Thesen der Liga für die Fünfte Internationale, Juni 14, Revolutionärer Marxismus 46, Oktober 2014
Der 3. Jahrestag des Ausbruchs der arabischen Revolutionen gab wenig Anlass zu Freudenfesten. Die Ereignisse in Ägypten, Syrien und Libyen markierten den Vormarsch einer Konterrevolution in unterschiedlichen Formen, die die meisten Hoffnungen und Errungenschaften von 2011 zermalmt hat.
In Ägypten wurde nach dem Putsch gegen den gewählten Präsidenten Mohammed Mursi unter dem Oberbefehl des Kommandeurs Abdel Fattah al-Sisi eine blutige Vergeltungskampagne gegen die Moslembruderschaft (MB) lanciert. Im August wurden Hunderte von der Armee getötet, als sie die Lager des Protestes auf den Plätzen Rabaa Al-Adawiya und al-Nahda auflöste.
Am 3. Jahrestag der Revolution brachten Polizei und Militär mehr als 50 MB-UnterstützerInnen um. AnhängerInnen der Jugendorganisationen, die die Revolution lostraten, wurden geschlagen und mittels Pfefferspray von den Straßen gejagt, um sie daran zu hindern, den Tahirplatz zu erreichen. Dieses mächtige Volksmachtsymbol war für jene reserviert, die al-Sisi aufforderten, sich zur Präsidialwahl zu stellen. AktivistenanführerInnen der Revolution vom 25. Januar wie Ahmed Maher, Ahmed Douma und Mohamed Adel von der Bewegung 6. April sind verhaftet und eingesperrt worden. Ihnen wird vorgeworfen, Demonstrationen ohne polizeiliche Erlaubnis organisiert zu haben.
Tausende sind interniert und es gibt Berichte über ausgedehnte Foltermaßnahmen und ungesetzliche Tötungen. Ein Gericht verurteilte 528 Mursi-UnterstützerInnen zum Tode: weitere 700 vergleichbare Prozesse stehen noch an. Selbst wo die Urteile abgewandelt wurden, zeigen sie ein Ausmaß an Unterdrückung, das der frühere Diktator Hosni Mubarak nicht zu versuchen wagte. Die Tatsache von al-Sisis Wahl zum Staatspräsidenten unterstreicht nur den zutiefst konterrevolutionären Charakter der Geschehnisse seit dem Juliputsch. Der Staatstreich erfolgte in nicht geringem Umfang nicht nur dank der Rückendeckung von bürgerlichen Liberalen wie Mohammed El Baradei und Hamdeen Sabahi, sondern auch durch viele verworrene Revolutionäre aus 2011.
In Syrien haben das Regime Bashar Al-Assads und seine russischen, iranischen und libanesischen Protegés die Revolution in einen blutigen Bürgerkrieg verwandelt.. Schätzungen bewegen sich zwischen 100000 und 150000 Toten. 2 Millionen sind aus dem Land geflohen, 2/3 davon Frauen und Kinder. Zusätzlich sind 4 Millionen innerhalb des Landes vertrieben worden. In einem Land mit 22,5 Millionen EinwohnerInnen ist ein Viertel aus ihren Häusern verjagt worden.
Das Veto des russischen Imperialismus im UN-Sicherheitsrat, seine Lieferungen von Waffen und anderem Nachschubmaterial für Assad plus das Eingreifen von kampferprobten Hisbollah-Guerillas aus dem Libanon und der Revolutionären Garden aus dem Iran, sind maßgeblich für die Erfolge der Konterrevolution gewesen. Zur Zeit bleibt das die hauptsächliche imperialistische Intervention in Syrien, nicht die verbale Gestik von Obama, Cameron oder Hollande.
Letztere haben der Anti-Assad-Rebellion herzlich wenig materielle Hilfe gewährt. Tatsächlich hat ihre Furcht vor der unausweichlichen Bewaffnung ‚Al Khaidas‘, also irgendwelchen radikal-islamischen Kämpfern, sie davon abgehalten, überhaupt jemanden zu bewaffnen. Was an Nachschub kam, stammte aus Katar, Saudi-Arabien und der Türkei, die diesbezüglich weit davon entfernt sind, bloße Marionetten des weißen Hauses zu sein. Das wird dadurch bezeugt, dass ihre Hilfe an die verschiedenen Strömungen von IslamistInnen floss, die ihnen am nächsten stehen und die die USA mehr fürchten als das Assad-Regime.
Doch die große Zahl sunnitischer Dschihadisten – einheimische wie auswärtige – wie die Al-Nusra-Front und die noch bösartigere ISIS, ob sie nun Assad attackieren oder nicht, handelt als ‚Konterrevolution innerhalb der Revolution‘, begeht kommunalistische Gräueltaten und greift die Freie Syrische Armee (FSA) und die örtlichen Revolutionskomitees an. Sie sind auch ein Indikator für das starke reaktionäre Rückfluten, welches die Revolutionen des arabischen Frühlings befallen hat. Die aktuelle ISIS-Offensive im Irak hat überhaupt keinen fortschrittlichen Gehalt. Sie ist vielmehr geprägt durch einen umfassend sektiererischen Bürgerkrieg. Trotzdem müssen RevolutionärInnen jede Intervention seitens der USA und ihrer Verbündeten oder durch den Iran, um das nicht weniger reaktionäre Maliki-Regime zu festigen, verurteilen, sich ihr entgegenstellen.
In Bahrain schmachten die AktivistInnen von 2011 immer noch im Gefängnis, am berühmtesten die Bahrain 13. In Libyen zanken sich islamistische und Stammesverbände um die Beute der Revolution. In anderen arabischen Ländern herrscht tödliches Schweigen.
Nur in Tunesien schlagen gegenwärtig die Kräfte der Gewerkschaften, Jugend und Linken die Übergriffe sowohl der Feloul (Überbleibsel des alten Regimes) und islamistischer KonterrevolutionärInnen nieder. Aber auch hier haben sie sich in enorme politische Gefahr begeben, indem sie eine Übergangsregierung tragen, die verpflichtet ist, IWF-‚Reformen‘ umzusetzen. Ohne politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und Antikapitalismus könnte die Stärke tunesischer ArbeiterInnen auch durch die islamistische Demagogie radikalerer Salafistenbewegungen wie Ansar a-Sharia geschwächt werden, die unter Arbeitslosen und der Armut aktiv ist.
In der Huffington Post bemerkte Al Jazeeras Chefanalyst Marwan Bishara: „Die schrecklichen Rückschläge in diesen beiden bedeutenden arabischen Nationen haben das Entzücken über die Revolution deutlich gedämpft und das Versprechen von Wandel unterhöhlt, wenn dieser noch mehr Instabilität, Gewalt und Verzweiflung mit sich getragen hat.“ Viele prominente AktivistInnen, besonders die in Ägypten eingekerkert sind für ihren Protest gegen die Repression im Gefolge von al-Sisis Coup vom 3. Juli, haben ihre Verzweiflung über die Ereignisse artikuliert, die ihre Hoffnungen scheinbar haben umschlagen lassen.
Ahmed Mader, Gründer der Bewegung 6. April, schrieb: „Alles ist zusammengebrochen.“ An eine zukünftige Generation JugendaktivistInnen gerichtet, schrieb er: „Statt dass eure Generation die Früchte des 25. Januar erntet, ist nun die Reihe an euch, von vorne anzufangen, nachdem der 25. Januar ausgemerzt wurde.“
Tatsächlich nützt es nichts, vorm Vorrücken der Kräfte der Konterrevolution die Augen zu verschließen. Den Irrtümern und Verbrechen der liberalen wie islamistischen Gruppierung zum Dank, die sich kurzfristig der Revolution bemächtigen konnten, formieren sich Herrschaftsgebilde ähnlich denen vor 2011 erneut. Was in Ägypten etwa im ersten Jahr unter al-Sisis Präsidentschaft abläuft, wird entscheidend sein.
Die Wirtschaftsprobleme des Landes könnten schnell Teile seiner Massenbasis entfremden. Das garantiert aber nicht die Herausbildung einer wirksamen Opposition gegen seine Herrschaft. Die opportunistische und fehlerhafte Politik der unabhängigen Gewerkschaften und der Linken bedeutet ein akutes Fehlen einer prinzipienfesten Führung, die eine Widerstandsstrategie gegen al-Sisi ausarbeiten kann.
Die Konfusion der extremen Linken und der Arbeiterbewegung ist enorm. Z. B. unterstützten die Revolutionären SozialistInnen al-Sisis Amtsenthebung von Mursi ein Jahr, nachdem sie 2012 zu dessen Wahlunterstützung aufgerufen hatten, um Ahmed Shafik, ‚den Kandidaten der Feloul‘, zu stoppen. Nachdem sie selbst Opfer der brutalen Unterdrückung geworden waren, gewährten sie bei der Präsidialwahl 2014 Hamdeen Sabahi Gefolgschaft, dem zahmen Oppositionskandidaten, der al-Sisis Repression der MB befürwortete. Ebenso war der unabhängige Gewerkschaftsführer Kamal Abu-Eita für al-Sisis Staatsstreich und trat sogar als Arbeitsminister in dessen erstes Kabinett ein.
In den anderen wichtigen Staaten des arabischen Frühlings sind unterschiedliche Grade von Stillstand, Rückzug oder Niederlage der genuin revolutionären Kräfte gleichfalls nicht zu leugnen. Die demokratische Jugend und die ArbeiterInnen, die die revolutionären Bewegungen inszenierten, sind in den Hintergrund abgeschoben worden oder erlitten Märtyrertum in schockierendem Maß.
Die Vorstellung, Zugang zum Internet oder Satellitenfernsehen, die Nutzung ’sozialer Netzwerke‘ könnten als Schlüssel für unwiderrufliche demokratische Transformation fungieren, erfuhr eine gründliche Abfuhr. Die Illusion, spontane, friedliche Revolutionen, ohne Programm oder Anleitung durch politische Parteien, könnten diese Länder umkrempeln, ist gleichfalls durch die Geschehnisse widerlegt. Alte bürokratische Institutionen, die Armee, die islamistischen Parteien, sogar kommunalistische Mörderbanden waren fähig, die großen Massenerhebungen, die von den Jungen vorbereitet und ausgelöst wurden, zu entern..
Gleichfalls weit vom Schuss ist es, für diese Niederlagen einzig die Verschwörung durch den US-Imperialismus und seine Verbündeten zu beschuldigen. Tatsächlich erwies sich das Handeln der Westmächte, vollständig konterrevolutionär in ihren Absichten, als eigentümlich unangemessen und wirkungslos. Jene Linken, die meinen, der Imperialismus existiere nur in der Einzahl, können kaum verstehen, was vor sich geht.
Die Heerscharen der Konterrevolution erfahren machtvolle Hilfe vom russischen und chinesischen Imperialismus und ihren iranischen und – zu einem gewissen Teil – irakischen Klienten. Darüber hinaus verfolgen oft alte Alliierte der USA – Türkei, Saudi-Arabien, Golfstaaten wie Katar plus Israel – eine Politik, die den Wünschen der USA zuwider läuft. Obwohl sie oft entgegen gesetzte Seiten stärken, suchen alle diese Faktoren, eine Konterrevolution durchzudrücken, die ihre Interessen vorwärts bringt, indem sie den arabischen Revolutionen ein Ende setzen.
Doch trotz blutiger Rückschläge, politischer Verwirrung und Paralyse sind die Triebkräfte, die die Revolutionen 2010-11 starteten, noch nicht vollständig erschöpft. Die Gruppierungen der Konterrevolution sind weder allmächtig noch haben sie volle Kontrolle. Im folgenden Jahr werden sie vor denselben Problemen stehen wie sie die vorherigen Regimes erlebten: die Schwierigkeit, die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Nöte breiter Massen zu beseitigen. In Syrien zeigt allein, dass Assad auf iranische und libanesische Hisbollah-Truppen angewiesen ist, sein Rückgriff auf das Schüren sektiererischer Massaker, dass seine Kräfte zum Zerreißen gespannt sind.
In Ägypten konnte sich Abdel Fattah al-Sisi nur dank einer unheiligen und instabilen Allianz aus den Feloul und Liberalen etablieren, die sich zu einem ‚Ritt auf dem Tiger‘ des Militäroberkommandos aufmachten und unfähig sind, eine eigene soziale Basis zu schaffen. Wenn die Massen sich von den Regierungsmaßregeln nicht mehr täuschen lassen, ihren Attacken auf Gewerkschaften und Streiks, ihrer anhaltenden Niederhaltung der Linken, werden sie in immer größerer Zahl gewahr, dass sie keinen neuen Nasser, sondern einen neuen Mubarak eingesetzt haben.
Selbst wenn in Syrien, Ägypten und Tunesien Konterrevolutionen triumphieren sollten und eine betrügerische kapitalistische ‚Demokratie‘ in weit von den Träumen junger RevolutionärInnen vor 3 Jahren entfernter Gestalt eingerichtet wird, werden diese großartigen ‚Volksrevolutionen‘ (Lenins Bezeichnung) einen unauslöschbaren Stempel auf der Region hinterlassen und den Weg für künftige Großereignisse ebnen. So wie die russische Revolution von 1905, obgleich 12 Jahre später, sich als Generalprobe für eine weit großartigere Revolution erwies.
Die Aufgabe revolutionärer SozialistInnen im Nahen Osten, in Nordafrika und weltweit besteht in der Analyse der reichhaltigen Erfahrungen und der Verarbeitung der Lektionen der letzten 3 Jahre. Die Hauptthemen beinhalten: das Verhältnis der Jugend zur Arbeiterklasse und den anderen unterdrückten und ausgebeuteten Schichten der Bevölkerung; ihr Hilfspotenzial für den Aufbau revolutionärer Organisationen; die Rolle alter und neuer Gewerkschaften während einer Revolution; die Bedeutung des Generalstreiks; das Verhalten zur Armee und der Gegensatz zwischen ihrem Oberkommando, ihrer Offizierskaste einer- und den Mannschaftsdienstgraden andererseits; islamistische politische Parteien und ihre liberalen prokapitalistischen GegnerInnen, und wie man sich von beiden nicht benutzen, missbrauchen lässt; die Rolle möglicher Bonapartes aus der Welt der Diplomatie und selbst der Unterhaltung; v. a. die Notwendigkeit einer revolutionären Arbeitermassenpartei, die die Fragen von Regierung, Macht für Jugend und Lohnarbeiterschaft, um soziale Gerechtigkeit und politische Demokratie zu erlangen, stellen und beantworten kann.
Es ist auch nötig, von revolutionären Strömungen an kritischen Punkten getroffene Entscheidungen unter die Lupe zu nehmen – sowohl korrekte und mutige wie schwerwiegende Fehler (siehe oben angeführte Unterstützung für Mursi und al-Sisi). Unterschiedliche, sich untereinander sogar befehdende, Abteilungen der Konterrevolution – einheimische wie auswärtige – haben aus solchen Irrtümern ihre Vorteile gezogen. Die Aufgabe besteht im Eintreten für fundamentale Prinzipientreue und die strategischen und taktischen Vorschläge, die noch möglich sind und die konterrevolutionäre Rückflut umdrehen könnten, wenn die Massen sie annähmen. Selbst wenn bewiesen wird, dass die Geschehnisse 2013-2014 die revolutionären Periode beendet haben und eine der konterrevolutionären Reaktion eröffnen sollten, wird es verdammte Pflicht für die unausweichliche nächste Revolutionswoge in der Region sein, die Lehren aus dem arabischen Frühling zu ziehen.
Lenins wohlbekannte Analyse der Umstände, die Revolutionen einleiten, trifft voll auf die arabischen Revolutionen von 2011 zu. Sie treten ein, sagt er, wenn die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen „nicht mehr auf die herkömmliche Art leben wollen“ und zusätzlich die oberen Klassen nicht mehr in der Lage sind, „auf die alte Weise zu herrschen und regieren“, wenn „es für die herrschenden Klassen ausgeschlossen ist, ihre Herrschaft ohne Wandel aufrecht zu erhalten“, was zu einer „Krise der Politik der herrschenden Klasse“ führt, die „einen Spalt aufreißt, durch den Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen hervorbrechen“.
Das trifft mit voller Wucht auf die Situation in den arabischen Ländern in den Jahren, ja dem Jahrzehnt, zu, die der Explosion vom Winter 2010/Frühjahr 2011 unmittelbar vorausgingen. In vielen arabischen Ländern, besonders in Ägypten – die Komplizenschaft seines Regimes mit Israel und den USA war allzu offensichtlich – gab es Solidaritätsdemonstrationen von StudentInnen und Arbeitslosen mit den jungen Militanten der zweiten palästinensischen Intifada 2000-2002.
Die Hochphase der Globalisierung stürzte viele arabische Staaten in einschränkende finanzielle Abhängigkeit von den imperialistischen Zentren durch private Auslandsdirektinvestitionen, IWF/Weltbank- und US/EU-Kredite. Die Kreditkonditionen verpflichteten sie, ihre Volkswirtschaften, Industrien und Dienstleistungssektoren noch weiter zu öffnen und die sehr begrenzten Sozialsysteme, Preiskontrollen, Lebensmittel- und Benzinsubventionen usw. herunterzufahren, die die nationalistischen Regimes zwischen den 1950er und 1970er Jahren geschaffen hatten.
Dann erzeugte der fieberhafte Aufschwung 2005-07, der diese Phase abschloss, eine gewaltige Inflation für Nahrungsmittel und Treibstoff ohne entsprechende Lohnzuwächse oder Arbeitsstellen für die Jungen. Das führte besonders in Ägypten zu Aufruhr und Streiks wegen Preissteigerungen. Wie Adam Hanieh feststellt (Lineages of Revolt): „Ägyptische ArbeiterInnen arbeiten oft 12 Stunden täglich und müssen zwei Jobs verrichten, verdienen 81% weniger als ArbeiterInnen in der Türkei, 65% weniger als solche in Tunesien, 40% weniger als in Indien und 15% weniger als selbst in Pakistan.“ Zwischen 2004 und 2009 griffen bei 1900 Protesten 1,7 Millionen ArbeiterInnen zum Mittel des Streiks.
Das trockene Zunder für eine Revolte existierte im Übermaß in Ländern wie Ägypten und Tunesien in Gestalt einer Aktivistenvorhut junger StudentInnen und ArbeiterInnen, gestählt durch Regimeunterdrückung, aber noch in der Lage, halblegal und halb im Untergrund zu operieren.
Eine gründliche Lektion kann aus Lenins Staat und Revolution gelernt werden. Hier bezieht er sich auf Marxens extrem tiefschürfende Bemerkung, dass die „Zerstörung der bürokratisch-militärischen Staatsmaschine die ‚Vorbedingung für jede wirkliche Volksrevolution‘ ist“. Lenin beobachtet, dass Marx‘ Bezugnahme auf eine Volksrevolution für jene MarxistInnen merkwürdig schien – vielleicht war ihm seine Feder durchgegangen – die groß wurden unter der menschewistischen blutleeren ‚Antithese zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution‘. Er definiert als Volksrevolution eine, in der (a) „die Masse des Volkes, seine Mehrheit, die untersten sozialen Gruppen, durch Unterdrückung und Ausbeutung niedergehalten, sich eigenständig erhoben und dem gesamten Verlauf der Revolution den Stempel ihrer eigenen Forderungen aufdrückten, ihr Streben, auf ihre eigene Art eine neue Gesellschaft an Stelle der alten, die sich in Zerstörung befand, aufzubauen“.
Er fügt hinzu (b), eine ‚Volks’revolution, die wirklich die Mehrheit in ihrem Sog mitreißt, kann nur eine sein, die Proletariat und Bauernschaft umfasst. Diese beiden Klassen machen dann das ‚Volk‘ aus. Eine solche Volksrevolution, vorausgesetzt sie zerschlägt die bürokratisch-militärische Staatsmaschine, könnte den Grundstein legen für „ein freies Bündnis zwischen armen Bauern und den Proletariern, wohingegen ohne eine solche Allianz, Demokratie instabil und die sozialistische Umwälzung unmöglich ist“.
Lenin fügt hinzu, nicht alle bürgerlichen Revolutionen seien Volksrevolutionen. Er zitiert als Beispiel die Offiziersrevolution der Jungtürken im osmanischen Reich. Und nicht alle Volksrevolutionen sind bei der ‚Zerschlagung‘ erfolgreich und scheitern deswegen. Hier führt er die russische Revolution 1905 an. Es sollte unterstrichen werden: Lenin betont, ohne Zerbrechen des alten Unterdrückungsapparats sei nicht nur ein Weitergehen zum Sozialismus ausgeschlossen, sondern auch der Erhalt dessen, was er stabile Demokratie nennt, d. h. eine, die gegen konterrevolutionären Umsturz gefeit ist.
Die sozialen Ursachen für die Massenunzufriedenheit wurden durch die globale Wirtschaftskrise verschlimmert. Die Jahre nach 2008 öffneten die Region für die Explosion einer Weltkrise, wie sie seit 1945 nicht ihresgleichen gefunden hat. Sie steigerte das schon wirklich hohe Niveau an Arbeitslosigkeit, besonders unter den Jungen. Das schuf die objektiven Bedingungen für ein regionales revolutionäres Erdbeben. Die anfangs Protestierenden forderten Maßnahmen gegen Hunger, Unterbeschäftigung und Inflation. Ihnen schlossen sich schnell GewerkschafterInnen, StudentInnen, LehrerInnen und RechtsanwältInnen an, die politische Forderungen gegen Korruption, Polizeibrutalität, für Versammlungs- und Meinungsfreiheit erhoben.
Die tunesische Forderung nach ‚Würde ‚- ein Wort, das später in den Parolen in Syrien, Ägypten und anderswo wiederholt werden sollte – drückte die jahrzehntelang aufgestauten Frustrationen ’normaler‘ BürgerInnen aus über ihre täglichen Erniedrigungen durch BeamtInnen, die routinemäßig Schmiergelder verlangten und PolizistInnen, die junge Menschen einschüchterten, festnahmen, schlugen und manchmal umbrachten – ohne Grund und straflos.
Am deutlichsten war die Entfremdung unter einer Jugendgeneration zu spüren, die eine Universitätsausbildung von einer Gesellschaft erhalten hatte, wo es keine Aussicht gab, jemals daraus Nutzen ziehen zu können. Dank zunehmenden Zugangs zu Medien außerhalb der Kontrolle ihrer eigenen Regimes, wurde diese jungen Leute eine Welt gewahr, wo Menschen wie sie selbst nicht so gemein behandelt wurden.
Die Forderungen, welche ‚das ganze Volk‘ oder wenigstens einen substantiellen Teil davon auf die Straße brachten, waren solche, die klassisch mit der Schaffung bürgerlich-demokratischer Systeme in Zusammenhang gestellt wurden: echter politischer Pluralismus, Verantwortlichkeit des Staats gegenüber seinen BürgerInnen bei freien Wahlen, Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Einschüchterung durch die staatlichen Unterdrückungsorgane, d. h. ‚Rechtsstaatlichkeit‘.
Selbst hierbei erwies sich als ausschlaggebend das Handeln der städtischen Arbeiterklasse, das Spaltungen im Staatsapparat provozierte und Ben Alis Flucht aus Tunesien erzwang. Auch in Ägypten war es die Gefahr, dass sich eine Welle von Arbeiterstreiks den Platzbesetzungen und blutigen Zusammenstößen in Alexandria und Suez anschließt, die letztlich das Militär überzeugte, Mubarak fallen zu lassen.
Die arabischen Revolutionen von 2011 ergriffen direkt wenigstens 5 ‚republikanische‘ Diktaturen (Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und Jemen) und eine halbabsolutistische Monarchie (Bahrain). Die Länder, in denen die Ausbrüche sich schnell erledigt hatten oder unbedeutende Angelegenheiten blieben, waren oft solche, wo Invasionen, Besatzungen und Bürgerkriege bereits den entzündbaren Stoff für Rebellionen erschöpft hatten: Algerien, Sudan, Palästina, Libanon, Irak, Iran etc. Nichtsdestotrotz erwies sich der arabische Frühling als größte Revolutionswelle seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der ‚real existierenden Sozialismen‘ Osteuropas von 1989-91.
Der besondere Verlauf jeder Revolution oder Erhebung war Resultat gemeinsamer Züge, die sich mit spezifisch nationalen verbanden. Diese beinhalteten nicht nur die unterschiedlichen politischen Regimes wie traditionelle dynastische Monarchien oder militärisch-bonapartistische Republiken, sondern auch distinkte sozioökonomische Faktoren, die Ölrentierstaaten wie Saudi-Arabien, die Golfemirate und Libyen oder die mehr von Industrie und Handel geprägten Volkswirtschaften wie Ägypten, Tunesien und Syrien stützten. Irak besaß Merkmale der letzten beiden Kategorien.
Gene Sharp, oft als führender Verfechter des Konzepts friedlicher nicht-ideologischer Revolutionen bezeichnet, argumentiert, es sei möglich, Regierungen mittels Massenmobilisierungen von ‚Volksmacht‘ ohne irgendeine Revolution im akzeptierten Wortsinn überhaupt zu ersetzen. Solche ‚Revolutionen‘ – selbst wenn sie keine Verschwörung zwischen US- und EU-Geheimdiensten und westlichen ‚Demokratie- und Menschenrechts‘-Stiftungsgesellschaften und zum Hohn fälschlich so gen. Nichtregierungsorganisationen (NGO) verkörpern – werden von den ‚demokratischen Imperialismen‘ leicht unter die Fittiche genommen. Die Farb- bzw. Blumenbezeichnung hilft jegliche politische Genauigkeit über deren Ziele vermeiden.
Dies strategische Modell wurde scheinbar bestätigt durch eine ganze Reihe von Regierungswechseln wie der ‚Rosenrevolution‘ in Georgien, der ‚orangenen‘ Revolution in der Ukraine, der ‚Tulpen-/rosafarbenen Revolution‘ in Kirgistan, der ‚Zedernrevolution‘ im Libanon und der ‚grünen‘ Revolution im Iran. In Tunis und Kairo maß sie sich an der Realität, wo die Bestrebungen, sie ‚Jasmin-‚ bzw. ‚Lotusrevolution‘ zu taufen, sichtbar scheiterten. Die ägyptische Revolution, bei der über 800 starben, war in keinem Sinn eine Gene Sharp-‚Revolution‘. Unverzagt machten sich die imperialistischen Strategen daran, die Occupy-Bewegung und den Tahrirplatz nachzuäffen mit ihrem Schwindel von der ‚Maidanrevolution‘, die die US-Regierung in der Preisklasse von 5 Mrd. $ finanzierte.
In Ägypten konnte eine amorphe Bewegung mit der einfachen und negativen Parole ‚das Volk verlangt den Sturz des Regimes‘ tatsächlich 2 Präsidenten in Folge ‚absetzen‘. Aber sie zerstörte nicht das Militärregime hinter der politischen Fassade aus Präsident, Parlament, Oberstem Gerichtshof usw. Die Armee hat dreimal gezeigt, dass sie das politische Amt weiterzureichen versteht, um zu vermeiden, dass die Macht in die Hände des Volks fällt.
Zuerst übertrug sie die Macht von Mubarak auf Feldmarschall Tantawi, dann (neidisch und hinterlistig) von Tantawi auf Mursi. Diese ‚Macht‘ sollte sich als tödliche Falle für die Bruderschaft erweisen. Sie profitierte von einer teils echten, teils geschürten Masssenerhebung gegen Mursi. Diesmal übertrug sie die Macht von Mursi auf Al-Sisi. Mehr noch, mithilfe der Liberalen, einer Abteilung der revolutionären Jugend (in Tamerod) und einem von den Medien inszenierten Personenkult um Al-Sisi installierte sie erfolgreich eine neu militärbonapartistische Diktatur, die anschließend in einer Plebiszitwahl legitimiert wurde.
Somit wird gegenwärtig in Ägypten der konterrevolutionäre Grundzug der liberalen Bourgeoisie präsentiert, der seit anderthalb Jahrhunderten bei jeder Revolution bestätigt ward. Es zeigt, dass dem Proletariat als einzig konsistenter revolutionärer Klasse – durch den Kapitalismus selbst erschaffen – zufällt, die Rolle auszufüllen, die in den ‚klassischen‘ bürgerlichen Revolutionen vom Bürgertum oder seinen Agenten gespielt wurde: die demokratische Revolution zu vollenden und ihre Errungenschaften dauerhaft abzusichern. Jene wiederum braucht sie für ihre Unabhängigkeit als Klasse.
Während deshalb das Proletariat durch die geschichtlichen Umstände aufgerufen ist, alle verschiedenen anderen unterdrückten Klassen hinter sich her zu führen, kann es diese führende Rolle nicht annehmen, ohne seine eigenen Forderungen zu erfüllen, die „despotische Übergriffe auf das Recht des Privateigentums“ (Kommunistisches Manifest) verlangen und schließlich den Sturz des Kapitalismus selbst. Um das zu erreichen, ist es erforderlich, zum subjektiven, d. h. bewussten Agenten der sozialen Revolution emporzusteigen.
Um ihre eigene letztliche Niederlage zu verhindern, muss die demokratische Revolution von der Vervollständigung demokratischer Aufgaben zur Inangriffnahme sozialistischer Aufgaben übergehen. Das ist ohne das Zerschmettern des alten Repressionsapparats unmöglich: der paramilitärischen und Geheimpolizei, der Spionage- und Überwachungsmaschine. Dieses ‚Zerschmettern‘ erfordert v. a. die Befreiung der einfachen SoldatInnen von der Kontrolle durch ihr Oberkommando und ihr Offizierskorps. Dann, nur dann, können ‚Armee und Volk eine Hand (bilden)‘.
Zur gleichen Zeit gebietet die Grundlage der neuen proletarisch-demokratischen Ordnung die Demokratisierung der Armee durch Soldatenkomitees oder -räte und parallel dazu die Aufstellung einer Volksmiliz, die sich aus ArbeiterInnen, BäuerInnen und der Stadtarmut rekrutiert. Diese muss unter Kontrolle von Soldaten- und Arbeiterkomitees stehen, mittels regelmäßiger Wahl von OffizierInnen etc. Nur so wird es möglich zu verhindern, dass Milizen unter den Einfluss von Stammes-, islamistischen oder schlicht kriminellen Elementen geraten, wie wir es in den Bürgerkriegen in Libyen und Syrien gesehen haben.
Diese Umstrukturierung kann nicht dem spontanen oder unvermeidlichen ‚Prozess‘ überlassen bleiben. Dafür muss bewusst eingestanden werden, zunächst von einer Minderheit innerhalb der eigenen Ränge der Lohnarbeiterklasse, die – in den Worten des Kommunistischen Manifests – „den allgemeinen Gang, die Bedingungen und schließlich die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung“ klar versteht, kurz, eine revolutionäre Arbeiterpartei.
Kolonialbesatzung und ökonomische Ausbeutung der bevölkerungsreichsten arabischen Länder, nach 1945 abgelöst durch halbkoloniale Ausbeutung zugunsten des US-Imperialismus, vereitelten das Wachsen einer ’nationalen Bourgeoisie‘ in Ägypten, Syrien oder Irak. Obwohl militärbonapartistische Herrschaftsgebilde zwischen den 1950er und 1980er Jahren eine gewisse staatskapitalistische Entwicklung fördern konnten, versagten sie völlig bei der grundlegenden Aufgabe, eine nationale Unabhängigkeit zu erreichen. Es gab kein arabisches Gegenstück zu Italiens Piemont oder Deutschlands Preußen, das ausländische Eindringlinge hinauswerfen oder die arabische Welt einigen konnte.
Eines der augenfälligsten Schwächemerkmale der nationalen Bourgeoisie in den arabischen Staaten ist ihre verachtenswürdige Unterwürfigkeit unter eine diktatorische Staatsmaschine, die einen solch großen Teil des Nationaleinkommens verschlingt und ihre Privilegien wie politische Macht z. T. auf Kosten des Bürgertums selbst verteidigt. Das ist das Problem mit dem Bonapartismus, dem wenige arabische Staaten entkommen sind, wenn überhaupt (vielleicht nur der Libanon).
Selbst wenn die ‚Bonapartes‘ an der Spitze dieser Regimes aufrichtige arabische Nationalisten waren wie Nasser oder der junge Ghaddafi – stark in antiimperialistischer und antizionistischer Rhetorik und heftig populär bei den Massen, ist doch der Kern ihrer Herrschaftsgebäude immer die Militärkaste gewesen. Demokratische Freiheiten (besonders für unabhängige Gewerkschaften oder Parteien der Linken) existierten im Grunde genommen nicht. Darüber hinaus entwuchsen sie alle schnell ihren radikalen, ‚revolutionären‘ Wurzeln, mutierten zu korrupten, parasitären und erstickenden Unterdrückungsregimes. Oft bewerkstelligten sie den Übergang von einem Anti- zu einem Pro-US-Standpunkt in diesem Prozess. Die Zivilgesellschaft, selbst ihre bürgerliche Elite, ist schwach und unfähig geblieben, diese haarsträubenden ‚Prätorianergarden‘ ihres Amtes zu entheben.
In Mubaraks oder al-Sisis Ägypten hat sich keiner der beiden Hauptflügel des Bürgertums – Islamisten und ’säkulare Liberale‘ – fähig gezeigt, der Macht des Militärs die Stirn zu bieten. Das Militär ist selber eine Wirtschaftsmacht. Es wird durch US-Militär- und -wirtschaftshilfe als Belohnung für die Bewahrung eines reaktionären Friedensabkommens mit Israel getragen. Es kontrolliert ein großes Imperium von Unternehmen, die bis zu 40% der Wirtschaft des Landes ausmachen.
In Assads Syrien steht ein aufgeblähter Militär- und Geheimdienstapparat, der angeblich existiert, um das Land gegen Israel zu schützen, und teilweise auf Basis von Verwandtschaftsbeziehungen und sektiererischen Netzwerken rekrutiert wird, gewalttätig und bedrohlich ‚über‘ der Gesellschaft als Ganzes. Der Unterschied ist, dass er auf Geldquellen und Waffen fußt, die anfänglich aus der Sowjetunion stammten und später aus dem neuen imperialistischen Russland unter Putin.
In beiden Fällen sind die oberen Ränge des Staatsapparats zum Teil in die Bourgeoisie aufgenommen, entweder ‚legal‘ oder durch verschiedene Formen der Bestechung. Sie nutzen den Staatsapparat als Verteilernetz für Gönnerschaft zugunsten einer breiteren Basis aus den mehr plebejischen Klassen. Das verleiht der ‚Armee-Staatsbourgeoisie‘ die Fähigkeit, das ganze Bürgertum zu befehligen, ihm unproduktive Renten abzutrotzen und mit der Drohung sozialen Chaos‘ zu erpressen, falls die ‚private‘ Bourgeoisie ihr die Flügel zu stutzen oder ihre Exzesse einzuschränken sucht.
Solche Herrschaftsstrukturen sind nicht einfach Produkt innerer Dynamik, sondern der Stellung dieser Länder innerhalb des globalen Systems. Die Weltmärkte werden dominiert von den bürgerlichen Klassen der imperialistischen Länder, die internationale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Welthandelsorganisation (WTO) benutzen, um diese Märkte zu ihren Gunsten zu manipulieren. Das stellt sicher, dass die ‚Privatbourgeoisie‘ nicht schlicht aus ihrem halbkolonialen Joch ihren Weg durch Handel finden kann, selbst wenn sie wie im Falle ölreicher arabischer Golfstaaten im Besitz einer strategischen Weltware ist.
Unfähig starke nationale Märkte für sich selbst zu entwickeln, ist das Bürgertum gezwungen, diesen Teil ihrer historischen Rolle an den Staatsapparat abzutreten, der sie durch Gründung nationaler Monopole ausfüllt. Das bildet dann die materielle Grundlage für eine Ideologie, die durch solche Kanäle wie die Massenmedien und das Erziehungswesen gefördert und verbreitet wird, gemäß der die Armee selbst ‚Repräsentantin des Volkes‘ und deshalb eine Quelle politischer Legitimität nach eigenem Gusto ist. Ein kriegerischer, aber hohler ‚Nationalismus‘ formt das Kernstück dieser Ideologie, selbst wo das tatsächliche Register der Verteidigung von des Landes nationaler Unabhängigkeit oft wenig Ruhmreiches enthält.
Zudem bildeten die arabischen Diktaturen kollektiv ein regionales System, das durch seinen Platz in der imperialistischen Weltordnung geprägt wurde. In ihr spielt Israel die Rolle des Wachhundes und Vollstreckers für den US-Imperialismus. Es setzt seine Militärmacht ein, um jedes arabische Regime zu bestrafen, das seine erlaubten Grenzen überschritt und stutzt jeden Staat zurecht, der Israels Monopol als herrschende Regionalmacht zu brechen drohte.
Die Türkei half als NATO-Mitglied und militärischer Verbündeter Israels, ’nationalistische‘ arabische Regimes wie Syrien und Irak einzudämmen. Saudi-Arabiens Ölreichtum wurde eingesetzt, um reaktionäre Bewegungen – nicht alle darunter ‚islamisch‘ – über die ganze arabische Welt zu finanzieren, Diktaturen wie Mubaraks und Ben Alis den Rücken zu stärken.
Die erdölreichen arabischen Golfstaaten fungierten alle als soziales ‚Sicherheitsventil‘, das ArbeitsmigrantInnen und sonstige unterbeschäftigte FreiberuflerInnen aus den ärmeren und bevölkerungsreicheren arabischen Staaten und darüber hinaus aufnimmt. Dieses ‚Sicherheitsventil‘ kann auf- und zugedreht werden. Es belohnt freundliche Regimes und bestraft andere so wie bei Saudi-Arabiens Ausweisung jemenitischer Staatsangehöriger im Gegenzug zur Unterstützung ihres Landes für Saddams Irak 1991 im Golfkrieg um Kuwait. Dieses Regionalsystem erblickte während des Kalten Krieges das Licht der Welt und schloss einen Platz für sowjetisch unterstützte ’nationalistische‘ Regimes in Ägypten (bis zu Sadats Wende zu den USA hin), Syrien, Irak, Libyen, Jemen und Algerien ein. Obwohl Ägyptens Militär anschließend jährlich Milliarden an Militärhilfe erhielt, um das Camp David-Abkommen von 1978 aufrecht zu erhalten, das das offizielle Ende des 30-jährigen Kriegszustands mit Israel besiegelte, schwächten und untergruben eine Reihe von Ereignissen das gesamte Gebilde. Zuerst stürzte 1979 die iranische Revolution den Schah, die andere dicke Säule für regionale Stabilität des US-Imperialismus. Dies nötigte die USA 1980, Saddam Husseins Invasion des Iran zu ermutigen in der Hoffnung, dass Irak und Iran in den folgenden 8 verheerenden Jahren sich gegenseitig abnutzten. Dann stellte die US-geleitete Invasion des Irak 2003 es auf eine weitere Zerreißprobe und stärkte unabsichtlich Irans Position als Regionalmacht dadurch, dass die USA von pro-iranischen, schiitischen Politikern abhing, um Iraks Befriedung sicherzustellen. Seit der Wahl der türkischen Islamischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) im November 2002, ist die Türkei von Israel abgedriftet und entwickelte eigene regionale Gelüste, prallte öffentlich mit Israel zusammen über dessen Angriff auf die ‚Gaza Freiheitsflottille‘ im Mai 2010.
Die strategische Schwäche des arabischen Frühlings: keine Zerschlagung des militärbonapartistischen Staatsapparats
Die anfänglichen Aufstände in Ägypten und Tunesien vermochten es nicht, den Staatsapparat entscheidend zu zerschlagen, da es nicht gelang, die einfachen Soldaten auf die Seite des Volkes zu ziehen und die Kontrolle der alten Befehlsgewalt und des Offizierskorps zu brechen. So aber blieb der Kern des alten Regimes erhalten. Der alte ‚Feloul‘-Machtapparat stellte seine Erhaltung sicher und nahm Gelegenheit sich neu zu formieren, sie nutzen dabei teilweise die Legitimität des Umsturzes, der die Tyrannen gestürzt hatte, denen sie vorher selbst gedient hatten.
Am wichtigsten war, dass die Militärherrschaft mit all ihren wirtschaftlichen Pfründen und ihrer autonomen Gerichtsbarkeit und Gefängnissen die Situation unbeschadet überstehen konnte. Der einzige Preis, den sie entrichten mussten, war die Ersetzung der vergreisten Garde durch frische unbelastetere Kräfte. Als Resultat wurden große Teile der revolutionären Aktivisten gefangen gehalten, auch in Militärgefängnissen gefoltert und dann vor Militärgerichte gestellt und abgeurteilt. Das zeigte sich deutlich in Ägypten, wo zuerst Tantawi und dann al-Sisi die gewaltige Macht und Reichtümer des Militärs ohne geringste Einbußen bewahren und alle Schande auf die Moslembruderschaft abwälzen konnten.
Ein Grund dafür war darin zu suchen, dass die revolutionäre Bewegung sich auf die friedliche Taktik von Platzbesetzungen und die Agitation um die Losung ‚Armee und Bevölkerung Hand in Hand‘ beschränkte. Die jugendlichen RevolutionärInnen nahmen dieses Gemisch von Pazifismus, Illusionen in die Armee, Mangel an klarer Strategie zur Machteroberung und fehlender Konkretion in den Forderungen von ihren liberalen und libertären Mentoren in den USA und Europa auf.
Natürlich kann eine sich rasch ausbreitende Revolution mit Massencharakter kein ausgefeiltes und vielschichtiges Programm annehmen, doch eine revolutionäre Führung könnte und sollte die Bewegung um Kernforderungen und Losungen scharen, die nicht nur die Bedürfnisse der Massen ausdrücken, sondern auch auf die Schwachpunkte des Regimes abzielen. Darin lag die Bedeutung der rastlosen Agitation der Bolschewiki für ‚Brot, Land, Frieden‘, ‚Alle Macht den Sowjets‘, ‚sofortige Einberufung der Verfassung gebenden Versammlung‘ und ‚Arbeiterkontrolle über die Produktion‘.
Eine Losung wie ‚Armee und Bevölkerung Hand in Hand‘ hätte zwar eine Grundlage für die Verbrüderung mit den einfachen Soldaten sein können, aber da sie unter der Kontrolle des alten Militärapparats blieben, drückte sich in der Formel eine riesenhafte Selbsttäuschung aus und sollte sich als verhängnisvoll in den Tagen nach dem 30.7.2013 erweisen, denn sie wurde dann zum bewussten Deckmantel durch die Militärführung für den konterrevolutionären Staatsstreich.
Die älteren Revolutionsmodelle, besonders die des Bolschewismus, die ignoriert oder geschmäht werden von Advokaten der Gewaltfreiheit wie dem US-Professor Gene Sharpe, geben eine viel klarere Antwort: wenn die einfachen Soldaten nicht der Kontrolle der Offizierskaste und des Apparats entrissen werden können, würde das Regime, dessen Sturz die Bevölkerung wollte, den Rücktritt ihrer Führungsfigur und seiner Familie überleben. Beispiele in Ägypten und in gewissem Grad auch in Tunesien und im Jemen haben dies bestätigt.
In Syrien wiederum hat der totalitäre Staatsunterdrückungsapparat seine Führungsfigur nicht fallen gelassen – im Interesse seiner Selbsterhaltung. Stattdessen blutete er stark aus und setzte sich eine Anzahl von einzelnen Deserteuren aus der Wehrpflichtigen-Armee des Landes ab und formierte den Kern einer losen und schlecht ausgerüsteten ‚bewaffneten Opposition‘ gegen das ba’athistische Regime in Form der Freien Syrischen Armee FSA.
Der Wohlstand der heimischen Bourgeoisie ist teilweise abhängig von der Beibehaltung der korrupten Verbindung mit dem Staat. Diese blieb fest hinter dem Assad-Regime, verstärkte jedoch damit ihre Unterordnung unter jenes. Ihre ‚oppositionellen Verwandten‘ im Exil versuchten ihre eigene Schwäche und Unfähigkeit zur Beeinflussung der Ereignisse vor Ort durch Appelle an die westlichen imperialistischen Mächte um Unterstützung auszugleichen, wenngleich sie bei diesen vergeblich um militärisches Eingreifen zu ihren Gunsten nachsuchten.
Sie ließen sich nicht nur durch die nahezu uneingeschränkte Fähigkeit zu Gewaltanwendung des Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung einschüchtern, sondern erschraken auch bei dem Gedanken, dass die Massen, bewaffnet in Selbstverteidigungsorganen, sich nicht mehr willens erwiesen, zu ‚normalen Verhältnissen‘ zurück zu kehren, wenn sie Assads Sturz aus eigener Kraft herbeiführten.
Vor dem Hintergrund eines gemeinsamen kulturellen Erbes und Sprache hat der Aufstieg des Nationalismus im 20. Jahrhundert Bestrebungen für eine geeinte arabische Nation hervorgebracht, einen allarabischen Nationalismus. Dieses strategische Ziel wurde auch von den frühen kommunistischen Parteien angenommen und während der Periode ihrer Stalinisierung beibehalten. Der panarabische Nationalismus wurde auch von den imperialistischen Mächten, v. a. Frankreich und Britannien, bei ihren Manövern gegen das zerfallende osmanische Reich benutzt. Sobald der Sieg jedoch errungen war, verrieten sie sofort ihre arabischen Verbündeten und teilten die Region unter dem Schleier des Mandats der Vereinten Nationen auf.
Die Realität der Balkanisierung der Region garantierte, dass herrschende Klassen und militärische Eliten in den ‚künstlichen Staatsgebilden‘ entstehen konnten. Die Grenzen wurden von Bürokraten in Europa gezogen und ignorierten die kulturellen und ethnischen Identitäten der Bevölkerungen in der gesamten Region. Nichtsdestotrotz lebte der allarabische Nationalismus als Bestrebung unter großen Teilen der Bevölkerung weiter und hat heute auch noch zu einer spontanen Identifikation und Sympathie mit den Kämpfen der Unterdrückten in der gesamten Region geführt.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Region zu einer politischen Hauptschnittstelle zwischen den imperialistischen Westmächten, angeführt von den USA, und dem ‚Ostblock‘. Beide Seiten hatten zwar ihre jeweiligen Einflusssphären und Hauptverbündeten unter den herrschenden Klassen, doch der Dreh- und Angelpunkt des Systems war die Schaffung des Staates Israel, und die Hauptleidtragenden waren die Palästinenser. Mit Änderung des Kräfteverhältnisses in der Welt über die Jahrzehnte war dieses ‚System‘ auch radikalen Wandlungen unterworfen, z. B. durch Ägyptens Rückorientierung von der UdSSR zu den USA. Die Kriege in Afghanistan und Irak waren indes Vorboten für einen noch grundlegenderen Wandel.
Die arabischen Revolutionen haben dieses Regionalsystem erschüttert. Das ölreiche Katar, die offensichtlich ‚stabilste Autokratie‘ unter den Golfstaaten, ließ den von ihm gesponsorten Fernsehsender Al Jazeera als ‚Stimme der arabischen Revolutionen‘ erklingen, die die tunesischen und ägyptischen Aufstände lauthals begrüßte, und spielte eine Hauptrolle bei der Agitation für die Intervention der NATO im Bürgerkrieg in Libyen zwischen dem Aufstand in Bengasi im Februar 2011 und Ghaddafis Sturz ein halbes Jahr später.
Katar ringt nun mit Saudi-Arabien um die Rolle des politischen und finanziellen Hauptsponsors der prowestlichen arabischen Regierungen. Anstelle von Saudi-Arabiens Vorliebe für scheinbar starke, nun jedoch sichtlich brüchige Diktaturen hofft Katar, der Pate für flexiblere und dauerhafte prowestliche Pseudodemokratien zu werden. Die Rivalität zu Saudi-Arabien zeigt sich am deutlichsten in Ägypten, wo die Saudis den Sturz von Mursi und die Errichtung von al-Sisis Diktatur unterstützten, wobei Al Jazeeras ägyptische Fernsehstationen geschlossen wurden.
Katar war wiederum nicht gegen die Intervention des Golfstaatenkooperationsrats im März 2011 zur Rettung der Monarchie in Bahrain, sondern beteiligte sich daran aus Dank für die NATO-Intervention in Libyen.
Die rasche Ausbreitung der arabischen Aufstände und die grenzübergreifende Anteilnahme zwischen den verschiedenen Ländern, in denen sie stattfanden, müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. Es beleuchtet auch eine Frage von grundlegender Bedeutung: die Notwendigkeit für RevolutionärInnen in der Region, von den Kämpfen, Fehlern und Katastrophen wie auch den Siegen wechselseitig zu lernen. Das wird nur Früchte tragen, wenn sie selber eine mächtige organisatorische Einheit untereinander und mit den RevolutionärInnen der ganzen Welt mit dem Aufbau von Landesparteien und Programmen, die über den Horizont begrenzter Ereignisse hinausreichen, schaffen. Zeiten der Unterdrückung und Verbannung könnten so fruchtbar genutzt werden wie von den russischen RevolutionärInnen im Ausland vor 1917. Mit anderen Worten, die ArbeiterInnen und SozialistInnen in Nahost brauchen nicht nur politisch unabhängige revolutionäre Arbeiterparteien, sondern eine neue revolutionäre Internationale.
Die Restauration des Kapitalismus in Russland und China und ihr Aufstieg zu imperialistischen Großmächten hat für verbreitete Verwirrung in der internationalen Linken gesorgt. Die Nichterkenntnis des sich wandelnden Klassencharakters dieser Staaten hat dazu geführt, dass viele die internationalen Konfrontationen und Konflikte weiter durch die Brille des kalten Krieges sehen, mit einem ‚sozialistischen Lager‘ auf der einen und dem imperialistischen ‚Westen‘ , v. a. den USA, auf der anderen Seite.
Bei den Ereignissen des ‚arabischen Frühlings‘ hat dies viele dazu verleitet, ihre Haltung zu den verschiedenen beteiligten Kräften aus deren Zugehörigkeit zu den Lagern des kalten Kriegs bestimmen zu lassen statt von Klasseninhalten und Programmen.
Als in Libyen die revolutionäre Bewegung nicht imstande war, das Ghaddafi-Regime wegzufegen, haben die USA, obwohl der Herrscher längst seinen Frieden mit dem Westen gemacht und alle antiimperialistische Rhetorik fallen gelassen hatte, sich dazu entschlossen, für seinen Sturz zu intervenieren. Dort hat Washington aus seinen Fehlern in Ägypten und Tunesien gelernt, wo es anfangs noch Mubarak und Ben Ali gegen die unaufhaltsamen revolutionären Bewegungen gestützt hatten. Dieser Fehler hatte die Möglichkeiten zur Beeinflussung des Ausgangs der Revolutionen für die USA stark eingeschränkt. In Libyen war die klare Absicht zu erkennen, die Elemente der Bewegung gegen Ghaddafi zu unterstützen, die als willige ‚Verbündete‘ auszumachen waren und jede weitere Radikalisierung unterbinden würden. Daraus schlossen etliche Linke, dass Ghaddafi weiterhin den ‚Antiimperialismus‘ verkörpern würde, weil es in ihrer Wahrnehmung nur einen Imperialismus gab, den der USA und seiner Verbündeten. Das wiederum verführte sie zu der Charakterisierung der gesamten Bewegung gegen Ghaddafi als ‚proimperialistisch‘.
Andere liebäugelten mit der Idee, dass im 21. Jahrhundert Massenbewegungen einen Tyrannensturz durch friedliche Mittel vollbringen können und folgerten, dass das revolutionäre Potenzial der Anti-Ghaddafi-Bewegung sich erschöpft hätte, als die Ereignisse zum Bürgerkrieg übergingen. Sie charakterisierten die Auseinandersetzung dann als eine Art ‚Stammeskrieg‘, in der für keine Seite mehr Partei ergriffen werden dürfe.
Andere wiederum erkannten den fortgesetzten demokratischen Antrieb der Revolution zwar an, ließen jedoch ihre prinzipielle Opposition gegen ein Eingreifen der NATO fallen. In Fortschreibung des Sozialimperialismus aus dem 20. Jahrhundert glaubten sie, dass die Intervention durch die ‚demokratischen Imperialismen‘ die einzige Möglichkeit sei, den Sieg der Anti-Ghaddafi-Kräfte zu sichern.
Dieselben Irrtümer wurden in noch größerem Ausmaß im Falle Syriens wiederholt, dieses Mal selbst ohne Entschuldigung einer direkten westlichen Intervention. In Syrien wurde der Niedergang der US-Macht und die konterrevolutionäre Rolle der aufsteigenden Imperialismen Russland und China offenkundig. Putins Demütigung für Obama vor der UNO durch sein Njet im Sicherheitsrat gegen die Billigung von US-Interventionen war ein deutliches Anzeichen für das Bröckeln der unangefochtenen Vorherrschaft, die Washington seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion genossen hatte.
Neben der erhöhten innerimperialistischen Rivalität, die sich im Ukraine-Konflikt und den steigenden Spannungen zwischen China und seinen Nachbarn in Fernost ausdrückt, setzt sich auch die ins Wanken geratene Strategie der USA nach ihren Niederlagen in Afghanistan und Irak fort. Im Irak hat der verzweifelte Versuch, die Kontrolle durch die Errichtung einer schiitischen kommunalistischen Regierung unter Nuri al Maliki zu sichern, den sunnitischen Aufstand unter Führung der ISIS hervorgerufen und droht das Land in einem schlimmen sektiererischen Bürgerkrieg zu zerreißen. Diese Aussicht hat selbst die Amerikaner dazu gezwungen, ihren einstmals erklärten Feind Nummer 1, den Iran, anzurufen, um wieder einen ‚Fuß auf die Erde‘ zu bekommen. Kaum etwas anderes könnte den Niedergang der US-Macht besser veranschaulichen.
‚Niedergang der Macht‘ heißt aber nicht ‚Verlust aller Macht‘. Die USA bleiben der bei weitem mächtigste Staat sowohl ökonomisch wie militärisch, und wie das Vorrücken der NATO in ganz Ost- und Mitteleuropa an die Grenzen der Russischen Föderation zeigt, wird garantiert weiter jede Anstrengung unternommen, die absolute Vormachtstellung wiederherzustellen.
Es ist gleichfalls sicher, dass Russland und China, entweder zusammen oder allein die USA auf allen Gebieten herausfordern werden, denn es geht um die Neuaufteilung der Welt, was, wie Lenin vor fast 100 Jahren erklärte, in der Natur der imperialistischen Epoche liegt.
Für alle Imperialisten ist die Unterstützung der ‚inneren‘ Feinde ihrer Rivalen Teil der Taktik, um Vorteile im Kampf um diese Neuaufteilung zu ziehen. Dies kann in den imperialistischen Kernländern selbst erfolgen, jedoch leichter noch in den Halbkolonien, durch die sie die Welt kontrollieren. Es ist darum unvermeidlich, dass sie versuchen, revolutionäre Bewegungen in verschiedensten Ländern für ihre Zwecke zu verleiten. RevolutionärInnen müssen in jenen Ländern wiederum die Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten zu ihrem Vorteil wenden, wie es auch die Bolschewiki 1917-1918 getan haben. Es gibt allerdings keinen revolutionären Arbeiterstaat, der demokratischen und sozialistischen RevolutionärInnen bedingungslos Waffen liefern könnte.
Die Bedingungen, die die Imperialisten für Unterstützung stellen, müssen zurückgewiesen werden, und es darf unter keinen Umständen eine Unterordnung unter deren Strategie geben. Mit der Entwicklung neuer Imperialismen ist es notwendig, Illusionen in ein ‚kleineres Übel‘ zu überwinden, etwa in die USA oder EU, weil sie ‚demokratisch‘ wären, oder Russland und China, weil sie ‚antiimperialistisch‘ oder gar ‚sozialistisch‘ bzw. ‚kommunistisch‘ wären. Absolute politische Unabhängigkeit der Klasse bietet die einzige Gewähr, nicht von einem dieser Welträuber benutzt und dann im Stich gelassen zu werden. Der unvermeidliche nationale Druck, der auf allen revolutionären Bewegungen lastet, macht die Schaffung einer neuen revolutionären internationalen Partei, einer 5. Internationale zu einer ehernen Vorbedingung für die Ausgestaltung und Aufrechterhaltung einer unabhängigen Weltsicht für das internationale Proletariat.
Der schwer wiegende Vormarsch der Konterrevolution in Nahost und Nordafrika 2013/2014 ist ein Resultat des Scheiterns der wahrhaft revolutionären Kräfte im Versuch, die Revolutionen von 2011 und 2012 zu vollenden. „Eine Revolution, die auf halbem Wege stehen bleibt, schaufelt sich ihr eigenes Grab.“
Heute müssen RevolutionärInnen ihre Errungenschaften gegen wilde Gegenoffensiven der im Vormarsch befindlichen Kräfte der alten Regime verteidigen. Sie haben das Recht, die Solidarität, den materiellen und moralischen Beistand von RevolutionärInnen außerhalb der Region zu erwarten. Das schließt ein: die Hilfe bei den anstehenden Kämpfen wie in Syrien, die Verfechtung des Asylrechts für die Flüchtlinge vor der brutalen Repression und den Rückhalt beim Aufbau von Organisations-, Publikations- und Kommunikationszentren im Ausland, von denen aus Untergrundarbeit gestaltet werden kann wo nötig. Es bedeutet auch die Entlarvung der Verbrechen der Konterrevolution und die Entfachung einer internationalen politische Debatte über die Probleme des Kampfes.
Die Lehren aus den Niederlagen und Siegen müssen gezogen werden, damit künftig Niederlagen in Siege umgewandelt werden können. Ohne Zerschlagung der Unterdrückungsapparate kann dies nicht vor sich gehen. Insbesondere muss die Demokratie in den Kasernen bei den einfachen Soldaten vorangetrieben werden, die Kontrolle der Streitkräfte muss den Händen des reaktionären Oberkommandos der alten Regime entrissen werden. Sonst sind Gegenputsche unvermeidlich.
Die einfachen Rekruten müssen volle demokratische Rechte genießen, einschließlich des Rechts auf Zusammenkunft und Diskussion auf Massenversammlungen in ihren Unterkünften, ihre Offiziere sowie Soldatenmannschaftskomitees oder -räte wählen. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Streitkräfte nicht mehr als blind gehorsame Werkzeuge zu Putsch- oder Rettungsaktionen für Diktaturen gebraucht werden können.
In den nächsten revolutionären Erhebungen müssen die verbliebenen oder wieder eingesetzten Militärdiktaturen und die absoluten oder ‚konstitutionellen‘ Monarchien aufgelöst und ihre Jahrzehnte lang angehäuften Pfründe beschlagnahmt und verwendet werden, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu stillen. Alle Spitzenfunktionäre des Regimes müssen vor ein öffentliches Gericht gestellt werden, um ihre Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung zu sühnen. Alle politischen Gefangenen müssen frei gelassen, und allen Flüchtlingen muss das Recht auf Rückkehr eingeräumt werden. Die an ihnen verübten Verbrechen müssen offen gelegt und ihre Peiniger vor Gericht gestellt werden.
Die Polizeichefs und Folterknechte, die für diese Unterdrückung verantwortlich sind, müssen gefangen gesetzt und ihre Verbrechen öffentlich gemacht werden. Die Muchabarat/Nachrichtendienste (Geheimpolizei) und alle paramilitärischen Einheiten des Regimes wie die Baltagiya-Banden (‚Axtträger‘) müssen entwaffnet, aufgelöst und für ihre Verbrechen abgeurteilt werden.
Statt der korrumpierten Polizeitruppen, die die Bevölkerung zu Opfern macht, muss eine Miliz, bestehend aus Arbeitern, Jugend und Frauen sowie ethnischen und religiösen Minderheiten aufgebaut werden. Sie sollen die Ordnung auf den Straßen und in den örtlichen Gemeinden aufrecht erhalten, sollen Überfälle, Diebstahl, Vergewaltigung usw. genau so wie konterrevolutionäre und faschistische Umtriebe bekämpfen. Sie sollen aber unter der demokratischen Aufsicht von örtlichen Delegiertenräten stehen, nicht dem Befehl von stammesmäßigen, religiösen oder kriminellen Banden unterliegen.
Es muss völlige Freiheit zur Bildung politischer Parteien, zu Demonstrationen, Versammlungen und ungehinderte Möglichkeit für Fernseh- und Rundfunksendungen sowie zur Herausgabe von Zeitungen herrschen. Insbesondere Arbeiter und Jugendliche, die an vorderster Front in den Aufständen standen, müssen freien Zugang zu den Medien haben.
Die Löhne müssen sofort angehoben werden. Ein Mindestlohn zum Unterhalt einer Familie und eine gleitende Skala von Löhnen und Einkommen für die Arbeitslosen muss eingeführt werden, um die Inflation in Schach zu halten. Die massenhafte Verteilung von Nahrungsmitteln, Brennstoffen für Küche und Heizung, Kleidung und anderen Lebensmitteln an die Armen muss unverzüglich organisiert werden.
Die Rechte für Frauen müssen etabliert werden, darunter volle Gleichberechtigung vor dem Gesetz, gleicher Zugang zu allen Ausbildungsberufen, Beseitigung von Kleidervorschriften, einer Geschlechtertrennung an öffentlichen Plätzen und Institutionen, strenge Bestrafung von Belästigung, Angriffen und Vergewaltigung. Die Sorge für Kinderbetreuung (Kindergärten, -krippen, auch in Fabriken und Büros) ist notwendig, um alle Schranken für den Zugang zum Arbeitsleben aufzuheben. Wichtig ist auch die gesetzliche und tatsächliche Festlegung gleichen Lohnes für weibliche Arbeitskräfte. Die Abschaffung der patriarchalischen Kontrolle über die Frauen ist eine besondere revolutionäre Aufgabe. Das Recht auf Zugang zu freien und sicheren Verhütungsmitteln und Abtreibung ist notwendig, damit Frauen die Kontrolle darüber haben, ob und wann sie Kinder bekommen wollen. Frauen müssen darüber bestimmen können, nicht Ehegatten, Väter oder der Klerus.
Die Arbeitslosen, v. a. die Riesenzahl von ausgebildeten, aber unterbeschäftigten Jugendlichen beiderlei Geschlechts müssen eingebunden werden in Beschäftigungsprogramme für gesellschaftlich sinnvolle Arbeiten, um die Elendsquartiere zu ersetzen durch menschenwürdige Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser usw. Wahlen für eine souveräne und revolutionäre Verfassung gebende Versammlung müssen unter Aufsicht und Schutz von Arbeiter- und Bevölkerungsausschüssen und den entsprechenden Milizen stattfinden. Die Grundlegung eines Gesetzes, das die demokratischen Rechte aller Einwohner schützt, wird jedoch nicht die zentrale Aufgabe dieser Versammlung sein, sondern sie muss vor der gesamten Öffentlichkeit des Landes über Fernsehen, Rundfunk, Internet, ‚soziale‘ Medien usw. eine Debatte darüber führen, wie genau die gesellschaftliche Grundlage, die Eigentumsverhältnisse der neuen Republik beschaffen sein sollen.
Konkret müssen die Massen auf Großversammlungen unmittelbar in die Erörterungen eingreifen können, was mit den Ländereien der reichen Grundbesitzer, den riesigen Besitzungen der Militärführer, den Fabriken und großen Handelshäusern geschehen soll. Diese Debatte sollte also den Blickpunkt auf die Fragen richten, ob die Revolution nicht nur Demokratie, sondern auch den Sozialismus einführen soll.
Wie Trotzki vorausgesagt hat und wie die sozialen Konterrevolutionen in Osteuropa, Russland und China gezeigt haben, kann der Sozialismus nicht in einem einzigen Land aufgebaut werden. Die Revolution muss permanent werden, nicht nur in dem Sinne, dass sie von den demokratischen Rechten zu den sozialistischen Aufgaben entschlossen voran schreitet, sondern sie muss sich auch auf andere Länder in einer regionalen bis hin zur Weltrevolution erstrecken.
Aus dem Grund muss schon vor dem Triumph der Revolution den Bevölkerungserhebungen und Revolutionen gegen die herrschenden Despoten in allen Ländern Nordafrikas und Nahosts tätige Hilfe zukommen, praktisch und politisch für die PalästinenserInnen und gegen die Blockade des Gaza-Streifens.
Zur Vollendung der arabischen Revolutionen ist es notwendig für die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften, einen umfassenden Generalstreik durchzuführen, der sich die Beseitigung jedweder kapitalistischen Regierung, gleich ob als Monarchie oder Republik, die Auflösung jeglicher nichtsnutziger Scheinparlamente, die Ersetzung der Richter des Feloul-Systems und die Wahl einer neuen demokratisch legitimierten Gerichtsbarkeit unter dem Schutz der Arbeiter und revolutionären Jugend zum Ziel stellt.
Revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierungen sind ein wesentliches Ergebnis einer solchen Revolution. Ihre dringlichste Aufgabe muss die Beschäftigung mit den brennendsten materiellen Bedürfnissen der Bevölkerung sein. Grundlage des Handelns muss ein Programm von öffentlichen Arbeiten in dringenden gesellschaftlich notwendigen Vorhaben sein, finanziert aus der Besteuerung und Enteignung der Reichen des Landes wie auch der europäischen und US-amerikanischen großen Firmen.
Die arabischen Revolutionen, die als demokratische Revolutionen im Januar/Februar 2011 begannen, müssen durch die Zerschlagung des gesamten Unterdrückungsapparates der Diktaturen und Monarchien und durch die Erfüllung der demokratischen Bestrebungen der Arbeiter, Frauen und Jugendlichen vollendet werden. Um die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung nach Arbeit, Nahrung, Land, Gesundheit, Bildung und den Frauenrechten zu stillen, ist eine gesellschaftliche Umwälzung gegen das Kapital unerlässlich. Ohne sie wird die demokratische und antiimperialistische Revolution sich zurück entwickeln und scheitern.
Allein eine sozialistische Revolution, die die heimische und ausländische Kapitalistenklasse stürzt und ein System auf der Grundlage von Arbeiterräten errichtet, kann die Probleme der unterbezahlten Arbeiter, der arbeitslosen Jugend und der in Armut versinkenden Bevölkerung in Stadt und Land lösen und die ganze nahöstliche und nordafrikanische Region einen.
Die Ausbreitung der Revolution muss zum Aufbau einer Sozialistischen Föderation in ganz Nahost und Nordafrika führen, alle Kräfte gegen den Imperialismus zusammenführen, für die größtmögliche Einbeziehung der natürlichen Ressourcen, die bestmögliche Entfaltung der Produktivkräfte v. a. der menschlichen Arbeitskraft und die planmäßige Beseitigung der Armut sorgen.