Arbeiter:innenmacht

Gewalt gegen Politiker:innen – Rechtsruck tritt zutage

Leonie Schmidt, Neue Internationale 283, Juni 2024

Seit einigen Wochen häufen sich die Meldungen über Gewalttaten gegen Politiker:innen. Ob SPD-Politiker Matthias Ecke, Grünen-Abgeordnete Marie Kollenrott oder SPD- Wirtschaftsministerin Franziska Giffey – sie haben alle in unterschiedlichen Ausmaßen körperliche Angriffe im Zusammenhang mit dem EU-Wahlkampf oder der Ausübung ihres politischen Amts erlebt. Im folgenden Artikel wollen wir auf die Reaktionen der bürgerlichen Parteien, Gründe für diese Entwicklung und unsere Lösungsvorschläge eingehen.

Neue Qualität

Gewalt gegen Politiker:innen ist so erstmal nichts Neues, besonders in Ostdeutschland. Während es auch linke Politiker:innen trifft (79 registrierte Fälle 2023 vgl. Bundestag [2024]), gibt es auch häufig Angriffe auf Repräsentant:innen der AfD (478 registrierte Fälle 2023 vgl. Bundestag [2024]). Doch was die neue Qualität betrifft, stehen nun vor allem auch bürgerliche Parteien der Ampel-Regierung im Fokus: hierbei besonders die Grünen mit 1.219 registrierten Fällen im Jahr 2023 und die SPD mit 420 Fällen (ebd.). So titelte der Spiegel „Der neue Hass auf Politiker“ und die Friedrich-Ebert-Stiftung erhob in einer repräsentativen Umfrage für die Mitte-Studie 2022/23, dass 13 % der Befragten nichts dagegen hätten, wenn Gewalt gezielt Politiker:innen treffen würde (Zick & Mokros 2023: 85). Sie kommen zu dem Schluss, dass rechte Positionen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind und sich hier vor allem normalisieren.

Reaktionen der „Demokrat:innen“

Nach dem Bekanntwerden des Anstiegs der Gewalttaten ging ein Aufschrei durch sämtliche Reihen der demokratischen Parteien und Institutionen. Die Demokratie würde nicht mehr respektiert werden, ein Angriff auf Politker:innen sei auch einer auf die Demokratie. So sagte die niedersächsische Grünenfaktionschefin Anne Kura nach dem Angriff auf Marie Kollenrott, Gewalt dürfe nie ein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein (BR 26.05.2024). Dass es das längst ist, wenn der Berliner Regierende Bürgermeister Berlins, Kai Wegner (CDU), friedliche Studierende aus einer Besetzung der HU prügeln lässt, obwohl die Uni-Leitung nicht Anzeige erstattet hat, oder wenn Olaf Scholz wieder mehr Abschiebungen fordert und diese auch umsetzt (Anstieg der Abschiebungen um 27 % von 2022 auf 2023 (Statista 2024)), wird von den „Demokrat:innen“ natürlich ignoriert. Das Problem stellt für sie also nicht die Gewalt an sich dar, sondern dass das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates in ihren Augen zu kippen scheint. Auch ihre Lösungen zeigen auf, dass sie die Ursache dafür nicht verstanden haben. So richten sie ihre Appelle zum Schutz der Demokratie an die Bevölkerung und fordern höhere Strafen für Angriffe auf politische Amtsträger:innen und Repräsentant:innen. Ursula von der Leyen ließ verlauten, dass die Täter:innen „die volle Härte des Gesetzes spüren“ sollten (BR 8.5.2024). Doch diese Befürwortung der Gewalt lässt sich nicht mit einem höheren Strafmaß ausradieren. Letztendlich stehen sie also tatenlos daneben, während rechte Gewalt immer mehr ansteigt.

Gründe für den Anstieg der Gewalt

Um das zu verstehen, muss man die Gründe für den massiven Rechtsruck in der Gesellschaft näher betrachten. Dem zugrunde liegt vor allem die Wirtschaftskrise, die zusammenhängend mit weiteren Krisen für eine Teuerung in so gut wie allen Lebensbereichen sorgt, während der Reallohnverlust durch die Inflation mit Lohnerhöhungen nicht ansatzweise ausgeglichen wird. Besonders die tiefe Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung und ihre Unfähigkeit, der Bevölkerung glaubhaft zu vermitteln, dass sie an der Lösung dieser Multikrisen interessiert sei, führt zu diesen gewalttätigen Ausbrüchen und zum Anstieg der Zustimmung zu rechten Positionen. Hinzu kommt die Anti-Grünen-Rhetorik der Rechtspopulist:innen und Rechtskonservativen, die in Kulturkampfmanier die Themen, für die die Grünen vermeintlich stehen, also Gleichberechtigung von Geschlechtern, queere Rechte, Umweltschutz und Antirassismus gegen den Wunsch nach einem guten Leben der „einfachen“ Bevölkerung ausspielt und so einen Keil in die Arbeiter:innenklasse und gesellschaftliche Unterdrückte treibt. Die Sozialkürzungen der Ampel-Regierung und das Pochen auf die Schuldenfreiheit durch Christian Lindner (FDP) tun ihr übriges.

Besonders das Kleinbürger:innentum sorgt sich vor dem Abstieg, was auch äußerst realistisch ist in Krisenzeiten, aber auch die Arbeiter:innenklasse scheint verständlicherweise mit der aktuellen Lage alles andere als zufrieden zu sein. Demnach ist die Gewalt gegen Politiker:innen ein Symptom der Krisenhaftigkeit der aktuellen Periode, nicht die „Wurzel“ des Problems der Demokratiefeindlichkeit, wie uns bürgerliche Parteien glauben lassen wollen.

Demokratie und Stabilität

Von diesem Zusammenhang wollen die bürgerlichen Parteien einschließlich ihres reformistischen Anhangs nichts wissen. Eine Stabilisierung „der“ Demokratie ist zwar auch im Kapitalismus möglich. Aber diese würde letztlich eine Lösung der Krisenhaftigkeit im Interesse des Kapitals voraussetzen, also die Überwindung von Überakkumulation, fallenden Profitraten sowie eine Neuordnung der Wirtschaft und des Weltmarktes. Auf dieser Grundlage wäre die Herstellung eines neuen Gleichgewichts zwischen den Klassen und damit einer „friedlicheren“ demokratischen Herrschaftsform möglich.

Die Demokratie stützt sich, wie ein Blick auf die „stabilen“ Zeiten (z. B. während des sog. Wirtschaftswunders) zeigt, immer auf bestimmte ökonomische Grundlagen. Darauf aufbauend kann zeitweilig ein relativ stabiles Verhältnis zwischen den Klassen etabliert werden, das auf Demokratie und sozialem Ausgleich zu basieren scheint, in Wirklichkeit dessen staatlich-ideologischen Ausdruck darstellt. Diese „Normalität“ ist selbst Resultat von Klassenkämpfen, wie z. B. die Herausbildung der globalen Nachkriegsordnung zeigt. Erst darauf aufbauend kann die bürgerliche Demokratie als wirklich über den Klassen stehend erscheinen und sich auf eine breite Zustimmung und Unterstützung von Bourgeoisie, Arbeiter:innenklasse wie auch von Kleinbürger:innentum und Mittelschichten stützen.

Eine Rückkehr zur imaginierten guten, alten Zeit bürgerlichen Stabilität lässt sich natürlich nie durch Beschwörungen von „Demokratie“ und „Ausgleich“ herstellen. Diese dienen in Wirklichkeit gerade dem Gegenteil, nämlich die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrücken ruhigzustellen und zu täuschen, sie als Fußvolk vor den Karren „demokratischer“, klassenübergreifender Bündnisse zu spannen und politisch zu entwaffnen.

Die Stabilisierung der bürgerlichen Demokratie lässt sich auf kapitalistischer Grundlage nämlich ironischer  Weise nur gewaltsam, durch den Klassenkampf von oben wiederherstellen. Daher erweist sich die Beschwörung einer klassenübergreifenden, scheinbar gewaltfreien bürgerlichen Demokratie keineswegs nur als ideologischer Unfug, sondern sie erfüllt auch eine Aufgabe – im Interesse der herrschenden Klasse. Es ist kein Zufall, dass sich gerade Vertreter:innen des Kleinbürger:innentums und der lohnabhängigen Mittelschichten als besonders eifrige Anhänger:innen der Demokratie an sich hervortun. Wo die klassenübergreifenden Einheit der Gesellschaft immer offener als reine Beschwörungsformel auftritt, erweist sich deren Beschwörung für immer breitere Schichten als bloße Täuschung, als Lüge. Daher schrumpft auch die soziale Basis des Reformismus, von bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik, die hartnäckig an „Sozialpartner:innenschaft“ und „sozialem Ausgleich“ oder in ihrer linkeren Variante an Staatsintervention für die Armen festhält, ohne die Wurzeln für deren Erodierung angreifen zu wollen oder auch zu können.

Das ganze „Geheimnis“ der Rechten besteht darin, dass sie das reale, im Kapitalismus in Krisenzeiten unvermeidliche „Auseinanderdriften“ der Gesellschaft nicht dementieren und nicht durch die üblichen Regulierungsformen stoppen wollen, sondern stattdessen mit einer aggressiv-reaktionären, rassistischen und arbeiter:innenfeindlichen „Lösung“ verknüpfen, während sich die Linke aus Furcht vor dem drohenden größeren Übel am noch bestehenden „kleineren“, an den Restbeständen der „regulierten“ Marktwirtschaft und „der“ Demokratie festklammert.

Perspektiven

Für Kommunist:innen sollte klar sein, dass das Ziel ist, den Rechtsruck aufzuhalten. Das funktioniert aber nur, indem wir gleichzeitig die starke Unzufriedenheit, die die Arbeiter:innen und Kleinbürger:innen gerade so massiv in die Arme der rechten bzw. konservativen Kräfte treibt, als Nährboden für sozialistische Ideen sehen. Das heißt, dass wir soziale Forderungen aufstellen müssen, wie zum Beispiel massive Investitionen in Soziales, Gesundheit und Bildung, bezahlt durch die Profite der Reichen. Dass wir Enteignung und Kollektivierung von Wohnraum sowie die Ausweitung von Sozialbauwohnungen fordern müssen. Dass wir uns gegen den Reallohnverlust stellen, für echte Lohnerhöhungen mit Hilfe einer gleitenden Skala sowie eine allgemeinen Mindestlohnerhöhung auf 15 Euro einstehen sollten. Dass wir uns für ein Mindesteinkommen für Jugendliche, Schüler:innen und Studierende einsetzen müssen, genauso wie eine Erhöhung von Sozialleistungen, ebenso angepasst an die Inflation, erkämpfen müssen. Auch für ein niedrigeres Renteneintrittsalter und eine höhere Rentenzahlung müssen wir einstehen. So können wir aufzeigen, dass die Sorgen berechtigt sind und wir als Kommunist:innen mit an der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten kämpfen, sich diese Krisen aber erst mit der vollständigen Überwindung des Kapitalismus ganz auflösen werden, wofür die Enteignung der Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle unabdingbar ist.

Jedoch dürfen wir gleichzeitig die rechte Gefahr nicht unterschätzen. Die Angriffe auf bürgerliche bis linksreformistische Politiker:innen bedeuten offenkundig nicht nur, dass die Bevölkerung die Regierung und bürgerliche Demokratie nicht mehr respektiert. Es bedeutet auch, dass sich rechte Kräfte sicherer fühlen in ihrem Handeln, bestärkt durch den Rechtsruck. Außerdem zeigt es auch ein allgemeines Sinken der Hemmschwelle, Gewalt gegen politische Feind:innen anzuwenden. Dass dies auch die Zivilbevölkerung betrifft, zeigen bspw. die Anstiege der Gewalttaten der Kategorie Hassverbrechen auf queere Personen. Diese nahmen in der Kategorie „geschlechtsbezogene Diversität“ vom Jahr 2022 auf 2023 um 104,8 % zu (BMI&BKA 2024: 11). Kurzum: Auch gesellschaftlich Unterdrückte können so schneller zum Ziel von Gewalttaten durch Rechte werden. Dass die bürgerliche Demokratie nicht in der Lage ist, dem etwas Sinnvolles entgegenzusetzen, zeigt sie bereits jetzt mit ihren mantraartigen Demokratieappellen, die niemanden außer sie selbst wirklich überzeugen. Daher ist es an uns, die Perspektive des antifaschistischen Selbstschutzes aufzuwerfen. Hierfür müssen demokratisch gewählte Selbstverteidigungskomitees aus Vertreter:innen der Arbeiter:innenklasse und der gesellschaftlich unterdrückten Gruppen wie Frauen, Queers, Migrant:innen etc. aufgebaut werden, die nicht erst handeln, wenn es schon zu spät ist. Im Gegensatz zur Polizei sind sie rechenschaftspflichtig und wähl- und abwählbar, was zu einer bessere Kontrolle des Gremiums durch die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten führt. Sie können zum Schutz von Vierteln, politischen Veranstaltungen, Demonstrationen, Streiks usw. eingesetzt werden.

Schlussendlich erfordert der Kampf gegen die rechte Gefahr auch, eine Einheitsfront aller Organisationen der Arbeiter:innenklasse aufzubauen. Die Geschichte von KPD und SPD in der Weimarer Republik beweist, dass eine Gefahr von rechts nur gemeinsam geschlagen werden kann, die Ablehnung der Einheitsfronttaktik oder ihre illusorische Begrenzung auf nur die „von unten“ letztendlich den Rechten in die Hände spielen werden.

Zugleich darf aber die Einheitsfront nicht mit einem politischen Stillhalteabkommen verwechselt werden. Die Führung der reformistischen Arbeiter:innenparteien wie SPD und Linkspartei und der Gewerkschaften muss ideologisch angegriffen werden, um aufzuzeigen, dass diese nicht wirklich für die Interessen einstehen. Der gemeinsamen Kampf gegen rechts und die kapitalistischen Angriffe muss daher mit dem für eine revolutionäre Alternative in Form einer neuen revolutionären Internationale und Arbeiter:innenpartei verbunden werden.

Quellen

BMI & BKA (2024): https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/nachrichten/2024/pmk2023-factsheets.pdf?__blob=publicationFile&v=2

BR (8.5.2024): https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/entsetzen-nach-angriff-auf-giffey-verdaechtiger-festgenommen,UCA3JIB

BR (26.05.2024): https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/erneut-angriff-auf-politiker-gruenen-abgeordnete-verletzt,UDqnM4n

Bundestag (2024): https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-988578

Statista (2024): https://de.statista.com/statistik/daten/studie/451861/umfrage/abschiebungen-aus-deutschland/

Zick & Mokros (2023): https://www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=91776&token=3821fe2a05aff649791e9e7ebdb18eabdae3e0fd

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