Jeremy Dewar, Infomail 1292, 20. September 2025
Das erste Anzeichen dafür, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, sah ich in The Strand (Straße in der City of Westminster, London), wo die Polizei einen Antifaschisten festgenommen und ihn gegen eine Ladenfront gedrückt hatte. Ich schloss mich einer Gruppe der Stand Up To Racism (SUTR)-Demonstration an, die angehalten hatte und „Lasst sie frei!“ forderte.
Als ich in Charing Cross ankam, sah ich Dutzende englische und britische Flaggen aus dem Bahnhof strömen. Der Großteil der etwa 150.000 Anhänger:innen von „Tommy Robinson“ (Stephen Yaxley-Lennon) strömte immer noch über die Westminster Bridge und die Whitehall hinauf. Dort wurden sie von Polizeiketten aufgehalten, die sie daran hinderten, den Trafalgar Square und die vielleicht 10.000 Teilnehmer:innen starke „Stand Up To Racism“-Demo zu erreichen.
Offensichtlich waren die Leute in Charing Cross davor gewarnt worden und hatten die Themse über eine Fußgängerbrücke überquert. Das und die schiere Größe der rechten Demo zeigen, wie weit die faschistischen Gruppen im Kern der Bewegung im letzten Jahr vorangekommen sind.
Ebenso zeigt die Größe des SUTR-Marsches das Fehlen einer ähnlich landesweit koordinierten Aktion der Linken. Am oberen Ende der Whitehall winkte ein SUTR-Ordner die Leute in Richtung Downing Street und erzählte uns von den „spannenden Redner:innen“, die sie aufgeboten hatten. Wir ignorierten diesen Rat, der uns eindeutig in eine Falle geführt hätte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der von Faschist:innen angeführte Mob bereits die Hälfte des Trafalgar Square eingenommen und stand am oberen Ende von Whitehall. Die SUTR-Demonstrant:innen saßen zwei bis drei Stunden lang fest, bis die Polizei sie hinausbegleitete.
Politiker:innen und Medienexpert:innen haben die Demonstrant:innen schnell in „gute“ und „böse“ unterteilt. Die meisten, so wird angedeutet, seien nur wirklich besorgt über die Lebenshaltungskosten, Arbeitsplätze und Wohnraum sowie „illegale“ Migrant:innen, nicht über alle Schwarzen, Muslim:innen und ethnischen Minderheiten.
Dies ermöglicht es Politiker:innen, insbesondere der Labourpartei, die rassistische Panikmache mit ihrer Haltung „Ich verstehe, warum die Menschen wütend sind, aber die Gewalt muss aufhören“ wirksam zu wiederholen. Der einzige Politiker, der von dieser Anbiederung an die Rechten profitieren wird, ist Nigel Farage (Gründungsmitglied der UK Independence Party [UKIP], danach Mitgründer der Brexit Party, die im Januar 2021 in Reform UK umbenannt wurde).
In Wirklichkeit waren es vor allem organisierte Rassist:innen und Faschist:innen, die 150.000 Menschen durch ihre Kampagne mit Anti-Flüchtlings-Demonstrationen und dem Hissen der „Raise the Colours“-Flagge mobilisiert haben, unterstützt durch effektive Verbreitung in den „sozialen Medien“. An vorderster Front stand Stephen Yaxley-Lennon, alias Tommy Robinson, der kürzlich wegen der Verbreitung antimuslimischer Lügen eine Haftstrafe verbüßt hat und wegen gewalttätiger Übergriffe angeklagt ist. Er ist ein bekannter Faschist.
Es gibt auch eine internationale Dimension: Rechtsextreme Parteien aus ganz Europa dominierten die Redner:innen. Neben offen faschistischen Führer:innen wurden Redner:innen vom Vlaams Blok aus Belgien, von Alternative für Deutschland, der Dänischen Volkspartei und der polnischen Partei Recht und Ordnung sowie Steve Bannon, Trumps Stratege, eingeladen. Elon Musk heizte die Menge an und sagte:
„Wir haben keine weiteren vier Jahre Zeit, oder wann auch immer die nächsten Wahlen stattfinden, das ist zu lang. Es muss etwas getan werden. Das Parlament muss aufgelöst und eine neue Wahl abgehalten werden … Dies ist eine Botschaft an die vernünftige Mitte, an die Menschen, die sich normalerweise nicht in die Politik einmischen … Ob ihr euch für Gewalt entscheidet oder nicht, die Gewalt kommt auf euch zu. Entweder ihr wehrt euch oder ihr sterbt.“
Der rechtsextreme, islamfeindliche Präsidentschaftskandidat Frankreichs, Éric Zemmour (Vorsitzender der Kleinparei Reconquête; Rückeroberung), untermauerte dies mit Ängsten vor einer „großen Verdrängung“ durch Muslim:innen, die Europa übernehmen würden. Ein neues Phänomen in der britischen Rechtsextremen war jedoch die Anzahl christlicher Geistlicher, denen eine Plattform geboten wurde. Ein Bischof Dewar von der Confessing Anglican Church (Bekennende Anglikanische Kirche) eröffnete die Kundgebung!
Nach der Ermordung des rechtsextremen christlichen Hasspredigers Charlie Kirk haben christliche Zionist:innen und Faschist:innen von Turning Point (konservative, rechtspopulistische Student:innenorganisation in den USA unter seinem Vorsitz) zweifellos Unterstützung für viele seiner Hasskampagnen mobilisiert, nicht zuletzt für seine gewalttätige Anti-Trans-Bigotterie.
Unabhängig davon, mit welchen reaktionären Ideen die Menschen zu dieser Kundgebung kamen, gingen sie mit noch mehr Überzeugung davon. Zweifellos sind viele von ihnen jetzt Kontakte der organisierten Faschist:innen, wie der Homeland Patriotic Alliance und Britain First – das war ja der Zweck der Kundgebung. Gewalttätige Auseinandersetzungen, sei es mit der Linken oder mit der Polizei, sind nicht sinnlos, sondern Teil der Strategie, eine Straßenkampfkraft aufzubauen und zu organisieren. Mit der Zeit werden sie gegen Einwander:innen, schwarze und asiatische Gemeinschaften, LGBT+-Menschen und schließlich gegen Organisationen der Arbeiter:innenklasse eingesetzt werden.
Der Vorsitzende der Socialist Workers Party, Lewis Nielsen, sagte auf der SUTR-Kundgebung:
„Wir brauchen mehr Leute auf unserer Seite – und um mehr Leute auf unsere Seite zu bringen, müssen wir bestimmte Argumente vortragen.
Argument Nummer eins: Wir müssen sie als die Faschist:innen bezeichnen, die sie sind. Gaukle mir nicht vor, Tommy Robinson sei kein Faschist! Erzähl mir nicht, die AfD in Deutschland sei nicht faschistisch.“
Das zweite Argument lautet: „Erzähl mir nicht, es gäbe berechtigte Bedenken hinsichtlich der Einwanderung. Erzähl mir nicht, es könne eine zivilisierte Debatte über Migrant:innen in diesem Land geben.“
Das ist, als würde man die Kämpfe von heute mit den Waffen von gestern führen. Sie als Nazis zu bezeichnen, mag in den 1990er Jahren gegen die British National Party und in den 2000er Jahren gegen die English Defence League funktioniert haben, aber das waren im Vergleich dazu nur kleine Fische.
Robinson und seine Verbündeten haben 150.000 Menschen auf die Straße gebracht. Die AfD hat bei den Bundestagswahlen im Februar jeden fünften Stimmzettel bekommen. Reform UK liegt in den Umfragen konstant über 30 %. Die Teilnehmer:innen der Kundgebung am Samstag als „Nazis“ zu bezeichnen, wird keinen Eindruck hinterlassen, schlimmer noch, es könnte sie weiter in die Arme der extremen Rechten treiben.
Das zweite Argument ist auch nicht besser. Man muss geduldig erklären, dass der Mangel an guten Jobs, die schlechten Dienstleistungen und die steigenden Lebenshaltungskosten durch das kapitalistische System in der Krise verursacht werden und dass die Chef:innen und Milliardär:innen die Kosten dieser Krise, ihrer Krise, auf die Arbeiter:innenklasse, einschließlich der Migrant:innen, abwälzen.
Aber darüber hinaus müssen wir diejenigen, die sich von den einfachen Antworten der Rassist:innen verführen lassen könnten, in den Kampf gegen ihre wahren Feind:innen einbeziehen: für mehr und bessere Wohnungen, für höhere Löhne und angemessene Sozialleistungen, für eine vollständig finanzierte Gesundheitsversorgung, damit unsere Krankenhäuser ausreichend Personal anwerben und halten können.
Bedeutet das, die antirassistische Botschaft zu verwässern? Ganz und gar nicht. Es bedeutet, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Migrant:innen und ihre Nachkommen der zweiten und dritten Generation genauso Opfer desselben Systems sind wie in Großbritannien geborene Arbeiter:innen. Wie viel wirkungsvoller ist diese Botschaft jedoch, wenn afrikanische Krankenschwestern und osteuropäische Mieter:innen gemeinsam an Streikpostenketten oder Demonstrationen teilnehmen.
Trotzki hat mehrfach gewarnt, dass die Antwort auf den Faschismus nicht der Antifaschismus an sich ist, sondern der Kampf für den Sozialismus. Liberale Appelle an wütende Massen – unorganisierte Arbeiter:innen sowie die kämpfende Mittelschicht – werden nicht funktionieren. Leider ist es genau das, was es letztendlich bedeutet, wenn man alle Teilnehmer:innen der Robinson-Demo als Nazis bezeichnet: oberflächlicher Liberalismus. Wir müssen klüger vorgehen.
Die große Resonanz auf Zahra Sultanas und Jeremy Corbyns Aufruf zur Gründung einer neuen linken Partei muss schnell in die Gründung von Ortsverbänden und Betriebsgruppen münden, in denen Sozialist:innen Strategien gegen niedrige Löhne und Arbeitsplatzverluste, korrupte Gemeinderäte und zerfallende Dienstleistungen ausarbeiten und dann ihre Botschaft auf die Straße tragen können.
Sultana hat richtig gesagt, dass die neue Partei antirassistisch, pro trans und antiimperialistisch sein muss. Gut. Aber jetzt muss diese Sprache in Taten umgesetzt werden. Und das kann nur gelingen, indem das Projekt für demokratische Debatten, Entscheidungsfindung und Aktionen geöffnet wird und der Kampf gegen Rassismus und Faschismus mit dem für bessere Gemeinschaften und eine sozialistische Zukunft verbunden wird.