in ihrer Resolution beim Gipfeltreffen in Athen im Sommer 2003. Dort wurde eine neue Militärdoktrin verabschiedet, die die europäische Version der Strategie des „Präventivschlags“ erlaubt.
Die Verfassung gebietet auch eine Zentralisierung der militärischen Anstrengungen. Konkret soll ein Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet werden, um Investitionen, Forschung und Technologie für die Verteidigung besser koordinieren zu können.
Doch bezüglich der Frage der militärischen Unabhängigkeit Europas von den USA repräsentiert die Verfassung eher einen Kompromiß zwischen dem deutsch-französischen Block und den pro-atlantischen Kräften. Sie bestätigt ausdrücklich die gemeinsame Verteidigungspolitik mit der NATO, doch gleichzeitig erlaubt sie den einzelnen Staaten, eigene Militärkörper zu bilden.
Klar ist, daß Deutschland und Frankreich entschlossen sind, die Bildung einer unabhängigen europäischen Militärpolitik voranzutreiben. Die Schaffung einer Interventionstruppe von 60.000 Soldaten, die innerhalb von 60 Tagen mobilisierbar ist, war ein erster Schritt in diese Richtung. Und die Operation Artemis im Kongo war ein Test der Operationsfähigkeit.
Teil dieser Neuorientierung ist die Abschaffung des Systems der Wehrpflicht in den meisten europäischen Ländern und der Aufbau einer Berufsarmee. Natürlich wäre eine solche für Auslandseinsätze besser ausgebildet und motiviert.
Europas herrschende Klasse hat verstanden, daß sie, wenn sie Amerika schlagen will, genauso werden muß und ihre bewaffneten Kräfte massiv erhöhen, sie in kriegsfähige Armeen umstrukturieren, seine Verteidigungsindustrie neu organisieren und die Militärdoktrin in Richtung „Präventivschlag“ ändern muß. Um Amerika zu schlagen, muß Europa wie Amerika handeln.
Der Beitritt von 10 neuen Staaten zur Europäischen Union stellt einen grundlegenden Einschnitt sowohl für die Herrschenden als auch für die Lohnabhängigen und Jugendlichen dar. Die Mächtigen in Staat und Wirtschaft wollen dadurch ihre Profite und ihren Einflußbereich steigern. Dies wird ihnen auch gelingen, wenn die ArbeiterInnenbewegung und die anti-kapitalistische Bewegung keine Abwehrstrategie dagegen entwickelt.
Worin liegt die Bedeutung der neuen – zumeist osteuropäischen – Beitrittsländer für die europäische Bourgeoisie? Wie wir oben gezeigt haben, besteht ein Vorteil des US-amerikanischen Kapitals darin, viele billige Arbeitskräfte zu haben (ImmigrantInnen, Mexiko als Haus- und Hof-Halbkolonie im Rahmen des NAFTA). Ebenso dringend braucht auch das europäische Kapital billige Arbeitskräfte. Die neuen Beitrittsländer mit ihren 67 Millionen EinwohnerInnen stellen für das westeuropäische Kapital ein großes Reservoir solch billiger Arbeitskräften dar. Damit können die UnternehmerInnen die Lohnkosten drücken und am Weltmarkt konkurrenzfähiger sein. Ein Blick auf die Unterschiede bei den Lohnkosten zeigt den Vorteil für das Kapital.
EU-15……………………………………22,21
Estland…………………………………..3,03
Lettland………………………………….2,42
Litauen…………………………………..2,71
Polen…………………………………….4,48
Tschechische Republik……………..3,90
Slowakei…………………………………3,06
Ungarn…………………………………..3,83
Slowenien………………………………8,98
Zypern………………………………….10,74
Wie Tabelle 8 zeigt, sind die osteuropäischen ArbeiterInnen pro Stunde um das 6-10fache billiger als ihre KollegInnen in der alten EU! Dementsprechend groß ist natürlich der Anreiz für das EU-Kapital, seine Produktionsstätten in den Osten zu verlegen.
Es ist daher auch kein Zufall, daß in den letzten 15 Jahren – seit der Wiedereinführung des Kapitalismus in Osteuropa – das europäische Kapital große Investitionen in Osteuropa tätigte. Diese werden jetzt mit dem völligen Wegfall der Grenzen wohl noch zunehmen.
Hinzu kommt noch der Bedarf an billigeren Arbeitskräften in Westeuropa selber angesichts der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Laut einer EU-Studie soll die Zahl der arbeitsfähigen Bevölkerung in den kommenden 25 Jahren um 5% zurückgehen. Forderungen der österreichischen Industriellenvereinigung nach ausländischen ComputerexpertInnen oder die Diskussionen in Deutschland um die sogenannte „Green Card“ sind nur Beispiele für diese Entwicklung. Auf einer EU-Konferenz 2001 präsentierte der französische Innenminister eine Studie, laut der die EU in den nächsten 50 Jahren 50-70 Millionen ImmigrantInnen bräuchte.
Kurz und gut: So wie die USA mit Mexiko und Lateinamerika ihren Hinterhof haben, so verschafft sich das europäischen Monopolkapital durch die EU-Osterweiterung sein halb-koloniales Hinterland, wo es billig produzieren kann.
Die gesamte Geschichte des Kapitalismus zeigt, dass Allianzen zwischen Staaten nur gebildet werden können, wenn es eine klare Führungsmacht gibt. Das stimmt noch mehr für neue Suprastaatstrukturen. In der Tat ist dies ein wichtiger Grund für die langsame Entwicklung der Integration der EU, die es nun schon seit fast fünf Jahrzehnten gibt. Im Gegensatz dazu hatte die NATO als ein von den USA dominiertes Militärbündnis oder die ebenso von Amerikas herrschender Klasse dominierte NAFTA nie derlei Probleme.
Für die Zukunft der EU als ein politisch, ökonomisch und militärisch einheitlicher imperialistischer Block gilt folgende Formel: das imperialistische Europa kann nur um Deutschland und Frankreich als Kern herum vereint werden oder es wird nie vereint sein. Deutschland und Frankreich sind die stärksten und europäischsten Kräfte. Während Britannien die dritte starke Macht ist – sowohl ökonomisch wie militärisch -, ist seine herrschende Klasse bezüglich ihrer Orientierung tief gespalten. Ein wesentlicher Sektor – die City und die großen Multis wie BP oder Shell – haben Interessen in Weltregionen, wo die EU keinen Einfluss besitzt, die USA hingegen umso mehr. Dieser Sektor favorisiert daher eine Allianz mit den USA anstatt mit Deutschland und Frankreich. Solange die britische Bourgeoisie diese Spaltung nicht gelöst hat – die keine einfache Meinungsverschiedenheit ist, sondern sehr materielle Interessen betrifft und daher sehr schwer zu lösen ist -, so lange kann sie den Integrationsprozess verlangsamen, aber keine treibende, führende Kraft werden.
Doch das Führungsproblem liegt nicht nur in einer mangelnden „natürlichen“ Vorherrschaft Deutschlands oder Frankreichs. Es wird verschärft durch die aktive und bewusste Intervention des US-Imperialismus. Die USA hat ein natürliches Interesse an sich vertiefenden Spaltungen innerhalb der EU und daran, die EU daran zu hindern, eine Herausforderung für sie zu werden, wie es auch in der Strategie der nationalen Sicherheit 2002 unter Bush formuliert wurde. Die tiefe Kluft innerhalb der EU hinsichtlich des Irak-Kriegs und der Teilnahme an der Besatzung zeigten das auf dramatische Weise.
Die politischen Auswirkungen des Bombenanschlags in Madrid am 11. März und des politischen Erdbebens, das dadurch in Spanien mit der Niederlage der spanischen Pudel Aznar und der Wahl der pro-europäischen Regierung PSOE hervorgerufen wurde, kann einen grundlegenden Effekt für die Beschleunigung der europäischen Einigung bewirken. Aber es ist zu früh um zu sagen, ob das eine dauerhafte Neuorientierung der spanischen Bourgeoisie weg von Washington und hin auf Berlin/Paris eröffnet.
Letztendlich stellt sich die einfache strategische Frage: Haben die USA genug, das sie mit anderen imperialistischen Verbündeten ausreichend teilen können? Ist der US-Imperialismus in der Position, dem italienischen, spanischen oder britischen Kapital mehr anbieten zu können als eine vereinte EU unter deutsch-französischen Führung mit der enormen ökonomischen Integration bewirken könnte?
Versuchen wir aus der bisherigen Analyse einigen Schlussfolgerungen abzuleiten. Wenn wir die Hauptstränge formulieren müssen, die über das Schicksal des Projekts der Schaffung eines vereinten imperialistischen Blocks EU entscheiden, so können wir folgende Punkte anführen:
• Der Erfolgsgrad der europäischen Herrschenden gegen ihre Arbeiterklasse – Privatisierung, Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, Angriffe auf Pensions-, Gesundheits- und andere soziale Systeme… und eine allgemeine Schwächung der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung insgesamt.
• Der Charakter der künftigen europäischen Verfassung und ob sie den nötigen Grad an Zentralisierung ermöglicht, d.h. klare Dominanz der großen Mächte (hauptsächlich des deutsch-französischen Blocks) über den Rest.
• In Zusammenhang damit die Frage, wie weit es dem französisch-deutschen Block gelingt, das „neue“ Europa (Spanien, Italien, die neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten) zu re-integrieren, d.h. zu unterwerfen.
Das sind alles Fragen, die nicht im Vorhinein entschieden werden, sondern in der Arena des weltweiten Klassenkampfes ihren Ausgang finden werden.
Die EU-Bourgeoisie muss und wird die Arbeiterklasse massiv angreifen. Wie wir wiederholt hervorgehoben haben – die Erhöhung der Ausbeutungsrate ist die conditio sine qua non für jedwedes erfolgreiche imperialistische Projekt für die EU als globaler Herausforderer für die USA. Diese Angriffe, die einen strategischen Charakter haben, werden höchstwahrscheinlich Massenkämpfe bis hin zu vor-revolutionären Krisen in Europa hervorrufen. Um diesen Prozess grundlegend umzukehren, wäre ein größerer Schritt im Klassenkampf einschließlich der Herausforderung der politischen Macht der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse und die Jugend nötig – mit anderen Worten eine revolutionäre Krise.
Doch die Arbeiterbewegung steckt in einer fürchterlichen Führungskrise. Die Situation ist gekennzeichnet durch den Verrat der RechtsreformistInnen, die Ohnmacht und Feigheit der LinksreformistInnen und ZentristInnen sowie – und vor allem – das Fehlen einer starken revolutionären Partei. Somit ist der Aufbau eines ausreichenden Widerstands der Klasse in den nächsten Jahren eine wichtige, aber auch schwierige Aufgabe.
Doch massive Klassenkämpfe können die Angriffe und das Projekt der EU-Bonzen zumindest verlangsamen oder ändern.
Auch darf das Ausmaß der innerimperialistischen Konflikte der EU, im Besonderen zwischen Deutschland-Frankreich einerseits und Italien, Spanien, Britannien (wo ernstzunehmende Teile der herrschenden Klasse eine engere Allianz mit den USA bevorzugen) andererseits nicht unterschätzt werden.
Wir können das folgende „Gesetz“ aufstellen: Je erfolgreicher die europäische Bourgeoisie der Arbeiterklasse Angriffe und Niederlagen zufügt, umso leichter ist für sie die Schaffung eines vereinten imperialistischen europäischen Blocks und einer entsprechenden Staatsstruktur (unter französisch-deutscher Führung).
Oder umgekehrt: je stärker der Widerstand der Arbeiterklasse ist und die kapitalistischen Versuche fehlschlagen, die Ausbeutungsrate ausreichend zu erhöhen, umso geringer sind die Chancen des französisch-deutschen Blocks, den Rest Europas zu unterwerfen.
Aus all dem folgt auch, dass der Klassenkampf insbesondere der deutschen und der französischen Arbeiterklasse von strategischer Bedeutung ist, weil sie im Herzen der europäischen Bestie sitzen.
Eine Verlangsamung des Integrationsprozesses könnte zur Bildung eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ führen, also einer Differenzierung innerhalb der EU mit der Formierung eines „Kerneuropas“ um Frankreich und Deutschland. Die anderen imperialistischen Mächte wie Britannien, Spanien und Italien würden sich dann als Junior-Mächte um die USA scharen.
Es versteht sich von selbst, dass wir hier zwei mögliche Pole skizzieren und dass es daher natürlich viele denkbare Zwischenvarianten und Kombinationen geben kann. Ebenso darf nicht vergessen werden, dass wir hier von keinem kurzfristig fixierten Endzustand sprechen, sondern von einem Prozess, der die europäische Entwicklung in den kommenden Jahren mit Fortschritten und Rückfällen kennzeichnen wird.
Die Beziehung zwischen den USA und Europa wird in der kommenden Periode von Konflikten und Manövern gekennzeichnet sein, aber nicht von offenen militärischen Zusammenstößen. Die EU ist einfach zu schwach, um offen gegen den Konkurrenten auf der anderen Seite des Atlantik in die Schlacht zu ziehen. Je stärker die herrschende Klasse innerhalb der Union auf Kosten der Arbeiterklasse wird, umso selbstbewusster wird sie Washington gegenüberstehen.
Ein anderer Faktor in dieser Gleichung ist die Zukunft der nationalen Befreiungskämpfe besonders des irakischen und des palästinensischen Volks. Je mehr Schläge die USA und ihre zionistischen Verbündeten an dieser Front einstecken müssen, umso mehr wird sich die EU von den „gierigen und arroganten Yankees“ distanzieren.
Verschiedene Entwicklungen sind in der Beziehung zwischen dem US- und dem europäischen Imperialismus möglich. Doch in den nächsten paar Jahren wird die Hegemonie des US-Imperialismus ohne Herausforderung bleiben. Es gibt für ihn zwar enorme Widersprüche und Schwierigkeiten. Aber sie sind Ergebnis der allgemeinen Krise des weltweiten Kapitalismus und betreffen somit nicht nur die USA, sondern ebenso alle anderen kapitalistischen Mächte. Um in eine Position zu kommen, in der sie die USA herausfordern kann, muss die europäische Bourgeoisie erst ihre Arbeiterklasse zerschlagen und mit ihrem Vereinigungsprojekt fortfahren. Das kann Jahre dauern und wir müssen uns auf eine länger andauernde, von Widersprüchen gekennzeichnete Periode mit vielen Fortschritten und Rückschlägen, Kompromissen usw. einstellen. Wenn die europäischen UnternehmerInnen mit ihrem Projekt versagen, stehen wir einem imperialistischen Europa im Todeskampf gegenüber – ähnlich wie früher das niedergehende britische Kolonialreich.
Zusammengefasst: für die europäische Monopolbourgeoisie besteht das Problem darin, dass sie, um Amerika herausfordern zu können, Europa „amerikanisieren“ muss. Sie muss die gesellschaftlichen Beziehungen entsprechend dem neoliberalen Modell, das jenseits des Atlantiks verwirklicht wurde, transformieren. Sie muss sich eine aggressive militaristische Außenpolitik zu eigen machen. „Amerikanisierung oder Niedergang“ lautet die Alternative.
Aber im Gegensatz zu ihrem Widerpart ist die herrschende Klasse Europas mit einer viel stärkeren und politisierteren Arbeiterklasse und antikapitalistischen Bewegung konfrontiert und sie besitzt weder einen bereits vereinten Staatsapparat noch ein nennenswertes supranationales Kapital.
Was immer der Ausgang dieses Prozesses sein wird, eines ist klar: Europa wird in den kommenden Jahren gewaltige Veränderungen durchmachen. Auf die eine oder andere Weise wird das politische und soziale Gefüge Europas in 5 bis 10 Jahren völlig anders aussehen als jetzt. Für die europäische herrschende Klasse besteht eine ähnliche Herausforderung wie für die Weltbourgeoisie: in ihrem Bestreben, ihre Herrschaft zu stabilisieren und auszudehnen, muss sie die sozialen Strukturen erschüttern. Um die Profitrate grundlegend zu erhöhen, um neue Märkte zu gewinnen, um einen homogenen imperialistischen EU-Block zu schaffen, muss die herrschende Klasse die ganzen etablierten sozialen Strukturen der Gesellschaft umwälzen: sie muss die Ausbeutungsrate der Arbeiterklasse und der Halbkolonien radikal steigern. Doch auf diesem Weg der Zerstörung der sozialen und politischen Errungenschaften der Arbeiterklasse und der Unterdrückten provoziert die Bourgeoisie unweigerlich massiven Widerstand bei fast allen anderen Klassen und Schichten.
Nur wenn die europäische Arbeiterklasse sich mit aller Entschlossenheit gegen die Angriffe der Bourgeoisie wehrt, nur wenn sie Spaltung in west- und osteuropäische Werktätige überwindet, nur wenn sie die herrschende Klasse in einer erfolgreichen Revolution stürzt, kann sie ein für alle Mal Schluss machen mit dem System der Ausbeutung und Unterdrückung und Europa wirklich vereinigen: in Form der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.
(1) ILO: A Fair Globalization: Creating Opportunities For All (2004), S. 36
(2) Minqi Li: After Neoliberalism: Empire, Socialdemocracy or Socialism? In: Monthly Review, Vol. 55, Number 8, January 2004, http://www.monthlyreview.org/0104li.htm
(3) Andrea Boltho: What‘s wrong with Europe? In: New Left Review, July-August 2003, S. 17
(4) Gérard Duménil and Dominique Lévy : The Economics of U.S. Imperialism at the Turn of the 21st Century (2004) http://www.cepremap.ens.fr/~levy/biblioa.htm
(5) Gérard Duménil and Dominique Lévy : Neoliberal Dynamics: A New Phase? (2004) http://www.cepremap.ens.fr/~levy/biblioa.htm
(6) Gérard Duménil and Dominique Lévy : Neoliberal Dynamics – Imperial Dynamics (2003) http://www.cepremap.ens.fr/~levy/biblioa.htm
(7) Siehe dazu: Gérard Duménil and Dominique Lévy : Neoliberal Dynamics – Imperial Dynamics (2003) http://www.cepremap.ens.fr/~levy/biblioa.htm
(8) EUROSTAT: Porträt der Wirtschaft der Europäischen Union 2002, S.57, http://europa.eu.int/comm/eurostat/Public/datashop/print-catalogue/DE?catalogue=Eurostat&product=KS-AI-02-001-__-N-DE; International Herald Tribune 4.3.2004, p.4; http://www.census.gov/
(9) EUROSTATAT: Die Europäische Union und ihre Stellung in der Welt, S.16; http://www.eu-datashop.de/
(10) The Business Week Global 1000; in: Business Week 14.7.2003
(11) Robert Brenner: The Boom and the Bubble. The US in the World Economy, London/New York 2002, S. 47
(12) UROSTATAT: Die Europäische Union und ihre Stellung in der Welt, S.26; http://www.eu-datashop.de/
(13) Richard B. Du Boff: Notes on the American Dream, 27 October, 2003, http://musictravel.free.fr/political/political41.htm
(14) Andrea Boltho: What‘s wrong with Europe? In: New Left Review, July-August 2003, S. 17
(15) Siehe Eva Belabed: Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen; in: Wirtschafts- und Sozialpolitische Zeitschrift WISO (Oktober 2003), S. 24
(16) Richard B. Du Boff: Notes on the American Dream, 27 October, 2003, http://musictravel.free.fr/political/political41.htm
(17) Fred Mosley: The United States Economy at the Turn of the Century: Entering a new Era of Prosperity? In: Capital&Class 67 (Spring 1999), S. 25f
(18) Robert Brenner: Towards the precipice; in: London Review of Books, February 6 2003, http://www.lrb.co.uk/v25/n03/bren01_.html
(19) See Gérard Duménil and Dominique Lévy: The Neoliberal (Counter-)Revolution (2004) http://www.cepremap.ens.fr/~levy/biblioa.htm
(20) Siehe: Kevin Phillips: Die amerikanische Geldaristorkratie (2003) S. 160 und S. 174
(21) Niall Ferguson: Why America Outpaces Europe (Clue: The God Factor), New York Times, June 8, 2003, http://www.econ.brown.edu/~asanz/global_03/culture_incentives.pdf
(22) Danielle Checci and Claudio Lucifora: Unions and Labour Market institutions in Europe (2002), S. 379; http://www.ires.ucl.ac.be/IRESnet/Research/Axe4/Checchi.pdf; die Zahlen für die USA: http://www.jil.go.jp/english/estatis/eshuyo/200312/e0702.htm, http://www.demographia.com/lm-unn99.htm
(23) Niall Ferguson: Why America Outpaces Europe (Clue: The God Factor), New York Times, June 8, 2003
(24) WTO: World trade developments in 2002 and prospects for 2003, S. 16, http://www.wto.org
(25) EUROSTAT: Porträt der Wirtschaft der Europäischen Union 2002, S. 71
(26) Siehe dazu Martin Suchanek: Der deutsche Imperialismus heute; in: Revolutionärer Marxismus, Nr.33 (März 2003), S. 74-80. Der Revolutionäre Marxismus ist das deutschsprachige theoretische Organ der Liga für die 5. Internationale und kann über unsere Kontaktadresse bezogen werden.
(27) Siehe Keith Harvey: Maastricht and beyond: a capitalist United States of Europe?; in: Trotskyist International Nr. 10 (1993). Der Trotskyist International war das frühere englisch-sprachige theoretische Organ der LRKI, der Vorläuferin der Liga für die 5. Internationale.
(28) Im folgenden zitieren wir den am 18. Juli 2003 veröffentlichten Verfassungsentwurf, da die endgültige Version der im Juni 2004 angenommenen Verfassung noch nicht vorliegt. In den für uns hier relevanten Punkten haben jedoch unseres Wissens nach keine bedeutenden Veränderungen stattgefunden.
(29) Alle Zitate aus: EUROPÄISCHER KONVENT: Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa (Entwurf 18.7), european-convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf; engl: THE EUROPEAN CONVENTION: Draft Treaty establishing a Constitution for Europe, http://register.consilium.eu.int/pdf/en/03/cv00/cv00850en03.pdf
(30) Kommentare von EU-Präsident Javier Solana auf den Europäischen Nationalforum, Dublin Castle am 8.Jänner 2004 – http://ue.eu.int/pressdata/EN/discours/78600.pdf
(31) Karl-Heinz Kamp: „Vorbeugende Militäreinsätze (Preemptive Strikes). Eine neue sicherheitspolitische Realität?“ Arbeitspapier Nr. 120/2004, herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Jänner 2004, http://www.kas.de/publikationen/2004/3830_dokument.html
(32) Enorme Unterschiede bei den Arbeitskosten in der EU, Wiener Zeitung 19.3.2004