Martin Suchanek, Vorwort zur Erstausgabe der Theorie der permanenten Revolution in Pakistan, Infomail 1270, 27. November 2024
Die Theorie der permanenten Revolution stellt einen der wichtigsten Beiträge Trotzkis zum Marxismus dar. Mehr als ein Jahrhundert, nachdem er sie formulierte, erscheinen zwei der zentralen politischen und theoretischen Werke – „Ergebnisse und Perspektiven“ und „Die Theorie der permanenten Revolution“ erstmals in Urdu.
Die Bedeutung dieser Veröffentlichung kann schwerlich unterschätzt werden und wir hoffen, dass dieser ersten Auflage viele weitere folgen werden. Die Theorie der permanenten Revolution hat auch über hundert Jahre, nachdem sie erstmals entwickelt wurde, nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Im Gegenteil, sie ist unerlässlich für das Verständnis des globalen Kapitalismus und Imperialismus heute, sie ist unerlässlich für die Entwicklung einer revolutionären Strategie und Programmatik.
Trotzki selbst entwickelte die Theorie anhand der Erfahrungen der ersten russischen Revolution 1905. Davor gingen praktisch alle Marxist:innen davon aus, dass die kommende Revolution eine bürgerliche sein und ihre zentrale Aufgabe im Sturz der zaristischen Herrschaft und der Beseitigung aller feudalen Elemente, vor allem auf dem Land, bestehen würde.
Doch die Hauptströmungen der russischen Sozialdemokratie entwickelten vor, während und nach der Revolution drei verschiedene Konzeptionen der russischen Revolution.
Die Menschewiki gingen von der scheinbar naheliegenden, im Grunde aber mechanischen Sicht aus, dass eine bürgerliche Revolution die (liberale) Bourgeoisie an die Herrschaft bringen müsse, die Arbeiter:innenpartei sich auf die Rolle einer entschiedenen Opposition zu beschränken hätte. Die Zeit wäre noch nicht reif für die Herrschaft der Arbeiter:innenklasse. Daher wäre auch jeder Versuch „zu früh“, die Revolution durchzuführen, und die Macht zu ergreifen abzulehnen.
Die Bolschewiki gingen unter Lenins Führung ebenfalls davon aus, dass die Revolution eine bürgerliche sein müsse. Aber die Bourgeoisie wäre unfähig zur Führung der Revolution geworden, da sie die Mobilisierung, die revolutionäre Dynamik mehr fürchte als den Zarismus, in dessen Rahmen sich der russische Kapitalismus und damit auch der Reichtum des Bürger:innentums entwickelt hatte. Die revolutionäre Arbeiter:innenpartei, so Lenin, könne und dürfe die Führung der Revolution nicht einer verräterischen Bourgeoisie überlassen, sondern müsse ein Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft eingehen und die demokratische Diktatur der Arbeiter:innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft errichten. Sie würde aber die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse nicht abschaffen.
Neben diese beiden Positionen trat eine dritte. Trotzki war selbst ein wichtiger Führer der Revolution 1905 und faktisch Vorsitzender des Petrograder Sowjets, des Arbeiter:innenrates der Hauptstadt. Trotzki und seine engen Mitstreiter:innen wie Parvus bestritten zwar nicht, dass die russische Revolution als bürgerliche begonnen hätte. Aber, so ihre grundlegende These, die später ein Kernstück der Theorie der permanenten Revolution bilden sollte, dabei könne sie nicht stehenbleiben. Wie die Bolscheweki betrachtete auch Trotzki die Bourgeoisie als unfähig und unwillig zur Führung der Revolution. Aber er verwies zu Recht auf darauf, dass die Bauern-/Bäuerinnenschaft trotz ihrer enormen Masse unfähig zu eigenständiger Politik, zur Führung der Revolution wäre. Trotz der Tatsache, dass sie die weitaus größte soziale Klasse darstellte, bedürfe sie aufgrund ihre Klassenlage – einerseits am Kleineigentum an den Produktionsmitteln hängend, andererseits von der kapitalistischen Entwicklung selbst mehr und mehr zerrieben – der Führung durch eine der Hauptklassen der Gesellschaft, Proletariat oder Bourgeoisie. Die demokratische Revolution wächst in die sozialistische hinein, ihre grundlegenden Aufgaben können nur erfüllt werden, wenn die Arbeiter:innenklasse zur führenden Kraft der Revolution wird, die demokratischen Aufgaben übernimmt, aber auch die Herrschaft der Bourgeoisie bricht, also ihre eigene Herrschaft zu errichten beginnt.
Die bolschewistische Position von 1905 stellte zwar einen bedeutenden Fortschritt gegenüber der menschewistischen dar. Aber sie war in sich selbst widersprüchlich oder, wie es Trotzki höflich formulierte, algebraisch. Sie blieb einerseits dem Schema der zunehmend reformistisch werdenden Zweiten Internationale verhaftet, dass demokratische und sozialistische Revolution zwei streng geschiedene historische Etappen darstellen würden. Andererseits bemühte sich Lenin von Beginn an, eine unabhängige, proletarischer Klassenposition in dieser Revolution zu formulieren. Dieser innere Widerspruch musste früher oder später offen ausbrechen – und das tat er in der russischen Revolution 1917.
Die Menschewiki, die sich 1905 noch als reine Oppositionspartei verstanden, gingen bis auf eine kleine Minderheit im Ersten Weltkrieg zur Vaterlandsverteidigung über. In der Revolution 1917 bleiben sie nicht bloß Opposition, die die Bourgeoisie vorantreiben soll, sondern werden Teil der bürgerlichen, provisorischen Regierung – und verteidigen die „demokratische Etappe“ der Revolution gegen Lenin und Trotzki.
Lenin erkennt nämlich, dass die Revolution vom Februar 1917 zwar den Zaren gestürzt hat, aber die Revolution nur gesichert werden kann, wenn sie zu einer sozialistischen wird, wenn die Arbeiter:innenklasse, gestützt auf die Bauern-/Bäuerinnenschaft, die Macht ergreift. Mit anderen Worten, er und in seinem Gefolge die Bolschewistische Partei gehen zur Position Trotzkis, zur Theorie der permanenten Revolution über.
Dieser Übergang erfolgte nicht ohne innere Auseinandersetzungen. Kamenew und anfänglich auch Stalin wollen an der alten Formel der „demokratischen Diktatur“ festhalten, die Lenin für überholt erklärte, und warfen Lenin „Trotzkismus“ vor. Doch zum Glück vermag die Bolschewistische Partei mit den Widersprüchlichkeiten von 1905 zu brechen und die russische Revolution führt im Oktober 1917 zur Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft.
Ursprünglich bezog sich die Theorie der permanenten Revolution, wie sie in „Ergebnisse und Perspektiven“ formuliert worden war, auf die russische Revolution und ihren Werdegang.
Es waren tragischerweise die Degeneration Sowjetrusslands und der Komintern nach Lenins Tod, die Trotzki zwangen, die Theorie der permanenten Revolution zu verallgemeinern und zu präzisieren. Daher spricht er 1929 bei der Formulierung der „Theorie der permanenten Revolution“ auch vom „erzwungenen Charakter dieser Arbeit.
Die „permanente Revolution“ war nicht zufällig zum Hauptgegenstand der Kritik der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion geworden, stand deren Doktrin vom „Sozialismus in einem Land“ doch im direkten Gegensatz zum proletarischen Internationalismus Lenins und der frühen Kommunistischen Internationale wie auch zur Theorie der permanenten Revolution.
Die Niederlagen der ersten revolutionären Welle nach 1918, nicht zuletzt auch aufgrund von Schwächen der neu gegründeten Kommunistischen Parteien, führte zu einer Stabilisierung des Kapitalismus in der ersten Hälfe der 1920er Jahre (v. a. nach der Niederlage des deutschen Oktober 1923). In der Sowjetunion stärkten diese Rückschläge die Kräfte der bürokratischen Konterrevolution und die Sehnsucht nach „Stabilität“, was sich in der antimarxistischen Theorie vom Sozialismus in einem Land ideologisch ausdrückte.
In der chinesischen Revolution griff die zunehmend stalinisierte Komintern auf die alte menschewistische Vorstellung zurück, dass in den halbkolonialen und Kolonialländern der Sturz des Kapitalismus nicht anstehe, sondern die Revolution zuerst ihre bürgerlich-demokratische Etappe durchlaufen müsse. Der Stalinismus griff ideologisch auf den Menschewismus zurück.
Trotzki unterzog diese Politik, die in der Unterordnung der Chinesischen KP unter die bürgerlich-nationalistische Guómíndǎng (Kuomintang) mündete, in den 1920er Jahren einer vernichtenden Kritik, die zur Verallgemeinerung der Theorie der permanenten Revolution selbst führte.
Darin zeigte sich deutlich, dass die Differenzen zwischen Stalinismus und Trotzkismus fundamentaler Natur waren: zwischen bürokratischer Konterrevolution, die die Weltrevolution den Herrschaftsinteressen der Bürokratie eines Landes unterordnete, und revolutionärem Marxismus, der von den Interessen des Proletariats als internationaler Klasse ausgeht.
Daher fasst Trotzkis auch die drei Hauptelemente der permanenten Revolution zusammen:
Die Geschichte der letzten hundert Jahre hat die Theorie der permanenten Revolution immer wieder bestätigt, wenn auch nach 1917 auf negative Weise.
Alle Versuche in den kolonialen und halbkolonialen Ländern, die ökonomische Rückständigkeit auf Grundlage eines, wenn auch regulierten Kapitalismus zu überwinden, sind regelmäßig gescheitert. Nationalistische und linksbonapartische Regime versuchten nach 1945 immer wieder, die Wirtschaft und den Wohlstand durch Staatsintervention, Importbeschränkungen, Regulierungen von Teilen der Wirtschaft und Verstaatlichungen voranzubringen. Letztlich konnten sie den Zwängen des kapitalistischen Weltmarktes nicht entrinnen. Gleichzeitig unterdrückten sie jede unabhängige, über ihre eigenen Klasseninteressen hinausgehenden Mobilisierungen der Arbeiter:innenklasse.
Ebenso scheiterten alle Versuche des Aufbaus des Sozialismus in einem Land, ob nun in der ehemaligen Sowjetunion, in China, Osteuropa oder Vietnam. Die Herrschaft der Bürokratie ging mit einer Unfähigkeit einher, die Wirtschaften organisch zu entwickeln. Gleichzeitig erstickte sie die Kreativität, Dynamik und das Bewusstsein der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die eine Planwirtschaft hätte vorantreiben können, der Arbeiter:innenklasse, unter der bürokratischen Herrschaft und Repression. Heute sind China und Russland neue imperialistische Mächte, die selbst um die Neuaufteilung der Welt mitkämpfen. Während die ehemalige herrschende Partei in Russland, die KP, die bonapartische Herrschaft Putins stützt, hat sich die KP Chinas zur herrschenden Partei in einem imperialistischen Land transformiert. Aus dem „Sozialismus in einem Land“ wurde der nationale Imperialismus.
Alle nationalen Befreiungskämpfe, alle Revolutionen in den halbkolonialen Ländern im letzten Jahrhundert haben gezeigt: Die Revolution muss permanent werden, nicht nur in dem Sinne, dass sie von den demokratischen Rechten zu den sozialistischen Aufgaben entschlossen voranschreitet, sondern sie muss sich auch auf andere Länder in einer regionalen bis hin zur Weltrevolution erstrecken.
Das zeigte sich augenscheinlich bei einer der größten Erhebungen der letzten Jahrzehnte, den arabischen Revolutionen, die trotz riesiger Mobilisierungen von der Konterrevolution erstickt wurden. Zur Vollendung dieser Revolutionen ist es notwendig für die Arbeiter:innenklasse und die Gewerkschaften, einen umfassenden Generalstreik durchzuführen, der sich die Beseitigung jedweder kapitalistischen Regierung, gleich ob als Monarchie oder Republik, die Auflösung jeglicher nichtsnutziger Scheinparlamente, die Ersetzung der korrupten Richter:innen und die Wahl einer neuen demokratisch legitimierten Gerichtsbarkeit unter dem Schutz der Arbeiter:innen und revolutionären Jugend zum Ziel stellt.
Revolutionäre Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen müssen ein wesentliches Ergebnis einer solchen Revolution sein. Ihre dringlichste Aufgabe muss die Beschäftigung mit den brennendsten materiellen Bedürfnissen der Bevölkerung sein. Grundlage des Handelns muss ein Programm von öffentlichen Arbeiten in dringenden gesellschaftlich notwendigen Vorhaben sein, finanziert aus der Besteuerung und Enteignung der Reichen des Landes wie aus der der großen imperialistischen Kapitale.
Um die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung nach Arbeit, Nahrung, Land, Gesundheit, Bildung und Frauenrechten zu stillen, ist eine gesellschaftliche Umwälzung gegen das Kapital unerlässlich. Ohne sie wird die demokratische und antiimperialistische Revolution sich zurückentwickeln und scheitern.
Allein eine sozialistische Revolution, die die heimische und ausländische Kapitalist:innenklasse stürzt und ein System auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten errichtet, kann die Probleme der unterbezahlten Arbeiter:innen, der arbeitslosen Jugend und der in Armut versinkenden Bevölkerung in Stadt und Land lösen und ganze Regionen einen, indem sie nationale Selbstbestimmung mit dem Aufbau einer Sozialistischen Föderation (z. B. in Nahost und Nordafrika verbindet.
„Der Marxismus geht von der Weltwirtschaft aus nicht als einer Summe nationaler Teile, sondern als einer gewaltigen, selbständigen Realität, die durch internationale Arbeitsteilung und den Weltmarkt geschaffen wurde und in der gegenwärtigen Epoche über die nationalen Märkte herrscht.“ (Trotzki im Vorwort zu deutschen Ausgabe)
Aus dieser Realität des Kapitalismus als internationalem System ergibt sich letztlich die Notwendigkeit einer revolutionären Internationale und des internationalen Charakters der revolutionären Partei.
Vor allem aber: Die Theorie der permanenten Revolution zeigt nicht nur die inneren Widersprüche auf, die zur Revolution drängen. Ihr ist zugleich jeder blinde Geschichtsobjektivismus fremd. Für Trotzki ist die Revolution kein automatischer Prozess, sondern sie kann nur siegen, wenn die Arbeiter:innenklasse über ein Instrument, eine Führung, ein Programm, eine Partei verfügt, die als Strategin der revolutionären Umwälzung agieren kann. Und das setzt die Aneignung der Theorie des Marxismus, der Geschichte und Lehren der Klassenkämpfe der letzten Jahrhunderte voraus. Nur auf einer solchen festen Grundlage kann eine neue revolutionäre Partei und Internationale geschaffen werden. Die Übersetzung von Trotzkis Schriften in diesem Band kann und wird dazu einen wertvollen Beitrag leisten, um eine neue Generation von Revolutionär:innen zu schulen und festigen.