Tobi Hansen, Infomail 1019, 11. September 2018
Auf einer Pressekonferenz am 4. September stellte sich die „Aufstehen“ erstmals „offiziell“ der Öffentlichkeit vor und präsentierte ihr Selbstverständnis. Die versammelte bürgerliche Presse, welche seit Monaten über eine mögliche „Wagenknecht“-Partei und deren hohe Umfragewerte spekuliert, durfte nun vier ProtagonistInnen Fragen stellen. Mehr als 100.000 Menschen haben sich per Newsletter bei „Aufstehen“ angemeldet. Ob als Mitglieder, UnterstützerInnen oder einfach, um Informationen der „Bewegung“ zu beziehen, ist wohl auch diesen unklar. Jedenfalls wurden sie nicht in Berlin versammelt, um über die politischen Grundlagen von „Aufstehen“ zu diskutieren, die angeblich „von unten“ kommen sollen.
Stattdessen erklärte Frontfrau Wagenknecht, dass die „soziale Frage“ im Mittelpunkt stehen würde. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass wir „unser“ Land in „5-10 Jahren nicht mehr wiedererkennen“. Der Grüne Ludger Volmer, unter Schröder und Fischer Staatsminister im Auswärtigen Amt und heute Kuratoriumsmitglied beim „Institut Solidarische Moderne“, erklärte, warum er an der Regierung noch den Jugoslawienkrieg unterstützt habe, heute aber für eine andere Friedenspolitik eintreten wolle. Der Berliner Dramaturg Stegemann verspricht sich von „Aufstehen“ irgendwie mehr Bürgernähe als Alternative zu „Themenvampirismus und Gefühlsanästhesie“ in der Politik, die oft genug große Sprüche klopfe und nichts halte (Neues Deutschland, 5.9.18). Ob die Rhetorik dabei hilft, werden wir sehen. Als vierte Vertreterin von „Aufstehen“ sprach noch Simone Lange, Oberbürgermeisterin aus Flensburg und Gegenkandidatin von Andrea Nahles beim letzten SPD-Parteitag. Sie erscheint noch vergleichsweise glaubwürdig, wenn sie erklärt, dass sie die SPD nach „links“ rücken und für eine rot-rot-grüne Koalition eintreten wolle.
Vorgestellt wurde ein Gründungsaufruf, der zwei wesentliche Ziele enthält. Zum einen soll uns wieder das Ziel einer „reformierbaren und gerechten“ sozialen Marktwirtschaft schmackhaft gemacht werden. Mit etwas Steuererhöhung für die Reichen, etwas Umverteilung, mehr Jobsicherheit und weniger Privatisierungen soll der Kapitalismus wieder einmal gezähmt werden. So und durch „außerparlamentarischen Druck“ sollen die etablierten „linken“ Parteien von „Aufstehen“ in Richtung Rot-Rot-Grün gedrückt werden.
Die Erfolgsaussichten dürften dabei kurzfristig zweifelhaft sein. SPD und Grüne sind bei „Aufstehen“ mehr schlecht als recht repräsentiert, die Grünen überhaupt nur mit politischen Auslaufmodellen wie den Vol(l)mers, die wirklich niemand vermisst.
Hinzu kommt außerdem, dass „Aufstehen“ nicht nur ein „Vereinigungsprojekt“, sondern vor allem einen direkten Angriff auf die Linkspartei bzw. deren aktuelle politische Ausrichtung von rechts darstellt. Und das in zwei zentralen Punkten: erstens in der Anpassung an die Bundesregierung und die Rechts-PopulistInnen in der Frage der Migration. Statt Kampf gegen den Rassismus und Rechtsruck, statt Kampf gegen alle Abschiebungen, für offene Grenzen und volle StaatsbürgerInnenrechte schwadroniert „Aufbruch“ von einer angeblich „grenzenlosen Willkommenskultur“, der es ebenso entgegenzutreten gelte wie dem Rechtspopulismus. Kein Wunder, dass sich AfD-Chef Gauland positiv über die Neugründung äußert. Marx 21 beschreibt die Auswirkungen auf die Linkspartei durchaus zutreffend:
„Das Lager um Wagenknecht organisiert einerseits von außerhalb Druck auf die Linke durch die Sammlungsbewegung und andererseits einen Strömungskampf innerhalb der Partei, um ihre Positionen und Akteure durchzusetzen. So erklärte Wagenknecht selbst: ,Wenn der Druck groß ist, werden die Parteien, auch im Eigeninteresse, ihre Listen für unsere Ideen und Mitstreiter öffnen‘“.
Die „Aufstehen“-InitiatorInnen wollen eine „mehrheitsfähige“ und „realistische“ Politik. Manches in der Linkspartei scheint ihnen noch „zu links“ bzw. nicht geeignet, um mit SPD und Grünen auf Bundesebene zu koalieren. Dass die Führungen von SPD und Grünen das Projekt angreifen, ist nicht verwunderlich. Fragwürdiger ist jedoch die Vorstellung, dass manche in der SPD glauben, dieses Projekt sei wirklich „links“. Wagenknechts sozialchauvinistische Position haben wir unter anderem im Artikel „Linkspartei und Migration – Status quo oder sozialistische Politik?“ behandelt.
Wagenknecht, Lafontaine & Co. wollen die gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung Rot-Rot-Grün drehen, die Linkspartei noch stärker auf diesen Kurs zwingen, als es jede aktuelle Landesregierung in Ostdeutschland ohnedies schon tut. Dafür eignen sich besonders folgende Punkte aus dem „Aufstehen“-Gründungsaufruf:
„Eine neue Friedenspolitik: Deutschland und Europa müssen unabhängiger von den USA werden. Abrüstung, Entspannung, friedlichen Interessenausgleich und zivile Konfliktverhütung fördern statt Soldaten in mörderische Kriege um Rohstoffe und Macht schicken. Die Bundeswehr als Verteidigungsarmee in eine Europäische Sicherheitsgemeinschaft einbinden, die Ost und West umfasst.
Sicherheit im Alltag: mehr Personal und bessere Ausstattung von Polizei, Justiz und sozialer Arbeit; ein Strafrecht für Unternehmen statt Kapitulation des Rechtsstaats.“
Die Aufrufenden unterstützen offen den Aufbau einer europäischen Armee, wenn auch nur zur „Verteidigung“. Der EU wird – bei aller Kritik an ihrer aktuellen „marktradikalen Ausrichtung“ – unterstellt, dass sie ebenso wie der deutsche Imperialismus zu einem Hort von Frieden, Stabilität und sozialen Ausgleich in einer Welt werden könne, in der sich die Widersprüche zwischen den Klassen und zwischen den Mächten unwillkürlich mehr und mehr zuspitzen.
Das Programm ist offenkundig darauf bedacht, den EU-Militarismus als Ausdruck wachsender „Unabhängigkeit“ vom eigentlichen Übel der Welt, den USA, zu rechtfertigen. Damit steht freilich auch jede Kritik an Auslandsinterventionen, an der „Verteidigung“ Europas durch deutsche oder europäische Verbände auf tönernen Füßen. Das macht „Aufstehen“ nicht nur kompatibel mit einer rot-rot-grünen „Friedenspolitik“, sondern auch mit der Formierung eines europäischen Blocks unter deutscher Führung, der nur „sozialpartnerschaftlicher“ ausgestaltet werden müsste.
Dass „soziale Arbeit“ unter der Überschrift „Sicherheit“ angeführt wird, ist an sich schon eine Erwähnung wert. Dass es bei der besseren Ausstattung der Polizei vor allem um Mittel zur Bekämpfung von außerparlamentarischem Widerstand gehen dürfte, ist auch klar. Mit der Formulierung lässt sich auch jede verbesserte Ausstattung der Bundeswehr legitimieren. Auch hier wird – jedenfalls gegenüber dem Programm der Linkspartei – ein weiterer Schritt nach rechts vollzogen.
„Aufstehen“ bricht aber auch an einem weiteren Punkt mit der Linkspartei. Die soziale Basis der Partei bildet die Klasse der Lohnabhängigen. Ähnlich wie die SPD ist sie eine bürgerliche ArbeiterInnepartei, also eine Partei, die auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung steht und diese verteidigt, aber über ihre Geschichte, Mitglieder, Verbindungen zu Massenorganisationen, vor allem auch über die Gewerkschaften in der ArbeiterInnenklasse organisch verankert ist.
Dieses Verbindungsglied kommt bei Wagenknecht & Co. nicht vor. Sie versuchen, „Aufstehen“ nicht einmal als reformistische, verbürgerliche Form einer ArbeiterInnenorganisation zu präsentieren, sondern inszenieren sie als „BürgerInnenbewegung“. Dem Rechtspopulismus stellen sie einen Linkspopulismus entgegen. Die zunehmenden Risse in der Gesellschaft sollen gekittet werden durch soziale Marktwirtschaft und „echte“ Demokratie. Das Subjekt der Veränderung sind „die BürgerInnen“, „die Menschen“ unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit. Implizit wird dem „Volk“ die Elite gegenübergestellt. Nicht der Kapitalismus ist das Übel, sondern nur das Finanzkapital, das „gezügelt“ werden müsse.
Wie viele populistische Formationen gibt sich „Aufstehen“ dabei als demokratischer als die etablierten Parteien. In Wirklichkeit ist es jedoch nur plebiszitärer. Lanciert wird der Verein, der bisher vor allem über eine professionelle Medienpräsenz verfügt, ohne jegliche nennenswerte Mitsprache der „Basis“. Aktionen, Kongresse und Mitmachmöglichkeiten werden zwar angekündigt, bislang erstrecken sich diese jedoch darauf, dass die „Basis“, also jene, die sich per Mausklick wo auch immer eingetragen haben, einen Newsletter erhält und weitere „AnhängerInnen“ werben soll. Die „demokratische“ Bewegung bleibt so selbst hinter der verknöcherten formalen Demokratie der bürgerlichen Parteien zurück.
Wie weiter für die Linkspartei?
Mit Wagenknecht/Lafontaine und Kipping/Riexinger bekämpfen sich de facto zwei staatstragende Flügel in der Linkspartei (http://arbeiterinnenmacht.de/2018/06/18/linkspartei-nach-leipzig-siegerinnen-sehen-anders-aus/), wobei die Linie um Wagenknecht zweifellos den rechtesten Teil der Partei darstellt. Es ist auch kein Zufall, dass sich der Parteirechte Bartsch gegenüber der „Aufstehen“-Gründung vergleichsweise wohlwollend zeigte. Das Problem der Linken in der Linkspartei besteht jedoch darin, dass sie selbst zu einer unkritischen Unterstützung der aktuellen Führung der Partei tendieren.
So verhalten sich zentristische Linke wie marx21, SAV und die ISO zu den aktuellen Kampagnen der Partei, z. B. Pflegevolksbegehren, unkritisch und präsentieren das aktuelle Erfurter Programm als sozialistisch oder wenigstens einen „Schritt nach links“, obwohl sie es besser wissen müssten. Zwar verweist die SAV in ihrem Statement zur „Aufstehen“-Gründung auf die sog. „Geburtsfehler“ der Linkspartei, z. B. dass diese eine Koalition mit bürgerlichen Parteien einschließt bzw. überhaupt die Regierungsbeteiligung als Ziel ausgibt. Doch die Kritik bleibt letztlich oberflächlich, weil die strategische Ausrichtung auf die Bildung „linker“ bürgerlicher Regierungen als Betriebsunfall erscheint und nicht als notwendige Zielsetzung jeder reformistischen Partei kritisiert wird. In Wirklichkeit muss nämlich jede Partei, die die proletarische Machtergreifung, die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und die Errichtung der Rätemacht ablehnt, zur Verwirklichung ihres Reformprogramms danach trachten, die Regierungsmacht zu erringen (oder sie ist gezwungen, bis in alle Ewigkeit Opposition zu bleiben).
Es ist daher nur folgerichtig, dass jede ostdeutsche Landesregierung mit Beteiligung der Linkspartei akzeptiert wird. Sicherlich fiel auch manchen Linken auf, dass die Wahlkämpfe im Osten kaum geeignet waren, das „antikapitalistische“ Profil zu stärken, geschweige denn Protest gegen die herrschende Politik einzusammeln. Auch ist sicherlich aufgefallen, dass die Spitzen der dortigen RegierungsgenossInnen wie Ramelow oder Golze inzwischen auch öffentlich Koalitionen mit der CDU nicht ausschließen wollen, dass Landesregierungen Geflüchtete abschieben oder der Thüringer Ministerpräsident den Einstieg in die Privatisierung der Autobahnen im Bundesrat durchwinkt.
Diese Praxis der Linkspartei hat dazu geführt, dass sie bei den letzten Bundestagswahlen 420.000 Stimmen an die AfD verlor, darunter speziell im Osten viele ArbeiterInnen und Arbeitslose. Dies war auch schon der Fall, als die Linkspartei nach 9 Jahren Regierungsbeteiligung in Berlin die Hälfte ihrer Stimmen verlor. Damals diskutierte niemand über „offene Grenzen“ und es gab noch keine AfD. Zweifellos wirkt der Rechtsruck der Gesellschaft auch auf die Linkspartei. Aber zugleich wird die Frage um die Verluste unter den ArbeiterInnen und Arbeitslosen auch in Form einer „Schattendiskussion“ geführt, die davon ablenken soll, dass die Regierungspolitik der Partei Hunderttausende vor den Kopf gestoßen hat. Dies sorgt für eine gelähmte Partei, eine Organisation, die derzeit eigentlich nicht einmal den Mindestansprüchen einer links-reformistischen Partei genügt.
Wäre der Riexinger/Kipping-Vorstand tatsächlich daran interessiert, die Linke als „Bewegungspartei“ zu organisieren und antikapitalistische oder kämpferische Aspekte ihres Programms zu verteidigen, dann müsste anders gegen „Aufstehen“ vorgegangen werden. Die Führung der Linkspartei hofft aber vor allem darauf, dass das Konkurrenzprojekt einfach scheitert. Eine politische Auseinandersetzung wird nicht geführt, obwohl das Projekt von Wagenknecht, sollte es erfolgreich sein, leicht zu einer Spaltung der Partei führen kann. Gerade diese Gefahr bewirkt aber eine Vogel-Strauß-Politik des Vorstandes. Darin liegt zweifellos auch eine gewisse Logik, weil eine offene Auseinandersetzung um das Programm und die populistischen Grundlagen von „Aufstehen“ unwillkürlich eine kontroverse Diskussion über Theorie und Praxis, Regierungshandeln wie Oppositionsrolle der Partei mit sich bringen würde – eine Diskussion, der alle Flügel lieber aus dem Wege gehen.
Für die „Aufstehen“-Gruppierung, für den Parteivorstand und erst recht für die RegierungssozialistInnen besteht die „Lösung“ des Problems aktuell darin, dass alle „ihr Projekt“ wie bisher verfolgen und so tun, als hätte sich nichts geändert.
Für die Linkspartei als solche ist das fatal. Ihre Krise setzte sich fort – unterschwellig und in Form einer Paralyse. In dieser Situation müssten die Linken in der Partei, die eine sozialistische Politik machen wollen, auf zwei Ebenen die politische Initiative ergreifen.
Erstens müssten sie von der Linkspartei einfordern, was deren Führung – wenigstens in Worten – verspricht: Zusammenführen von Kämpfen und Bewegungen gegen die Regierung, gegen Angriffe des Kapitals (Mieten, Privatisierungen, Prekarisierung, …) und gegen den Rechtsruck. Sie müssten z. B. den Aufbau einer antifaschistischen und antirassistischen Einheitsfront fordern und für organisierten Selbstschutz eintreten.
Davon ist nicht nur die Partei insgesamt weit entfernt, sondern auch die „marxistischen“ und „sozialistischen“ Kräfte bleiben erschreckend defensiv. Stattdessen hoffen sie, dass die Mobilisierungen und die „breiten“ Bündnisse, in denen die Linkspartei schon aktiv ist, für sie das Problem der politischen Ausrichtung der Kämpfe lösen werden. So verzichten sie auf eigene Vorschläge oder präsentieren sie in einer Art und Weise, die vor allem darauf berechnet ist, Gefallen bei der Vorstandsmehrheit zu finden und nicht anzuecken. Daher findet die Forderung nach organisierter Selbstverteidigung gegen den Faschismus bei den Linken in der Linkspartei kaum oder gar keine Erwähnung.
Zweitens müssten die Linken in der Linkspartei nicht nur „RegierungssozialistInnen“ und PopulistInnen kritisieren, sie müssten auch die reformistischen Grundlagen und den bürgerlichen Charakter der Partei offen benennen. Nur so kann ein Kampf für ein revolutionäres Programm, die Sammlung revolutionärer Kräfte und damit der politische Bruch mit den ReformistInnen begründet werden. Dass die Linken in der Linkspartei davor zurückscheuen, ist leider kein Zufall. Ihre falsche, beschönigende Einschätzung der Partei und ihres Programms stellt eine Ursache für ihren Opportunismus dar. Zum zweiten fürchten sie, dass sie sich mit einem revolutionären Programm in der Partei „isolieren“ würden, dass sie damit nur eine kleine Minderheit ansprechen könnten. Wir wollen dem gar nicht widersprechen. Es verdeutlicht jedoch, wie weit die Linkspartei von einer „revolutionären“ oder antikapitalistischen Organisation entfernt ist. Der freiwillige Verzicht der „Linken“ auf die Ausarbeitung einer politischen Alternative und eines konsequenten revolutionären Programms entpuppt sich in Wirklichkeit nicht als geschickte Taktik, sondern als ein zentraler Teil des Problems.