Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 46, Oktober 2014
Der Ausbruch des ersten Weltkriegs vor hundert Jahren bietet tatsächlich viele bemerkenswerte Einsichten, die auch für die heutige Zuspitzung der internationalen Lage einiges zu sagen hätten. Doch im offiziellen Gedenken und der ihr entsprechenden Literatur- und Dokumentationsflut wirkt der Krieg fast so weit in die Vergangenheit verrückt wie die napoleonischen Kriege. Sicher wird von den politisch Verantwortlichen speziell mit Blick auf Russland beschworen, dass die Ära der „Großmachtspolitik“ der Weltkriegszeit (angeblich) vorbei sei – und dass man in Europa nicht dorthin zurückfallen dürfe (offenbar ist dies dann außerhalb Europas nicht ganz so). Insgesamt fühlt man sich offenbar bei Vergleichen mit dem Zweiten Weltkrieg wohler: dem demokratischen Imperialismus passt die Pose des universellen Völker-/Menschenrechte-Verteidigers besser – und gegen Bedroher der angeblich verteidigten humanitären Werte, der Selbstbestimmung, völkerrechtlich garantierter Grenzen etc. sei dann eine „Appeasement-Politik“ gegenüber Putin ebenso verfehlt, wie sie bei Hitler falsch war. Mit dem Verweis auf die „Verantwortung, die aus dem Zweiten Weltkrieg erwachsen wäre, konnte ja schon demokratisch-humanitär in Jugoslawien oder dem Irak bombardiert und interveniert werden.
Die Logik des herrschenden politischen Denkens vor dem Ersten Weltkrieg hingegen rechtfertigte sich noch mit direktem Bezug auf Verteidigung von „Einflusssphären“, der notwendigen Durchsetzung nationaler Interessen durch „Weltpolitik“ oder mit dem darwinistischen Kampf um die Aufteilung der Welt. Wenn heute z.B. im Ukraine-Konflikt die Debatte auf die russische Reaktion auf den drohenden Verlust seiner Einflusssphäre in Osteuropa kommt, so wird die Logik einer solchen Argumentation von den Menschenrechts-ImperialistInnen sofort als Rückfall in Großmachtdenken zurückgewiesen – und die Ukrainer müssen doch frei wählen können zwischen dem Westen und Russland. Klar – für Troika-Diktate und ähnliches kann man sich ja nur ganz freiwillig entschließen: „demokratisch“ ist, wer die Einsicht in die Notwendigkeiten der herrschenden Weltordnung besitzt.
Vor dem ersten Weltkrieg war die politische Rhetorik der Herrschenden noch eine viel direktere und weniger verschleierte. Das imperialistische Interesse der Akteure auf Weltebene wurde noch kaum durch demokratisch/humanitäre Floskeln im Hintergrund gehalten. Der Charakter des ersten Weltkriegs ist deutlich auch von heute aus als imperialistischer Krieg zu erkennen. Dies machte auch immer schon das Unbehagen der offiziellen Geschichtsschreibung an diesem Krieg aus – und dieses Unbehagen wurde auch in diesem Gedenkjahr wieder mehr als deutlich. Bei den Siegermächten des ersten Weltkriegs wurde dies lange Jahre einfach dadurch gelöst, dass man allgemein von der Hauptschuld des preußisch-deutschen Militarismus und seiner aggressiven imperialistischen Ambitionen ausging.
In der offiziellen deutschen Geschichtsauffassung wiederum gab es beim letzten großen Gedenkjahr, dem 50-Jahres-Gedenken 1964, eine Wende auch in diese Richtung. Mit dem Buch „Griff nach der Weltmacht“ (1) verbreitete der Historiker Fritz Fischer die These, dass Deutschland nicht nur die Schuld am zweiten Weltkrieg hat, sondern auch für den Ausbruch des ersten Weltkriegs die Verantwortung trägt. Dies wirkte in der damaligen konservativ beherrschten Bundesrepublik, in der führende Politiker noch das Gedenken an die „Helden des ersten Weltkriegs“ hochhielten, wie eine Bombe. Nachdem Fischer lange Zeit von der offiziellen Politik fast mit allen Mitteln bekämpft wurde, wurden seine Thesen jedoch ab Mitte der 70er-Jahre auch hierzulande mehr oder weniger Gemeingut.
Damit war allgemein ein Erklärungsmuster gefunden, nachdem nicht der Kapitalismus oder gar der Imperialismus die Katastrophe der Weltkriege hervorgerufen hat, sondern insbesondere der irrsinnige, militaristische Weltmachtswahnsinn einer kleinen deutschen Elite, dem der Rest des deutschen Volkes mehr oder weniger begeistert gefolgt war. Frei nach dem Herrn Karl: „Der Kapitalismus wors net, die Deitschen worns“.
Somit war der einzige größere Aufreger im Gedenkjahr das Buch des britisch/australischen Historikers Christopher Clark, „Die Schlafwandler“ (2). Darin wird in akribischer Detailarbeit in Bezug auf die politisch-diplomatischen Verwicklungen der Jahrzehnte vor dem Krieg als auch des entscheidenden Monats vor seinem Ausbruch klar aufgezeigt, dass alle imperialistischen Großmächte des damaligen Europas (Frankreich, Britannien, Deutschland, Russland, Österreich-Ungarn) gleichermaßen verantwortlich für das Völkermorden sind. Insbesondere werden auch die „Beweise“, die Fritz Fischer für die deutsche Hauptverantwortung herangezogen hat, ziemlich glaubhaft relativiert. Naturgemäß ernteten gerade diese Aspekte des Buches heftige Kritik in einigen „linken“, vor allem anti-deutschen Publikationen. Berechtigt an der Kritik bleibt natürlich, dass Clark die ökonomischen und klassenkampf-bezogenen Hintergründe des Wegs zum Weltkrieg weitgehend ignoriert. Aber vor allem, dass er die imperialistische Politik an sich, z.B. das Großmachtverhalten von Österreich-Ungarn gegenüber Serbien aus der reinen Historiker-Perspektive bespricht – nach dem Motto: so war halt damals Großmachtpolitik, im damaligen Verständnis also gerechtfertigt. Trotzdem bietet auch diese bloß erzählerische Wiedergabe der diplomatisch/politischen Vorgeschichte des Krieges viele Einsichten in die zum Krieg treibende Logik des Imperialismus.
In der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde Clarks Buch dagegen mehr in der Richtung aufgenommen, dass der Ausbruch des Krieges die Folge einer Reihe unglücklicher Umstände war, die aufgrund der noch nicht entwickelten internationalen politischen Strukturen, mangelnder Kommunikation und dem Vorhandensein mehrerer autoritärer politischer Systeme zu nicht mehr eindämmbaren Konflikten geführt haben. Insofern seien die Herrschenden nicht bewusst, sondern in einer Art „schlafwandlerischen“ Irrlauf in das Schlamassel gerutscht. Dies entspricht einer heute auch weit verbreiteten Fehlinterpretation des ersten Weltkriegs, nach der dieser so eine Art Betriebsunfall war, der durch entsprechend weise internationale Institutionen und Konfliktregelungsmechanismen verhindert werden hätte können. Nichts spiegelt diese Auffassung besser wieder als das Spiegel-Buch zum Gedenkjahr, „Der Erste Weltkrieg, Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (3). So schreibt einer der Herausgeber im Einleitungsartikel:
„Die gute alte Friedenszeit – für die Eltern, Großeltern und Urgroßeltern der heute lebenden Europäer waren dies die Jahre vor 1914. Mit boomendem Optimismus hatten viele Menschen auf dem alten Kontinent das neue Jahrhundert begrüßt. Sie glaubten an eine goldene Zukunft mit mehr Freiheit, Fortschritt und Wohlstand. Der erste Weltkrieg zerstörte unwiederbringlich dieses Vertrauen. Millionen Männer erlebten und erlitten Gewalt von solch massiver Brutalität, wie sie bis dahin in der Geschichte der Menschheit unvorstellbar war – ein idealer Nährboden für Faschisten und Kommunisten mit ihren Wahnvorstellungen vom Rassen- und Klassenkampf“ (4).
Von welchen Vorfahren der Autor hier von wegen goldener Zukunft spricht bleibt weitgehend unbekannt, die Realität des überaus harten Klassenkampfes der Vorkriegsjahre bleibt ihm ja reine Wahnvorstellung. Tatsächlich war die Vorstellung von der Brutalität eines kommenden Krieges für einen großen Teil auch der europäischen Menschen damals nichts Unbekanntes. Die „Katastrophe“ war vielmehr eine mit deutlicher Ansage – und es waren gerade die Vorkämpfer des hier im Totalitarismus-Sumpf mit dem Faschismus verwurschteten Kommunismus, die als einzige entschiedenen Widerstand gegen diesen Wahnsinn geleistet haben.
Im selben Buch erklärt dann ein anderer britischer Historiker, Hew Strachan, was die Konsequenz aus der „unvorhersehbare Katastropen“-Theorie ist: „Als der Krieg erst einmal begonnen hatte, führten ihn alle Seiten nicht aus Gründen der imperialistischen Aggression, sondern zur nationalen Selbstverteidigung. Letztlich war es dieses Bewusstsein, dass die Bürger der Krieg führenden Nationen dazu brachte, die schwere Bürde zu tragen, die ihre Regierungen ihnen auferlegten“ (5).
Hierin sieht man, wie leicht es ist, auch heute noch bestimmten Erscheinungsformen in Bezug auf den Ausbruch des ersten Weltkriegs aufzusitzen. Tatsächlich war der unmittelbare Vorlauf zum ersten Weltkrieg erstaunlich: am 28. Juni 1914 wurden der österreichische Thronfolger und seine Frau in Sarajevo erschossen. Nur 37 Tage später waren 65 Millionen Soldaten zum großen Krieg mobilisiert. Tatsächlich sogar war nach dem Attentat zunächst mehrere Wochen nicht viel passiert. Erst eine Woche vor Kriegsbeginn überstürzten sich dann die Ereignisse und auf allen Seiten sah es so aus, als ob die jeweils andere Seite Schritte setzte, auf die unbedingt reagiert werden musste. Diese Überrumpelung durch einen scheinbaren „Automatismus“ des Versagens von Abschreckung erzeugte auf beiden Seiten den Eindruck, es handle sich schlicht um eine Verteidigung gegen einen Aggressor.
Diese Erscheinungsform traf insbesondere die Arbeiterbewegung in Form der 2. Internationale völlig unvorbereitet. In den Diskussionen und Beschlüssen zur Kriegsfrage war man von einem offenen imperialistischen Aggressionskrieg ausgegangen. Darauf war man – wenigstens auf dem Papier – vorbereitet und hatte entsprechende Beschlüsse zum internationalen Widerstand auf dem Baseler Kongress 1912 getroffen (Generalstreik gegen den Krieg), auch wenn diese verpflichtender Festlegungen auf die Aktion entbehrten.
Gerade um Widerstand im Inneren zu vermeiden, bemühten sich die politischen Führungen der imperialistischen Länder (mit Ausnahme Russlands) um die Integration der sozialdemokratischen Führungen. Der Großteil von ihnen konnte gerade mit dem Argument des „Verteidigungskrieges“ gegen einen Feind, der die nationale Vernichtung androhe, gewonnen werden. Bei der deutschen Sozialdemokratie bemühte der Reichkanzler Bethmann-Hollweg in Gesprächen mit der SPD-Führung zudem die Gefahr eines Sieges des autokratischen Zarismus und der Konsequenzen für die deutsche Arbeiterbewegung – nicht ohne auch selbst Konsequenzen für eine widerständige Politik der SPD anzudrohen. Am 1. August 1914 beschloss dann bekanntlich die SPD-Fraktion bei 78 zu 14 Stimmen die Zustimmung zu den Kriegskrediten, mit folgender Begründung:
„Die Sozialdemokratie hat diese verhängnisvolle Entwicklung mit allen Mitteln bekämpft, und noch bis in die letzten Stunden hinein hat sie durch machtvolle Kundgebungen für die Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. Ihre Anstrengungen sind vergeblich gewesen. Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges… Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen“. (6)
Aus dieser Erklärung versucht das angeführte Spiegel-Buch zum ersten Weltkrieg den „kommunistischen Gründungsmythos“ vom Verrat der SPD 1914 als „an der Wirklichkeit vorbei“ (7) darzustellen. Die SPD hätte von einem Verteidigungskrieg, auch von einem jähen patriotischen Umschwung in ihrer Basis ausgehen und eine „Pariastellung“ befürchten müssen, die sie wie zu Zeiten der Sozialistengesetze wieder in den Untergrund gezwungen hätte.
Tatsächlich waren viele führende Sozialdemokraten sich durchaus über den wahren Charakter des Krieges bewusst. Auch was die Stimmung in der Arbeiterklasse zum Ausbruch des Krieges betrifft, gibt es inzwischen ganz andere Erkenntnisse. Doch beide Faktoren waren sicherlich in der offiziellen Propaganda die entscheidenden Mittel zur Gleichschaltung des Parteiapparates. Der dritte Faktor war wohl der entscheidende: die SPD-Funktionäre fürchteten um ihre Posten und ihre errungenen Machtpositionen im Falle einer Opposition gegen den Krieg, erhofften sich sogar in Form der späteren „Burgfriedenspolitik“ eine weitere Anerkennung und Integration in das herrschende System. Insofern ist die Frage des Verrats wohl weit entfernt von „Mythenbildung“.
Dass dies auch heute noch eine Rolle spielt, zeigt das offizielle Gedenken der SPD zum ersten Weltkrieg (am 14.4. im Französischen Dom zu Berlin) (8). Dabei präsentierte sich die SPD als „Friedenspartei“, die sich auch vor dem ersten Weltkrieg bis zuletzt gegen den Krieg „gestemmt“ hätte. Leider hätte es noch nicht die europäischen Institutionen gegeben, die heute den Krieg verhindern würden (!). Aber die Krise in der Ukraine zeige, dass noch nicht alle den Weg dahin gefunden hätten, ja in Russland immer noch der Traum von der „nationalen Mobilität“ (so SPD-Vorsitzender Gabriel, dem dies wahrscheinlich ein post-modernistischer Redenschreiber so ins Manuskript gesetzt hat). Auch heute noch dient der SPD also die „russische Gefahr“ zur Verschleierung deutscher imperialistischer Politik als „Friedenspolitik“.
An dieser Stelle muss einer der hartnäckigsten Mythen rund um den ersten Weltkrieg berichtigt werden: die allgemeine Kriegsbegeisterung. Gerade zur Weißwaschung der Sozialdemokratie oder aber umgekehrt zur „Entmythologisierung“ der Arbeiterklasse-„Wunschfantasien“, hält sich auch in der Linken die Erzählung davon, dass eine unbeschreibliche nationalistische Welle und Kriegsbegeisterung Europa und insbesondere auch die Arbeiterklasse im August 1914 überrollt hätte. Dagegen spricht schon mal die extrem kurze Zeit von diplomatischer Zuspitzung bis zur Mobilisierung (wenige Tage oder gar Stunden). Zuvor stürmte die nationalistische Begeisterung vor allem in der bürgerlichen Presse, die damals noch sehr geringe Teile der Bevölkerung erreichte.
Neuere Studien (die sogar ausführlich im schon besagten Spiegel-Buch von Jochen Bölsche zusammengefasst werden, aber auch z.B. in Christopher Clarks Buch auf alle Kriegsparteien bezogen angeführt werden) zeigen, dass die viel beschworene Kriegsbegeisterung vor allem auf bürgerlich-akademische Großstädter begrenzt war. Studien, die noch in den 70er-Jahren Zeitzeugen befragten, bzw. Tagebücher und Berichte aus Arbeitervierteln oder ländlichen Regionen ausgewertet haben, zeigen, dass sowohl in der Arbeiterschaft als auch bei der Landbevölkerung die Stimmung von „Entsetzen bis Panik“ (9) reichte. Noch am 18. Juli waren in Hamburg auf einer Friedenskundgebung der SPD sehr zur Überraschung (oder besser: Beunruhigung) der Parteiführung „ungeheuerliche Massen“ erschienen, die der Kundgebungsort nicht aufnehmen konnte. „Trotz strömenden Regens harrt die Menge in unübersehbarer Zahl auf den Straßen aus“. Auf die Politik der Parteiführung (die wohl von ganz anderen Stimmungen getrieben war und wohl auch eine ganz andere, wie sie verbürgerlichte Arbeiterschaft in ihrer Vorstellung hatte) reagierte ein großer Teil der ArbeiterInnen mit Entsetzen und Ratlosigkeit: „Bin ich verrückt oder sind es die anderen?“ wird ein Hamburger SPD-Arbeiter zitiert (10). Auf dem Land wurde die plötzliche Mobilisierung mehr aufgrund der unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen mit Entsetzen aufgenommen. Viele Berichte über Gottesdienste in Landgemeinden Anfang August enthalten Meldungen wie: „Die Männer weinten, die Weiber schluchzten“ (11). Offenbar bildeten vor allem junge Männer die Ausnahme, die sich durch das Versprechen eines kurzen, glorreichen Krieges Illusionen über Abenteuer und Aufstieg aus einer elenden sozialen Existenz machten. Diese Stimmung zusammen mit bürgerlich-intellektuellem Gefasel vom „Hammerschlag“, der die überkommenen Verhältnisse im alterschwachen Europa wie ein „reinigendes Gewitter“ aufbrechen würde, erzeugten jenen verhängnisvollen „Geist von 1914“, der noch später etlichen nationalistischen Gründungsmythen diente.
Hier muss auch noch ein anderer, ebenso hartnäckiger Mythos angegangen werden: der Mythos, dass man allgemein ausgegangen sei von einem kurzen Krieg, der nach Art der Entschiedungsschlachten des 19. Jahrhunderts rasch zu einem Ende kommen würde.
Ein Missverständnis in Bezug auf das Buch von Christopher Clark, „Die Schlafwandler“, ist, dass er darin die „Betriebsunfall“-These vom 1. Weltkrieg vertrete. Den Titel hat er allerdings aus einem ganz anderen Grund gewählt. Am Ende seiner langen Untersuchung der sich über Jahrzehnte immer mehr auf den Krieg zubewegenden europäischen Politik stellt er die Frage, ob die politischen Führungen wussten, was für eine Art Kriegsmassaker sie da eigentlich riskierten:
„Früher hieß es, die Europäer hätten sich dem irrigen Glauben hingegeben, der nächste kontinentale Krieg werde ein kurzer, heftiger Kabinettskrieg nach dem Muster des 18. Jahrhunderts werden: die Männer wären ‚noch vor Weihnachten‘ wieder zu Hause, wie man so schön sagte. In jüngster Zeit ist die Vorherrschaft dieser ‚Illusion eines kurzen Krieges‘ in Frage gestellt worden“ (12).
Die Tagebuchaufzeichnungen der Verantwortlichen sprechen vielmehr von einem „nahenden Armageddon“, von der „Auslöschung der Zivilisation“ und Ähnlichem. Der Grund ist ganz einfach, dass die Wirkungsweise der modernen, massenweise industriell produzierten Vernichtungswaffen, von Artillerie, Mörsern, automatischen Waffen, Maschinengewehren, Minen, etc. längst auch im praktischen Einsatz, z.B. bei den Balkankriegen bekannt war. Von den Balkankriegen, bei denen modernste französische und deutsche Waffen auf allen Seiten zum Einsatz kamen, gab es ausführliche Berichte von der verheerenden Wirkung dieser Waffen. Französische Militärchirurgen berichteten, dass trotz der geringen Zahl dieser Waffen, die weitaus größte Zahl der Toten und Verwundeten auf sie zurückzuführen waren, und sie bisher nichts vergleichbares an grauenhaften Verwundungen behandeln mussten. Sie forderten sogar ein allgemeines Verbot dieser Waffen. Die Politik antwortete darauf, dass diese Wirkungen bekannt seien, und gerade dies die Abschreckung bewirke, die einen Krieg verhindern könne. Da dies offenbar die allgemein vorherrschende Ansicht in den politischen Führungen war, meint Clark, sei es umso erstaunlicher, wie „schlafwandlerisch“ diese trotzdem, ob sie es wollten oder nicht, in den Krieg getaumelt sind. Clark führt mehrere Beispiele an, wie einzelne Entscheidungsträger noch in letzter Sekunde versuchten gegenzusteuern. Z.B. der Zar, der das entscheidende Telegramm zur Generalmobilmachung am 29.7.14 noch einmal aufhielt und am Folgetag doch den Befehl gab, der die Kette der Mobilisierungen auslöste, die unmittelbar ins Gemetzel führten. Clark meint also, dass etwas Stärkeres als sie selbst die handelnden Personen fast zu Marionetten einer zumindest am Ende unausweichlichen objektiven Tendenz Richtung Krieg gemacht hat. Was daran richtig ist, werden wir noch im Rahmen von Lenins Analyse dieser „objektiven Tendenz“ besprechen. Unbenommen bleibt jedoch, dass die Verantwortlichen wissentlich sich zum Instrument einer Politik machen ließen, die zum industriell organisierten Massenmord geführt hat. „Objektive Tendenz“ hin oder her – die persönliche Verantwortung, sich zu einem solchen Instrument machen zu lassen bleibt schlimm genug. Da hält sich dann das Mitleid für die verschiedenen von Clark beschriebenen Tränen- und sonstigen Zusammenbrüche einiger der Hauptverbrecher nach den Kriegserklärungen in Grenzen.
Tatsächlich hatten auch die Militärs mit der verheerenden Wirkung der modernen Waffen bereits gerechnet. Schon Friedrich Engels hatte aufgrund seiner Kenntnisse der neuen, industriell gefertigten Kriegswaffen wie auch der ökonomischen Auswirkungen 1887 gefolgert, dass der Kapitalismus auf einen „Weltkrieg von einer bisher nie gekannten Ausdehnung und Heftigkeit“ zusteuere. „Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet. Hungersnot, Seuchen, allgemeine… Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung … in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott;… absolute Unmöglichkeit vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird“ (13). Überraschenderweise stimmte Engels hier mit dem preußischen Generalstabschef Moltke überein, der auch von einem langwierigen „dreißigjährigen Volkskrieg“ ausging, sollte es zu einem Aufeinanderprallen der Großmächte kommen.
Ein Gutes des Jubiläumsjahres ist die Fülle an Primärquellen, vor allem Tagebuchaufzeichnungen von Soldaten oder einfach Betroffenen des Krieges. Auch zur Frage der Illusion von der Kriegsdauer gibt es da Erhellendes.
Ein österreichischer Divisionsstabsoffizier etwa beschreibt die „Aufklärung“ über die Auffassung der militärischen Führung so: Nach der oft beschriebenen triumphalen Bahnfahrt durch entsprechend mit Jubelpersonal drapierte Bahnhöfe wurden die Wagons der Division auf ein Nebengleis geschoben.
„Generalstabsoffiziere vom Kriegsministerium besuchten uns hier. Sie erzählten von der gedrückten Stimmung, die in den höheren Kreisen als Folge der russischen Kriegserklärung entstand, man war bestürzt, hatte dieses seit Jahren gefürchtete Ereignis nicht mehr erwartet gehabt. Die Ereignisse waren ihnen, wie dem Zauberlehrling, über den Kopf gewachsen. Die Dauer des Krieges erschien ihnen auch nicht so kurz angenommen zu werden, wie es die Volksmeinung war; letztere lautete auf 3 Monate, und bis Weihnachten hoffte jeder wieder zu Hause zu sein: Das Ministerium aber rechnete seit der Kriegserklärung Rußlands mit einem langen Krieg, der bis zum Mai des folgenden Jahres dauern würde. Das kam uns ebenso unabsehbar wie gänzlich unwahrscheinlich vor und laut hätte dieser Herr die Meinung des Ministeriums gewiss nicht verlauten lassen dürfen. – Bis Mai! Also für einen 9-monatigen Krieg war unser Staat vorbereitet. Das hatte immerhin eine Dämpfung der ersten Begeisterung zur Folge“ (14).
Dass auch diese 9 Monate (ähnliche Schätzungen gab es in fast allen Generalstäben) noch nachträglich als optimistische Illusion erscheinen, lag weniger an einer fehlenden Einschätzung der zu erwartenden Massenschlächterei. Gerade im Wissen um die Wirkung der Waffen, die ökonomischen Folgen und zu erwartenden Kapazitätsengpässe der Rüstungsproduktion, der zu erwartenden Versorgungsprobleme auch an der Heimatfront etc., planten alle Generalstäbe mit überraschenden, heftigen Anfangsschlägen, die rasch zur Entscheidung drängen sollten – allenthalben als „Offensivstrategie“ benannt. Dazu zählten der Schlieffenplan (Umgehung der stark befestigten Vogesenfront der französischen Armee durch eine breite Umfassung deren linken Flügels über einen Vorstoß durch das neutrale Belgien), ähnliche Offensivstrategien Russlands über Galizien und Ostpreußen wie auch der Plan der deutschen und österreichischen Stäbe eines Zangenangriffs in Richtung Weißrussland. Tatsächlich erwiesen sich diese Offensivstrategien nicht verwirklichbar angesichts der dafür mangelnden Transportmittel (Eisenbahnen ermöglichten zwar gewaltige Truppenbewegungen – aber eben nur bis zu den Ausgangsstellungen der Mobilisierung; Pferdefuhrwerke und die wenigen Automobile erwiesen sich für schnelle Vorstöße nicht als geeignet), der dafür mangelnden Kommunikationsmittel (Funkverbindungen wurden erst später stärker genutzt; Telefonleitungen spielten nur im Stellungskrieg eine Rolle), der mangelnden Aufklärungsmittel (Flugzeuge kamen auch erst später im Krieg immer mehr zum Einsatz) als auch der mangelnden taktischen Ausrichtung der Kampfverbände (es wurden anfangs ganze Kompanien in geschlossener Formation zum Frontalangriff eingesetzt; erst später ging man dazu über, große Verbände in kleinen, locker formierten Gruppen vorrücken zu lassen, was einen größeren Kommunikationsbedarf erzeugt).
So scheiterte der famose Schlieffenplan nach Anfangserfolgen an ganz banalen Kommunikations-/Koordinierungsproblemen zwischen zwei der am rechten Flügel schnell vorrückenden deutschen Armeen bzw. diesen und dem Oberkommando und endete im Debakel des Marne-Schlachtens. Unter diesen Voraussetzungen wurde die Offensivstrategie sogar zu einem Multiplikator des Massenmordens. Statt die Gräuel des Krieges gering zu halten, führte diese Strategie zum massenweise Anrennen der Infranterie gegen feindliche Artillerie und Maschinengewehre und damit gerade im ersten Kriegsjahr zu einem beispiellosen Massensterben bei den vorstürmenden Soldaten.
So schreibt der schon erwähnte Artillerie-Stabsoffizier, dass anfänglich die Doktrin vorherrschte „Jeden Erfolg bringt nur der Angriff… Sie war es, die schlecht verstanden, in den ersten Schlachten die Infantrie verbluten ließ. Jedenfalls war nach diesen Einleitungskämpfen die Infantrie nahezu verschwunden“ (15). „Bei der immer größer werdenden Zahl der Geschütze sank die Infanterie immer mehr zu einem bloßen Schutz der Artillerie herab… Auf ein Wort wurde das Feuer von 60 Geschützen in einen bestimmten Raum geworfen, dann wieder verlegt… So ersetzte sie auch wirklich in vielen Fällen die Infantrie, und damit offenbarte sich zum ersten Mal der enorme Wert der Maschine. Sie ersetzte den Menschen, und dieser wurde zum Bedienenden der Maschine herabgesetzt. So wurde der Krieg überhaupt allmählich zu einem Krieg der Maschinen. Vor einer plötzlichen Umwandlung bewahrte uns aber die Industrie; sie vermochte… mit dem wochenlangen Verbrauch der ersten Schlachten nicht Schritt zu halten, sie war noch in einem Übergangsstadium…“ (16).
Tatsächlich wurde nach den ersten Schlachten der Krieg immer mehr zu einer Fortsetzung der Ökonomie der Rüstungsindustrien mit anderen Mitteln. Krupp wurde, wie es so schön heißt, vom „Welt-Kriegs-Konzern zu einem deutschen Weltkriegskonzern“. Der Wegfall des Großteils der Auslandsmärkte wurde bei weitem wettgemacht durch die ungeheure Auftragsmenge des Militärs. Auch die zur Front eingezogenen Arbeiter wurden ersetzt durch Arbeiterinnen und immer verstärkter durch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter (dies ist kein Privileg des zweiten Weltkriegs). Als nach den ersten Schlachten die Munition knapp wurde, wurden insgesamt die Rüstungskapazitäten entsprechend umgestellt. Am Ende ist schwer zu sagen, ob die folgenden Materialschlachten mehr aufgrund militärischer Logik oder mehr als Abbau von Rüstungsüberkapazitäten zu erklären sind. Auf jeden Fall konnten die wichtigsten deutschen Stahl- und Montanbetriebe ihre Gewinne vom letzten Vorkriegsjahr bis 1917 um 800 Prozent steigern (17). Ähnliche Schätzungen gibt es bei allen kriegführenden Ländern und ihren Rüstungsindustrien. Übrigens hebt Clark hervor, dass die österreich-ungarische Industrie der Vorkriegszeit gemeinhin stark unterschätzt wird. Tatsächlich befand diese sich vor dem Krieg in einer expansiven Phase. Dies ermöglichte auch die Herausbildung einer vergleichsweise starken Rüstungsindustrie rund um die Skoda-Werke.
Die Stärke der deutschen und österreich-ungarischen Rüstungsindustrie ist tatsächlich der Grund, warum die Mittelmächte nach dem Desaster ihrer Offensivstrategie zu Kriegsbeginn ab 1915 insgesamt einen wachsenden strategischen Vorteil bekamen. Dies führte insbesondere im zweiten Kriegsjahr zum fast völligen Kollaps der russischen Armeen und zur Niederlage Serbiens. Russland konnte nur durch massive Unterstützung der westlichen Verbündeten stabilisiert werden. Außerdem trat Italien auf Seiten der Entente in den Krieg und erzwang für Österreich-Ungarn eine zweite Front.
Den größeren Produktionskapazitäten der Mittelmächte wirkten jedoch aufgrund der britischen Flottenblockade Versorgungs- und Rohstoffengpässe entgegen. Insbesondere der völlige Wegfall bestimmter kriegswichtiger Rohstoffe (z.B. Salpeter aus Chile, der bis dahin die Grundlage für die Sprengstoffproduktion war) führte dazu, dass die chemische Industrie und ihre Ersatzstoffproduktion immer wichtiger wurde. Die BASF mit ihren Werken in Oppau und Leuna zur Salpeter-Gewinnung aus synthetischem Amoniak wurde entscheidend dafür, dass die Mittelmächte überhaupt in der Lage waren, den Krieg fortzusetzen. Die Position der chemischen Kriegsproduzenten wurde auch politisch derart stark, dass ihre Wünsche, z.B. Einsatz von Zwangsarbeit, der politischen Führung praktisch Befehl waren.
Mit dem zweiten Kriegsjahr begannen sowohl in Russland als auch bei den Mittelmächten immer größere Widerstandsaktionen von ArbeiterInnen und Landbevölkerung gegen die miserable Ernährungssituation und die immer unerträglicheren Bedingungen besonders in der Rüstungsindustrie. Sowohl Russland als auch die Mittelmächte versuchten daher wiederum 1916 den Krieg möglichst rasch durch Offensiven im Osten wie im Westen (z.B.Verdun, Arras) zu beenden – mit ähnlichen Resultaten wie schon 1914. Die russische Brussilow-Offensive brachte zwar Geländegewinne, aber forderte über eine Million tote russische Soldaten! Während sich die Mittelmächte danach wieder im Stellungskrieg behaupten konnten, war Russland de facto militärisch und ökonomisch erledigt, die objektiven Bedingungen für die Revolution waren überreif. Ebenso waren für Österreich-Ungarn die Verluste an Soldaten und Kriegskosten ein innerer Sprengsatz, der immer mehr zum Separatfrieden drängte. Doch auch die Westalliierten waren am Limit ihrer ökonomischen Möglichkeiten und waren von Importen aus den USA abhängig, finanziert durch eine enorme Verschuldung beim US-Kapital. Nach dem Ausscheiden Russlands, der de facto Niederlage Italiens (Zusammenbrechen der Isonzofront nach der Schlacht bei Caporetto) und der Niederlage Rumäniens war die Lage der Entente daher Ende 1917 ziemlich düster. Nach den gescheiterten Offensiven 1917 brachen bei 54 französischen Divisionen Meutereien aus, 23.000 Soldaten wurden vor Kriegsgerichte gestellt.
Die USA mussten wohl um ihr Investment fürchten, erkannten aber vor allem wohl die Gelegenheit, den allseitig erschöpften Kriegsparteien ihre Vorstellungen einer neuen Weltordnung aufzuzwingen. Das direkte militärische Eingreifen der USA 1918 brachte letztlich die Entscheidung an der Westfront.
Während allerdings der Ausbruch des Krieges in atemberaubend schnellem Tempo vor sich ging, ist die Geschichte seiner Beendigung von quälend langsamem Tempo bestimmt. In gewisser Weise war nach den ersten verlustreichen Schlachten klar, dass der Krieg von keiner Seite schnell zu gewinnen war. Die Defensivwaffen waren so dominierend, dass sie allen Armeen praktisch das Eingraben in die Schützengräben aufzwangen. Ausgeklügelte, mehrstufige Grabensysteme gekoppelt mit Verminung, Drahthindernissen, MG-Stellungen und der alles dominierenden Artillerie machten Angriffe praktisch zu Himmelfahrtskommandos. Unter ungeheuren Anstrengungen und Verlusten wurden daher immer wieder vergebliche Versuche unternommen, aus dieser Erstarrung und Zermürbung in Massenschlachten auszubrechen. Im Grunde genommen musste abgewartet werden, bis eine der Seiten ökonomisch und politisch zusammenbrach. In diesem Zusammenhang gab es seit dem zweiten Kriegsjahr die verschiedensten politischen Projekte, den Krieg zu beenden. Im letzten Teil dieses Artikels werden wir ausführlich darauf eingehen, warum eine rasche Beendigung des Krieges durch eine Art „Verständigung“ auf den Status Quo, also ein Eingeständnis des militärischen Patts auf politischer Ebene derart unmöglich war, dass der Krieg trotz aller Verluste und Gefahren von den Großmächten weiter und weiter geführt wurde und letztlich in einer Periode von Zusammenbrüchen, Bürgerkriegen und Revolutionen münden musste. Insofern ist der Krieg auch mit den Waffenstillständen 1918 noch lange nicht vorbei. Die folgenden bewaffneten Auseinandersetzungen auf regionaler Ebene, die Revolutionen und Bürgerkriege dauerten noch mindestens bis ins Jahr 1923. Auch die Friedensverträge, die immer wieder durch weitere Abkommen ergänzt werden mussten, brauchten etwa bis zu diesem Jahr, um eine Art neue Ordnung zu etablieren.
Neben den erwähnten Elementen des Schützengrabenkrieges hat vor allem eine Waffe das Bild des Krieges geprägt: der Einsatz von chemischen Kampfstoffen wie Chlorgas, Phosgen und Senfgas. Wenn die Geschosse schon die Soldaten in ihren Schutzstellungen schwer treffen konnten, so kamen die Gasschwaden bis in die letzten geschützten Winkel der Stellungen. Wenn das Phosgen die Soldaten zum Kotzen brachte, erlöste sie das tödliche Senfgas von ihren Qualen – so das „humanistische“ Kalkül der chemischen Industrie. Unmittelbar gab es durch Gas deutlich weniger Tote als durch Artillerie und MGs, vor allem nachdem praktisch überall Gasmasken und Ähnliches in den Stellungen verteilt waren. Allerdings ist die Zahl der Verletzten und Langzeitgeschädigten enorm gewesen. Vor allem aber verbreitete der Gaskrieg Angst und Schrecken unter den Soldaten. Er bestätigte vervielfacht Napoleons bekannten Ausspruch, dass das Wesen des Krieges der Terror ist. Dass es also darum geht, die Masse der feindlichen Soldaten durch Verluste und Grauen so zu demoralisieren, dass die Überlebenden aufhören weiter zu kämpfen.
Es gehört zur Tragik der Kriegsgeschichte, dass gegen Ende des Krieges die Militärs gelernt hatten, wie man Offensivstrategien effektiv anwendet. Dies betrifft die Taktiken in Durchbruchsaktionen (besonders eindrucksvoll in der Schlacht von Caporetto, in der Militärs wie Rommel ihre Ideen für den künftigen Krieg gewannen) und den damit verbundenen Sturm-, Nachrichten- und Kommunikationstechniken. Es betrifft die erhöhte Mobilität über massenhaften Einsatz von Automobilen, aber auch den Bedeutungszuwachs des Luftkrieges. Beides brachte auch den Umschwung von Kohle zu Öl als dem entscheidenden strategischen fossilen Rohstoff – deswegen auch die Kriegsaktionen um die Ölfelder im Nahen Osten und im Kaukasus. Am Ende des Krieges zeigte auch der Einsatz von Panzern durch die Briten eine weitere Dimension der mobilen Offensivtaktiken. All dies führte die Militärs – wie gesagt tragischerweise – am Ende des Krieges zu der Überzeugung, dass trotz der schrecklichen Erscheinungen des Krieges, der Krieg wieder „führbar“ geworden sei. Wiederum waren sie der Überzeugung, durch die modernen Kriegstechniken seien Kriege nunmehr kurz und bündig als „Blitzkrieg“ zu führen.
Eindrucksvoll fasst die Menschen-Massenvernichtung, die im ersten Weltkrieg an der Tagesordnung war, wiederum der besagte Stabsoffizier in nüchternen Worten zusammen: „Am Ende des [ersten Kriegs-] Jahres wurde bei jedem Divisionskommando auf Befehl des Kaisers eine genaue statistische Zusammenstellung der bisherigen Verluste an ‚Menschenmaterial‘ gemacht… Die Gesamtverluste der Division betrugen über 30.000 Mann, d.h. der doppelte anfängliche Stand der Division [von 15.000] wurde außer Gefecht gesetzt. Die Zahl der Vermissten, d.h. der Gefangenen und unauffindbaren Toten betrug allein gegen 9.000 Mann. Es ist schwer sich vorzustellen, was dies bedeutet…. 15.000 Mann waren also ausgezogen und verschwanden wieder zur Gänze, noch einmal kamen 15.000 Mann und verschwanden wieder zur Gänze, und von den nächsten blieb wieder nur der augenblickliche Stand von ca 4.000 Mann übrig“ (18).
Dies zeigt am Beispiel einer Division im ersten Kriegsjahr, was hinter den abstrakten, ungeheuren und kaum vorstellbaren Gesamtzahlen steht: Von den etwa 60 Millionen eingesetzten Soldaten fiel jeder sechste, fast 6.000 Mann täglich. Millionen kehrten überdies als Kriegsversehrte heim. Und auch der Rest war zeitlebens von den Grauen des Erlebten schwer gezeichnet.
Zu diesem Grauen gibt es vielfältige Beschreibungen. Besonders drastisch wieder der besagte Offizier zu den Leiden an der Isonzofront im Karstgebirge:
„Noch ärger war der Geruch der Leichen, die überall herumlagen und die niemand begraben konnte, da sie an unzugänglichen Stellen lagen. Es gab Lücken in den Steinmauern, in denen Leichen waren, aber wer in die Nähe kam, wurde vom Feind erbarmungslos erschossen. Und so steckten die Leichen zwischen den Gesteinstrümmern, andere waren in den Dolinen beerdigt worden, nur mit einer Schicht kleiner Steine bedeckt. Aber eine Granate riss wieder die Decke auf, zerfetzte die Reste von Leichen und schleuderte sie den Überlebenden ins Gesicht… Leichen steckten auch vor den Mauern in den Drahthindernissen…. Auch sie konnten nicht geborgen werden. Sie waren dazu verdammt, in der Sonnenglut zu verfaulen… Ja, noch mehr! Auch Schwerverwundete blieben oft bei einem Sturm liegen, blieben dann hilflos in den Drahtverhauen stecken, bis sie verblutet waren. Selbst in diesem Fall ließ der Feind die Rettung der Unglücklichen nicht zu… So mussten die Leute weiter leiden, und grauenhaft drangen durch die Nacht ihre Hilferufe, bis einige Kameraden sich ihrer in einer geradezu bestialischen Weise erbarmten: Sie eröffneten auf die Sterbenden ein gezieltes Infantriefeuer, bis sie durch ein mitleidiges Geschoß ihrer mitleidlosen Kameraden erlöst waren. Der Geruch der verwesten Leichen, die vor der Stellung lagen, war so unerträglich, dass man den Kampf gegen ihn aufnehmen musste. Zunächst suchte man die Leichen zu verbrennen, indem man sie aus Spritzen mit der brennenden Flüssigkeit überschüttete, die man sodann anzündete. Dazu gab man den Leuten Watte, um sich die Nase damit zu verstopfen. … Kein Mensch hielt es länger als 6 Tage in der vordersten Linie aus. Er war dann mit seiner Kraft am Ende, wenn er überhaupt noch am Leben war… Dort lagen sie nun, zusammengekauert 6 Tage hinter einem Steinhaufen. Hungerten bei Tag, froren in der Nacht; wenn einmal Essen kam, so war die Luft verpestet von dem Gestank der Leichen und des eigenen Auswurfs. Die da kämpften waren keine Helden, sondern bedauernswerte Geschöpfe, wahre Märtyrer“ (19).
Am Ende des Krieges kam der k.u.k-Offizier zu einer weitreichenden Schlussfolgerung: „Wer kann noch an den Wert der Nation glauben? Noch ein paar Dezennien und die Menschheit wird zu der Einsicht kommen, dass von der Nation überhaupt kein Fortschritt mehr zu erwarten ist. Das Heil der Menscheit liegt im Internationalismus… Der Anfang ist jedenfalls durch die soziale Bewegung gemacht…. Heute herrscht der Imperialismus. Doch auch dieser wird durch den Sozialismus [… überwunden] und wird schließlich zu einem internationalen Sozialismus gelangen, der keine Nationen, keine Staaten mehr kennen wird. Wir sind am Ende dieser Einrichtungen angekommen, welche die Ursache aller Kriege waren“ (20).
Die Frage nach den Ursachen des Krieges ist von dem Frontoffizier schon richtig gestellt und, wie von vielen am Ende des Krieges, mit Imperialismus und Nationalismus in Verbindung gebracht worden. Doch was die Überwindung dieser Ursachen und „das Ende aller Institutionen, die zum Krieg führen“ betrifft, hatte er wohl keine Vorstellung davon, welche Kämpfe dazu noch notwendig sein würden.
Viele SozialistInnen waren vom Ausbruch des Krieges und vor allem vom ausbleibenden Widerstand dagegen, ja der Zustimmung der Führungen der Zweiten Internationale für ihre Finanzierung, erschüttert. Als Lenin von der Zustimmung der SPD-Fraktion zu den Kriegskrediten hörte, hielt er dies zu erst für einen Propagandatrick des deutschen Generalstabs. Als Rosa Luxemburg, die es auch erst nicht glauben wollte, die Bestätigung dafür erhielt, wollte sie sich in einem ersten Ausbruch von Verzweiflung umbringen, um ein Fanal gegen Krieg und Verrat zu setzen.
Doch Lenin fand schnell zu eindeutigen Analysen und einer radikalen Antwort zurück. Isoliert von den unmittelbaren Ereignissen im Schweizer Exil verbreitete er über illegale Wege seine Position im Parteiorgan „Sozial-Demokrat“ in die russischen Parteizellen, wo sie bald starken Widerhall fand. Schließlich gelang es im März 1915 die Exilgruppen der Partei in Bern zu einer Konferenz zusammen zu bringen, auf der Lenins Position detailiert ausgearbeitet und diskutiert wurde. Später fasste Lenin die Ergebnisse in der Broschüre „Sozialismus und Krieg“ zusammen, die weite Verbreitung fand und zur Grundlage der kommunistischen Anti-Kriegspolitik wurde.
Ausgangspunkt ist, dass SozialistInnen „die Kriege unter den Völkern stets als eine barbarische und bestialische Sache verurteilt“ haben (21), aber als MarxistInnen anerkennen, dass es Kriege geben wird, solange die Klassenunterdrückung nicht abgeschafft ist und sozialistische Verhältnisse herrschen. So dass wir „die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen, d.h. von Kriegen der unterdrückten Klasse gegen die unterdrückende Klasse“ (22).
Insofern müssen Kriege immer unter ihren bestimmten historischen Bedingungen betrachtet werden. So eröffnete die französische Revolution eine Epoche, in der „bürgerlich-fortschrittliche nationale Befreiungskriege einen besonderen Typus von Kriegen“ darstellten (23). Die Hauptinhalte dieser Kriege waren die Beseitigung von feudaler und absolutistischer Rückständigkeit bzw. die Befreiung von nationaler Unterdrückung. Nur in diesem Sinn konnte von einem „Verteidigungskrieg“ gegen die Bedrohung von absolutistischer und sonstiger Fremdherrschaft gesprochen werden.
„Aber stellen wir uns einmal vor, ein Sklavenhalter, Besitzer von 100 Sklaven läge im Kampf mit einem anderen Sklavenhalter, Besitzer von 200 Sklaven, um die ‚gerechtere‘ Neuaufteilung der Sklaven. Es ist klar, dass die Anwendung der Begriffe ‚Verteidigungs’krieg oder ‚Vaterlandsverteidigung‘ auf einen solchen Fall historisch verlogen und praktisch ein glatter Betrug wäre, begangen von gerissenen Sklavenhaltern am einfachen Volk… Ganz genauso werden im gegenwärtigen Krieg, den die Sklavenhalter führen, um die Sklaverei aufrechtzuerhalten und zu verstärken, die Völker von der heutigen imperialistischen Bourgeoisie mittels der ‚nationalen‘ Ideologie und des Begriffs der Vaterlandsverteidigung betrogen“ (24).
Lenin stellt klar: der Weltkrieg ist ein imperialistischer Krieg auf beiden Seiten. Es ist belanglos, welche diplomatischen Verwicklungen dazu führen, wer wann wie die Kette der Ereignisse ausgelöst hat. Entscheidend ist das objektive Interesse der herrschenden Klassen aller Seiten. An der Aufteilung der Welt zur gerechteren Verteilung der Profite zwischen Krupp, Armstrong, Schneider-Creussant, Skoda und so weiter ist nichts, wo irgendein normaler Mensch etwas zu „verteidigen“ hat. Die abstrakten Prinzipien, die herangezogen wurden: „Verteidigung der Neutralität gegen einen Agressor“ (Belgien), „Kampf gegen den Terrorismus“ (de facto Österreich-Ungarn gegen Serbien), „Verteidigung der nationalen Souveränität“ (Frankreich und Russland für Serbien) waren allesamt leicht erkennbare Schleier über den wirklichen Interessenskonflikten, die zum Krieg geführt haben.
Was ist nun das Besondere an einem zum Imperialismus entwickelten Kapitalismus und inwiefern musste diese Entwicklung zum Weltkrieg führen?
Lenin charakterisierte bekanntlich den Imperialismus als ein Stadium, in dem sich in zentralen Wirtschaftsbereichen die Konzentration des Kapitals in riesige Großkonzerne („Monopole“) zu einer beherrschenden Stellung herausgebildet hat, die mit großen Finanzkapitalen (Banken und Finanzierungsgesellschaften) verschmolzen sind. Diese Konglomerate dominieren die nationalen Ökonomien ihrer Mutterländer und stehen auf globaler Ebene in heftigem Konkurrenzkampf um Absatz- und Kapitalexport-Märkte. So sehr sich auch die Konkurrenz im nationalen Rahmen vermindert, so sehr verschärft sich die internationale Konkurrenz. Insofern werden die Staaten, mit denen diese Konzerne verbunden sind, zu wichtigen Instrumenten dieses Konkurrenzkampfes. Sie leiten in die Wege und sichern Großaufträge, erzwingen den Schutz von Absatzmöglichkeiten, erleichtern Finanzierungsprobleme durch KredItvermittlung, etc. etc.
Damit entsteht notgedrungen ein Gefälle zwischen Staaten, die eine solche Rollen spielen können für das Monopolkapital und solchen, die das nicht schaffen. Eine Differenz zwischen Großmächten und untergeordneten, bis hin zu abhängigen Staaten entsteht, die sich in eine „globale Ordnung“ verfestigt. D.h. auf der Grundlage monopolkapitalistischer internationaler Konkurrenz entsteht ein System von Großmächten, das die Welt unter sich aufteilt. Dabei müssen die jeweiligen Großmächte nicht unbedingt alle fortgeschrittenen Merkmale „des Imperialismus“ erfüllen (z.B. eine weltbeherrschende Bank beheimaten) – der Imperialismus ist vielmehr ein globales Gesamtsystem, in dem auf einer bestimmten Kapitalstruktur eine Struktur von Mächterelationen entsteht, die sich aus verschiedenen historischen Momenten ergibt. So war das zaristische Russland ebenso wie Österreich-Ungarn zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Aspekten unterentwickelt, was die Bedeutung von Finanz- und Monopolkapital in wesentlichen Branchen betrifft. Auch war Frankreich zwar in Bezug auf das Finanzkapital führend, fiel aber in Bezug auf das Industriekapital stark zurück.
Diese Länder waren aber entscheidende Großmächte im imperialistischen Gesamtsystem., waren im Fall von Frankreich eine Kolonialmacht, während die anderen beiden sich zu gewaltigen „Völkergefängnissen“ entwickelt hatten, in denen das Kapitalverhältnis über die feudalen Restbestandteile die Überhand gewann. Beide letzteren konnten daher im Jahrzehnt vor dem Weltkrieg eine erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung durchmachen. Andererseits bestehen abhängige Länder in diesem System nicht einfach nur als Kolonien, also in direkter staatlicher Unterwerfung. Einige Länder mögen durch ihre ökonomische Abhängigkeit von Kapitalimporten, Krediten und Handelsbeziehungen sowie durch politische Beziehungen derart von einer Großmacht dominiert werden, dass sie deren Halb-Kolonie darstellen (wie z.B. Serbien in Bezug auf Russland/Frankreich vor dem Weltkrieg). Oder aber ein Land kann zwar selbst nicht als Großmacht auftreten, ist aber ökonomisch stark genug, um im Verbund mit anderen oder zwischen ihnen lavierend als untergeordneter Imperialismus aufzutreten (z.B. Belgien und Niederlande als Kolonialmächte mit engen Beziehungen zu Großbritannien wie auch zu Deutschland).
Das imperialistische System ist also als ein dynamisches Gesamtsystem zu verstehen. Und hier kommt ein wesentliches weiteres (Entwicklungs-)Merkmal des Imperialismus ins Spiel, das Lenin hervorgehoben hat: die ungleichzeitige Entwicklung.
„Unter kapitalistischen Bedingungen ist ein gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten unmöglich. Unter dem Kapitalismus gibt es keine anderen Mittel, das gestörte Gleichgewicht von Zeit zu Zeit wiederherzustellen, als Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik… Nach 1871 erstarkte Deutschland etwa drei- bis viermal so rasch wie England und Frankreich, Japan annähernd zehnmal so rasch wie Russland. Um die tatsächliche Macht eines kapitalistischen Staates zu prüfen, kann es kein anderes Mittel geben als den Krieg. Der Krieg steht in keinem Widerspruch zu den Grundlagen des Privateigentums, er stellt vielmehr eine direkte und unvermeidliche Entwicklung dieser Grundlagen dar“ (25).
Tatsächlich ist der Aufstieg Deutschlands zu einer der führenden Industrienationen nach der Reichsgründung ein Faktor, der das ökonomisch-politische Kräfteverhältnis in Europa wesentlich veränderte. Im Allgemeinen war das 19. Jahrhundert durch den Aufstieg Britanniens zur unangefochtenen Welt-Industriemacht gekennzeichnet, die gleichzeitig durch eine gezielte Freihandelspolitik die Öffnung der Märkte für die konkurrenzlose britische Industrieware erzwang.
Allerdings kam das Modell des liberalen Industriekapitalismus nach einer stürmischen Wachstumsperiode um 1870 zu einem krisenhaften Ende, dem eine mehr als 20-Jährige Phase der Stagnation und teilweise sogar Depression folgte. Dies war der Hintergrund einer Rückkehr protektionistischer Methoden und aktiverer staatlicher Wirtschaftspolitik. Zudem führte die Krisenperiode zu einer zusätzlichen Beschleunigung der Konzentration von Industrie- und Finanzkapitalen. Bis zur Mitte der 1890er Jahre hatten sich zudem viele Potenziale für eine neue Wachstumsperiode angesammelt (Ausbau des Eisenbahnnetzes, Innovationen in der Elektroindustrie wie Elektromotoren, ausgebaute Stromnetze, neue Verfahren zur Stahlproduktion, Aufstieg der chemischen Industrie mit einer Unzahl neuer Verfahren, Anfänge der Automobilindustrie, erster Ausbau der Telefonnetze,…).
Die ab etwa 1895 einsetzende stürmische Wachstumsperiode ermöglichte daher besonders neu aufsteigenden Industrienationen wie Deutschland, Japan und den USA eine Expansion auf sehr viel modernerer und größerer Stufenleiter, als es für die „alten“ Industrienationen England und Frankreich möglich war. Innerhalb kurzer Zeit war daher z.B. Deutschland in der Lage, den Weltmarkt im Bereich der chemischen Industrie zu dominieren (um 1900 war der Weltmarktanteil der deutschen chemischen Industrie bei 90%). Insgesamt überflügelte die deutsche Industrieproduktivität die britische um das Doppelte. Dies muss allerdings vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Deutschland erst im Umbruch zu einer Industrienation war, also erst in dieser Phase die Mehrheit der Deutschen aus dem landwirtschaftlichen Sektor in den industriellen Sektor wechselte, während dies in Britannien schon längst der Fall war. Daher war die Gesamtproduktivität der britischen Wirtschaft bis knapp vor dem ersten Weltkrieg noch vorne. Die Zahlen bleiben jedoch eindrucksvoll: von 1895 bis 1913 schnellte die deutsche Industrieproduktion um 150% in die Höhe, die Metallproduktion um 300%, die Kohleproduktion um 200%. Im Jahr 1913 erzeugte und verbrauchte die deutsche Wirtschaft 20% mehr Strom als Britannien, Frankreich und Italien zusammen. Während 1880 Britannien mit 19,9% der Weltindustrieproduktion an der Spitze lag, war es um 1900 hinter die USA und Deutschland auf Platz drei gefallen. Während die deutsche Industrieproduktion von Reichsgründung bis 1913 ihren Weltmarktanteil vervierfacht hatte, hatte die britische ein Drittel ihres Anteils verloren. Während Britannien 1880 noch 22,4% des Welthandels kontrollierte, war 1913 diese Zahl auf 14,2% geschrumpft, und Deutschland war mit 12,3% hart auf den Fersen.
Diese Zahlen zeigen, dass das Aufkommen des neuen monopolkapitalistischen Akkumulationsregimes in den 1890er Jahren zu einer für den Kapitalismus neuen Qualität der Konkurrenz von Nationalstaaten führen musste. Die „alten“ Kapital-Nationen Britannien und Frankreich mussten sich einer überaus dynamischen Konkurrenz neuer „Aufsteiger-Kapitalisten“ zur Wehr setzen. Überdies drohten alte Großmächte wie Russland und Österreich-Ungarn völlig von den ökonomisch stärkeren Nationen überrollt zu werden. So entwickelte sich das Modell von Verschmelzung von nationalem Industrie- und Finanzkapital mit staatlicher Großmachtpolitik, die den Imperialismus ausmacht. Die neue Epoche bot auch neue Möglichkeiten für globale Machtpolitik: Handels- und Kriegsmarinen waren ausgebaut genug, um Waren, Kapital und Soldaten in relativ kurzer Zeit an jeden Punkt der Welt zu bringen; das Finanzkapital hatte eine Stufe erreicht, auf der über Kredite ganze Staaten „gekauft“ werden konnten; riesige Rüstungsfabriken konnten industrielle Massenvernichtungsmittel ungekannter Wirkung produzieren; Finanzmittel und Institutionen waren vorhanden, um ganze Regionen in Besitz zu nehmen und „zu entwickeln“, etc..
Die herausgeforderten alten Großmächte reagierten auf die aufstrebenden neuen Mächte mit einer wesentlichen Steigerung ihres Kolonialismus, nicht zuletzt, um sich Absatzmärkte und Rohstoffquellen zu sichern. Wie Lenin in seiner Imperialismus-Schrift zeigte, nahm z.B. der europäische Kolonialbesitz im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts um fast 80% zu. Besonders weist er hin auf die extreme Zunahme von Inbesitznahmen durch Britannien, Frankreich und Russland um die Jahrhundertwende.
Dieser Run auf Kolonien brachte naturgemäß zunächst diese Großmächte in Konflikt untereinander. Während Frankreich und Russland wenig Berührungspunkte in Bezug auf Kolonialansprüche hatten, waren beide jeweils in heftige Konflikte mit Britannien verwickelt: Frankreich vor allem in Afrika, Russland vor allem in Indien/Afghanistan, Persien und beim Kampf um die Aufteilung des osmanischen Reiches. Andererseits zeigten der russisch-japanische Krieg 1905 und die verheerende russische Niederlage, dass der Konflikt mit den aufstrebenden Mächten unvermeidlich heraufzog.
Deutschland hatte für einen Run auf Kolonien eine wesentlich schlechtere historische Ausgangslage und bekam im Wesentlichen nur einige Brosamen vom Tisch der Etablierten ab. Andererseits war Deutschland als aufsteigende Wirtschaftsmacht auch weniger auf solche Maßnahmen angewiesen. Hugo Stinnes, einer der berüchtigsten Kohle-, Stahl- und Strommagnaten des deutschen Monopolkapitals, meinte 1911 zu einer Kampagne der „Alldeutschen Bewegung“ (einer extrem nationalistischen Propagandagesellschaft der Kaiserzeit) für koloniale Eroberungskriege: man könne doch stattdessen „nach und nach die Aktienmehrheit von diesem oder jenem Unternehmen erwerben“, die „Kohleversorgung Italiens an sich bringen“ oder „wegen der notwendigen Erze in Schweden und Spanien unauffällig Fuß fassen“ und sich „sogar in der Normandie festsetzen“ und so insgesamt „innerhalb weniger Jahre… die deutsche Vorherrschaft in Europa im Stillen“ erreichen (26). In diesem Sinn hielt eine wichtige Kapitalfraktion nicht viel von Kolonial- und Kriegspolitik, war aber immer bereit militaristisches Säbelgerassel zu fordern, um von den Kolonialmächten entsprechende Konzessionen zu erzwingen. Während somit nach Bismarcks Abdankung in der deutschen Außenpolitik die „Großmachtpolitiker“ das Sagen hatten, waren sie einerseits sowohl durch die weltpolitischen Realitäten eingeschränkt als auch willige Erfüllungsgehilfen für die expansionistischen Interessen des eigenen Monopolkapitals.
Besonders deutlich wird dies in den beiden „Marokkokrisen“ von 1905 und 1911 im Zusammenhang mit der kolonialen Aneignung Marokkos durch Frankreich. 1905 wurde Marokko praktisch zum französischen Protektorat erklärt, offenbar in Absprache mit Britannien und Russland. Deutschland reagierte vor allem deswegen „empört“, da es in den Deal nicht einbezogen worden war. So wurde Kaiser Wilhelm plötzlich zum Schirmherrn des „armen entrechteten Sultans“ und verlangte eine internationale Konferenz mit viel Säbelgerassel. Heraus kam das „Abkommen von Algericas“, das (neben einigen unbedeutenden kolonialen Brosamen) es Krupp und Thyssen (über eine Beteiligung an Schneider/Creusot) ermöglichte, die marokkanischen Bergwerke auszubeuten. Damit war für das deutsche Kapital der eigentliche Zweck der Unternehmung erreicht.
Auf politischer Ebene hatte das Ereignis allerdings die Wirkung, dass das Bündnis Britannien/Frankreich/Russland verfestigt wurde. Während Britannien und Frankreich ihre Kolonialinteressen in Afrika und Asien im Wesentlichen abgesteckt hatten, war Russland durch die Niederlage gegen Japan geschwächt genug, um sich mit Britannien zu verständigen. Die erste Marokkokrise machte den drei Mächten klar, dass ihre Weltaufteilung durch ein gestärktes Deutschland in Frage stand und überdies ihre Kolonien keinen Schutz gegen den Vormarsch deutscher Konzerne darstellten. Insbesondere Britannien, das bis dahin noch zwischen den Blöcken in Europa ausgleichen wollte, schwenkte danach endgültig in das anti-deutsche Lager um, sah in Deutschland den entscheidenden Herausforderer für seine Weltmachtposition.
Insofern löst sich auch das Rätsel, das Christopher Clark in seinem Buch ausmacht: er stellt fest, dass vor 1900 in Europa ein multi-polares Bündnis und Vertragssystem zwischen den Groß- und Mittelmächten bestand, aus einer Vielzahl sich überschneidender Verträge; dass aber „unglücklicherweise“ dieses System sich etwa mit der Jahrhundertwende in ein bi-polares System wandelte, d.h. in den Block der mit Deutschland verbündeten Staaten (vor allem Österreich-Ungarn, zunächst auch Italien) und der Tripel-Entente um Frankreich, Russland und Britannien. Des Rätsels Lösung ist also die Konfrontation von Großmächten, die die Aufteilung der Welt unter sich ausgemacht hatten, mit einem Aufsteiger, der diese Aufteilung in Frage stellte.
Die zweite Marokko-Krise 1911 war bereits eine extrem zugespitzte Konfrontation dieser beiden Blöcke. Auslöser war, dass das Protektorat Marokko damals gänzlich von Frankreich annektiert wurde. Wiederum protestierte Deutschland und entsandte sofort das Schlachtschiff Panther vor die Küste Agadirs. In einem bemerkenswerten Artikel deckte Rosa Luxemburg (27) die Hintergründe dieser „deutschen Empörung“ auf: wiederum ging es um die Angst, die dortigen Bergwerkskonzessionen zu verlieren, bzw. war ein Teil des deutschen Kapitals um die Mannesmann-Gruppe beim ersten Deal leer ausgegangen. So finanzierte die Mannesmann-Gruppe eine wüste nationalistische Pressekampagne und die Propaganda der „Alldeutschen Bewegung“, die bis hin zum Krieg gegen Frankreich gehen wollte. Tatsächlich kam der militärische Bündnismechanismus in Gang und insbesondere Britannien mobilisierte bereits Marine und Truppen zur Verteidigung Frankreichs. Doch der französische Premierminister und der deutsche Außensekretär kamen in Geheimverhandlungen über Vermittlung deutsch-französischer Bankiers (man beachte die Verquickung von Politik und Finanzkapital) zu einem Deal in letzter Sekunde. Im Wesentlichen ist er nicht überraschend: auch diesmal bekam Deutschland wieder ein Stück Land am Kongo und die Schürfrechte aller deutscher Konzerne in Marokko wurden abgesichert.
Wie Luxemburg richtig feststellt, wäre es vollkommen falsch gewesen, aus den subjektiv beschränkten Interessen des deutschen Kapitals zu schließen: die imperialistischen Banditen werden sich schon irgendwie über die Aufteilung der Beute einigen, und das Kapital wird dann den Militaristen ein eindeutiges „Halt“ vor dem Krieg befehlen:
„Nicht Mannesmann und Thyssen allein entscheiden über den weiteren Gang des Abenteuers, das wie alle weltpolitischen Vorstöße leicht den eigenen Arrangeuren über den Kopf wachsen und sich aus einem frivolen Spielen mit Zündhölzern zum Weltenbrand auswachsen kann… Deshalb ist es unseres Erachtens Pflicht der Sozialdemokratie, nicht die öffentliche Meinung zu beruhigen, sondern umgekehrt, sie aufzurütteln und vor den in jedem solchen Abenteuer der heutigen Weltpolitik schlummernden Gefahren zu warnen. Nicht auf die Friedensinteressen irgendeiner Kapitalistenclique, sondern lediglich auf den Widerstand der aufgeklärten Volksmassen als Friedensfaktor geziemt es uns zu rechnen“ (28).
Dies verweist auf einen weiteren wichtigen Faktor: die Reaktion der organisierten Arbeiterbewegung. Während es in Frankreich sofort zu Massenaktionen gegen die Kriegsmobilisierung kam und das ISB (das Internationale Sozialistische Büro der 2. Internationale) angerufen wurde, internationale Anti-Kriegsaktionen zu starten, blieb der Parteivorstand der SPD auffällig ruhig und untätig. Einige rechte SPD-Abgeordnete vertraten sogar öffentlich, dass die in Frage stehenden Schürfrechte in Marokko tausende deutsche Arbeitsplätze bedrohen würden.
Der Vorstand wiederum war, wie im Artikel Luxemburgs oben angedeutet, der Meinung, das Ganze wäre aufgebauscht wegen der kommenden Reichstagswahlen und würde durch die „vernünftigen Kapitalgruppen“ schon in friedlicher Weise gelöst werden. Trotz dieser Haltung der Spitze kam es zu massiven Friedensdemonstrationen der SPD- und Gewerkschaftsbasis, an der Parteiführung vorbei. Luxemburg eröffnete daraufhin eine sehr kritische Kampagne in der Parteipresse gegen die passive Politik des Vorstands, die ihn letztlich zu halbherzigen Aktionen und zur Einschaltung der Internationale brachte. Darüber hinaus regte sich auch ein pazifistischer Flügel in der SPD, der in der Gestalt von Eduard Bernstein eigene „Friedensvorschläge“ an die Großmächte entwickelte.
Im Wesentlichen schlug Bernstein vor, man solle doch die „bestehenden internationalen Verträge einhalten“ und zum Algericas-Abkommen zurückkehren. Luxemburg griff dies in einem Artikel „Kleinbürgerliche oder proletarische Weltpolitik“ scharf an: unsere Aufgabe ist es nicht, den Imperialisten „vernünftigere“ imperialistische Politik vorzuschlagen; hat Bernstein etwa die marokkanischen Arbeiter, die in den Minen von Thyssen u.Co. gemäß dem Algericas-Abkommen ausgebeutet werden, befragt, was sie von einem derartigen „Friedensangebot“ halten?
„Der Kampf um diese Fetzen fremder Länder und Völker ist der einzige Inhalt sowohl der kriegerischen Zusammenstöße wie der offenen und geheimen Staatsverträge, die nur eine andere Methode der imperialistischen Kriegsführung sind, nur die jeweilige Fixierung des gegenseitigen Kräfteverhältnisses in diesem Kampfe darstellen.“ (29) „Sucht man innerhalb der imperialistischen Politik Abhilfe und Lösungsmittel für seine Konflikte und will man sich seinem Sturm und Drang widersetzen, indem man ihn einfach auf das bereits Überwundene zurückschrauben versucht, so ist das nicht proletarische, sondern kleinbürgerliche, hoffnungslose Politik. Diese Politik ist im Grunde nichts anderes als stets die Verteidigung des Imperialismus von gestern gegen den Imperialismus von heute“ (30).
Hier macht Luxemburg deutlich, dass die pazifistische Losung der „Einhaltung bestehender Verträge“ schlicht und einfach verkennt, dass diese Verträge einerseits selbst nur in eine bestimmte Form gegossene imperialistische Aggression darstellen als auch nur ein jeweiliges Kräfteverhältnis widerspiegeln. Ein heftiger neuer Konflikt macht das Zurückdrehen auf den alten Vertragszustand zu so etwas, wie wenn man meinen würde, eine vom Tisch gefallene zerbrochene Vase könne im Nu wieder auf den Tisch im alten Zustand zurückspringen.
Die schwankende, schwache Haltung der SPD in der Marokkokrise führte zu einer Niederlage bei den Reichstagswahlen und damit zu einem weiteren Abrücken von zu stark öffentlicher anti-nationaler/anti-imperialistischer Positionierung und damit zur Vorbereitung des Verrats von 1914. Andererseits war die Anti-Kriegsfraktion nun auch stärker formiert und konnte sogar auf dem Basler Kongress der 2. Internationale zur Kriegsfrage die Mehrheit der SPD-Delegierten stellen. Damit fielen die Positionen der Internationale zum Kampf gegen jeden imperialistischen Krieg eindeutiger aus, als es den tatsächlichen Kräfteverhältnissen in den Sektionen der Internationale entsprochen hätte – was dann die Ergebnisse im August 1914 umso schockierender machte.
Diese Entwicklung der SPD-Politik fiel auch nicht vom Himmel oder war Resultat einiger böswilliger Parteiführer. Lenin entwickelte die Erklärung schon in „Sozialismus und Krieg“ und später systematischer in seiner Imperialismus-Broschüre: die imperialistischen Extraprofite und die Verstetigung der Beschäftigung im Monopolkapital ermöglichten die Herausbildung einer verbürgerlichten Schicht am oberen Ende der Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern. Sowohl durch Erfolge von Gewerkschaftskämpfen als auch durch bewusste Konzessionen entstand eine Schicht von FacharbeiterInnen und Angestellten, die über feste Einkommen und Stellung verfügten sowie auch einen gewissen kleinbürgerlichen Wohlstand zu verteidigen hatten. Diese „Arbeiteraristokratie“, wie Lenin sie nannte, war die Basis einer Schicht von ArbeitervertreterInnen, der „Arbeiterbürokratie“, die sich immer mehr in das herrschende wirtschaftliche und politische System integrierte. Auch in der SPD wurde dieser „opportunistische“ Flügel über die Gewerkschaften, die Parlamentsfraktion und die Länderfunktionäre immer stärker, während in der Partei noch Linke und radikale, proletarische Basismitglieder ein weitaus stärkeres Gewicht hatten. Lange Zeit wurde dies noch durch eine „zentristische“ (zwischen diesen Polen schwankende) Mehrheit im Parteivorstand um Kautsky ausgeglichen. Dies drückte sich sogar in der Doppelspitze in der Parteiführung aus: nach Bebels Tod teilten sich Hugo Haase von den Zentristen und Friedrich Ebert von den Opportunisten den Parteivorsitz.
Während des Krieges wurden die sozialdemokratische Führung wie auch die Gewerkschaftsführung im Rahmen der „Burgfriedenspolitik“ in die Organisierung der Kriegsproduktion mit einbezogen. SPD und Gewerkschaften wurden als Ordnungsfaktor und Polizist in der Arbeiterklasse gebraucht – und fühlten sich auch gleich ganz wichtig und anerkannt von den „hohen Herren“. Mit der Spitze des Reformismus fand aber auch eine ganze Schicht an alten FacharbeiterInnen und kleinen Angestellten aus dem sozialdemokratischen Milieu ihren Aufstieg zu „patriotischen Deutschen“. Die Spaltung der Arbeiterbewegung war durchaus nicht nur eine an der politischen Spitze, sondern wurde durch den Krieg durchaus auch an der Basis vertieft. Dies sollte sich vor allem am Ende des Krieges und der folgenden revolutionären Periode schmerzlich zeigen.
Die zweite Marokkokrise hatte also deutlich gezeigt, wie stark die Bündnisstrukturen in Europa angesichts der sich verschärfenden inner-imperialistischen Konkurrenz zu einem Automatismus Richtung Krieg geworden waren. Dagegen waren von den Herrschenden, wie Luxemburg in „Dem Weltkrieg entgegen“ schrieb, die Bündnisse und ihre Hochrüstung allenthalben als „Friedenssicherung“ verkauft worden. Die Bündnisautomatismen und die mörderische Wirkung der angehäuften Waffenarsenale würden ein für alle mal jeden Aggressor vom Beginn eines Krieges abschrecken. So werden ja auch noch heute Militärbündnisse und Rüstung begründet. Tatsächlich führte dies zu einem weiteren Aspekt der imperialistischen Vorkriegspolitik: der Rüstungsspirale.
Der industrielle Aufschwung zu Beginn der imperialistischen Epoche war im Zeichen der kolonialen Aufteilung der Welt natürlich schon von Beginn an mit einer starken rüstungsindustriellen Seite verbunden. Unter den Monopolen der Großmächte spielten jeweils Rüstungskonzerne eine entscheidende Rolle. In Deutschland erhielt dies mit dem Aufkommen der „Weltpolitik“ nach Bismarck eine neue Qualität. Angesichts des Zuspätkommens bei der kolonialen Aufteilung zielte die deutsche Politik auf ein Aufholen gegenüber Britannien in Bezug auf die Flottenstärke. Am 26.3.1898 verabschiedete der Reichstag nach einem gigantischen Propagandafeldzug ein riesiges Flottenbauprojekt, das auf den Vorschlägen des Admirals Tirpitz beruhte. Es sollte Deutschland zu einer führenden Seemacht machen und damit den Anspruch auf die Neuaufteilung der Welt (in damaligem Schönsprech „Weltpolitik“ genannt) untermauern.
In der Literatur z.B. der Fischer-Kontroverse ist dieses Flottenbauprojekt eines der Indizien für eine systematische deutsche Planung Richtung Weltkrieg. Clark dagegen charakterisiert die Entscheidung als gigantische Fehlentscheidung unter anderem des marottenhaften deutschen Kaisers, die letztlich ohne jegliche militärische Bedeutung blieb. Tatsächlich stieg die Zahl der deutschen Kriegschiffe der Dreadnoughtsklasse (31) von 1898 bis 1913 von 13 auf 16. Im selben Zeitraum wuchs die britische Flotte in dem Segment von 29 auf 44 Schiffe dieser Gigantenklasse. Tirpitz hatte ein Verhältnis von 1:1,5 zugunsten der Briten angestrebt und musste 1913 praktisch kapitulieren. Das Flottenbauprogramm wurde stillschweigend eingestellt, da es einen großen Teil des Militärhaushalts verschlang ohne Aussicht auf Erfolg. Wie von Clark angeführte Dokumente aus der britischen Admiralität zeigen, sah diese nie eine ernsthafte Gefahr von Seiten der deutschen Kriegsmarine. Im Weltkrieg kam es auch nur zu einer bedeutenden Seeschlacht 1916 am Skagerrak (in Britannien „The Battle of Jutland“ genannt). Mehr durch Zufall traf eine Flotte von 99 Schiffen unter Admiral Scheer die Hauptmacht der britischen Flotte mit 150 Schiffen. Bei Nebel, ohne Radar und Luftaufklärung kam es zu einem sinnlosen Geballer aus den Riesengeschützen von Krupp & Co. Am Ende konnte sich die deutsche Flotte erfolgreich Richtung Jade zurückziehen. 3 britische und 1 deutsches Großschiff waren neben vielen kleineren Panzerkreuzern und Torpedobooten gesunken, 10.000 Matrosen umgekommen. Die deutsche Marine feierte diese „Nicht-Niederlage“ als Riesenerfolg, nahm aber in Zukunft davon Abstand, die wertvollen Schiffe nochmal zu riskieren.
Dies war also der Nutzen der größten Rüstungsausgabe des deutschen Reiches vor dem Krieg. So wurden die U-Boote auch im ersten Weltkrieg zur einzigen entscheidenden Waffe im Wirtschaftskrieg mit Britannien, um die Versorgungswege aus Übersee zu unterbrechen – die Blockade der britischen Flotte für deutsche Versorgungsgüter konnte nicht verhindert werden. Übrigens war einer der Aspekte des deutschen Marokko-Abenteuers die Forderung nach einem Kriegshafen am Atlantik in Marokko für die deutsche Marine – es war genau diese Forderung die die Reaktion der britischen Regierung derart scharf werden ließ.
Bedeutsamer waren sicherlich die beständig steigenden Aufträge bei Krupp & Co. für die Artillerie, für Maschinengewehre, Infanteriewaffen etc. im Verbund mit immer steigenden Mannschaftsstärken. So stiegen die Ausgaben für das Militär von 1872 um die 330 Millionen Mark auf etwa 1 Milliarde 1911 und erreichten 2% des Nationalprodukts. Im gleichen Zeitraum stieg das stehende Heer von 360.000 Mann auf etwa 750.000. Wie Luxemburg für die Reichstagswahlen 1911 vorrechnete, gab es einen großen Aufnehmer für das extrem gestiegene Massensteueraufkommen: „Der nimmersatte Militarismus ist es, der fast alles verschlingt“ (32).
Neben der Waffenindustrie war es vor allem der Eisenbahnbau, der neben der wirschaftlichen auch immer eine starke militärstrategische Bedeutung hatte. Alle Großmächte forcierten vor dem Krieg große Eisenbahnaus- oder -neubauten, um bei der Mobilmacung große Massen an Truppen und Material an die Front bringen zu können und später die Versorgung zu gewährleisten. Der Bau der „Bagdad-Bahn“, der das osmanische Reich ökonomisch stark an Deutschland band, war gleichzeitig auch eine militärstrategische Drohung Deutschlands gegenüber den zentralen Kolonialgebieten Britanniens im arabisch-indischen Raum.
Es gab in der Sozialdemokratie neben dem proletarischen Anti-Militarismus auf dieses Phänomen des Wettrüstens zwei weitere Antworten: einerseits die Forderung nach „Abrüstung“, andererseits die „allgemeine Entwaffnung“. Lenin kritisierte speziell die „Abrüstungsvorschläge“ der Zentristen, vor allem in der Person Kautskys. Kautsky war der Überzeugung, dass Imperialismus nicht eine neue Form von Kapitalismus war, sondern nur eine bestimmte Form von Politik, die zwar im gegenwärtigen Kapitalismus vorherrsche, aber nicht notwendig sei. Für Kautsky war imperialistische Politik letztlich ein „Atavismus“, ein Wiederaufleben einer historisch überholten Form, die sich v.a. allem auf die reaktionäre Rolle des Großgrundbesitzes stützen würde.
Durch entsprechenden Druck der Arbeiterbewegung könne dem Kapital eine „vernünftige Politik“ aufgezwungen werden, die in Kauskys Sichtweise letztlich auch im Interesse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals läge. Dazu gehöre eben die Abrüstung, die Installation internationaler Schiedsgerichte und Ähnlichem, um zu einem friedlichen Ausgleich zwischen den kapitalistischen Mächten zu kommen. Ja, auf der Grundlage des kapitalistischen Weltmarktes könne es zu globalen Monopolen, zu einer Art Hyper-Imperialismus kommen, als Vorstufe zu einem globalen Sozialismus. Lenins Imperialismustheorie hatte gezeigt, dass diese Form von Ausgleich der auf die Spitze getriebenen Widersprüche des Kapitals auf Weltebene in der monopolistischen Epoche des Kapitalismus eine Utopie ist.
„Die kautskyanische Predigt der ‚Abrüstung‘, die sich ausgerechnet an die jetzigen Regierungen der imperialistischen Großmächte wendet, ist vulgärster Opportunismus…, der…. nur dazu dient, die Arbeiter vom revolutionären Kampf abzulenken. Denn den Arbeitern wird durch solche Predigten der Gedanke eingeflößt, als ob die jetzigen bürgerlichen Regierungen der imperialistischen Mächte nicht durch tausende Fäden des Finanzkapitals und durch Dutzende oder Hunderte von entsprechenden (d.h. räuberischen, mörderischen, imperialistische Kriege vorbereitenden) gegenseitigen Geheimverträgen gebunden wären“ (33).
Die Grundsätze des proletarischen Anti-Militarismus – „Keinen Mann, keinen Groschen für das System“, Ersetzung des stehenden Heeres durch eine proletarische Miliz, Wahl der Offiziere, Abschaffung der Militärjustiz etc. – gelten auch in der imperialistischen Epoche weiterhin. Es kann kein Vertrauen in irgendwelche Demokratisierungen der bürgerlichen Armeen oder in deren Reduktion, Abrüstung etc. geben. Gleichzeitig bedeutet Imperialismus eine allgemeine Militarisierung der Gesellschaft und einen unausweichlichen Kampf um die Aufteilung der Welt. Daher sind Forderungen nach „allgemeiner Entwaffnung“ oder einer allgemeinen Waffenlosigkeit, Kriegsdienstverweigerung der SozialistInnen illusorisch und falsch. Vielmehr muss der Gebrauch der Waffen, die Funktionsweise der Militärapparate durch ProletarierInnen und RevolutionärInnen verstanden und gelernt werden.
Denn der imperialistische Krieg, so die nächste entscheidende Erkenntnis von Lenin, führt unweigerlich zur Konfrontation der rebellierenden proletarischen und bäuerlichen Soldaten gegen die Fortführung des für sie sinnlosen Mordens, zum Umdrehen der Waffen gegen diejenigen, die sie befehlen. Zusammen mit der ökonomischen Zerrüttung entstehen so Voraussetzungen für die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg, so wie schon am Ende des deutsch-französischen Krieges 1871 die Pariser Kommune den Bürgerkrieg gegen die korrupte Kapitulationsregierung führte. Die radikale Antwort, die Lenin schon am Beginn des Weltkrieges gab, war also, dass die Antwort auf diesen Krieg nicht irgendeine Friedenslosung sein kann, sondern dass der bestialische Charakter dieses Krieges früher oder später die Frage des Umdrehens der Gewehre und der Verwendung der Waffen zum Sturz der kapitalistischen Regierungen stellt:
„Der Krieg hat zweifellos eine Krise schwerster Art heraufbeschworen und die Leiden der Massen ungeheuerlich verschärft. Der reaktionäre Charakter dieses Krieges, die unverschämte Lüge der Bourgeoisie aller Länder, die ihre Raubziele unter dem Mäntelchen ‚nationaler‘ Ideologie versteckt – all dies ruft auf dem Boden der objektiv revolutionären Situation unweigerlich revolutionäre Stimmungen in den Massen hervor. Es ist unsere Pflicht, diese Stimmungen bewußt zu machen, zu vertiefen und ihnen Gestalt zu geben. Diese Aufgabe findet ihren richtigen Ausdruck in der Losung: Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, und jeder konsequente Klassenkampf während des Krieges, jede ernsthaft durchgeführte Taktik von ‚Massenaktion‘ muss unvermeidlich dazu führen“ (34).
Der imperialistische Charakter eines Krieges ergibt sich, wie schon dargestellt, nicht aus den unmittelbaren Anlässen oder den unmittelbar dem Krieg vorangehenden diplomatischen Verwicklungen. Er ergibt sich aus den objektiven Interessen der herrschenden Bourgeoisien, aus ihrem Interesse, die Aufteilung der Welt zu ihren Gunsten voran zu bringen. Was auch immer die offiziellen Begründungen und Anlässe des Kriegseintritts sind, alle imperialistischen Mächte haben notwendig entsprechende weiterreichende Kriegsziele. Für den ersten Weltkrieg sind die Dokumente soweit öffentlich, dass diese eigentlichen Ziele heute auch einfach nachlesbar sind.
Die deutschen Kriegsziele sind dem sogenannten „Septemberprogramm“ vom 9.9.1914 aus den Aufzeichnungen des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg zu entnehmen: Einerseits wurden direkte Gebietsabtretungen von Frankreich und Belgien insbesondere mit Bezug auf Erzgewinnung sowie die vollständige Einverleibung von Luxemburg und eine de facto Angliederung Hollands angestrebt. Frankreich sollte mit Reparationszahlungen praktisch die deutschen Kriegskosten begleichen. Besonders interessant ist dann folgende Idee:
„Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren“ (35).
Hier lässt sich unschwer erkennen, dass die europäische Union unter deutscher Führung ein sehr langfristiges Projekt des deutschen Imperialismus darstellte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde also mit der Zeit gemäß Stinnes früher zitierter Wunschvorstellung „die deutsche Vormachtstellung im Stillen“ erreicht.
Andererseits wurde die Neuaufteilung der Kolonien in Afrika angestrebt, insbesondere durch „Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Reiches“. Die Kriegsziele im Osten wurden erst später präzisiert und wurden vor allem rund um die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk gegenüber der jungen Sowjet-Führung deutlich. Hier war zu unterscheiden zwischen unmittelbaren Annexionszielen und Angliederungszielen: erstere betrafen vor allem restliche Gebiete von Polen (die noch nicht zu Preußen oder Österreich-Ungarn gehörten) und die baltischen Staaten. Offiziell unabhängig, aber ökonomisch-politisch dominiert durch Deutschland sollten dagegen Finnland und die Ukraine aus Russland gelöst werden. Weiter waren unabhängige Brückenstaaten der Don-Kosaken, der Tataren auf der Krim und in Kuban geplant, die Annexionen im Kaukasus-Gebiet, vor allem Georgien und dem heutigen Aserbaidschan, ermöglichen sollten. Schon damals waren die Ölfelder von Baku ein zentrales Kriegsziel (allerdings kamen die Briten durch ihre Besetzung dieser Ölfelder dem zuvor). Auch hier sind Parallelen zur Gegenwart mehr als deutlich.
Diese offensichtlich sehr weitreichenden und aggressiven Kriegsziele waren einer der Gründe, die z.B. in der Fischer-Kontroverse herangezogen wurden, um die deutsche Alleinschuld am ersten Weltkrieg zu belegen. Indizien dafür, dass diese Ziele schon vor dem Krieg formuliert wurden, gibt es zwar. Allerdings zeigt u.a. Clark in seinem Buch durchaus plausibel, dass die Mehrheit der politischen und wirtschaftlichen Führung diese Ziele zunächst auf „friedlichem“ Weg, d.h. mit ökonomischer Überlegenheit und diplomatischem Druck und entsprechendem Säbelgerassel erreichen wollte.
Entscheidender aber ist, dass auch die anderen kriegführenden Großmächte entsprechende aggressive Aufteilungspläne verfolgten. Im Wesentlichen ging es dabei vor allem um den Erhalt der eigenen Kolonial- bzw. Einflussgebiete gegenüber Deutschland, aber auch um deren Ausdehnung vor allem durch die Auflösung von osmanischem Reich und von Österreich-Ungarn. Insbesondere Russland betrieb schon vor dem Krieg das Ziel der Dominanz am Balkan und am Bosporus, daneben auch die Annexion von Galizien und Teilen Ostpreußens. Um Russland fest in das Bündnis einzubinden und einem Separatfrieden vorzubeugen, willigten die Alliierten in einem Geheimabkommen vom März 1915 sogar ein, dass Russland im Falle eines Sieges Konstantinopel (d.h. Istanbul) und das Land um Bosporus und Dardanellen samt den Inseln im Marmarameer zugesprochen bekomme. Zusätzlich wurden Russland in dem Vertrag auch die restlichen Teile Armeniens und die nördlichen Kurdengebiete zugesprochen. Die entsprechende militärische Operation der Landung in Gallipoli bei den Dardanellen wurde für die britische Armee allerdings zu einem der verlustreichsten Unternehmen des ersten Weltkriegs. Wäre Russland 1918 bei den Siegermächten gewesen, wären diese Pläne aber wohl umgesetzt worden.
Ganz klar umgesetzt wurde das alliierte Kriegsziel im Nahen Osten. Hier war es das Sykes-Picot-Abkommen, das eine Aufteilung der Einflussgebiete der arabischen Länder der Region mitsamt Palästina unter Frankreich und Britannien festlegte. Mit den willkürlichen Ländergrenzen und bekannten Folgen bis heute. Länder wie Irak verdanken ihre Grenzen den Zeichengeräten britischer Kolonialbeamter, ja selbst ihr Name wurde von philologisch gebildeten Spezialisten aus dem fernen Königreich erfunden.
Insgesamt sind die Kriegsziele aller beteiligten Großmächte klar imperialistischer, räuberischer Natur. Daran ändert auch nichts, dass sie diese mit schönen Mäntelchen wie „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ oder „Verteidigung der Demokratie“ und Ähnlichem verschleierten. Dies wird insbesondere am britischen Beispiel deutlich. Die britische Regierung war ursprünglich nicht besonders erpicht darauf, wegen eines Konflikts am Balkan, an dem sie kein Interesse hatte, in den Krieg zu ziehen. Sie stand allerdings vor dem Problem, dass Russland und Frankreich jedenfalls gegen Deutschland mobilisierten. Zunächst war die Mehrheit des britischen Kabinetts selbst noch nach der deutschen Mobilmachung für eine neutrale Haltung im Krieg. Wie Clark zitiert, war dabei den Kabinettsmitgliedern vollkommen klar, dass Deutschland über Belgien unter Verletzung von dessen Neutralität angreifen würde. Man bereitete Erklärungen vor, mit denen man dagegen diplomatisch protestieren wollte, aber nicht mehr. Dann jedoch wurde von der Kriegspartei um Asquith und Churchill dargestellt, was jeweils ein Kriegsausgang für Konsequenzen für die „britischen Interessen“ (sprich den britischen Imperialismus) haben würde: Ein Sieg Deutschlands würde Britannien mit einer übergewichtigen kontinentalen Großmacht konfrontieren, die das Empire herausfordern müsse; ein Sieg Frankreich/Russlands ohne britische Beteiligung würde dagegen russische und französische Forderungen bei der Aufteilung des osmanischen Reiches ausdehnen und vor allem wieder eine Bedrohung für die britischen Interessen in Indien bedeuten (36). Letztlich setzte sich im Kabinett eine Mehrheit durch, die meinte, Britannien könne sich nicht dem Entente-Bündnis entziehen ohne wesentlichen Schaden für seine imperiale Stellung. Erst danach entschied man sich, die Frage der Verletzung der belgischen Neutralität zum offiziellen Kriegsgrund zu erklären. In der Öffentlichkeit erschien Britannien so als das Land mit dem „legitimsten“ und „edelsten“ aller Kriegsgründe, der Verteidigung des armen, überfallenen Belgiens und dem Kampf für die Sicherung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen (das man in Indien und dem Nahen Osten ja so beherzigte).
Insofern wird klar, dass der Krieg ein imperialistischer Krieg von allen Seiten war, ein Krieg zur Aufteilung der Welt, zum Länderraub bzw. zur Sicherung der Raubbeute. Insofern müssen in jedem Land SozialistInnen gegen die räuberischen Kriegsziele des jeweiligen eigenen Imperialismus kämpfen. Lenin gab daher eine klare Antwort auf die Frage nach der Position in einem solchen Krieg:
„Die Verfechter des Sieges der eigenen Regierung im gegenwärtigen Krieg und die Anhänger der Losung ‚Weder Sieg noch Niederlage‘ stehen gleichermaßen auf dem Standpunkt des Sozialchauvinismus. Die revolutionäre Klasse kann in einem reaktionären Krieg nicht anders als die Niederlage der eigenen Regierung wünschen… Die Sozialisten müssen den Massen klarmachen, dass es für sie keine Rettung gibt außer in der revolutionären Niederwerfung der ‚eigenen‘ Regierung und dass die Schwierigkeiten dieser Regierungen im gegenwärtigen Krieg eben für diesen Zweck ausgenutzt werden müssen“ (37).
Dies beinhaltet die Ablehnung jeden „Burgfriedens“ mit der eigenen Bourgeoisie, also die Fortführung aller Klassenkampfaktivitäten unter vollem Einschluss von Streiks, Demonstrationen etc , die die Kriegsführung erschweren. Es bedeutet auch das Vorantreiben von Fraternisierungen an der Front, von Sabotage und Beförderung der Verweigerung von Befehlen, von allem, was letztlich zum Umdrehen der Gewehre führt, mit der Losung Liebknechts: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“.
Der Katalysator für den ersten Weltkrieg war bekanntlich der sich zuspitzende Interessenkonflikt auf dem Balkan, insbesondere die beiden Balkan-Kriege 1912 und 1913. Prophetisch schrieb Leo Trotzki, der von seinem Exil in Wien aus als Korrespondent diese Kriege verfolgte, schon im März 1913 aus Belgrad:
„… der Balkankrieg hat nicht nur die alten Grenzen auf dem Balkan zerstört und den Hass und Neid der kleinen Balkanstaaten aufeinander zum Glühen gebracht – er hat auch die kapitalistischen Staaten Europas für lange Zeit aus dem Gleichgewicht geworfen… Es ist schwer zu sagen, ob diejenigen, die die europäischen Geschicke lenken, das Wagnis eingehen, es diesmal zu einem gesamteuropäischen Krieg kommen zu lassen“ (38).
Die Balkanstaaten Serbien, Montenegro, Bulgarien, Rumänien und Griechenland waren im Zuge des Verfalls des osmanischen Reiches als teil-unabhängige Monarchien im 19. Jahrhundert entstanden, im Rahmen militärisch-diplomatischer Konflikte vor allem zwischen den Großmächten und diesen und dem osmanischen Reich. Endgültig wurden ihre Grenzen ohne eigenes Zutun auf einer Konferenz der Großmächte in Berlin 1878 gezogen. Dies erfolgte nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“ mit einer völlig willkürlichen Verteilung der Nationalitäten und Ethnien auf die Teilstaaten, die hunderte Kleinkonflikte beinhalteten und die Region auf Jahrzehnte zu einem Spielball der Konfliktaustragung von Großmächten, insbesondere zwischen Österreich-Ungarn und Russland, machten. Auf dem Kongress wurden auch gleich 2 ehemalige osmanische Provinzen, Bosnien und Herzegowina, sowie die serbische Region Sandschak Novi Pazar Österreich-Ungarn als Protektorat überantwortet. Dies war als „Kompensation“ gedacht dafür, dass sich Österreich-Ungarn aus dem sonstigen russisch-türkischen Konflikt heraushielt. Treffend charakterisierte Trotzki diese „Balkanisierung“: So „wurden alle Maßnahmen ergriffen, um die nationale Vielfalt des Balkans in einen ständigen Kampf zwischen Kleinstaaten übergehen zu lassen. Keiner dieser Staaten sollte über bestimmte Grenzen hinauswachsen, jeder einzelne war separat in einem diplomatischen und dynastischen Fadengewirr gefangen und allen anderen gegenübergestellt; und schließlich waren alle zusammen zur Hilflosigkeit gegenüber den großen europäischen Staaten mit ihren pausenlosen Intrigen und Ränken verurteilt“ (39).
Österreich-Ungarn selbst war von vornherein tief in die Balkan-Politik verwoben. Im ungarischen Reichsteil (40) waren sowohl Kroaten als auch in großer Zahl Rumänen (Siebenbürgen/Transsylvanien) national unterdrückt. Über Bosnien-Herzegowina wurde ein starker Einfluss auf Serbien und Montenegro ausgeübt. Andererseits suchte Russland die Konflikte zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien auszunützen, wie es auch Bulgarien immer mehr zu einer Halb-Kolonie ausbaute. Diese Verhältnisse kamen in Bewegung mit dem Sturz der mehr austrophilen Obrenovic-Dynastie in Serbien und der Etablierung einer mehr oder weniger extrem groß-serbischen herrschenden Strömung in Belgrad (mit Nikola Pasic als Führungsfigur). Auch wenn – wie Trotzki es betonte – die serbische Politik weiterhin durch extreme Widersprüche im Verhältnis zu Wien geprägt war, wurden Österreich-Ungarn und die Reste der osmanischen Herrschaft am Balkan (Gebiete im heutigen Mazedonien, Kosovo und Albanien) zum eindeutigen Hauptgegner der „serbischen Revolution“. Der „Amselfeld“-Nationalismus träumte von der Wiederherstellung eines vorgeblichen serbischen Großstaates des ausgehenden Mittelalters, der auf der Schlacht am Amselfeld im Kosovo im 14. Jahrhundert von den osmanischen Truppen zerschlagen worden wäre. Dieser Nationaltraum verband sich mit dem Kampf gegen nationale Unterdrückung von Serben in den vielen anderen Balkan-Kleinstaaten. In Russland fand der serbische Nationalismus schließlich die nötige Unterstützung, um seinen Befreiungskampf militant voranzutreiben.
Tatsächlich war Serbien jedoch ein rückständiger Agrarstaat, der die militärische Aufrüstung, die folgen sollte, überhaupt nicht finanzieren konnte. De facto war Serbien zu Beginn des 19. Jahrhunderts ungefähr so pleite wie die Ukraine heute. Da auch Russland nicht wirklich helfen konnte, waren es dessen französische Verbündete, die von nun an mit massiven Krediten Serbien am Leben hielten und für die von Russland durchgeführte Aufrüstung des Kleinstaates an der österreichisch-ungarischen Grenze sorgten.
Weitere Bewegung kam in die Balkanverhältnisse, als 1908 Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina endgültig annektierte und Bulgarien sich auch offiziell für unabhängig erklärte. Österreich-Ungarn sah sich zu dem Schritt aufgrund der Erstarkung der Türkei nach der jung-türkischen Revolution genötigt und überließ dieser als „Kompensation“ den Sandschak. Ebenso wurde das russische Stillhalten durch ein Geheimabkommen zur Tolerierung Östereich-Ungarns für die Aktivitäten in Bulgarien und für russische Maßnahmen zur Erringung der Kontrolle über die Dardanellen/Bosporus erkauft. Trotzdem gab es große Turbulenzen im europäischen Bündnissystem, wurde doch wieder mal ein „internationaler Vertrag“ (Berliner Kongress) verletzt. Diese Krise führte zwar noch nicht zur unmittelbaren Kriegsgefahr, trug jedoch wesentlich zu der Konstellation bei, die zu den Balkankriegen führte. Immerhin war mit dem Sandschak ein neuer serbisch-türkischer Konflikt gelegt, trat Bulgarien als Staat mit wesentlichen Interessen z.B. in Mazedonien auf und waren ganz allgemein die Grenzen des Berliner Kongresses nicht mehr „unantastbar“.
Als nächster Auslöser des Konfliktes kann das italienische Abenteuer in Libyen gesehen werden: Im Januar 1912 besetzten italienische Truppen die osmanische Provinz Tripolis mit der Begründung des Zerfalls des osmanischen Reiches und von noch aus der Römerzeit bestehenden „Ansprüchen“ auf diese Region. Dies wurde besonders auf dem Balkan als Signal gesehen, dass das osmanische Reich nunmehr auch dort „reif für den Abschuss“ sei.
Im Herbst 1912 fielen so die verbündeten Armeen Serbiens, Griechenlands und Bulgariens über die verbleibenden osmanischen Besitzungen auf dem Balkan her. Dabei lieferten sie sich teilweise einen Wettlauf um die Beute, so dass die daraufhin entstehenden Grenzen wiederum eher zufällig den Geschwindigkeiten der jeweiligen Truppen geschuldet waren. Insbesondere schaffte es Serbien, sich große Teile Mazedoniens, Albaniens und des Kosovo einzuverleiben, sein Staatsgebiet damit insgesamt mehr als zu verdoppeln. Andererseits war Russland sehr über Bulgarien verärgert, das fast Istanbul erobert hätte – etwas, das sich Russland vorbehalten hatte. Bulgarien und Griechenland waren insgesamt über den eroberten Kuchen unzufrieden und Rumänien, bis dahin außenstehend, hatte auch noch unerfüllte Gebietsansprüche. Obwohl alle mit Russland verbündet waren, war die russische Außenpolitik nicht in der Lage, die widersprechenden Ansprüche auch nur annährend auszugleichen, so dass ein Folgekonflikt unausweichlich war.
Zwangsläufig war Österreich-Ungarn über den Aufstieg Serbiens beunruhigt und versuchte dessen Macht einzudämmen. Insbesondere wurde dabei die albanische Frage „entdeckt“. Tatsächlich war man in Wien und auch Rom über die Möglichkeit eines Adria-Hafens für Serbien ungehalten. Die tatsächlich furchtbaren Ausschreitungen serbischer Nationalisten gegenüber albanischer Bevölkerung (die auch von Trotzki ausführlich beschrieben wurden) nahm man daher zum Anlass, auf das Selbstbestimmungsrecht der Albaner zu beharren. Rund um die albanische Frage war man Ende 1912 kurz vor einem Krieg um diese Frage zwischen Österreich-Ungarn und Serbien. Die Teilmobilisierung Österreich-Ungarns löste bereits Gegenmaßnahmen Russlands aus, das „fest“ zum „serbischen Brudervolk“ stand. Europa war also bereits hier knapp vor dem Ausbruch des Weltkriegs. Doch zu diesem Zeitpunkt war Britannien noch dazu in der Lage, in einer internationalen Konferenz einen „Kompromiss“ auszuhandeln. Tatsächlich wurde ein albanischer Staat geschaffen und so gewisse Teile der serbischen Eroberungen wieder rückgängig gemacht. Doch dieser Vertrag war ebenso brüchig wie alle vorigen, da der Grenzverlauf nicht eindeutig geklärt war. Es kam weiterhin zu heftigen serbischen Übergriffen auf albanisches Gebiet mit beständigem Potenzial für österreichisch-ungarisches Säbelgerassel. Insgesamt waren weder die serbischen Nationalisten zufrieden, noch waren Anfang 1913 die Konflikte mit Bulgarien gelöst. Somit war es unvermeidlich, dass im Sommer 1913 ein zweiter Balkankrieg um die Aufteilung der Beute entstand. Serbien, Griechenland und Rumänien stutzten dabei Bulgarien auf etwa das heutige Ausmaß zurück.
Im Bündnisgefüge bedeutete dies, dass Bulgarien, von den Kriegen ausgepowert, dringend einen neuen Finanzier brauchte und diesen in Deutschland fand. Mit dem Wechsel Bulgariens in das Bündnis der Mittelmächte war die russische Balkan-Politik noch mehr an Serbien und dessen herrschende nationalistische Pasic-Partei gebunden. Nach den Erfahrungen um die Albanienfrage und dem zögerlichen Verhalten insbesondere von Britannien entschlossen sich Russland und Frankreich daher zur uneingeschränkten Verteidigung Serbiens im Fall eines Konfliktes mit Österreich-Ungarn. Serbien wurde zu einer de-facto Halbkolonie Russlands (im wesentlichen betimmte der russische Gesandte die serbische Politik), die mit französischem Geld eine 150.000 Mann starke Armee zu tragen hatte. Insofern kann man Clark Recht geben, dass mit dem Ende der Balkankriege Russland und Frankreich mit Serbien eine Zündschnur am Pulverfass des europäischen Bündnissystems gelegt hatten, das mit dem kleinsten Funkenschlag explodieren musste (41).
Dieser Funke war bekanntlich das Attentat von Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger und dessen Frau. Wie aus den Archiven inzwischen hervorgeht, handelte es sich bei Gavrilo Princip nicht um einen „anarchistischen Einzeltäter“ oder irgendeinen sonstigen progressiven Nationalisten. Tatsächlich war das Attentat eine geplante Aktion aus Kreisen des serbischen Militärgeheimdienstes, der dafür mehrere Gruppen von Attentätern organisierte, mit entsprechender Logistik und Waffenlieferungen (42). Die serbische Regierung war nicht unmittelbar involviert, versuchte sogar, die Konsequenzen ahnend noch gegenzusteuern. Regierungschef Nikola Pasic war angesichts der Balkanisierung der Region sicher zu Recht der Überzeugung, dass der „großserbische Traum“ nicht ohne eine grundlegende Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen den Großmächten in ganz Europa möglich wäre. Die serbischen NationalistInnen waren überzeugt, dass die „Befreiung der Südslawen“ nur Resultat eines großen europäischen Krieges sein könne, der die ganze Ordnung auf dem Balkan neu gestalten lasse. Insofern war man, nachdem das Attentat nicht mehr verhindert werden konnte, in Belgrad nun dazu bereit, „es endlich auszufechten“ (43).
Welche Motive auch immer hinter dem Attentat standen, war die österreichisch-ungarische Reaktion darauf natürlich eine typisch imperialistische: mit dem serbischen „Schurkenstaat“ (heutiger Imperialistensprech) „muss jetzt endgültig aufgeräumt werden“ (traditioneller Imperialistensprech). Die Schuldzuweisungen an Serbien und das folgende Ultimatum waren letztlich nur Vorwand für einen Annexionskrieg, also einen imperialistischen Eroberungskrieg. Die Behauptungen Russlands und Frankreichs, dass das Attentat aus Österreich-Ungarn selbst käme und nur ein Vorwand für den Überfall auf das völlig unschuldige Serbien sei, waren natürlich ebenso geheuchelt. Mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28.7.1914 war damit die Zündschnur für den Weltkrieg in Brand, die in der gesamten Entwicklung am Balkan zuvor gelegt worden war. Der folgende Bündnis-Automatismus war dermaßen schnell (am 4. August war der Krieg bereits voll entbrannt), dass es keine Diplomatie mehr gab, die irgendetwas noch vermitteln konnte.
Dieser unmittelbare Zusammenhang von Balkan-Krise und Kriegsausbruch zeigt, dass die nationale Frage im imperialistischen Zeitalter keineswegs an den Rand gedrängt ist, sondern zum zentralen Brennpunkt der globalen Klassenauseinandersetzung wird. In der Linken wurde zum Kriegsausbruch viel davon geredet, wie der Krieg zeige, dass der Kapitalismus über seine nationale Hülle hinaus gehe. Mit der Endkrise des Kapitalismus würde die soziale Krise derart entscheidend, dass demokratische Fragen wie das nationale Selbstbestimmungsrecht an den Rand gedrängt und vor allem noch als Täuschungsinstrument imperialistischer Politik missbraucht würden.
Lenin sah gerade das Gegenteil: mit der Zuspitzung der kapitalistischen Konkurrenz zum Kampf imperialistischer Großmächte um Aufteilung der Welt werden sowohl im Inneren wie im Äußeren imperialistischer Mächte unumgänglich immer mehr Nationen systematisch und nicht nur temporär unterdrückt, ohne Chance aus der imperialistischen Überausbeutung ohne gewaltsamen Kampf auszubrechen. So sehr mit den Möglichkeiten des modernen Kapitalismus die demokratischen, auch die nationalen Bedürfnisse von immer mehr Massen und auch kleinen Nationen wachsen, umso mehr ist der krisengeschüttelte Imperialismus zur Unterdrückung von demokratischen Rechten gezwungen und bereit (44).
In diesem Zusammenhang ist eine wichtige Kontroverse zwischen Rosa Luxemburg und Lenin zu erwähnen. 1916 erschien aus der Haft unter dem Pseudonym „Junius“ in der illegalen Zeitschrift „Internationale“ ein grundlegender Artikel Luxemburgs zur Orientierung der ehemaligen SPD-Linken, zur Neuausrichtung dessen, was später die Spartakus-Gruppe wurde. So sehr Lenin die generelle Linie und die unabhängige Neuformierung begrüßte, so sehr kritisierte er bestimmte programmatische Punkte der Junius-Broschüre, insbesondere in Hinblick auf die nationale Frage.
Junius habe völlig Recht mit der Betonung, dass hinter Serbien der russische Imperialismus stehe, dass es Teil einer imperialistischen Koalition sei und die Beteiligung Serbiens daher nichts am imperialistischen Gesamtcharakter des Krieges ändere, dass insgesamt in Europa das „Phantom des nationalen Krieges“ umgehe.
„Ein Fehler wäre es nur, wollte man diese Wahrheit übertreiben,… die Einschätzung des jetzigen Krieges auf alle im Imperialismus möglichen Kriege übertragen und die nationalen Bewegungen gegen den Imperialismus vergessen“ (45).
„Nationale Kriege gegen den Imperialismus sind nicht nur möglich und wahrscheinlich, sie sind unvermeidlich, sie sind fortschrittlich und revolutionär, obgleich für ihren Erfolg entweder die Vereinigung der Anstrengungen einer ungeheuren Zahl von Bewohnern unterdrückter Länder …. erforderlich ist oder eine besonders günstige Konstellation der internationalen Lage (z.B…. infolge…ihres Krieges, ihres Antagonismus u.dgl.m.) oder der gleichzeitige Aufstand des Proletariats einer der Großmächte…“ (46).
Lenin macht also klar, dass die Aufteilung der Welt unter die Imperialisten nicht notwendig dazu führt, dass hinter jedem nationalen Aufstand unterdrückter Nationen unbedingt jeweils ein anderer Imperialismus stehen muss, der dies zur Neuaufteilung nutzt. Die Widersprüchlichkeit der imperialistischen Ordnung macht immer wieder Konstellationen möglich, in denen tatsächliche nationale Befreiungskämpfe auftreten können, so wie auch umgekehrt (wie das Beispiel des Balkans zeigt) unterdrückte Nationen die imperialistischen Mächte in den inner-imperialistischen Konflikt zwingen können. Sowohl nationale Befreiungskämpfe als auch das Umschlagen nationaler Kriege in imperialistische wie auch an deren Ende imperialistischer Kriege in nationale Befreiungskämpfe – all das steht in der imperialistischen Epoche immer wieder und zwingend auf der Agenda.
Insofern beharrt Lenin im Gegensatz zu Luxemburg darauf, dass die Teile des demokratischen Programms der sozialistischen Bewegung, die das Sebstbestimmungsrecht der Nationen betreffen, nicht nur nicht überholt sind, sondern sogar verschärft werden müssen.
„Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigungen der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistischen Bourgeoisien besonders ‚unangenehmen‘ Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muss die Freiheit der politischen Abtrennung von ‚seiner‘ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern“ (47).
Dieses Recht auf Abtrennung vertreten KommunistInnen nicht nur für vom Imperialismus unterdrückte Nationen. Es ist überall dort eine unumgängliche Antwort, wenn Nationalitäten von realer (nicht bloß kultureller) nationaler Unterdrückung, Ausbeutung und Repression betroffen sind und sich dagegen mehrheitlich auflehnen. Die gemeinsamen Klasseninteressen der Arbeiterklassen in der unterdrückten und unterdrückenden Nation werden sich nicht formieren können, wenn die Arbeiterklasse der Unterdrückernation nicht ihre Bereitschaft zeigt, dem unterdrückten Volk das Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen. Erst so wird auch die Klassendifferenzierung in der unterdrückten Nation vom Gift des Nationalismus befreit vorangetrieben werden können.
Der Kampf um die revolutionäre Überwindung des globalen Kapitalismus muss über verschiedene Revolutionen in unterschiedlichen Staaten ungleichzeitig erfolgen. In der Auseinandersetzung mit dem globalen Kapitalismus wird also für eine lange Periode die Durchsetzung demokratischer Forderungen wie des nationalen Selbstbestimmungsrechts eine wesentliche Rolle spielen und letztlich auch für entstehende ArbeiterInnenstaaten gelten.
Auch ein Zugeständnis der „Selbstbestimmung“, wie es die Austromarxisten vor dem 1. Weltkrieg für Österreich-Ungarn vorschlugen, indem sie von „kultureller Autonomie“ sprachen, weicht der politischen Auseinandersetzung mit der Frage der nationalen Unterdrückung aus, ist ein Ausweichen vor der Konsequenz, die Unabhängigkeit auf mehrheitlichen Wunsch hin auch praktisch durchzusetzen helfen.
Andererseits treten KommunistInnen nicht selbst für nationale Kleinstaaterei auf und erkennen durchaus die Beschränktheit der „nationalen Unabhängigkeit“ in der imperialistischen Epoche. Daher kämpfen sie einerseits für die gemeinsame politische Organisierung der ArbeiterInnenbewegung der unterdrückten und unterdrückenden Nationen auf Grundlage demokratischer Bedingungen und der Berücksichtigungen nationaler Besonderheiten. Nur der internationale Klassenkampf kann letztlich die Frage der nationalen Unterdrückung überwinden. Andererseits vertreten KommunistInnen immer die Position, dass übernationale Zusammenschlüsse wie Föderationen auf sozialistischer Grundlage immer die ökonomisch-politisch sinnvollere Alternative sind als unproduktive Kleinstaaterei, die selbst wieder zwangsläufig zu neuen Problemen nationaler Unterdrückung führen werden. Nur Föderation mit entsprechenden Autonomierechten kann tatsächlich der nationalen, kulturellen Vielfalt gerecht und für das gemeinsame Klasseninteresse produktiv gemacht werden.
Auch am Ende des ersten Weltkrieges musste die Frage der nationalen Selbstbestimmung eine entscheidende Rolle spielen. Dabei war die Forderung nach einem „Frieden ohne Annexionen“ eine halbherzige Angelegenheit. Immerhin waren die Grenzen der bestehenden Mächte schon vor allen Annexionen voller imperialistischer Raubtatbestände. Die Frage der nationalen Selbstbestimmung musste sowohl in den Kolonien als auch in Russland, Österreich-Ungarn und am Balkan zur Frage einer revolutionären Umgestaltung werden. Diese Frage musste dort jeweils zum Moment des aufziehenden Bürgerkrieges am Ende des Krieges werden.
Mit dem Waffenstillstand an den Hauptfronten war daher auch der Krieg noch lange nicht vorbei. Die neu entstehenden Nationalstaaten Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Ukraine etc waren Produkt von heftigen Kämpfen, schon bald selbst von Nationalitätenproblemen gebeutelt und in Kriege mit Nachbarstaaten verwickelt. So gab es 1919 einen Krieg zwischen Ungarn und Rumänien, in den auch die Tschechoslowakei involviert war und in dessen Verlauf die ungarische Räterepublik entstand und auch wieder unterging. Die Grenzziehungen des „Friedensvertrags“ von Trianon von 1919 sind bis heute eine Quelle von Konflikten. Ebenso in der Ukraine: Während die k.u.k-Monarchie in Galizien (heutige West-Ukraine) noch ein labiles Gleichgewicht zwischen ukrainischen, polnischen, ungarischen und jüdischen Bevölkerungsteilen austariert hatte, brach nach dem Entstehen eines temporären galizischen Kleinstaates ein heftiger Bürgerkrieg zwischen den Nationalitäten aus, der in mehrere polnisch-ukrainische Kriege mündete. Auch wenn Polen damals den Sieg davontrug, führte dies zu einem ukrainischen Untergrundkrieg, der bis in den 2. Weltkrieg hinein reichte, in dem er sich nochmals verschärfte. Letztlich wurde sowohl die jüdische als auch die polnische Bevölkerung aus diesen Teilen der heutigen Westukraine weitgehend vertrieben oder gar Opfer von Pogromen.
Einer der frühesten Aufstände während des 1. Weltkriegs war 1916 das „Easter Rising“ in Dublin, mit dem gegen die britische Fremdherrschaft die irische Republik proklamiert wurde. Trotz der Niederlage des Aufstandes wurde der irische Freiheitskampf zum Fanal für den Kampf um Selbstbestimmung in ganz Europa. Auch in Irland begann unmittelbar im Anschluss an den Weltkrieg der Unabhängigkeitskrieg der IRA, der mehrere Jahre dauern sollte und schließlich in den inner-irischen Bürgerkrieg mündete, in dem sich die nationale Frage in scharfer Form mit der sozialen Frage verband.
Am Ende des Weltkrieges erklärte die Entente, besonders unter Führung von US-Präsident Wilson, die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zum zentralen Kriegsziel („14 Punkte-Programm“). Tatsächlich zeigen die oben erwähnten Entwicklungen, wie wenig dies tatsächlich ein „Friedensprogramm“ war. Einerseits wurde das Prinzip natürlich auf den Bereich der eigenen Entente nicht angewendet, weder was die koloniale Welt betraf noch den unmittelbaren Herrschaftsbereich, wie die irische Frage zeigte. Andererseits wurden willkürlich neue Staaten geschaffen, ohne das Selbstbestimmungsrecht der darin gefangenen Nationalitäten im Mindesten zu berücksichtigen. Dies betraf nicht nur die oben erwähnten Länder wie Polen, Ukraine, Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien. Auch das neu entstandene Jugoslawien als von Serbien dominierter Staat der Serben, Kroaten und Slowenen löste in keiner Weise die nationalen Probleme am Balkan und war die Saat für neue schreckliche Bürgerkriege während des 2. Weltkriegs und in den 1990er Jahren. Im Fall der Türkei wurden weder die griechische, armenische oder kurdische Frage auch nur ansatzweise gelöst (was auch zu einer Folge von Bürgerkriegen führte). Ebenso ist die Neuordnung des Nahen Ostens ein Musterbeispiel imperialer Kolonialpolitik. Zusammen mit der Bestrebung in allen diesen Krisenländern, die soziale Bewegung durch diktatorische Mittel einzudämmen, war die Politik der Siegermächte also alles andere als eine Politik für Frieden, Demokratie und Selbstbestimmung, sondern eine reaktionäre, imperialistische Lösung der revolutionären Krise des Weltkriegs und der gerade Weg in den globalen Bürgerkrieg. Die Intervention in den russischen Bürgerkrieg, der vor allem durch Militärhilfe bzw. auch direkte Truppenstellung aus Britannien und den USA derartig blutig wurde, zeigt das wahre Gesicht des „demokratischen“ Imperialismus.
Auch wenn die Bestürzung über den Ausbruch des Weltkriegs allgemein verbreiteter war als früher behauptet, so blieb sie doch zumeinst stumm, die offene und radikale Opposition gegen den Krieg war isoliert und schien in einer verzweifelten Lage. Fast alle Parteien der 2. Internationale hatten praktisch den Kriegseintritt ihrer Regierungen gebilligt und die Partei- und Gewerkschaftsspitzen wurden als Ordnungsfaktor über die Arbeiterklasse in die jeweilige Kriegspolitik integriert. Es gab allerdings wichtige Ausnahmen. Schon bald nach dem August 1914 traten Karl Liebknecht und Otto Rühle öffentlich im Reichstag gegen die Kriegspolitik auf und stimmten entgegen dem Fraktionszwang der SPD bei den folgenden Kriegskreditabstimmungen mit Nein. Zusätzlich gab es innerhalb der SPD eine große Opposition gegen die Politik der Parteispitze. Dies betrifft nicht nur die Gruppe um Liebknecht, Rühle und Luxemburg, die sich wenig später um die Zeitschrift „Internationale“ zu organisieren begannen. Zahlenmäßig sehr viel größer war das „Zentrum“ der SPD um den Co-Vorsitzenden Haase und insgesamt 16 Abgeordnete (mit bekannten Vorkriegsgrößen der SPD wie Ledebour), die innerhalb der Partei als Opposition auftraten und in den Parteiorganisationen vor allem der Großstädte den Großteil der Parteimitglieder hinter sich hatten. Ebert und Scheidemann führten dagegen die Partei praktisch diktatorisch über die Mehrheit der Fraktion mit absoluter Rückendeckung durch die Gewerkschaftsspitzen. Schon bald nachdem sich alle Illusionen von einem kurzen Krieg zerschlagen hatten, brach daher auch in der SPD ein regelrechter Grabenkrieg aus. Das Zentrum unterstützte dabei die wachsenden Proteste ab Mitte 1915 in der Arbeiterschaft gegen die Versorgungslage und die katastrophalen Arbeitsverhältnisse und begann auch mit vorsichtiger, zumeist äußerst reformistischer Anti-Kriegspropaganda („Frieden ohne Annexionen“). Kautsky, der sich der zentristischen Opposition anschloss, bemerkte in einem Brief an Otto Bauer im März 1916:
„Die Frage ist nicht länger, ob die Opposition triumphieren wird, sondern welche Art Opposition…. Ihre [gemeint ist die Spartakus/Gruppe Internationale] Radikalität entspricht den gegenwärtigen Bedürfnissen der breiten, ungebildeten Massen. Liebknecht ist jetzt der populärste Mann in den Schützengräben. Jeder der von der Front kommt, berichtet uns das ohne Ausnahme. Die unverbundenen Massen verstehen nichts von den komplexen Problemen der politischen Auseinandersetzungen, sie sehen nur den Mann, der gegen den Krieg arbeitet, und das ist die wichtigste Frage für sie“ (48).
Dieses Zitat zeigt wie in einer Nussschale Kautskys Zentrismus: Misstrauen gegenüber den sich radikalisierenden Massen, Angst vor „voreiligen“ und „zu radikalen Linken“, die unter diesen Massen Einfluss gewinnen könnten; übertriebener Respekt vor den Winkelzügen „komplizierter Realpolitik“; gleichzeitig ein naiver Optimismus über die „historische Notwendigkeit“, mit der die Gegnerschaft auf der rechten Seite mit der Zeit unumgänglich überwunden werden könne. Der Sieg der Opposition in der SPD war zwar aufgrund der Mehrheitsverhältnisse an der Basis tatsächlich möglich. Dazu hätte es jedoch eines entschlossenen und offenen Kampfes der Haase-Ledebour-Gruppe bedurft, der auch die sich radikalisierenden Basismitglieder massenweise in den innerparteilichen Kampf hätte einbeziehen müssen. Tatsächlich begannen auch die Zentristen langsam, ab Mitte 1916 gegen die weitere Kriegsfinanzierung zu stimmen (die Zahl der Nein-Stimmen wuchs so auf 18). Doch weiterhin akzeptierten sie die Partei-„Legalität“ und ließen sich durch die Parteiführung systematisch aus Parteipositionen auf allen Ebenen, vor allem aber auch aus der Parteipresse entfernen. Als die Gruppe schließlich Anfang 1917 aus der Partei ausgeschlossen wurde, gab es von ihr kaum Widerstand.
So wurde nur ein Bruchteil von deren Mitgliedern in die neue „Unabhängige Sozialdemokratische Partei“ (USPD) mitgenommen, der wohl möglich gewesen wäre (für die Verhältnisse der heutigen Linken war die USPD trotzdem eine Massenpartei, die in der Novemberrevolution Hunderttausende organisieren konnte). Die Internationale/Spartakus-Gruppe war zwar wesentlich radikaler und offener in ihrer Opposition, hatte aber nicht die Verankerung in der Partei und in den Betrieben, die die Zentristen hatten. Richtigerweise versuchten sie daher, wo möglich mit diesen zusammenzuarbeiten, aber immer mit klarer Kritik an ihren Halbheiten. Als die Parteispaltung der SPD Anfang 1917 klar war, hätte die Spartakus-Gruppe die Chance gehabt, mit einem klaren Programm und einer Kritik an der Niederlage der Haase/Ledebour-Gruppe für den Aufbau einer unabhängig revolutionären kommunistischen Partei eintreten zu können. Ihre Entscheidung, im April 1917 in die neu gegründete USPD zu gehen, ist unter diesen Gesichtspunkten eine der schwierigsten und strittigsten Fragen der Weltkriegszeit. Sie hängt zusammen mit den allgemeinen Fragen der Orientierung der Anti-Kriegs Opposition, der Frage der Notwendigkeit des radikalen Bruchs mit der 2. Internationale und dem Zentrismus und damit mit der Frage, wie der unvermeidliche revolutionäre Bürgerkrieg am Ende des Weltkriegs vom Proletariat zu gewinnen war.
In den ersten Kriegsmonaten waren alle Versuche, über die 2. Internationale so etwas wie repräsentative internationale Treffen von SozialistInnen gegen den Krieg zu organisieren, so gut wie unmöglich. Vom Internationalen Büro der Internationale gab es dazu entgegen den Basler Beschlüssen keine Aktivität. Die Parteiführungen der Internationale in den verschiedenen kriegführenden Nationen weigerten sich, auch nur die Idee in Betracht zu ziehen, mit den noch vor kurzem als „Bruderparteien“ gefeierten Konterparts in Gespräche zu treten und taten alle solche Ansinnen als Verrat an der Vaterlandsverteidigung ab. Erst im März 1915 kam nach langem Kampf ein internationaler Kongress sozialdemokratischer Frauen in Bern auf Initiative der bolschewistischen Frauenorganisation zustande. Clara Zetkin als Frauensekretärin der 2. Internationale griff deren Initiative positiv auf und ermöglichte so eine breitere Repräsentanz. Aufgrund der Verbote der Parteiführungen mussten die Delegierten jedoch trotz allem im Geheimen an dieser Konferenz teilnehmen. So kamen 29 Delegierte aus Deutschland, Frankreich, England, Russland, Polen und den Niederlanden zusammen. Das verabschiedete Manifest war zwar ungenügend und vor allem pazifistisch. Trotzdem wirkte seine Verbreitung als Ermutigung für die bisher national isolierte Opposition und war ein Startpunkt gerade für die verstärkte Organisierung von Arbeiterinnen – was sich gerade am Ende des Krieges noch als sehr wesentlich herausstellen sollte.
Auch die Jugendorganisationen schafften es im April 1915, eine erste internationale Konferenz ebenfalls in Bern zu organisieren. Auch hier wurde der inhaltliche Rahmen der Frauenkonferenz nicht überwunden. Aber unter Willi Münzenberg wurde ein internationales Jugendsekretariat aufgebaut, das in Folge ein wichtiger Rahmen für internationale Diskussion und Propaganda gerade unter den jungen Männern, die zum Kanonenfutter für die Weltkriegsarmeen ausersehen waren, werden sollte.
Im April 1915 war es auch, als sich der italienische sozialistische Abgeordnete Oddino Morgari auf eine schwierige Europareise für seine Partei machte. Die sozialistische Partei Italiens, die PSI, war neben den Bolschewiki eine der ganz wenigen Parteien der 2. Internationale gewesen, die sich mehrheitlich in Opposition zum Krieg auch ihrer eigenen Bourgeoisie befand. Allerdings waren es in der PSI die Zentristen, die mit ähnlichen Positionen wie Haase/Ledbour die Mehrheit stellten, nicht die Linke. Morgari sollte die Hauptstädte bereisen, um die sozialistischen Parteien für einen internationale Anti-Kriegskongress zu gewinnen. Wie nicht anders zu erwarten, holte sich Morgari bei den Parteiführungen in den kriegführenden Ländern harsche Absagen; allerdings waren die Schweizer Sozialisten zur Durchführung und Organisierung der Konferenz bereit. Auch in den kriegführenden Ländern reagierten die verschiedenen Oppositionen sehr interessiert, insbesondere in Britannien die beiden oppositionellen sozialistischen Organisationen BSP und ILP, aber auch die Minderheiten in der französischen SFIO und in Deutschland sowohl die Haase-Ledebour-Gruppe als auch die Internationale-Gruppe. Unter den russischen Sozialisten reichte das Spektrum von den Bolschewiki über die Trotzki-Gruppe bis zu den linken Menschewiki und Sozialrevolutionären. Insgesamt kam so ein für die europäischen sozialistischen Oppositionen gegen den Krieg leidlich repräsentatives Spektrum zusammen, das allerdings durch reaktionäre Reisebeschränkungen (z.B. wurden die britischen Delegierten wie auch einige französische an der Ausreise gehindert) schließlich nur auf 42 Delegierte beschränkt blieb. Darunter aber so bekannte Persönlichkeiten wie Lenin, Trotzki, Serrati und Ledebour. Zum ersten Mal traf man sich vom 5. zum 8. September 1915 in der Nähe von Bern, in dem Örtchen Zimmerwald, das von da an zum Synonym dieser Konferenz wurde.
Lenin und die Bolschewiki schockten den Großteil der Delegierten mit einer Resolution, die alle in diesem Artikel genannten Punkte noch einmal kurz und knapp zusammenfasste.
Der Weltkrieg wurde als imperialistischer Krieg charakterisiert, der von allen Seiten mit reaktionären Kriegszielen um die Aufteilung der Welt geführt wurde – und der auf der Grundlage des Charakters der imperialistischen Epoche auch nur reaktionär sein könne. Es gar zwar Einigkeit über die Charakterisierung des Krieges als „imperialistisch“ – andere Delegierte wollten jedoch nicht ausschließen, dass es auch friedliche Lösungen auf der Basis des bestehenden kapitalistischen Systems geben könne, andere wollten zwischen den Großmächten und ihren verschiedenen aggressiven Rollen differenzieren.
Weiterhin charakterisierten die Bolschewiki die Mehrheitssozialdemokraten als Verräter und als endgültig in das bestehende System integrierte Opportunisten, die von den Zentristen wie Kautsky in ihrer versöhnlerischen Politik nur eine linke Flankendeckung bekommen. Es sei daher der organisatorische Bruch mit dem Opportunismus in diesen zwei Varianten unumgänglich und die Gründung einer 3. Internationale solle das Ziel sein, zu dem die Konferenz den Grundstein legen solle. Ledebour, aber auch Trotzki, wollten diese Konsequenz nicht ziehen und setzten weiterhin auf die größtmögliche Einheit der verschiedenen Flügel, die durch weitere Konferenzen verbreitert werden solle. Am meisten schockte die Position der Bolschewiki, mit der Losung des revolutionären Bürgerkrieges für die Beendigung des Krieges zu kämpfen.
Ledebours Antwort ist wiederum ein Musterbeispiel des Zentrismus: „Lenins Resolution ist inakzeptabel. Wir alle hoffen, dass die revolutionäre Aktion ausbricht, aber ein detailierter Plan dafür sollte doch nicht in die Welt trompetet werden. Es mag tatsächlich zur revolutionären Aktion kommen, aber nicht weil wir dazu in einem Manifest aufrufen… In Berlin hatten wir schon Massendemonstrationen… Aber wir haben das nicht zuvor groß in die Welt hinaus posaunt“ (49).
Lenin gab darauf eine klare Antwort: „Die notwendigen Kampfmittel müssen den Massen bekannt gemacht werden, damit sie erklärt und diskutiert werden können.. Wenn wir an der Schwelle zu einer revolutionären Epoche sind, in der die Massen in revolutionäre Kämpfe übergehen, dann müssen wir auch klar sein in Bezug auf die notwendigen Kampfmittel. Vom Standpunkt der Revisionisten ist dies natürlich überflüssig, weil sie nicht glauben, dass wir in einer revolutionären Epoche leben. Wir, die wir das glauben, müssen anders handeln. Man kann keine Revolution machen, ohne die revolutionäre Taktik zu erklären. Es war genau eine der schlechtesten Eigenschaften der 2. Internationale, dass sie beständig solche Erklärungen vermieden hat… In Deutschland müsst ihr jetzt mehr machen als legale Arbeit, wenn ihr wirkliche Aktion wollt. Ihr müsst legale und illegale Arbeit kombinieren. Die alten Methoden sind nicht mehr adäquat für die neue Situation“ (50).
Tatsächlich war das Ziel von Ledebour und anderen nicht die Vorbereitung einer längerfristigen revolutionären Taktik und einer entsprechenden neuen internationalen revolutionären Führung. Sie wollten „erste Schritte“ setzen und sahen die Konferenz vor allem als Mittel, eine erste internationale Friedensdemonstration zur gleichen Zeit auch in allen kriegführenden Ländern zu organisieren.
Insofern war auch die Frage des revolutionären Bürgerkrieges weit entfernt von der Perspektive der Zentristen. Für sie standen Friedensforderungen und Aufrufe an die Arbeiterparteien zur Beendigung aller Unterstützung für Kriegsaktivitäten im Vordergrund (also z.B. der Aufruf zur Ablehnung von Kriegskrediten). Lenin machte klar, dass die Forderung nach einem Frieden „ohne Annexionen“ und unter Berücksichtigung der Selbstbestimmung der Völker an sich eine abstrakte Forderung ist. Angesichts der schon vor dem Krieg bestehenden imperialistischen Aufteilung der Welt und der vielfältigen Unterdrückung nationaler Minderheiten in diesem System waren diese Ziele nur durch eine Zerschlagung des Imperialismus und eine konsequente Forderung nach Selbstbestimmung der unterdrückten Nationalitäten auch innerhalb der vor dem Krieg bestehenden Staaten verwirklichbar. Hier hatte Lenin eine deutliche Differenz zu Teilen der radikalen Linken in Europa, die erklärten, dass in der imperialistischen Epoche alle demokratischen Forderungen entbehrlich geworden seien, da sie im Imperialismus sowieso illusorisch wären, so auch die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung. Lenin erklärte dagegen, dass die nationale Unterdrückung ein Hindernis für den gemeinsamen Kampf gegen die Imperialisten ist, wenn den davon Betroffenen durch die Revolutionäre nicht klar die demokratische, freiwillige Entscheidung gelassen wird:
„Für die Bourgeoisie ist die Proklamation der gleichen Rechte aller Nationen zu einem Betrug geworden. Für uns wird sie eine Wahrheit sein, durch die wir den Anschluss und die Beschleunigung der Gewinnung aller Nationen für die Revolution bewerkstelligen werden. Ohne effektiv demokratisch organisierte Verhältnisse zwischen den Nationen, ohne die Freiheit zur Abtrennung ist der Bürgerkrieg der ArbeiterInnen und der arbeitenden Klassen aller Nationen gegen die Bourgeoisie unmöglich“ (51).
Lenin und die Bolschewiki wollten also in Zimmerwald de facto das Programm und die Taktiken der kommenden Revolution diskutieren. Für sie war der Bruch mit den Revisionisten der 2. Internationale unvermeidlich. Schlussfolgerung aus beidem war, dass es allerhöchste Zeit für eine neue, 3. Internationale war, die sich an die Spitze des kommenden revolutionären Aufschwungs setzt und ihm die Perspektive weist.
Für die Mehrheit der Teilnehmer der Konferenz handelte es sich jedoch bloß um eine Anti-Kriegskonferenz, bei der unmittelbare Kämpfe gegen den Krieg initiiert werden sollten. Über den Charakter der Revisionisten in der 2. Internationale gab es zwar auch in der Mehrheit unterschiedliche Einschätzungen. Einig waren sie sich jedoch in Illusionen oder Bestrebungen, die alte Internationale für Anti-Kriegsaktionen zu gewinnen, oder zumindest größte Teile davon. Zu einem Bruch hin zu einer 3. Internationale war man mehrheitlich nicht bereit. Lenin und die Bolschewiki waren bereit, einen Schritt mit der Zimmerwalder Rechten zu gehen und diesen Weg der beschränkten Anti-Kriegsaktionen voran zu treiben. Daher unterstützte auch die Zimmerwalder Linke eine entsprechende Resolution und die geplanten Aktionen – wenn auch mit einer Erklärung über ihre weitergehenden Auffassungen und Zielsetzungen. Mit den Unterzeichnern dieser Erklärung war ein organisierter internationaler Zusammenhang geschaffen, der als „Zimmerwalder Linke“ zu einem Pol der Umgruppierung in der Linken weltweit werden sollte.
Tatsächlich hatte das Zimmerwalder Manifest eine weite Verbreitung in der Arbeiterschaft und führte zu heftigen Angriffen der Mehrheitssozialisten auf die Oppositionellen aller Richtungen. Trotzdem brachte der Anti-Kriegstag mit großen Demonstrationen europaweit im Oktober 1915 Hundertausende auf die Straßen. Somit sahen sich die Mehrheitssozialisten unter Druck gesetzt, wie sie auch generell den immer stärkeren Unmut ihrer Abeiter- und Soldatenbasis zu spüren bekamen.
Anfang 1916 gab es einen wachsenden Flügel auch unter den Mehrheitssozialisten der kriegführenden Mächte, der auf einen „Verständigungsfrieden“ drängte. Der Sekretär der Internationale, der Belgier Huysmans, versuchte eine Konferenz der „offiziellen“ Sozialdemokratie in Den Haag zu organisieren. Ziel sollte die Forderung nach einem „gerechten Frieden“ sein, auf der Grundlage der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, der „Demokratisierung“ der internationalen Diplomatie, allgemeiner Abrüstungsvereinbarungen und der Errichtung einer übernationalen Schlichtungsorganisation, um zukünftige Kriege frühzeitig zu unterbinden. Voraussetzung einer solchen Konferenz war, dass sich die Sozialdemokratien der unterschiedlichen Länder gegenseitig für ihr Verhalten im August 1914 „amnestieren“ würden. Dies taten sie aber nicht. Die Haager Konferenz wurde schließlich nur von Sozialdemokratien einiger neutraler Länder besucht.
Trotzdem zeigte Huysmans‘ Initiative Wirkung sowohl bei den Mehrheitssozialisten als auch bei den Zentristen. Die Koordinierung der Zimmerwalder Konferenz, die mehrheitlich von Zentristen gestellt wurde, erklärte die Vorschläge Huysmans‘ zwar für ungenügend, aber als einen Schritt in die richtige Richtung, auf dessen Grundlage man die Internationale wieder vereinigen könne. Von den italienischen Sozialisten bis zu Kautsky wurde die Idee des „Verständigungsfriedens“ von der Zimmerwalder Rechten aufgegriffen und entsprechende Appelle zur Aktion der alten Internationale herausgegeben. Lenin und die Zimmerwalder Linke hielten sowohl die Friedensinitiativen für eine Phrase als auch die Vorstellung, der Bruch mit der 2. Internationale sei noch vermeidbar. Die zweite internationale Konferenz im April 1916 der „Zimmerwalder“ (tatsächlich fand sie in einem anderen Vorort von Bern, in Kienthal, statt), stand daher ganz im Zeichen dieser Kontroverse. Auch diese zweite Konferenz brachte keine Entscheidung, war kein klarer Schritt in Richtung neue Internationale und endete mit Kompromissen, aber auch keiner Mehrheit für eine Teilnahme an der Haager Konferenz. Ein Fortschritt der Kienthaler Konferenz war die Stärkung und größere Einigkeit der Linken, die nun russische, polnische, französische, schwedische, schweizer und deutsche Organisationen umfasste, die sich immer deutlicher für die Gründung einer neuen Internationale aussprachen.
Die Warnung vor der Losung des „Verständigungsfriedens“ erwies sich alsbald als auch praktisch wichtig. Unter dem Druck der Probleme der Kriegsführung, wachsenden Versorgungsschwierigkeiten, den Protesten der ArbeiterInnen und auch der politischen Opposition begannen ab Mitte/Ende 1916 verschiedenste „Friedensinitiativen“ zwischen den imperialistischen Mächten die politische Bühne zu betreten.
Insbesondere die schwächeren Glieder in den Bündnissen wie Österreich-Ungarn oder Italien erkannten, dass sie knapp vor dem Umschlagen des Krieges in revolutionäre Umwälzungen standen. Die russische Führung war zwar in einer ebenso bedrängten Lage, war aber politisch unfähig vom Kriegskurs abzugehen – einer der Gründe, weshalb auch für die Bourgeoisie der Sturz des Zarentums immer unausweichlicher wurde. In Österreich-Ungarn war 1916 ein neuer Kaiser inthronisiert worden, dessen politische Berater aus dem Reformlager stammten. Mit Sozialreformen wollte man die SozialdemokratInnen noch stärker einbinden. Die Verfassung des Vielvölkerstaates plante man auf weiterreichende Autonomie jenseits des Ausgleichs von nur zwei Nationen umzubauen. Und der Außenminister Czernin sollte Möglichkeiten für die Beendigung des Krieges erkunden. Unter dem Druck eines möglichen Sonderwegs Österreich-Ungarns ging daher auch Deutschland dazu über, selbst die Initiative zu ergreifen, so dass es im Dezember 1916 eine erste Friedensinitiative durch die Mittelmächte gab. Allerdings waren die Angebote äußerst dürftig. Weder was den Status von Belgien noch von Elsass-Lothringen betraf, war Deutschland zu erkennbaren Kompromissen bereit. Im Osten sollte auf dem Gebiet des russischen Teilungsgebietes ein neuer polnischer Staat entstehen. Österreich-Ungarn war nur zu glücklich, dorthin Galizien „loszuwerden“. Von Serbien und Montenegro wurden gewisse Gebietsabtrennungen gefordert, während man Italien Zugeständnisse machen würde. Wie zu erwarten war die Reaktion der Entente negativ. Allerdings ergriff nun der US-Präsident Wilson die Gelegenheit, um seinerseits einen „Verständigungsfrieden“ vorzuschlagen. Die meisten Elemente seiner Erklärung (Selbstbestimmung, Ablehnung von Geheimdiplomatie, Abrüstung, internationales Schiedsgericht) waren offenbar von den Sozialdemokraten übernommen, die, ganz begeistert auf ihrer Urheberschaft verweisend, Wilsons Initiative positiv aufgriffen.
Lenin erkannte in diesen Initiativen einen Wendepunkt des Krieges: die beteiligten Mächte mussten auf die eine oder andere Weise nunmehr einen Weg zur Beendigung des Krieges finden, wollten sie nicht in eine immer schwierigere objektive Lage geraten. Lenin erkannte jedoch klar, dass ein imperialistischer Krieg von den Kapitalisten nicht einfach durch einen „gerechten Frieden“ beendet werden konnte oder auch nur die Wiederherstellung des Vorkriegsstatus‘ möglich war:
„Die gegenwärtigen Erklärungen unterscheiden sich von den vorherigen, weil es einen objektiven Grund dafür gibt. Dieser Grund ist die Wende der Weltpolitik vom imperialistischen Krieg, der den Massen ungeheures Elend gebracht hat…. hin zu einem imperialistischen Frieden, der den Massen den größten Betrug in Form von frommen Phrasen, Halb-Reformen, Halb-Zugeständnissen etc. bringen wird“ (52).
Kautsky dagegen sah in den Friedensinitiativen eine große Gelegenheit, nunmehr die Regierungen vor sich herzutreiben. Wohl erkannte er, dass dem Frieden noch mächtige Gegner entgegenstanden: „Diese Mängel [in den Friedensinitiativen] entstehen aufgrund der Macht, die die Kriegsparteien in der herrschenden Klasse weiterhin haben. Ihr Einfluss muss gebrochen werden, wenn ein Friede erzielt werden soll. Dies kann nicht durch diplomatische Manöver hinter der Bühne erreicht werden, sondern nur durch den Druck der Massen auf ihre Regierungen“ (53).
Die Massen sollten also mobilisiert werden, damit die „friedlicheren“ Imperialisten sich vom Einfluss der militaristischeren befreien konnten! Dies verkennt nicht nur die tatsächliche revolutionäre Situation, auf die man sich zubewegte, indem Kautsky die Massen nur als Staffage für Regierungsumbildungen sieht. Es verkennt vor allem auch das Wesen des imperialistischen Krieges: dieser Krieg wird nicht geführt, weil bestimmte Kriegsparteien da oder dort irgendwelche abenteuerlichen Eroberungsziele haben, Parteien, die man dann politisch entmachten kann; die Ursache des Krieges ist vielmehr die ungelöste Machtfrage auf einem von großen Kapitalen beherrschten Weltmarkt, die zu einer Neuaufteilung der Welt drängt; solange diese Frage daher nicht geklärt ist, kann es keinen Frieden geben. Auf dieser Grundlage kann es natürlich keine „Verständigung“ geben oder eine „gerechte“ Lösung – es kann nur einen Sieger geben. Von daher waren in den zentralen imperialistischen Kriegsregierungen zwangsläufig die „Kriegsparteien“ am Drücker und entschlossen, als einzige Friedenslösung diejenige des „Siegfriedens“ (so die Bezeichnung der Alternative zum Verständigungsfrieden im Reichstagsjargon) durchzusetzen, also das, was Lenin den „imperialistischen Frieden“ nannte. In ihrer Antwort auf Kautsky stellt die Spartakus-Gruppe daher zu recht fest:
„Für sie [die Zentristen] ist es ausreichend, wenn sich die Imperialisten „verständigen“ über den Leichen der Proletarier und zu den Vorkriegsverhältnissen zurückkehren. Sie hoffen auf die Rückkehr zum Status quo der Vergangenheit und verstehen nicht, dass es gerade dieser Status quo war, der zu dem nie gesehenen Ausmaße von Imperialismus und zum Ausbruch des Weltkrieges geführt hat“ (54).
Dies heißt natürlich nicht, dass deswegen keine Agitation für den Frieden zu führen sei, sondern nur, dass die Friedenspolitik der imperialistischen Regierungen immer nur eine Fortsetzung der Kriegspolitik mit anderen Mitteln ist. Die tatsächlichen Ziele und Interessen, die hinter Halbheiten und abstrakten Prinzipien verlogen verborgen sind, müssen entsprechend entlarvt werden. Mit entsprechend konsequenten Forderungen (in Bezug auf Waffenstillstand, Umdrehen der Gewehre, tatsächliche Durchsetzung von Selbstbestimmung und demokratischen Forderungen, Lösung der drängendsten ökonomischen Probleme etc.) muss konsequent gegen die Schein-„Friedenspolitik“ der eigenen Imperialisten vorgegangen – und gegen diese gerichtet werden.
Nach der Februar-Revolution in Russland war die Frage der Beendigung des Krieges eine der entscheidenden Fragen für die Fortentwicklung der Revolution. Die bürgerliche provisorische Regierung unter führender Beteiligung von Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären sprach zwar viel vom Frieden – führte aber real den Krieg weiter! Offenbar fürchtete sie einerseits die (für den russischen Kapitalismus) wesentliche westliche ökonomische Unterstützung bei einem Austritt aus der Entente zu verlieren. Andererseits fürchtete sie wohl die Rechnung präsentiert zu bekommen von den von der Front zurückkehrenden Soldaten, sprich Bauern und Arbeitern, für jahrelange Leiden, die wohl nicht mehr die bestehende Landverteilung und Ausbeutungsverhältnisse hinnehmen würden. So gab man vor, einen Verständigungsfrieden mit den Mittelmächten zu suchen, aber erklärte, nur unannehmbare Erpressung angeboten zu bekommen. Dazu kam die Angst davor, dass ein zu großes Nachgeben die Opposition der Nationalisten in der herrschenden Klasse, samt ihrer putschbereiten Militärs hervorrufen würde.
Anders als Kautsky annahm, waren nicht einmal die in Sowjets/Räten stark organisierten ArbeiterInnen und Soldaten dazu in der Lage, für sich genug „Druck auf die Regierung“ auszuüben, um den Frieden zu erzwingen. So verband sich zwingend die Friedenslosung „Brot, Land, Frieden“ der Bolschewiki mit der Regierungslosung „Alle Macht den Sowjets“. Erst die proletarische Revolution, die Errichtung einer Sowjetregierung erzwang das Ende des Krieges, sowohl gegen die bürgerliche Kerenski-Regierung als auch gegen die Militärführung und ihre Putschversuche (Kornilow). Bereits einen Tag nach der Errichtung des „Rats der Volkskommissare“ unterzeichnete Lenin als eine seiner ersten Handlungen als dessen Vorsitzender das „Dekret über den Frieden“. Nach etwa einem Monat, am 15.12.1917, schwiegen an der Front die Waffen. Tausende Soldaten, die immer weniger bereit gewesen waren, sich gegenseitig zu massakrieren, verbrüderten sich.
In Deutschland hatte sich seit Beginn 1917 im Reichstag eine Koalition aus Mehrheitssozialdemokraten (Ebert) und Zentrum (Erzberger) gebildet, die auf einen „Verständigungsfrieden“ drängte. Im Juni 1917 wurde von dieser Mehrheit auch tatsächlich eine „Friedensresolution“ verabschiedet, die die Regierung zur Aufnahme von Verhandlungen aufforderte. Die strittigen Fragen wie Belgien und Elsass-Lothringen waren wiederum nur vage angesprochen, so dass die Regierung genug Spielraum für gezieltes Scheitern auch nur ansatzweiser Verhandlungen hatte. Die Verhandlungsversuche wurden im Sommer 1917 über den Vatikan abgewickelt und mündeten in gegenseitigen Anschuldigungen und dem Austausch von Maximalpositionen.
In Deutschland selbst führte die „Friedensmehrheit“ im Reichstag zu einer de facto Militärdiktatur durch die Heeresleitung unter Ludendorff und Hindenburg. Die Kriegspartei scherte sich nicht um die Reichstagsmehrheit und diese setzte der Macht des Faktischen auch wenig entgegen. Gleichzeitig betrieb Ludendorff die Gründung deutsch-nationaler Organisationen und bewaffneter Strukturen, die nach dem Krieg politisch und militärisch die Speerspitze des Bürgerkriegs von rechts werden sollten. Erst als die Niederlage für die Heeresleitung offensichtlich wurde, übergab man im Oktober 1918 die Regierungsverantwortung an die „Friedenskoalition“ mit dem deutlichen Kalkül, ihr die Verantwortung für den Zusammenbruch unterzuschieben. Selbst unter diesen Bedingungen blieb der „Verständigungsfrieden“ eine leere Phrase. Als die Friedensbedingungen der Alliierten bekannt wurden, forderte die Heeresleitung sofort die unverminderte Wiederaufnahme des Krieges. Die Admiralität suchte eine letzte „Entscheidungsschlacht“, da die Auslieferung der Flotte wohl zu den Friedensbedingungen zählen würde. Ende Oktober erfolgte dann tatsächlich der Befehl, die Flotte noch einmal in den Skagerrak für eine sinnlose Harakiri-Aktion auslaufen zu lassen.
Der folgende Matrosenaufstand und die Massenaktionen der ArbeiterInnen waren es dann, die die sofortige Beendigung des Krieges erzwangen. Es war der Sturz des Kaisers am 9. November, die Entmachtung der Heeresleitung und die Bildung des Vollzugsrats auf Grundlage von Arbeiter- und Soldatenräten, was die Reichsregierung am 11. November 1918 zur Unterzeichnung des Waffenstillstands in Compiègne zwang. Die Oktoberrevolution hatte den Herrschenden in Deutschland gezeigt, was andernfalls drohte. Sie setzten daher auf die SPD, die nunmehr die bürgerliche Herrschaft und ihre imperialen Interessen retten sollte, was immer von letzteren noch zu retten war.
Die zentralen Mächte der Entente, Frankreich, Britannien und später auch die USA, hatten ebenso wenig Interesse an einem „Verständigungsfrieden“. Frankreich sah sich 1916 auf der Gewinnerstraße und entwickelte immer umfassendere Kriegsziele: nicht nur Elsass-Lothringen sollte wieder an Frankreich fallen, sondern Ziel war generell die Rheingrenze; Saarland, das Ruhrgebiet, aber auch Luxemburg und Belgien gehörten ebenso zu den von der Regierung entworfenen Kriegszielen wie die Auflösung des deutschen Reiches in 9 unabhängige Staaten zwecks Zerschlagung des deutschen Militarismus. Die britische Regierung war gegenüber den französischen Kriegszielen skeptisch, fürchtete sie in Frankreich doch einen zukünftigen starken kolonialen Rivalen als bestimmende Kontinentalmacht in Europa. So war es nur Russland, das die französischen Kriegsziele im Austausch zu seinen Zielen an Russlands Westgrenze voll und ganz akzeptierte. Mit den militärischen Erfolgen der Mittelmächte 1917, vor allem aber mit der russischen Revolution drohten daher die französischen Kriegsziele in sich zusammenzubrechen. Zudem brachen – wie schon erwähnt – von April bis Juni 1917 ausgedehnte Meutereien in der französischen Armee aus. Nach dem Vorbild der Februar-Revolution in Russland wurden auch hier Soldatenräte gebildet. In der Folge wurden die französischen Kriegsziele deutlich heruntergeschraubt auf die Angliederung von Elsass-Lothringen und die Demilitarisierung Deutschlands zumindest auf linksrheinischem Gebiet. Auch in Frankreich war man nun auf eine baldige Beendigung des Krieges ausgerichtet.
Nunmehr war man in London äußerst besorgt. Mit dem (in den Augen der britischen Imperialisten) Zusammenbruch Russlands drohte Deutschland sich im Osten stark auzubreiten und bei einem Verständigungsfrieden mit Frankreich dort zur Großmacht aufzusteigen. Besonders besorgt war man in London über die Ergebnisse der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk Anfang 1918 zwischen den Mittelmächten und Sowjetrussland. Es sah so aus, als könne sich Deutschland nicht nur über das Baltikum und die Ukraine den Einfluss sichern, sondern auch noch über den Kaukasus in die zentralen kolonialen Interessensgebiete Britanniens vorstoßen. Man rechnete mit einer Bedrohung der Aufteilungspläne des Nahen Ostens und am persischen Golf. Vorsorglich wurden britische Truppen ins Kaukasusgebiet entsandt (Besetzung Bakus). Aber auch in Russland selbst (Murmansk) marschierten schon im März 1918 britische Truppen ein – vorgeblich um einen möglichen deutschen Vormarsch in Russland zu stoppen und alliiertes Kriegsgerät zu sichern. Von diesen Brückenköpfen aus erfolgte letztlich die Intervention der Alliierten im russischen Bürgerkrieg.
Britannien war nun dazu bereit, die eingeschränkten französischen Kriegsziele zu unterstützen, um Deutschland letztlich einen Frieden diktieren zu können, der seinen Einfluss im Osten begrenzt. Plötzlich „entdeckte“ damit der britische Imperialismus auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Osteuropa und auf dem Balkan, das ihm vorher ziemlich egal gewesen war. Zwischen Deutschland und Russland sollten unabhängige Nationalstaaten mit enger Bindung an die Alliierten entstehen, die den Einfluss Deutschlands und Sowjetrusslands eindämmen sollten. Für diese Ziele konnten letztlich auch die USA für deren Kriegseintritt gewonnen werden. US-Präsident Wilson war denn auch dazu ausersehen, diese Ziele in hehre Worte von Demokratie, Selbstbestimmungsrecht und Völkerbundfrieden zu gießen. Das berühmte 14-Punkte-Programm vom Januar 1918 ist denn auch der Versuch, der Strahlkraft der Oktoberrevolution, der Gefahr einer massenhaften revolutionären Beendigung des Krieges und der unkontrollierten Selbstbefreiung unterdrückter Nationalitäten die Führung zu entreißen und die Illusion einer gerechten Nachkriegsordnung in Europa unter Schirmherrschaft der „demokratischen“ Großmächte USA/Britannien/Frankreich zu erzeugen.
Tatsächlich ist das 14-Punkte-Programm bis auf Belgien und Elsass-Lothringen vollkommen vage. Selbst in Bezug auf Polen oder die Balkanstaaten wird zwar von Selbstbestimmung gesprochen, aber jegliche konkrete Aussage vermieden. In Bezug auf das osmanische Reich wird von der Selbstbestimmung der nicht-türkischen Völker gesprochen; von der Türkei wird jedoch nichts weiter Konkretes gesagt – außer der unvermeidlichen internationalen Kontrolle über Bosporus und Dardanellen. Am undeutlichsten bleibt das Programm in Bezug auf Österreich-Ungarn, wo den dortigen Nationen nur „die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung“ gewünscht wird.
Gleichzeitig verhandelten USA und Britannien bereits mit Masaryk und Benes über die Bildung eines zukünftigen tschechoslowakischen Staates, der notwendigerweise den Zerfall Österreich-Ungarns bedeuten musste. Tatsächlich hatten die Allierten und tschechische Nationalisten schon seit 1915 die Bildung einer tschechoslowakischen Legion betrieben, die an allen Fronten, vor allem in Russland kämpfte und sich mit immer mehr Gefangenen aus Tschechien und der Slowakei füllte. In Russland umfasste die tschechoslowakische Legion zur Zeit der Oktoberrevolution um die 60.000 Soldaten, die zu den verlässlichsten Truppen für die Alliierten zählten. Mit der Revolution sahen die Führer dieser Legion ihr Ziel -Erkämpfung einer unabhängigen Tschechoslowakei an der Seite der Entente – daher gefährdet. Sie wurden daher später eine der Speerspitzen der westlichen Intervention im russischen Bürgerkrieg. Den Bolschewiki, die für eine unabhängige Tschechoslowakei eintraten, gelang es jedoch eine Minderheit der Legion auf ihre Seite zu ziehen. Letztlich gelang Anfang 1920 ein Übereinkommen mit der Legion, das ihren Rücktransport in die Heimat ermöglichte samt Auslieferung der Koltschak-Soldateska.
Ab Januar 1918 häuften sich in der österreichisch-ungarischen Armee die Meutereien vor allem nicht-österreichischer Truppenteile. Auch der Matrosenaufstand von Cattaro (heute: Kotor in Montenegro) im Februar 1918 wurde vor allem von Matrosen aus der Tschechoslowakei getragen – auf den Schlachtschiffen wurde die rote Fahne der Oktoberrevolution gehisst. Ab dem Frühjahr kam es zu systematischer Befehlsverweigerung an der Piavefront, von der immer mehr Bataillone einfach in ihre jeweiligen Heimatländer abzogen. Im Oktober versuchte die Regierung noch einmal das Reich zu retten, mit dem „Völkermanifest“ des Kaisers. Danach sollte die Donaumonarchie in einen losen Verbund autonomer Nationalstaaten mit dem Kaiser als Oberhaupt eines Art Commonwealth gewandelt werden. In diesem Rahmen sollte der Krieg dann als gemeinsamer Krieg mehrerer Nationen gegen die Entente weitergeführt werden, um zu einem „raschen Verständigungsfrieden“ zu gelangen. Insofern wurde zur Bildung von Nationalräten in Tschechien, Österreich, Istrien und Slowenien aufgerufen (d.h. in der österreichischen Reichshälfte). Tatsächlich hatten sich außer in Österreich überall schon solche Räte gebildet. Die nicht-österreichischen Nationalräte waren entschlossen, aus dem österreichisch-ungarischen Krieg auszusteigen. Somit endete auch hier der Krieg ohne „freiwillige“ Verständigung der Herrschenden. Selbst als sich der Großteil der Nationen Ende Oktober 1918 schon vom Reich losgelöst hatte, wurde das Kriegsende Anfang November 1918 auch in Wien durch Arbeiter- und Soldatenräte und die Vertreibung des Kaisers aus der Hofburg erzwungen.
Von bürgerlichen HistorikerInnen wird die weltrevolutionäre Perspektive der Bolschewiki und vieler Linker in Europa am Ende des Weltkriegs gerne als ideologische Verblendung und abenteuerliche Verkennung der tatsächlichen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse dargestellt. Höchstens wird zugestanden, dass die KommunistInnen die „außergewöhnlichen“ Zustände am Ende des Krieges für ihre, den Massen angeblich nicht so klaren, „putschistischen“ Projekte genutzt hätten. Weder wird begriffen, dass die revolutionäre Situation am Ende des Krieges für die imperialistische Epoche nichts Außergewöhnliches ist, noch dass sie mit den ersten Umstürzen und Niederlagen lange nicht vorbei war, sondern noch mehrere Jahre extrem instabile Verhältnisse herrschten, die immer wieder akut revolutionäre Momente an allen möglichen Plätzen der Welt entstehen ließen. Vor allem aber werden die Stimmung der Massen und die Tiefe der Erschütterung der herrschenden bürgerlichen Ideologien verkannt. Das Beispiel des konservativen österreichischen Stabsoffiziers, der im Zitat oben am Ende des Krieges den Hass auf das System, das das ganze Morden zu verantworten hatte, zum Ausdruck bringt und vom unvermeidlichen Sieg des internationalen Sozialismus spricht, zeigt, welche tiefgreifende Reflexion bei allen möglichen Schichten der Gesellschaft über die Ursachen des Krieges und die notwenidgen Konsequenzen eingesetzt hatte. Die unbeschreiblichen Leiden an der Front, die Entmenschlichung, die man in der Kriegsmaschinerie erlebt hatte, die Hohlheit der nationalistischen Phrasen und reale Menschenverachtung der diese Phrasen benutzenden Kommandeure etc. – all dies führte zu einer radikalen Infragestellung der bestehenden Ordnung und zum Wunsch nach ausgiebiger Abrechnung mit ihr. Die Oktoberrevolution war in weiten Kreisen der Bevölkerung kein Schreckgespenst, sondern Bezugspunkt der Hoffnung auf eine wirklich neue Ordnung. Diejenigen Parteien, die als Anti-Kriegsparteien und Opposition zum bestehenden System gesehen wurden, erhielten enormen Zulauf. Und dies waren nunmal überall sozialistische Parteien aller möglichen Strömungen.
Schon während des Krieges begannen die Parteien des Zimmerwalder Spektrums die Proteste und Streiks zu dominieren. Waren die Streiks außerhalb Russlands 1916 und 1917 noch sporadisch und hatten nur begrenzte politische Forderungen, so waren die Januarstreiks 1918 (Ungarn, Österreich, Deutschland) bereits von erheblicher Größe und politischen Forderungen geprägt. Die Meutereien und Befehlsverweigerungen bei See- und Landstreitkräften hatten alsbald immer den Bezug auf die Oktoberrevolution und fanden im Hissen von roten Fahnen ihr Symbol. Am Ende des Krieges waren in Italien, Deutschland, Österreich-Ungarns Nachfolgestaaten wesentliche Fabriken de facto unter Arbeiterkontrolle. Mit Kriegsende waren Fabrikbesetzungen an der Tagesordnung und die Arbeiterräte bildeten tatsächliche ökonomische und politische Machtorgane. Gleichzeitig wurden Offiziere entwaffnet und die Einheiten dem Befehl von Soldatenräten unterstellt bzw. die Waffenarsenale den Arbeiterräten geöffnet. Diese Situation ermöglichte später (im Verlauf der Auseinandersetzungen 1919/20) auch die Bildung von Räterepubliken wie in Ungarn, Bayern und Bremen bzw. die bewaffneten Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet und in den mitteldeutschen Industriezentren.
Die Vorstellung von der „roten Flut“ oder dem „unvermeidlichen Sieg des internationalen Sozialismus“, die viele Bürgerliche und die Herrschenden in dieser Zeit wie ein Gespenst erfasste, war also nicht abwegig. Tatsächlich war aber die politische Führung dieser Flutwelle alles andere als geklärt und in ihren Perspektiven zielsicher. Außerhalb Russlands dominierten die Parteien der Zimmerwalder Mehrheit, also ZentristInnen, die Bewegungen. Parteien wie die USPD und die PSI, aber auch die französische Opposition um Longuet waren die Parteien der Stunde und wurden überall an die Spitze der Bewegung gespült. Parteien der Zimmerwalder Linken blieben oft in der radikalen Opposition gegenüber dieser neuen Mehrheit, wenn auch durchaus mit bedeutendem Massenanhang. Nur in Ausnahmefällen wie in Ungarn oder Bulgarien waren sie selbst die dominierende Kraft. Aber auch die Linken waren ein vielfältiges Spektrum, das längst nicht die politische und taktische Einheit der erfahrenen Bolschewiki aufwies.
Gleichzeitig gelang es auch den Mehrheitssozialisten, sich als Parteien des Friedens und der Demokratie zu präsentieren. Ihr offizielles Ziel war die Herstellung parlamentarisch-demokratischer Verhältnisse, in deren Rahmen dann über Wahlen die Macht erlangt und durch Verstaatlichung der Weg zum Sozialismus eingeleitet werden sollten. Trotz ihrer Diskreditierung durch den Verrat 1914 erlangte diese „friedliche“ Perspektive ihre Anhängerschaft bei Teilen der Räte, in den Gewerkschaften und auch in breiten Teilen der eher passiv gebliebenen Bevölkerung, die zwar Veränderung wollten, aber auch wieder bald Ruhe und Ordnung ersehnten.
Dagegen war jetzt das Programm der Bolschewiki ein radikaler Bruch mit diesem Traum der 2. Internationale vom friedlichen Übergang zum Sozialismus: die Konsequnez des Krieges zeigte klar, dass es keinen Frieden mit diesem System geben kann, dass nichts von den bestehenden Apparaten des imperialistischen Staates übernommen werden kann, sondern dieser Staatsapparat zerschlagen werden muss und die Arbeiter- und Soldatenräte ihre unmittelbare Herrschaft errichten müssen auf der Basis der Kontrolle über die Produktion, die nicht einfach Verstaatlichung bedeutet, sondern die Vergesellschaftung der Ökonomie einleitet. Insofern sind auch die Mehrheits-SozialdemokratInnen als VerteidigerInnen des bestehenden bürgerlichen Staatsapparates Gegner, die am Ende die wirkliche Machtergreifung des Proletariats mit dessen Machtmitteln brutal verhindern werden und daher selbst erbittert bekämpft werden müssen.
Gegenüber diesen entgegengesetzten Polen ergriffen die ZentristInnen eine Mittelposition: die Arbeiterkontrolle über die Produktion schreitet unweigerlich voran ebenso wie die Rätedemokratie. Daher ist die Frage der politischen Macht nicht mehr so zentral und wird sich letztlich durch die Machtveränderung an der gesellschaftlichen Basis auch in den politischen Institutionen widerspiegeln. Daher vertraten USPD, PSI, der neue Mehrheitheitsflügel bei den französischen Sozialisten, die Austro-MarxistInnen die Doppelstrategien der „Entwicklung von Rätemacht“ und der Stabilisierung parlamentarischer bürgerlicher Herrschaft. Fatalerweise übersahen sie dabei, dass hinter der parlamentarischen Fassade auch die alten Staatsapparate und deren militärischer Arm ihre Macht erhalten und letztlich wieder etablieren konnten. Ebenso ermöglichten sie aufgrund ihrer versöhnlichen Haltung gegenüber den MehrheitssozialistInnen diesen, sich als die Agenten der Konterrevolution in der Arbeiterbewegung breit machen zu können.
Als der Spartakusbund Ende 1918 endgültig mit dem Zentrismus brach und die KPD gründete, war es für den Kampf um die Errichtung realer Rätemacht schon fast zu spät. Die folgenden Aufstände und Errichtungen regionaler Rätemächte fanden bereits unter wesentlich ungünstigeren Verhältnissen statt, insbesondere nach der Etablierung der Weimarer Republik und den Wahlen zur konstituierenden Versammlung am 19. Januar 1919. Mit der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg hatten die KPD und die deutsche Revolution auch ihre wichtigsten Führungspersönlichkeiten verloren.
Ebenso verpasste die PSI die Situation der weitreichenden Fabrikbesetzungen in den norditalienischen Industrieregionen und war damit zufrieden, bei den ersten Wahlen ein Drittel der Stimmen zu erreichen.
Angesichts dieser Situation – dem Verpassen der revolutionären Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit, der schwankenden politischen Führungen, des Vorherrschens der ZentristInnen in den Bewegungen, der langsamen Herausbildung wirklicher kommunistischer Parteien – ergriffen die Bolschewiki die Initiative, um auf Basis der „Zimmerwalder Linken“ eine neue, 3. Internationale zu gründen. Als Anlass erklärte Lenin im Dezember 1918 die Gründung der KPD. Damit war für ihn das Signal gesetzt, dass die europäische Arbeiterbewegung die Notwendigkeit des Bruchs mit ReformistInnen und ZentristInnen begriffen hatte und bereit war, neue, kommunistische Parteien zu gründen, die die internationale Verbindung mit dem sowjetischen Russland suchen wollten.
Noch am 24.12.1918 ging die Einladung zu einem Gründungskongress heraus, der Anfang März 1919 in Moskau stattfand und eine neue, 3. und kommunistische Internationale ausrief. Tatsächlich konnten aufgrund der Nachkriegs- und Bürgerkriegswirren nur wenige Delegierte aus dem übrigen Europa an diesem Kongress teilnehmen. Auch waren die dabei geschaffenen Strukturen noch ebenso sehr schwach wie die Verbindungen zwischen den nationalen Sektionen und dem Zentrum in Moskau. Aber das Programm des Bruchs mit dem Verrat der 2. Internationale, der Notwendigkeit der Zerschlagung der bürgerlichen Staatsapparate und der Errichtung von Rätemacht, der Unmöglichkeit eines Friedens mit dem Imperialismus hatten eine neue internationale Form bekommen, die unmittelbar Strahlkraft in alle möglichen Länder der Welt hatte. Zunächst waren außerhalb Russlands nur in Bulgarien und Norwegen wirkliche Massenparteien für die 3. Internationale gewonnen worden, während in den meisten Ländern nur kleinere, aber sehr aktive und bekannte Parteien wie die KPD dazu gehörten.
Mit der Zuspitzung der politischen Situation Ende 1919/Anfang 1920 wurden die zentristischen Parteien jedoch immer mehr vor die Entscheidung gestellt, sich weiter nach links zu bewegen oder endgültig vor der Mehrheits-Sozialdemokratie zu kapitulieren. Schon kurz nach der Gründung der Komintern entschloss sich als erste große zentristische Partei die PSI zum Beitritt. Aber auch in der USPD und bei den französischen Sozialisten wurde die Tendenz zum Beitritt immer stärker. Der zweite Kominternkongress Mitte 1920 stand daher wesentlich im Zeichen der Gewinnung dieser Parteien und der Bedingungen, unter denen sie beitreten könnten. Auch wenn sie in Worten von der Diktatur des Proletariats und Rätemacht sprachen, waren sie in der Praxis nicht wirklich zum Kampf um die Macht bereit, was sich vor allem in ihrer versöhnlerischen Haltung gegenüber den alten reformistischen Führungen zeigte. Im Wesentlichen drehte sich die Frage des Beitritts daher um die Notwendigkeit des Bruchs mit dem rechten Flügel in USPD und SFIO, die weiterhin auf die „Einheit“ aller SozialistInnen orientierten. Nach dem Kongress schlossen sich die Mehrheiten von USPD und SFIO der Komintern an. Die Mehrheit der USPD ging in der KPD auf, aus der SFIO wurde die PCF gebildet. Die Minderheiten gingen im ersteren Fall zur SPD zurück, während Blum und Longuet in Frankreich mit der Minderheit die SFIO wiedergründeten. Ähnliche Prozesse spielten sich in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien ab. Um 1920 war die Komintern daher tatsächlich zu einer europäischen Massenbewegung geworden. In Deutschland, Frankreich, Italien, der Tschechoslowakei waren kommunistische Parteien mit jeweils über 100.000 Mitgliedern entstanden, ebenso gab es in Bulgarien und Jugoslawien Parteien, die die Mehrheit der Arbeiterklasse vertraten.
Angesichts der revolutionären Entwicklung in der Nachkriegszeit war diese Herausbildung der Komintern aber reichlich spät. Der von Lenin geforderte kommunistische Generalstab im unvermeidlichen revolutionären Bürgerkrieg, der aus dem imperialistischen Krieg entstehen sollte, musste erst mühselig und mit vielen Widersprüchen behaftet mitten in diesem Bürgerkrieg geschaffen werden. Die meisten Interventionen kommunistischer Gruppen und Parteien in den jeweiligen Krisen und revolutionären Situationen der Nachkriegszeit erfolgten daher stark auf eigener Grundlage, sind nur aufgrund der jeweiligen Geschichte sehr widersprüchlicher Strömungen und dem jeweiligen Gewicht von ReformistInnen, ZentristInnen, Ultra-Linken, SyndikalistInnen, KommunistInnen etc. zu verstehen. Zumeist wurden die Ereignisse und Taktiken erst im Nachhinein international diskutiert und bewertet. Die ersten beiden Kominternkongresse dienten der programmatischen Klärung und der Herausbildung der Komintern als Masseninternationale. Erst 1921 und 1922 wurden konkret auf internationaler Ebene die notwendigen Taktiken im Kampf um die Macht, die Fragen von Einheitsfront, Regierungslosungen, Gewerkschaftspolitik, Fragen der nationalen Selbstbestimmung etc. diskutiert und allgemeinverbindlich beschlossen. Erst ab da gab es so etwas wie eine effektive internationale Leitung, wenn auch noch mit vielen Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung. Es gehört zur Tragik der Geschichte, dass die Komintern erst dann, Mitte der 20er Jahre, effektiv von Moskau aus geführt wurde, als in der Sowjetunion schon voll die Bürokratisierung eingesetzt hatte und die Kominternführung immer mehr zum Instrument einer nicht-revolutionären Außenpolitik der Sowjetunion wurde.
1921 auf dem 3. Weltkongress der Komintern hielt Trotzki die Rede zur internationalen Situation, in der er die Nachkriegsperiode bis dahin resümierte:
„Als wir in der ersten Nachkriegsperiode die sich entfaltende revolutionäre Bewegung beobachteten, konnten viele von uns – und zwar mit genügender historischer Begründung – glauben, dass diese Bewegung, die immer stieg und anschwoll, unmittelbar mit der Machtergreifung der Arbeiterklasse enden müsste… 1919 befand sich die europäische Bourgeoisie in einem Zustand höchster Kopflosigkeit. Das war die Zeit einer panischen, wahrhaft tollen Furcht vor dem Bolschewismus…. Sie wusste jedenfalls doch, wie wenig die Ergebnisse des Krieges jene Versprechungen erfüllten, die sie gegeben hatte. Sie kannte genau den Grad der Opfer an Gut und Blut. Sie fürchtete die Vergeltung. Das Jahr 1919 war für die Bourgeoisie entschieden das kritischste Jahr“ (55).
Auf Seite der Arbeiterklasse analysiert Trotzki:
„Gleich nach dem Krieg (waren…) die Arbeiter, besonders die Heimkehrer anspruchsvoll gestimmt. Aber die Arbeiterklasse als Ganzes war desorientiert, wußte nicht genau, wie sich das Leben nach dem Krieg gestalten würde, was und wie sie fordern, welchen Weg sie gehen sollte. Die Bewegungen nahmen…. einen außerordentlich stürmischen Verlauf, aber eine feste Leitung hatte die Arbeiterklasse nicht“ (56).
Für viele KommunistInnen erwies sich, wie Trotzki feststellt, die Hoffnung auf eine Nachkriegszeit als „einziger Sturmangriff“ als Illusion. Auf das folgende Auf und Ab war man schlecht vorbereitet. Selbstkritisch bemerkt Trotzki (aufgrund der Krankheit Lenins damals bereits die führende Persönlichkeit in der Komintern):
„In diesem Kampf nehmen wir sowohl Anschwellen wie Abklingen, sowohl Sturm wie Verteidigung war. Kurzum das Manöverieren ist unsererseits noch lange nicht immer geschickt. Die Ursachen davon sind zweierlei Art. Erstens, die Schwäche der kommunistischen Parteien, die nach dem Krieg entstanden, ohne die nötige Erfahrung, ohne den notwendigen Apparat, ohne den genügenden Einfluss und ohne … genügendes Verständnis der Arbeitermassen…. Die zweite Ursache des langwierigen und ungleichmäßigen Charakters des Kampfes bildet die heterogene Zusammensetzung der Arbeiterklasse selbst, wie sie aus dem Krieg hervorgegangen ist“ (57).
Diese von Trotzki angeführten Momente, die anfängliche Panik und Kopflosigkeit der Bourgeoisie, das sich erst langsam lösende Führungsproblem der Arbeiterklasse, die Heterogenität der Arbeiterklasse, die sich aus dem paradoxen Erstarken der reformistischen Apparate gerade durch ihre Dienste für das Kapital während und nach dem Krieg ergab, all dies sind entscheidende Rahmenbedingungen für die Herausbildung der Nachkriegsordnung und ihrer Widersprüche.
Nach den Waffenstillständen an allen Fronten im Oktober/November 1918 war halb Europa von revolutionären Erschütterungen geprägt. Selbst bei den Siegermächten waren nur Frankreich und Britannien halbwegs ruhig – auch Italien war seit 1917 von Streikwellen und sozialen Unruhen erschüttert. Von Finnland bis zum Balkan entstanden in Ost-/Süd-Europa neue Staaten, die sofort in heftige Auseinandersetzungen um die neuen Grenzen verwickelt waren. In Deutschland, Österreich, Ungarn, Finnland, Bulgarien und Italien gab es revolutionäre Situationen, die in der Bourgeoisie oben genannte Panik vor der „roten Flut“ erzeugte. Die von deutsch-österreichischen Truppen besetzte Ukraine geriet immer mehr unter Kontrolle der anarchistischen Machno-Partisanen, im Don-Gebiet und im Kaukasus machten sich Unabhängigkeitsbestrebungen breit. Griechenland, Armenier und Kurden versuchten auf dem Gebiet der heutigen Türkei ihren Staat auszudehnen, beziehungsweise neue Staaten aufzubauen. Auf dem ehemaligen Territorium des zusammengebrochenen osmanischen Reiches versuchten die vormals mit den Alliierten verbündeten arabischen Nationalisten einen arabischen Großstaat zu errichten. Mit einem Wort: für die imperialistischen Siegermächte war der Krieg mit den Waffenstillständen lange nicht vorbei. Es musste dringend eine imperialistische Friedensordnung durchgesetzt werden, wenn es sein musste, auch mit militärischer Intervention.
Ein Alliierter Rat wurde gebildet aus Vertretern Britanniens, Frankreichs, der USA und Italiens („Rat der Vier“). Italien spielte dabei immer eine untergeordnete Rolle und sollte später sogar austreten, da es sich bei der „Aufteilung der Beute“ benachteiligt sah. Vor dem Abschluss der Friedensverträge wurden von diesem Rat in allen Gebietskonflikten eingegriffen, meist auf Seiten der neuen „Verbündeten“ Polen, Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien. Ebenso wurde der Rat zur Speerspitze im Kampf gegen die „rote Flut“. Die noch während des Weltkriegs begonnene Intervention in Sowjetrussland wurde fortgesetzt, mit mehreren tausend britischen, US-amerikanischen und französischen Soldaten, die Verbindung zur tschechoslowakischen Legion aufzunehmen versuchten. Wichtiger als die unmittelbare Intervention war die dadurch ermöglichte Versorgung der konterrevolutionären russischen Kräfte mit Waffen und Geld. Somit hatte der alliierte „Friedensrat“ den russischen Bürgerkrieg im Frühjahr 1919 zu einem heißen Krieg gemacht (Beginn der Koltschak-Offensive im März 1919). Dabei wurde auch das Treiben deutscher Freikorps im Baltikum und in Ostpreußen toleriert, vor allem da es die Aufstellung einer anti-bolschewistischen, gegen Petersburg gerichteten Armee unter Judenitsch ermöglichte. Die zusätzlichen Projekte einer „unabhängigen“ Ukraine und einer transkaukasischen Föderation – sprich von neuen Halbkolonien der Alliierten – sollten jedoch im russischen Bürgerkrieg nach dem Zusammenbruch von Wrangels südlicher Front scheitern.
Ebenso wurde gegen die am 21.3.1919 ausgerufene ungarische Räterepublik vorgegangen, der zweiten Räterepublik nach Russland. Durch entsprechende Unterstützung Rumäniens und der Tschechoslowakei ermöglichten die Alliierten diesen, in Ungarn militärisch zu intervenieren. Anfang August wurde die Räterepublik durch den Einmarsch rumänischer Truppen in Budapest brutal niedergeworfen.
Diese Unfriedenszeiten zeigen, dass die Alliierten rasch zu von ihnen genehmen Verhältnissen kommen wollten. Trotz aller Phrasen von „Selbstbestimmung“ und „Demokratie“ waren sie entschlossen, die Grenzen Europas gemäß ihren Interessen neu zu ziehen und den Vormarsch der sozialistischen Revoloution zu stoppen bzw. zu zerschlagen.
Dies sind die Prämissen, unter denen die Pariser Friedensverhandlungen im Januar 1919 begannen. Deutschland sollte zwar wesentlich geschwächt werden, aber als kapitalistische Großmacht gegenüber den unstabilen Verhältnissen in Ost-Europa und vor allem gegenüber Sowjetrussland erhalten bleiben. Die Bedingungen sollten nicht solcherart sein, dass sie die „rote Gefahr“ in Deutschland noch mehr stärken würden. Die Machtverhältnisse sollten durch stark an die West-Alliierten angelehnte „Pufferstaaten“ in Polen, dem Baltikum und in der Tschechoslowakei austariert werden, die das sowjetische Russland von Deutschland trennen sollten. Dass dabei etlichen anderen Nationalitäten ihr Selbstbestimmungsrecht genommen wurde, war Wilson & Co. kein Problem: bei der Bildung des neuen Polens wurden systematisch Minderheitenrechte von Ukrainern, Weißrussen und Deutschen missachtet; bei der Tschechoslowakei die von Ungarn und Deutschen. Auf dem Balkan stützte man sich vor allem auf den neuen SHS-Staat (Jugoslawien), Griechenland und Rumänien unter Missachtung von Rechten der Bulgaren und Ungarn. Dabei war auch der serbisch dominierte SHS-Staat von Anfang an durch Missachtung des Selbstbestimmungsrechts von bosnischen, albanischen und sonstigen Minderheiten, aber auch Benachteiligung von Kroaten und Slowenen geprägt.
Neben den vier Siegermächten waren daher auch Vertreter dieser neuen Staaten als Parteien bei den Friedensverhandlungen und in die neuen Grenzziehungen mit einbezogen. Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und die Türkei sollten dagegen am Ende der Verhandlungen noch zu Gesprächen eingeladen werden, bei denen sie lediglich zu Details Einsprüche machen konnten. Die Pariser Verträge stellen damit sowohl einen Vertrag der Siegermächte und ihrer neuen europäischen Vasallen über ihre gegenseitigen Verhältnisse dar als auch einen „Friedensvertrag“ mit den Mittelmächten. Ersteres drückt sich in der Gründung des „Völkerbundes“ aus, der die neue imperialistische Weltordnung unter der Führung von USA, Britannien und Frankreich repräsentieren sollte. Die Gründung dieser UN-Vorläuferorganisation ist tatsächlich wesentlicher Bestandteil aller 5 Pariser Verträge.
Ein zentraler Punkt der „Friedensverhandlungen“, die wie gesagt bezeichnenderweise ohne die Friedens-„Partner“ stattfanden, waren die unterschiedlichen Perspektiven in Bezug auf Deutschland zwischen Frankreich auf der einen Seite und USA/Britannien auf der anderen. Frankreich drängte auf eine Zerschlagung von Deutschland als Großmacht. Wesentliche Industriegebiete sollten im Osten wie im Westen anderen Staaten angegliedert werden. Insbesondere sollten die linksrheinischen Gebiete und das Saarland neben Elsass-Lothringen an Frankreich fallen, aber auch das Ruhrgebiet und derartig hohe Reparationszahlungen verlangt werden, dass Deutschland praktisch als führende Industrienation vom Weltmarkt verschwinden würde. Britannien und die USA wollten dagegen Deutschland als Großmacht gegenüber einem instabilen Osteuropa und Russland erhalten, fürchteten revolutionäre Unruhen und waren an Deutschland auch als Handelspartner und Investitionsstandort weiter interessiert. John Meynard Keynes trat als Wirtschaftsexperte der britischen Regierung nicht etwa wegen der ökonomisch sinnlos hohen Reparationsforderungen zurück, sondern weil er dadurch wesentliche britische Wirtschaftsinteressen bedroht sah.
In Bezug auf Deutschland setzte sich daher ein halbgarer Kompromiss in den Verhandlungen durch. Deutschland verlor zwar im Osten große Gebiete an Polen, Litauen und die Tschechoslowakei, nicht jedoch die zentralen Industriegebiete in Schlesien. Mit der Sonderstellung Danzigs (selbstständige Stadt unter Völkerbundkontrolle, umgeben von einem polnischen „Korridor“) wie auch mit der Teilung Ost-Schlesiens wurden jede Menge neue Sprengsätze im deutsch-polnischen Verhältnis gesetzt. Im Westen wurde die alliierte Besetzung des linksrheinischen Gebietes gegen den Wunsch Frankreichs nur zeitlich befristet, ebenso wie im Saarland eine Volksabstimmung durchgeführt werden sollte. Das Ruhrgebiet blieb als wesentliches deutsches Industriezentrum vorerst unberührt. Bei den Reparationszahlungen sollte sich eine harte Linie durchsetzen – immerhin hatten Frankreich und Britannien gewaltige Schulden an die USA zu bezahlen. Allerdings sollten erst nur 20 Milliarden Goldmark und eine jährlich festgesetzte Menge Kohle sowie die Handelsflotte ausgeliefert werden. Erst 1921 sollte eine Kommission der Alliierten die endgültige Reparationssumme (269 Milliarden Reichsmark) festlegen. Von Anfang an war klar, dass dies utopische Summen waren und zu einer beständigen Auseinandersetzung mit den deutschen Regierungen führen musste. Hierbei wurde Frankreich auch das Recht zugestanden, bei Nichterfüllung das Ruhrgebiet zu besetzen.
Schließlich wurde die Armee auf eine stark verkleinerte Berufsarmee mit schwacher Bewaffnung eingeschränkt und die Kriegsmarine sollte ausgeliefert werden. Die Armee sollte aber stark genug sein, um gegen „innere Unruhen“, sprich die „rote Gefahr“ vorzugehen.
Als diese Bedingungen im Mai 1919 der deutschen Delegation in Versailles vorgelegt wurden, führten diese bekanntlich zu ungläubigem Staunen und heftigen Erschütterungen in der jungen Republik. Kurzzeitig drohten sogar ein Wiederausbruch des Krieges und ein Einmarsch der Alliierten in Deutschland. Aufgrund dieser Drohungen und mit kleinen Korrekturen (Volksabstimmung in Oberschlesien) wurde dann der Versailler Vertrag Ende Juni unterschrieben.
Das so entstandene Deutschland wurde gleich Anfang der 20er Jahre durch das Einsetzen der Wirtschaftskrise schwer erschüttert, die durch die Reparationszahlungen noch verschärft wurde. So taten sich der neu erstarkten KPD schon bald Gelegenheiten auf für Intervention in weitere revolutionäre Situationen. 1922 im Rahmen der Einheitsfrontpolitik war die KPD ernsthaft daran, die SPD bei der Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse zu überholen. Als Frankreich gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages aufgrund der säumigen Reparationsleistungen das Ruhrgebiet besetzte, kam es zu einer extremen Zuspitzung der ökonomischen und politischen Zustände. Hyperinflation, Generalstreiks und Regierungszusammenbrüche wechselten sich ab. Sowohl die KPD- als auch die Kominternführung erkannten allerdings viel zu spät die zugespitzte revolutionäre Situation und die Notwendigkeit des Kampfes, über eine Arbeiterregierung zum revolutionären Umsturz zu gelangen und erlitten das Fiasko des gescheiterten Oktoberaufstands. So wurde im Oktober 1923 endgültig die Chance der revolutionären Nachkriegsperiode in Deutschland vertan. Unter Führung Stresemanns stabilisierte sich die Wirtschaft, wurde ein Ausgleich mit den Alliierten gefunden und Mitte der 20er Jahre sogar die Aufnahme in den Völkerbund vollzogen. Die deutsche Republik schien den Krieg überwunden zu haben und in der „neuen Ordnung“ angekommen zu sein.
Im Mai 1919 wurde auch der österreichischen Delegation in einem anderen Pariser Vorort, in St. Germain, der Friedensvertrag vorgetragen. Mit dem Vertrag von St. Germain wurde de facto Österreich-Ungarn auch völkerrechtlich aufgelöst und die österreichische Reichshälfte auf die Tschechoslowakei, Österreich, Italien und Slowenien aufgeteilt. Im Rahmen der allgemeinen Strategie zur Vermeidung eines zu starken Deutschlands wurde auch das Anschlussverbot Österreichs an Deutschland in diesen Vertrag mit aufgenommen.
Das wohl konfliktreichste Kapitel der Verhandlungen betraf Italien. Italien war 1915 nur mit weitreichenden territorialen Versrpechen von den Mittelmächten zur Entente gelockt worden. In St. Germain erhielt Italien zwar die Brenner-Grenze (unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Südtiroler), Friaul, Triest, Goricia, Gradica (unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Slowenen) und Istrien (mit starker kroatischer Minderheit) sowie die Zusicherung der Kolonie in Libyen. Tatsächlich war Italien aber ein Großteil der dalmatinischen Adriaküste und der vorgelagerten Inseln versprochen worden. Angesichts der Zugeständnisse, die man auch an den jungen SHS-Staat machen musste, waren die übrigen Siegermächte in den Verhandlungen aber nicht mehr bereit, Italien dies zuzugestehen. Nach den überdurchschnittlich hohen Gefallenenzahlen an der Front und der schweren wirtschaftlichen Krise wurde diese Demütigung zum Fanal für die italienischen Nationalisten. Besonders die Stadt Rijeka (auf Italienisch Fiume) wurde zum Brennpunkt der aufkommenden faschistischen Bewegung, die die Stadt erstmals im September 1919 eroberte. Der Konflikt wurde im November 1920 zeitweilig durch einen gesonderten, in Rapallo ausgehandelten Friedensvertrag zwischen Italien und dem SHS-Staat durch die Ausrufung eines „Freistaates Fiume“ gelöst. Schon 1922 wurde dieser Freistaat dann zur ersten Eroberung der italienischen Faschisten. Erst die titoistische jugoslawische Befreiungsarmee sollte die Grenze gegenüber Italien am Ende des zweiten Weltkriegs zurechtrücken (58). Jedenfalls waren die Grenzstreitigkeiten mit Jugoslawien ein wesentlicher Mobilisierungsfaktor für die aufkommende faschistische Bewegung in Italien im Bürgerkrieg 1919-1922 mit der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung.
So sind die Jahre 1919 und 1920 als die „roten Jahre“ (biennio rosso) in die italienische Geschichte eingegangen. Sie sahen eine stetige Steigerung an Fabriks- und Landbesetzungen. Ein Anruf in diesen Jahren beim Management von Fiat wurde durchgestellt zum „Fiat Sowjet“. Als das italienische Kapital Anfang 1920 die Fabrikräte entmachten wollte, entfaltete sich ein mächtiger Streik in den Industriezentren, der sich zur landesweiten revolutionären Welle ausdehnte. In dieser Situation sprach die zentristische PSI-Führung um Serrati zwar von einer Situation, in der das Proletariat kurz vor der Macht stehe. Sie tat aber nichts dergleichen, um diese auch zu ergreifen. Im Gegenteil, sie erlaubte es ihrem rechten Flügel um Turati, der die Gewerkschaft CGIL kontrollierte, sogar, dem Streik in den Rücken zu fallen und mit Verhandlungen um rein ökonomische Fragen zu beginnen. Im September 1920 war die Streikbewegung mit einer belanglosen Tarifvereinbarung vorbei – die PSI hatte die Gelegenheit der Machtübernahme vollkommen verasst. Der italienische September 1920 zeigt, wie wenig Fabrikbesetzungen und Arbeiterkontrolle allein ausreichend für eine erfolgreiche sozialistische Revolution sind. Die verpasste Gelegenheit wurde von der Bourgeoisie sofort als das erkannt, was sie war: als Schwäche der revolutionären Arbeiterschaft, der man jetzt gestärkt entgegentreten konnte. Die im Fiume-Konflikt entstandene faschistische Bewegung konnte zum Gegenangriff verwendet werden. Es folgten die zwei „schwarzen Jahre“ 1921 und 1922, bei der die italienische Arbeiterbewegung und die Landarbeiterschaft durch den faschistischen Terror zermürbt wurden. Es bewahrheitete sich, was Antonio Gramsci schon 1920 in der Zeitschrift der Fabrikräte geschrieben hatte:
„Die derzeitige Phase des Klassenkampfs in Italien ist die Phase, die entweder der politischen Machtergreifung durch das revolutionäre Proletariat… oder einer gewaltigen Reaktion durch die Kapitalisten und die regierende Kaste vorangeht. Jede Gewalt wird eingesetzt werden, um die Arbeiterklasse auf dem Land und in der Industrie zu unterjochen“ (59).
So sollte es kommen. Erst in der Auseinandersetzung um die schmähliche Rolle 1920 sollte sich die PCI von der zentristischen Mehrheit abspalten. Allerdings führte die ultra-linke, sektiererische Politik der Führung um Amadeo Bordiga zu keinem geeigneten Widerstand gegen die nach der Machtergreifung strebenden Faschisten.
Auch die Friedensdiktate für Ungarn in Trianon und für Bulgarien in Neuilly-sur-Seine führten aufgrund von Reparationen und Gebietsabtrennungen nicht zu stabilen Verhältnissen. In beiden Ländern entstanden starke kommunistische Parteien auf der einen Seite und schwache bürgerliche Parteien auf der anderen. Die Bourgeoisie setzte daher in beiden Ländern letztlich auf brutale Militärdiktaturen. Im stark von Kleinbauern geprägten Bulgarien war die Bauernunionspartei die stärkste demokratische Kraft. Auch wenn sie von der liberalen Bourgeoisie und von Großagrariern politisch dominiert wurde, musste sie Agrarreformen durchführen und als Regierungspartei die Bedingungen von Neuilly umsetzen.
Mit um die 20% der Stimmen war die BKP die stärkste Oppositionspartei, während die eigentlichen Parteien des Establishments und der nationalistischen Revanchisten in der absoluten Minderheit blieben. Aufgrund der Agrarreformen und mit nationalistischen Revanche-Parolen putschte das Militär 1923 gegen die Bauernparteiregierung, um den Proto-Faschisten Zankow an die Macht zu bringen. In dieser Situation versuchte die Bauernpartei den bewaffneten Aufstand gegen Zankow. Die KommunistInnen verhielten sich ruhig mit der Begründung, dies sei die Auseinandersetzung zwischen zwei Bourgeoisie-Gruppen. Tatsächlich war die Basis der Bauernpartei jedoch überwiegend von Kleinbauern und Landarbeitern geprägt, die von der KP gerade in dieser Situation einen gemeinsamen Kampf gegen die Ultra-Reaktionäre erwartet hätten.
In einer ähnlichen Situation, beim Putsch des Generals Kornilow gegen das Kerenski-Regime, hatten die Bolschewiki trotz aller Kritik an Kerenski und dessen bürgerlicher Politik gemeinsame Front gegen die drohende Militärdiktatur gemacht. Dies war ein wesentlicher, Faktor um die kleinbäuerlich geprägten Sozialrevolutionäre zu spalten und mit ihnen später eine Arbeiter- und Bauernregierung zu bilden. Eine ähnliche Gelegenheit wurde im Juli 1923 von der bulgarischen KP verpasst. In der Folge, nach der Niederschlagung der Bauernpartei, richtete sich der Zankow-Terror gegen die KP. Erst jetzt, auch durch eine abenteuerliche Politik der Komintern-Führung um Sinowjew angetrieben, wagte im September 1923 die KP selbst den Aufstand, der im Fiasko endete. Die Verantwortlichen für dieses Debakel wie Dimitrow bekamen schöne Exilposten in der Kominternzentrale in Moskau, während die Kritiker aus der Partei ausgeschlossen wurden.
Als letzter Vertrag wurde im August 1920 der Vertrag von Sevres mit der Rest-Türkei unterzeichnet. Er besiegelte die Auflösung des osmanischen Reiches, insbesondere die Anerkennung der Kolonialansprüche Britanniens, Frankreichs und Italiens in Nordafrika und dem Nahen Osten – mit den bekannten Folgen für diese Regionen bis heute. Speziell für Anatolien wurde zwar ein türkischer Staat vorgesehen. Allerdings behielten sich die Alliierten jederzeitige Stationierung von Truppen überall vor und eine beständige Besetzung der Gebiete um das Marmarameer, die Dardanellen und den Bosporus, inklusive Istanbul. In Bezug auf Kurdistan und Armenien blieb der Vertrag ebenso algebraisch wie auf ein griechisches Kleinasien. Die Unterzeichnung dieses de facto Kolonisierungs-„Friedensvertrags“ durch den Sultan führte zu dessen Sturz durch die nationalistischen Militärs um Mustafa Kemal und zum türkischen Befreiungskrieg bis 1922. An dessen Ende stand 1922 die Gründung der türkischen Republik, die massenhafte Vertreibung von Griechen und Armeniern sowie auf lange Zeit die nationale Unterdrückung der auf türkischem Gebiet lebenden KurdInnen. Angesichts der Gefahr einer türkisch-russischen Verständigung war diese Revision von Sevres den Alliierten dann letztlich egal – man wollte die wiedererstarkte Türkei für den Westen gewinnen. Daher sanktionierte man die Ergebnisse dieses Bürgerkriegs in einem „präzisierten“ Vertrag in Lausanne am 24. Juli 1923. Genaugenommen markiert also erst dieses Datum das Ende des ersten Weltkriegs.
Nach der Niederlage mussten Krupp, Stinnes, Thyssen, Skoda und Co. zwar die Einrichtungen zerstören, die der Kriegsproduktion gedient hatten. Bei Krupp schrumpfte die Belegschaft wieder auf die Hälfte. Für die Umstellung der Betriebe auf zivile Produktion standen allerdings die enormen, während des Krieges angesammelten Finanzpolster zur Verfügung. So standen auch in den Verliererstaaten die Kriegskonzerne nach dem Krieg als glänzende Gewinner mit enorm gesteigerter Produktion dar. Die Rechnung z.B. in Form der Inflation und Reparationszahlungen mussten dann andere begleichen. Und sowieso gilt das Wort von Rosa Luxemburg zu den Geschäften von Krupp und Co.: „Die Dividenden steigen, die Proletarier fallen“.
Finanziert werden mussten die Kriegsausgaben über eine astronomische Staatsverschuldung, die nur teilweise durch Steuereinnahmen gedeckt waren, hauptsächlich also auf Gelddrucken beruhten. Nach dem Waffenstillstand mussten die Wirtschaft auf Friedensproduktion umgestellt und die Versorgungsprobleme der Großstädte gelöst werden. Beides wurde durch eine Fortsetzung der Verschuldungspolitik und der Rationierungen/Lebensmittelzuteilungen der Kriegszeit bewerkstelligt. Zum Teil war die Arbeiterkontrolle über die Produktion dabei auch wichtig, um Funktionen wahrzunehmen, die das Kapital in dieser Situation nicht bewerkstelligt hätte. Die unmittelbare Nachkriegsökonomie 1919 war daher im Wesentlichen Überlebensökonomie außerhalb des üblichen kapitalistischen Zyklus. Am härtesten traf es im kapitalistischen Sinn daher die US-Industrie, die bei hoher Kapazität ein Absatzproblem hatte, das nicht durch staatliche oder gesellschaftliche Maßnahmen gemildert wurde. Die US-Rezession drückte ab Anfang 1920 die gesamte Welt-Konjunktur.
Kaum hatte sich also der Kapitalismus in Europa über die Turbulenzen der revolutionären Krise 1919 gerettet, begann er mit den üblichen kapitalistischen Krisenbewältigungen. Überkapazitäten wurden abgebaut, Schulden eingefordert, staatliche Unterstützungsleistungen gekürzt etc.. D.h. es kam zu Entlassungen, Sozialkürzungen und steigenden Preisen, mit denen die Löhne nicht entsprechend mitwuchsen. Dies erklärt, warum die ökonomischen Kämpfe in den Jahren 1920-23 gegenüber der unmittelbaren Nachkriegszeit stark anstiegen – jetzt auch in den Siegerländern Frankreich und Britannien, aber auch in Deutschland.
Erst Ende 1923 trat eine gewisse Stabilisierung der Weltkonjunktur ein. Allerdings war das Schuldenproblem weiterhin nicht gelöst. Die Illusion, über Reparationszahlungen der ehemaligen Mittelmächte die Schulden Britanniens und Frankreichs begleichen zu können, erwies sich als nicht tragfähig. Stattdessen machte sie das Schuldenproblem in Deutschland und Österreich umso akuter. Dies ist einer der Gründe, warum die 20er Jahre ein Synonym für ein beständiges Inflationsregime sind. Auch der Aufschwung der „goldenen 20er Jahre“ basierte daher im Wesentlichen auf fiktivem Kapital, das weitaus höheres Wachstum vorgaukelte, als tatsächlich in der Realwirtschaft erzielt wurde. Ein wesentliches Hemmnis waren auch die vielen neuen Grenzen in Europa und der wachsende Protektionismus der Kolonialmächte Frankreich und Britannien. Mit dem Platzen der Spekulationsblase 1929 krachte die neue ökonomische Ordnung auch schon wieder in sich zusammen und eröffnete eine noch nie gesehene wirtschaftliche Depressionsperiode in den 30er Jahren. Auch wirtschaftlich erwies sich die aus dem ersten Weltkrieg resultierende Ordnung als nicht lebensfähig.
Der Erste Weltkrieg war weder eine unvorhersehbare Katastrophe noch ein ganz außergewöhnliches Ereignis für den modernen Kapitalismus. Der imperialistische Krieg ist vielmehr etwas, das unzertrennlich mit der Epoche des Monopolkapitals verknüpft ist. Er ist Ausdruck der Aufteilung der Welt unter eine kleine Zahl von Großmächten im Interesse der mit ihnen verbundenen Finanz- und Industriekapitale zur Sicherung von Absatz-, Anlage- und Rohstoffmärkten. Die Ungleichmäßigkeit der ökonomisch-politischen Stärke der verschiedenen imperialistischen Mächte erzeugt von Zeit zu Zeit eine Bildung von feindlichen Interessensblöcken, die durch die zugrundeliegenden ökonomischen und politischen Interessen in eine extreme Konfrontation gezwungen werden. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt wird mit letztlich allen Mitteln geführt, auch dem Krieg.
Der imperialistische Krieg ist wie ein menschenverachtender Schmelzofen, in dem die erstarrten, für das Kapital ansonsten nicht veränderbaren alten Formen eingeschmolzen, um in eine neue gegossen zu werden. Der Erste Weltkrieg hat die politische Landkarte Europas und des nahen Ostens wesentlich „umgegossen“ und in eine Gestalt gebracht, die bis heute nachwirkt. Für den Imperialismus war das Massenmorden also kein Unglück, nach dem man dann wieder zum alten Status Quo zurückkehrt. Die nach dem Krieg neu geschaffenen Grenzen sind vielfach bis heute geblieben – ja, eine Veränderung davon ruft gleich große Sorgen um das „Völkerrecht“ hervor – erstaunlich, wenn man bedenkt, wie diese Grenzen geschaffen wurden.
Tatsächlich wurden die nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Grenzen erst nach dem Zweiten Weltkrieg (z.B. durch die Verschiebung Polens und die Zuteilung Ostpreußens an Russland verändert) in eine relative stabile Form gegossen, die über Jahrzehnte Europa unverändert ließ. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks, dem Jugoslawienkrieg und dem Bürgerkrieg in der Ukraine werden diese Grenzen auch in Europa wieder in Frage gestellt. Letztere Konflikte zeigen, wie sehr die künstlichen Lösungen der Pariser Vorortverträge nach dem Ersten Weltkrieg und die folgenden Auseinandersetzungen um diese bis heute nachwirken. Es scheint fast so, wie wenn sie unter dem eisernen Vorhang während des kalten Krieges tiefgefroren aufbewahrt wurden, um heute wieder in neuer Form auszubrechen.
Es wird den leninistischen KommunistInnen gerne vorgeworfen, dass sich ihre grundsätzlichen Orientierungen immer noch vielfach um die rund um den Ersten Weltkrieg entstandenen Fragestellungen und methodischen Antworten drehen würden, während die heutige Zeit doch eine ganz andere sei. Dabei wird die Bedeutung imperialistischer Kriege für die grundlegenden politischen Rahmenbedingungen der globalen Ordnung im modernen Kapitalismus total unterschätzt. Imperialistische Kriege haben hier eine ähnliche Bedeutung wie Singularitäten in der Physik (Gravitationspole, schwarze Löcher etc.): so weit diese die relativistische Raum-Zeit in ihrer Struktur bestimmen, sind es im modernen Kapitalismus Kriege und Bürgerkriege (wie auch andere fundamentale Krisen), die die politischen Umgestaltungen hervorbringen, die durch den Widerspruch zwischen bestehenden politischen Strukturen und den revolutionären Veränderungen an der Basis der globalen Ökonomie notwendig sind. Das kapitalistische Weltsystem ist zumeist nicht in der Lage, die notwendigen Veränderungen in den Superstrukturen mit friedlichen, vernünftigen Methoden herbeizuführen, die sich aus den Veränderungen an der ökonomischen Basis ergeben. Daher sind es die Explosionen der Kriege und Bürgerkriege, die solche Veränderungen nachtrabend hervorbringen, je nachdem wie groß der „Druck im Kessel“ bereits ist, um so heftiger und für ganze folgende Perioden bestimmend.
Wie Trotzki in seiner Rede am 3. Kominternkongress darlegte, stellte der Krieg ähnlich wie eine kapitalistische Krise eine grundlegende Störung des kapitalistischen Gleichgewichts dar:
„Der letzte imperialistische Krieg war jenes Ereignis, das mit Recht von uns beurteilt wurde als ein ungeheuerlicher Schlag gegen das Gleichgewicht der kapitalistischen Welt“ (60). Dies war für den Kapitalismus notwendig, um ein neues Gleichgewichtssystem zu errichten. Unmittelbar nach dem Krieg war es daher klar, dass es eine ganze Periode brauchen würde, um sich in dem neuen System auf ein Gleichgewicht einzuschwingen. Wie dargelegt, gelang dies erst ab etwa 1923.
Allerdings zeigte sich bald, dass das neue System viele der Probleme, die zum Krieg führten, nicht gelöst hatte und dafür auch noch neue Probleme ansammelte:
Die Weltherrschaftskonkurrenz zwischen Deutschland und Britannien wurde zwar eindeutig zu Gunsten von Britannien entschieden. Die neue Aufteilung der Welt enthielt aber wiederum keinen eindeutigen imperialistischen Hegemon: Als Siegermächte waren es jetzt die USA, Britannien und Frankreich, die politisch die Weltbühne dominierten. Obwohl die USA die ökonomisch bestimmende Macht geworden waren, überließen sie den alten Kolonialmächten weiterhin in bestimmten Teilen der Welt, auch in Europa, die Rolle als „Weltpolizei“. Speziell aber über die Schuldenfrage und damit verbundene politische Auflagen dominierte die USA jedoch ganz entscheidend die europäische Politik. Aus Angst vor der Revolution und zur Eindämmung der Sowjetunion, bzw. um Frankreich nicht zu mächtig werden zu lassen, hatte man Deutschland als imperialistische Macht bestehen lassen, aber mit demütigenden Einschränkungen. Ein wiedererstarktes Deutschland und ein im pazifischen Raum immer aggressiver werdender japanischer Imperialismus mussten letztlich zu einer Herausforderung der widersprüchlichen US/britisch/französischen Weltdominanz werden.
Das Resultat des Krieges wurde von Trotzki kurz so zusammen gefasst:
„Amerika war vor dem Krieg Europas Schuldner. Europa war vor dem Krieg die Fabrik der Welt. Europa war das zentrale Warenlager der Welt. Europa, und vor allem England, war die Zentralbank der Welt. Diese drei entscheidenden Funktionen hat Europa jetzt an Amerika abgetreten. Europa ist die Vorstadt der Welt geworden. Die Fabrik der Welt, das Handelslager der Welt, die Zentralbank der Welt sind jetzt die USA“ (61).
Trotzki fügt auch hinzu, dass die USA die jahrhundertelange Vorherrschaft Britanniens zur See beendeten und die US-Navy ein Vielfaches an Kriegsschiffen gegenüber den europäischen Seemächten sowohl im Atlantik als auch im Pazifik aufzubieten hatten – allerdings im Pazifik durch eine fast ebenso starke Aufrüstung Japans bedroht waren.
In Europa hingegen hatte die Nachkriegsordnung eine weitere negative Wirkung: „Europa stürzte sich in den Krieg, weil der europäische Kapitalismus es in dem engen Raum von Nationalstaaten nicht mehr aushalten konnte. Das Kapital wollte diesen Rahmen sprengen, ein breiteres Wirkungsfeld für sich schaffen, wobei das fortschrittlichere deutsche Kapital am wütendsten losschlug mit dem Ziel ‚Europa zu organisieren‘, d.h. die Zollschranken umzuwerfen. Und das Ergebnis? Der Versailler Vertrag brachte Europa etwa 17 neue Staaten und Gebiete. 7000 Kilometer neue Grenzen wurden in Europa gezogen, eine entsprechende Anzahl von Zollämtern und Truppen diesseits und jenseits der Grenzen kam hinzu. In Europa gibt es jetzt um eine Million mehr Soldaten als vor dem Krieg. Und auf dem Wege zu diesen ‚Errungenschaften‘ hat Europa ungeheure Massen eigener materieller Werte zerstört und sich und seine Nachbarn ruiniert. Nicht genug damit. Für all seine Nöte, für die wirtschaftliche Zerstörung, für die neuen sinnlosen, den Handel desorganisierenden Zollschranken, für die neuen Grenzen und neuen Truppen, für all das, für seine Zerstückelung, seinen Ruin, für seine Erniedrigung, für den Krieg und für den Versailler Frieden muss Europa an die Vereinigten Staaten die Zinsen für die Kriegsanleihen zahlen“ (62).
Europa wurde gewissermaßen mit der Versailler Friedensordnung „balkanisiert“. Die verschiedenen Kleinstaaten wie die stark verschuldeten Länder wurden zu einem Spielball der hegemonialen Imperialisten. Andererseits waren nicht nur in Deutschland genug Strukturen und Kräfte übriggeblieben, um diese neue Ordnung entschieden herausfordern zu können. Und in den von Klassenkämpfen und nationalen Konflikten zerrütteten Kleinstaaten sollten genug Verbündete für eine entsprechende „Neuordnung“ zu finden sein. In gewisser Weise ist die heutige EU ein Versuch, diese „Balkanisierung“ der Versailler Ordnung mit einer moderaten gesamteuropäischen Koordinierung von Welt- und Weltmarktpolitik zu verbinden – wobei die Einbindung in die NATO gleichzeitig die militärische Hegemonie der USA und die militärische Zahnlosigkeit insbesondere des deutschen Imperialismus garantiert. Wie widersprüchlich diese Form der Interessensaustarierung ist, zeigt sich des öfteren, wenn die USA es versteht, die verschiedenen EU-Fraktionen im Rahmen von EU- und NATO-Politik gegeneinander auszuspielen – wie auch jüngst wieder im Ukraine-Konflikt.
Mit den Pariser Verträgen verkündete man eine neue Zukunft der Demokratie, der nationalen Selbstbestimmung und der wirtschaftlichen Prosperität in Europa. Tatsächlich waren die neu geschaffenen Staaten mehr das Produkt der imperialistischen Interessen der Siegermächte. Die baltischen Staaten, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Türkei, für kurze Zeit die Ukraine waren voller nationaler Konflikte, so wie diejenigen bestehender Staaten wie Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Italien nicht gelöst wurden. Die einsetzende Wirtschaftskrise in in den 20er Jahren, die starke kommunistische Opposition und die geringe Stärke bürgerlich-demokratischer Kräfte in all diesen Ländern führten schon Anfang der 20er Jahre dazu, dass die Bourgeoisie dort Militärdiktaturen oder faschistische Diktaturen bevorzugte. Nur die Tschechoslowakei als industrielles Zentrum der untergegangenen Donau-Monarchie konnte halbwegs stabile politische Verhältnisse errichten. Alle übrigen Länder verwandelten sich in grausame Kerkerregime, in denen tausende Oppositionelle, zumeist Linke, KommunistInnen oder Angehörige „suspekter“ nationaler Minderheiten eingekerkert, gefoltert und ermordet wurden. Auch die wirtschaftliche Prosperität erwies sich in ganz Europa bald als leeres Versprechen. Die Nachkriegsordnung erlaubte nur eine kurze Erholungsphase des freien Welthandels, bevor sie in wirtschaftliche Depression und neuerlichen Protektionismus selbst in den autoritären Kleinstaaten führte. Damit waren die Probleme der Zeit vor dem ersten Weltkrieg nicht nur nicht gelöst, sie hatten sich sogar vervielfacht.
Und schließlich waren als Resultat des Weltkriegs die revolutionäre Perspektive der kommunistischen Internationale in die Welt getreten und mit der Sowjetunion das erste nach-kapitalistische, proletarische Land entstanden. Zur Abwehr der „roten Flut“ wurde in allen kapitalistischen Ländern das Repressionsregime verschärft, aber es mussten auch Kompromisse mit den Arbeiterbewegungen und ihren sozialdemokratischen Vertretern gefunden werden, die die Arbeiterschaft ruhig stellen sollten. Ein nicht umzukehrendes Faktum des Krieges ist die Spaltung der Arbeiterbewegung in Reformismus und revolutionären Kommunismus, so weit sich mit dem Krieg auch die Arbeiterklasse verändert hat. Die schon vor dem Krieg bestehende Privilegierung bestimmter Schichten der Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern hat sich durch die Integration der Arbeiterbürokratie in die Kriegswirtschaft zu einer systematischen Segmentierung der Klasse fortentwickelt. Der staatstragende, verbürgerlichte Habitus eines gewissen Teils von Arbeiterklasse und ihrer Vertretung steht im schroffen Gegensatz zur Lage breiter Teile der Klasse, die in revolutionären Phasen der Gesamtentwicklung in Konfrontation mit dem System geraten.
Die Existenz der Sowjetunion war jedenfalls eine Niederlage des Imperialismus, die ihm Absatz- und Anlagemärkte raubte und zum Bezugspunkt der Unabhängigkeitskämpfe vieler unterdrückter Völker werden musste. Es war also klar, dass ein neuer Kampf um die Aufteilung der Welt unmittelbar auch die Sowjetunion angreifen musste.
Mit einem Wort: die „neue Ordnung“ war bereits schwanger mit dem nächsten Weltkrieg. Unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, als die bürgerliche Welt noch mit Beschwichtigungen beschäftigt war, war Trotzki ebenso prophetisch, wie er während der Balkankriege gewesen war:
„Der Verfasser dieser Zeilen hält sich nicht im geringsten für berufen, vor dem Versailler Vertrag Wache zu stehen. Europa braucht eine Neuorganisation. Aber wehe ihm, wenn diese Sache dem Faschismus in die Hände fällt. Der Geschichtsschreiber des 21. Jahrhunderts würde in diesem Fall zu schreiben haben: ‚Die Epoche des Verfalls Europas begann mit dem Krieg von 1914. Als ‚Krieg um die Demokratie‘ deklariert, führte er bald zur Herrschaft des Faschismus, der als Werkzeug zur Zusammenfassung aller Kräfte der europäischen Nationen zum Zweck eines ‚Krieges der Befreiung‘ von den Folgen des vorhergegangenen Krieges wurde. Dergestalt war der Faschismus als Ausdruck der geschichtlichen Ausweglosigkeit Europas zugleich eine Waffe zur Zertrümmerung der wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften“. (63)
Heute wird gerne von der Unmöglichkeit eines neuen, dritten Weltkriegs gesprochen. Die Waffentechnologie, vor allem die Atombewaffnung, sei derart entwickelt, dass selbst die aggressivsten Imperialisten keinen Weltkrieg mehr vom Zaun brechen würden. Die moderne Form der Kriegsführung würde sich auf Stellvertreterkriege beschränken, die schrecklich genug seien. Leider war diese Auffassung auch vor dem ersten Weltkrieg weit verbreitet. Auch damals waren die Konsequenzen der mörderischen Kriegstechnologie schon mehr als bekannt. Sie wurden allgemein als so schrecklich angesehen, dass man von einer Logik der Abschreckung ausging. Insofern wurde mit Bündnispolitik und militärischen Drohgebärden gespielt, um gleichzeitig zu verkünden, dass die Abschreckung letztlich den Krieg verhindern würde. Gerade die umfangreichen Militärbündnisse, die einen Angriff auf einen Verbündeten automatisch in einen Weltkrieg verwandelten, wurden als Garanten der Abschreckung und der Stabilisierung der Grenzsicherung proklamiert. Die Balkankriege waren geradezu das Musterbeispiel für moderne Stellvertreterkriege. Sie zeigen aber auch, wie schnell solche Stellvertreterkriege bei ungünstigen Bedingungen den gesamten Bündnismechanismus in Richtung Weltkrieg in Bewegung setzen können. Schon die bewiesene, mörderische Realität des modernen Krieges im ersten Weltkrieg konnte nicht vom neuerlichen Morden im zweiten Weltkrieg abschrecken. Auch im kalten Krieg bemühten sich die Militärs nach Möglichkeiten, trotz Atomwaffen den Krieg zwischen Großmächten „führbar“ zu machen. Die Nachrüstungsdebatte der 80er-Jahre und die Stationierung von taktischen Atomwaffen sind dafür der Beweis.
Heute sehen wir wieder, nach der großen Weltwirtschaftskrise von 2007/2008, den Aufstieg neuer Mächte in Form des Wirtschaftsgiganten China und des militärisch hochgerüsteten, kapitalistisch neuformierten Russlands. In allen möglichen Regionen stellen sie eine Herausforderung für die bisherigen Weltdominatoren in Nordamerika, der EU und Japan dar. Das Hochschaukeln der gegenseitigen Beschuldigungen, bündnispolitischen Aktionen und Sanktionen im Zuge der Ukraine-Krise erinnert in gespenstischer Weise an den Ablauf der Ereignisse auf dem Balkan vor 1914.
Anfang September diesen Jahres schreibt Han Xudong, Professor an der Nationalen Verteidigungsuniversität der chinesischen Volksbefreiungsarmee im Parteiorgan „Volkszeitung“ angesichts der Weltlage und insbesondere der Ukraine-Frage: „Der Ausbruch eines Weltkriegs ist nicht unmöglich,,, Es ist wahrscheinlich, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird, in dem um Seerechte gekämpft wird“. Insofern müsse China entschiedene Schritte in Richtung Aufrüstung setzen, die auch prompt geschehen sind. Dieses Jahr wurden die chinesischen Rüstungsausgaben um mehr als 12% gesteigert. Und kein Land der Welt, nicht einmal die USA, sind derzeit in der Lage, derartige industrielle Ressourcen für Rüstung in Bewegung zu setzen wie China. Die Kriegsrhetorik Chinas richtet sich dabei derzeit vor allem gegen Japan und für die Dominanz im chinesischen Meer. Einer der führenden Militärs Chinas, Generalmajor Peng Guangqian, forderte jüngst die Vorbereitung eines Krieges gegen Japan, zu dessen Niederwerfung gar nur „ein Drittel der Schlagkraft des chinesischen Militärs“ ausreichend sei. Die NATO-Strategie in der Ukraine gegenüber Russland wird in Peking inzwischen als Vorbereitung des Angriffs auf die eigenen Machtansprüche gesehen. So zeichnet sich eine explosive Bündniskonfrontation zwischen China/Russland und den alten G7-Imperialisten ab, die nur allzu sehr an die Konstellation vor dem ersten Weltkrieg erinnert. War vor dem ersten Weltkrieg ein Attentat in einer für die meisten Europäer damals unbekannten fernen Stadt der plötzliche Funkenschlag zur Katastrophe, könnte es diesmal ein noch unverständlicherer Anlass sein: der Kampf um die an sich bedeutungslosen, unbewohnten Inseln im chinesischen Meer, die in China Diayou und in Japan Senkaku heißen. Wie auch 1914 ist der eigentliche Anlass für einen imperialistischen Krieg letztlich belanglos.
Aber wie auch schon 1914 ist der Weg in den imperialistischen Krieg kein unabwendbares Schicksal. Es kommt darauf an, dass das System, das solche Konfrontationen und Weltkatastrophen unweigerlich produziert, selbst angegriffen werden muss, bevor es seine blutige Arbeit zu Ende bringt. Wie schon vor 1914 gilt, dass das Zurückschrecken vor den Opfern und Gewalttätigkeiten einer antikapitalistischen, sozialistischen Revolution letztlich die Bestrafung in einer viel blutigeren und menschenverachtenden Schlächterei des Imperialismus finden wird. Da ist die proletarische Revolution letztlich die humanere Alternative.
Endnoten:
(1) Fritz Fischer, Der Griff nach der Weltmacht, Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914-1918, Düsseldorf, 1961
(2) Christopher Clark, Die Schlafwandler, Wie Europa in den Krieg zog, München, 2013
(3) S.Burgdorff/K.Wiegrefe, Der Erste Weltkrieg, Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, München 2008, überarbeitete Neuauflage 2014 (in der Folge kurz „Ur-Katastrophe“)
(4) Wiegrefe, Der Marsch in die Barbarei, in: Ur-Katastrophe, S. 13f.
(5) Hew Strachan, Wer war schuld, in: Ur-Katastrophe, S. 255
(6) Parlamentsprotokoll vom 4.8., Hugo Haase für die SPD-Fraktion
(7) Rainer Traub, Das Debakel der Arbeiterbewegung, in: Ur-Katastrophe, S. 196
(8) SPD-Internetauftritt: http://www.spd.de/aktuelles/119012/ 20140414_100jahreersterweltkrieg.html
(9) Jochen Bölsche, Ein Hammerschlag auf Herz und Hirn, Der Mythos von der Kriegsbegeisterung der Volksmassen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Ur-Katastrophe, S. 55
(10) Ebd., S. 56
(11) Ebd., S. 57
(12) Clark, Die Schlafwandler, S. 717
(13) Zitiert in: Hans-Ulrich Wehler, Der zweite dreißigjährige Krieg, in: Ur-Katastrophe, S. 23
(14) Constantin Schneider, Kriegserinnerungen 1914-1919, Böhlau, 2003
(15) Ebd., S. 118
(16) Ebd., S. 187
(17) Norbert Pötzl, Verkäufer des Todes, in: Urkatastrophe, S. 172f.
(18) Schneider, Kriegserinnerungen, S. 240
(19) Ebd., S. 366f
(20) Ebd., S. 633
(21) Lenin, Sozialismus und Krieg, Die Stellung der SDAPR zum Krieg, LW 21, S. 299
(22) Ebd., S. 299
(23) Ebd., S. 300
(24) Ebd., S. 301
(25) Ebd., S. 344
(26) Zitiert nach: Norbert Pötzl, Verkäufer des Todes, S. 172f.
(27) Rosa Luxemburg, Um Marokko, Gesammelte Werke Band 3, S. 8
(28) Ebd., S. 10
(29) Rosa Luxemburg, Kleinbürgerliche oder proletarische Weltpolitik, Gesammelte Werke Band 3, S. 29
(30) Ebd., S. 30
(31) Die größte Kriegsschiffsklasse im Ersten Weltkrieg wurde im Deutschen später auch „Schlachtschiff“ genannt. Schwer gepanzertes Großkampfschiff mit großkalibrigen Schiffskanonen und weiterer Schiffsartillerie nach allen Seiten. Ab etwa 12.000 Tonnen. Aufgrund der Reichweite der Geschütze in der strategischen Bedeutung vergleichbar mit Flugzeugträgern heute. Benannt nach dem ersten Schiff dieses Typs, der HMS Dreadnought („Fürchtenichts“).
(32) Luxemburg, Dem Weltkrieg entgegen, Band 3, S. 61
(33) Lenin, Über die Losung der „Entwaffnung“, LW 23, S. 93
(34) Lenin, „Sozialismus und Krieg“, LW 21, S. 314
(35) Burgdorff/Wiegrefe, Der Erste Weltkrieg, S. 272
(36) siehe Clark, Die Schlafwandler, S. 699
(37) Lenin, Sozialismus und Krieg, LW 21, S. 317
(38) Leo Trotzki, „Der Krieg und die Sozialdemokratie“, Artikel in der Zeitung „Lutsch“, 14.3.1913, in: Trotzki, „Die Balkankriege“, Arbeiterpresseverlag 1996, S. 350
(39) Trotzki, „Der Balkan, das kapitalistische Europa und der Zarismus“, Proletarij, 1.11.1908, in: Die Balkankriege, S. 34
(40) Seit dem Ausgleich zwischen den Habsburgern und den ungarischen Nationalisten 1867 wurde die Habsburgermonarchie in zwei „Reichshälften“ geteilt, verbunden durch die Personalunion des „Kaisers von Östrerreich“ und „Königs von Ungarn“. Die Reichshälften wurden durch den Fluss Leitha in Cisleithanien (österreichischer Teil) und Transleithanien (ungarischer Teil) getrennt. Außen-, Sicherheits- und Finanzpolitik wurden gemeinsam betrieben, ansonsten bestanden autonome Gesetzgebungen und auch getrennte Parlamente. Tschechien („Böhmen“ und „Mähren“), Galizien, die Bukowina, Slowenien („Krain“), Trient (bei Tirol), Friaul („Görz und Gradisca“), Triest, Istrien und Dalmatien gehörten neben den österreichischen Kernländern zum österreichischen Teil; Kroatien, Slawonien, die Slowakei, Siebenbürgen und das Banat zusammen mit Kern-Ungarn zum ungarischen Teil. Bosnien-Herzegowina wurde vom gemeinsamen Finanzministerium verwaltet. Die schwierigen österreichisch-ungarischen Kompromissverhältnisse machten alle Entscheidungen auf gesamtstaatlicher Ebene äußerst langwierig. Darum z.B. die lange Zeit, die vom Attentat in Sarajevo bis zum österreichisch-ungarischen Ultimatum an Serbien verstrich.
(41) Clark, Die Schlafwandler, S. 381f. („Die Balkanisierung des französisch-russischen Bündnisses“)
(42) siehe ausführlich, Clark, Die Schlafwandler, S. 79f.
(43) Siehe, Clark, Die Schlafwandler, S. 89f. (Nikola Pasic reagiert)
(44) Siehe: Lenin, Antwort an P. Kijewski (J. Piatakow), LW 23, S. 14.
(45) Lenin, Über die Junius-Broschüre, LW 22, S. 314
(46) Ebd., S. 318
(47) Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht, LW 22, S. 149
(48) In: Lenin’s Struggle for a revolutionary International, Documents: 1907-1916, Ed.: John Riddell, NY 1984, S. 451f. (eigene Übersetzung aus dem Englischen)
(49) Ebd., S. 304
(50) Ebd., S. 304
(51) Ebd., S. 369
(52) Ebd., S. 541
(53) Ebd., S. 542
(54) Ebd., S. 544
(55) Leo Trotzki, Die Neue Etappe, Die Weltlage und unsere Aufgaben, Verlag der kommunistischen Internationale, 1921, S. 6f.
(56) Ebd., S. 41
(57) Ebd., S. 43
(58) Allerdings blieben Goricia, slowenisch Gorice, und Gradisca, wenn auch ohne ihr Hinterland, bei Italien. Goricia wurde sogar geteilt (erst seit 2007 kann man in dieser Stadt wieder ohne Schlagbäume sich bewegen); Istrien und Fiume/Rijeka kamen an Kroatien. Die fast tausendjährige multi-ethnische Region Gradica/Gorice/Görz (italienisch/slowenisch/ deutsch/friaulisch) wurde durch nationalistischen Wahn ethnisch von allen Seiten gesäubert.
(59) L’Ordine Nuovo, Mai 1920
(60) Trotzki, Neue Etappe, S. 3
(61) Trotzki, Europa und Amerika, 1926, in: Europa und Amerika, Arbeiterpresseverlag, 2000, S. 274
(62) Ebd., S. 274f.
(63) Trotzki, Hitler und die Abrüstung, 2.6.1933, Schriften über Deutschland, II (46), S.566