Martin Suchanek, Infomail 1293, 29. September 2025
„All Eyes on Gaza – Stoppt den Genozid“ – unter diesem Motto demonstrierten am 27. September mehr als 100.000 Menschen in Berlin für Palästina. Lautstark forderten sie: „Stoppt den Völkermord! Keine Waffen nach Israel! Humanitäre Hilfe jetzt!“
Dieser Erfolg zeigt, dass die Stimmung – und potenziell auch die politische Lage – in Deutschland kippt. Schon seit Jahren prägen riesige Demonstrationen das Bild in Britannien und Spanien. In Italien, Griechenland und Frankreich haben Hafenarbeiter:innen die Verschiffung von Waffen blockiert. Die Demonstrationen und Streiks vom 22. September verdeutlichen das Potenzial eines politischen Massenstreiks gegen den Genozid in Italien.
Trotz Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung, trotz Verboten von palästinensischen Organisationen und trotz der rassistischen Hetze gegen Migrant:innen konnte für diesen Tag die öffentliche Meinungsmanipulation zumindest ein Stück weit durchbrochen werden. Der Erfolg, auf den alle, die zur Mobilisierung beitragen, stolz sein können, stellt uns aber auch vor eine strategische Aufgabe. Wie können wir sicherstellen, dass die Massendemonstration mit anschließender Kundgebung kein einmaliges Ereignis bleibt? Wie können wir sicherstellen, dass aus einer Massendemonstration eine Bewegung wird, die wirklich einen Stopp der Waffenlieferungen, einen Bruch der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Beziehungen gegen Bundesregierung wie Parlament bewirkt, in dem alle Parteien außer DIE LINKE nach wie vor hinter Kanzler Merz und der deutschen Staatsräson stehen und den Genozid am palästinensischen Volk befördern?
Erstens ist es der Genozid durch die israelische Regierung und Armee selbst. Mittlerweile leugnen nur noch hartgesottene Zionist:innen und ihre imperialistischen und rassistischen Unterstützer:innen, dass es sich um einen Völkermord handelt, die israelische Regierung die Bevölkerung in Gaza und ihre Lebensbedingungen systematisch und gezielt vernichtet und auch die Westbank vollständig annektieren will.
Zweitens trägt die „Politik der Bundesregierung“ selbst dazu bei, dass Tausende auf die Straße gehen. Laut Umfragen befürwortet mindestens 60 % der Bevölkerung einen Stopp aller Waffenlieferungen an Israel. Die Blockade jedes, auch nur symbolischen Kurswechsels durch die Bundesregierung, die Weigerung, Palästina auch nur auf dem Papier anzuerkennen, verdeutlicht für Millionen, dass die Regierung auf der falschen Seite steht und den Genozid weiter unterstützt.
Drittens haben die beständige Aktivität der Solidaritätsbewegung, der Umschwung der öffentlichen Meinung und die Neueintritte in die Linkspartei zu einer Veränderung der Politik der Partei geführt. Sie mobilisierte einen eigenen großen Block zur Demonstration und deren Vorsitzende Schwerdtner sprach bei der Auftaktkundgebung.
Viertens – und damit verbunden – waren auch mehr gewerkschaftliche Verbände und Fahnen sichtbar. Einzelne lokale oder regionale Gliederungen riefen zur Demonstration auf. Aber während sich die Führung der Linkspartei genötigt sah, sich an einer Bewegung zu beteiligen, mit der sie über zwei Jahre möglichst nicht in Verbindung gebracht werden wollte, stehen die Führungen aller DGB-Gewerkschaften weiter stramm zu Staatsräson.
Fünftens stellte die palästinensische Gemeinde einen sehr großen Teil der Demonstration, also sicher das für sich genommen das größte Kontingent, wenn auch nicht die Mehrheit, wie es bei früheren Aktionen leider üblich war. Zudem war auch der größte Teil der Solidaritätsbewegung und der organisierten Linken außerhalb der Linkspartei auf der Demonstration massiv vertreten.
Sechstens bildeten die Organisationen des Palästinensischen & Internationalistischen Blocks, an dem sich auch Arbeiter:innenmacht und REVOLUTION beteiligten, nicht nur die Spitze der Demonstation, sondern zeigten auch, dass ein breites Bündnis keineswegs einen Verzicht auf klare Forderungen und konsequenten Antiimperialismus bedeutet. Gerade weil die Demonstration auch das Potential einer wirklichen Verbreitung der Bewegung sichtbar gemacht hat, kommt diesen Kräften eine wichtige Bedeutung für die weitere Entwicklung der Bewegung zu.
Dabei geht es darum, sicherzustellen, dass die Demonstration vom 27. September zum Ausgangspunkt für eine Bewegung wird. Diese Frage muss jetzt unter allen Organisationen diskutiert werden, die sich an der Aktion beteiligt haben. Wir veröffentlichen hier die Schlussfolgerungen unseres Flublatts „Wut zu Widerstand: Wie können wir den Genozid stoppen?“, das wir auf der Demonstration verteilt haben:
Die heutige Mobilisierung darf kein Endpunkt sein, sondern muss Ausgangspunkt für eine Bewegung sein, die auch in Deutschland politische Streiks, Waffenblockaden und den Boykott aller Wirtschafts- und Finanzbeziehungen mit Israel organisiert. Dieser Kampf ist schwer, aber notwendig – und er muss jetzt beginnen, Schritt für Schritt. Denn während in Gaza täglich das Leiden wächst, annektiert Israel in der Westbank immer mehr Land. Weiteres Schweigen ist keine Lösung!
Es darf nicht bei einer einzigen Großdemo bleiben. Nötig sind weitere Aktionen – getragen von Aktionskomitees, wie sie an vielen Universitäten bereits existieren, oder neu gegründet an Schulen und in Betrieben. Diese Komitees sollten Vollversammlungen einberufen, Infostände organisieren und über die Komplizenschaft der deutschen Regierung aufklären. Ziel ist, die Orte unseres Alltags zu politisieren und neue Mitstreiter:innen zu gewinnen. Denn Posts allein können weggeklickt werden – unsere Aufgabe ist es, Menschen in echte Aktivität zu bringen.
Doch Demos und Reden allein werden das Leid nicht beenden. Italien hat gezeigt, wie schnell Regierungen reagieren, wenn Häfen blockiert und Waffenlieferungen bestreikt werden. Jede:r Linke in einer Gewerkschaft hat die Aufgabe, für Streiks und Solidaritätsaktionen zu kämpfen. Resolutionen sind der Anfang – direkte Arbeitsniederlegungen das Ziel. Das ist kein Prozess, der von heute auf morgen passiert – oder einfach ist. Das heißt auch, dass wir in den Gewerkschaften eine organisierte Opposition gegen den staatstragenden, ganz auf die Staatsräson eingeschworenen Apparat aufbauen müssen. Das bedeutet vereinfacht gesagt:
Die Verwirklichung dieser Ziele erfordert Kraft und Ausdauer. Doch wir sind Teil einer internationalen Bewegung gegen Kolonialismus und Imperialismus. Jede Demonstration hier stärkt nicht nur den Widerstand in Palästina, sondern ermutigt auch die Massen im Nahen Osten, deren Regime trotz des Genozids ihre Zusammenarbeit mit den USA, Israel und anderen westlichen Mächten fortsetzen.
Eine solche Massenbewegung kann das Kräfteverhältnis weltweit verschieben. Sie ist in der Lage, den zionistischen Staatsapparat unter Druck zu setzen, indem seine militärischen, finanziellen und wirtschaftlichen Grundlagen angegriffen werden. Auf diese Weise kann der Genozid gestoppt, die Blockade Gazas durchbrochen und die Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischen Gütern wie auch ein Wiederaufbau ermöglicht werden. Damit erhält der palästinensische Befreiungskampf neue Dynamik – nicht durch die überholte Illusion einer „Zweistaatenlösung“, sondern durch die Infragestellung des zionistischen, kolonialistischen und rassistischen Staatsprojekts selbst. Denn eine wirkliche Befreiung kann es nur in einem demokratischen, sozialistischen Staat Palästina geben, in dem alle unabhängig von Nationalität und Religion gleichberechtigt leben können, in dem alle Vertriebenen zurückkehren können und gleiche Rechte sowie gleichen Zugang zu Ressourcen haben.