Widersprüche und Widerstände: Lockdown 2.0

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Der Lockdown light von Bund und Ländern ist gescheitert. Noch Mitte November verkündeten Regierungen und bürgerliche Politik, dass sich die Infektionszahlen, wenn auch auf hohem Niveau, stabilisiert hätten und das extrem rasche Viruswachstum gebrochen wäre.

All das erweist sich als Schönwetterrhetorik. Der Herbst wurde kalt und trübe und der Wetter wird noch kälter und düsterer werden. Die Entwicklung von Impfstoffen mag zwar die Gesundheitslage im Laufe des kommenden Jahres substantiell verbessern – kurzfristig wütet die Pandemie jedoch wie nie zuvor, und zwar weltweit und in Deutschland.

Pandemische Lage

Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels, am 12. Dezember, waren bundesweit 321.500 Menschen infiziert. Zum Vergleich: Die Höchstzahl der ersten Welle betrug am 7. April 2020 64.318 Personen. In der 2. Dezemberwoche erlebten wir zudem einen Anstieg der Zahlen in allen Bundesländern außer Bremen. Hamburg bildete mit 38,1 % den traurigen Rekord. Würden alle Bundesländer als gleich groß gewertet werden, so wäre der durchschnittliche Anstieg gegenüber der vorhergehenden Woche etwa 16 %, der Medianwert liegt dabei bei 14,35 % (Quelle: RKI vom 12.12.2020).

Nicht minder dramatisch stellt sich die Zahl der täglich an oder mit Corona Verstorbenen dar. Im Dezember überstieg sie mehrfach den bisherigen Höchststand vom 15. April mit 510 Verstorbenen pro Tag. Der bisherige Negativrekord wurde am 10. Dezember mit 604 Toten erreicht. Hochgerechnet auf einen Monat entspräche das über 15.000 (!) Toten. Ohne drastische Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Kontaktbeschränkung drohten über die kommenden Monate noch dramatischere Zahlen und eine massive Überlastung des Gesundheitswesens, vor allem aufgrund fehlenden Personals, an dem es über Jahre neoliberaler „Reformen“, Privatisierungen und Kürzungen nun überall mangelt.

Setzt sich diese Entwicklung fort, droht der gesundheitspolitische Deichbruch. Das dämmert wohl auch der Bundesregierung und den Ländern. Faktisch besteht die Landkarte Deutschlands nur noch aus Risikogebieten. Ein „echter“ Lockdown zeichnet sich ab, der ab 16. Dezember gelten soll. Dieser soll folgende Maßnahmen umfassen:

  • Bundesweite Schließung von Schulen und Kitas
  • Schließung aller Geschäfte und Läden, die nicht der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern dienen
  • Ausgangssperren, die sich jedoch regional oder lokal unterschiedlich gestalten
  • Eine Verlängerung und Ausweitung der Entschädigungszahlen für geschlossene Geschäfte.

Gültig sind die Maßnahmen bis zum 10. Januar, gewissermaßen als Verlängerung der Weihnachtsferien unter massiven Kontaktbeschränkungen. Bund und Länder hoffen, mit einem härteren Lockdown Neuinfektionen und Verbreitungsrate so weit absenken zu können, dass Schulen und Geschäfte ab der 2. oder 3. Januarwoche wieder zur „Normalität“ zurückkehren können, die Zahlen bis zum Frühjahr „kontrollierbar“ bleiben und aufgrund von Impfungen der besonders Gefährdeten einschließlich der Beschäftigten in Krankenhäusern und in der Altenpflege weniger Menschen schwer erkranken oder gar sterben.

Heilige Weihnacht, böses Neujahr?

Dafür soll auf Neujahrsfeiern verzichtet werden und auch das heilige Fest des Friedens, der Liebe und der Familie, besser als Weihnachten bekannt, nur eingeschränkt stattfinden.

Sinnvoll sind solche Kontaktbeschränkungen allemal. Allein, der ideologische und wirtschaftliche Eiertanz um diese Maßnahmen weist auf die Widersprüchlichkeit der Regierungspolitik hin, die auch den härteren Lockdown durchzieht – wohl auch wie ihre gesamte Regierungszeit.

Während Reisen zum familiären Weihnachtsfest außer Frage stehen und die Kontaktbeschränkungen etwas erleichtert werden, soll das für das andere große, vergleichsweise weltliche Neujahrsfest nicht gelten. Dieses feiern wir schließlich ausgelassen mit FreundInnen und nicht nur mit der heiligen, vorzugsweise christlichen Familie.

Angesichts der pandemischen Lage mahnen neuerdings auch CDU-PolitikerInnen zur Zurückhaltung unterm Weihnachtsbaum. Noch am 21. November verteidigte Friedrich Merz im Tagesspiegel die Weihnachtsfeier noch als letztes Refugium der Freiheit: „Es geht den Staat auch nichts an, wie ich mit meiner Familie Weihnachten feiere.“

Angesichts steigender Todeszahlen schweigt er seither. Freilich: Die Doppelmoral der bürgerlichen Politik erschöpft sich längst nicht damit. Fast alle BefürworterInnen eines härteren Lockdowns wollen nicht nur ein Familienfest light, sondern auch das Weihnachtsgeschäft einigermaßen retten.

Kein Wunder, dass der 12. Dezember, der letzte „sichere“ Einkaufstag, zum umsatzstärksten des Jahres wurde. Die Kaufhäuser waren übervoll. Während die „Politik“ ständig die BürgerInnen ermahnt, sich verantwortlich zu verhalten und auf die Abstands- und Hygieneregeln zu achten, sollten möglichst viele ihre Einkäufe noch rasch und rechtzeitig erledigen und nicht nur online shoppen.

Geradezu sinnbildlich offenbarte sich die Doppeldeutigkeit am Beispiel Frankfurt/Main am 12. Dezember. Der SPD-Oberbürgermeister Peter Feldmann erließ einerseits ein Verbot der Querdenken-Demonstration, andererseits reduzierte die Stadt für einen Tag die Ticketpreise auf die Kosten von Kinderfahrscheinen, um das Weihnachtsgeschäft anzukurbeln.

Neben dieser makaberen Doppeldeutigkeit läuft die gesamte Weihnachts- und Neujahrspolitik der Regierungen aber auch auf folgendes Muster hinaus: Gelingt es nicht, die Zahlen zu reduzieren, sind dafür die Menschen hauptverantwortlich. Das Brechen von Kontaktbeschränkungen im privaten Bereich, im Haushalt, mit Familie und FreundInnen wird als zentrales, wenn nicht als das Hauptproblem der unkontrollierten Ausbreitung der Pandemie präsentiert.

Kapitalistisches Pandemiemanagement und seine Widersprüche

Dabei treten die Widersprüche des kapitalistischen Pandemiemanagements seit Monaten offen zutage.

Der zweite Lockdown erstreckte sich im Wesentlichen auf Bereiche des privaten Konsums und der Freizeit – von der Gastronomie bis zu Theater, Konzerthäusern und Kinos. Zu Recht fragten sich Millionen, warum der Besuch eines Klassenzimmers mit 30 SchülerInnen erlaubt, ein Treffen mit 5 FreundInnen jedoch pandemietreibend sein sollte. Zu Recht fragen sich Millionen, warum z. B. Kinos und Theater mit funktionierenden Hygienekonzepten geschlossen wurden, während Shoppingmalls (Einkaufszentren) weiter offenhielten. Hinzu kam, dass die Regierung keine Vorsorge für eine absehbare zweite Welle getroffen hatte – sei es durch dauerhafte Maßnahmen im Gesundheitsbereich oder durch die Ausstattung der Schulen mit Luftfiltern oder Verkleinerung der Klassengrößen. Schließlich hätte das Milliarden gekostet, die schon zur Rettung der Unternehmen verbraten waren. Die öffentliche innere Widersprüchlichkeit der Maßnahmen rief viel berechtigte Empörung hervor und verschaffte in den ersten Wochen auch der rechtspopulistischen Querdenken-Bewegung weiter Zulauf.

Vor allem aber führte sie dazu, dass sich Corona im Herbst wieder massiv ausbreitete und die zweite Welle der Pandemie weit mehr Opfer fordert als die erste.

Das hängt auch mit einem grundlegenden Unterschied des Lockdowns zusammen. Im März und April stellten die meisten Industriebetriebe aufgrund unterbrochener Lieferketten ihre Produktion ein. Die Schulen waren geschlossen, der öffentliche Verkehr ging massiv zurück.

Im Lockdown light, aber auch nach Verschärfung der Maßnahmen durch die Bundes- und Landesregierungen Mitte Dezember 2020, blieben zentrale Teile der kapitalistischen Ökonomie ausgenommen – genauer gesagt jene, die für die Schaffung des Mehrwerts und für Kredit und Kapitalzirkulation wesentlich sind: Industrie, Transport und Finanzsektor.

In der Weihnachtszeit kommen schließlich nicht nur Familien zusammen, es ist auch der Zeitraum, indem viele Menschen ohnehin Urlaub genommen haben, in der viele Werke sogar Betriebsurlaub anordnen, indem Eltern sowieso mit ihren Kindern zuhause bleiben müssen. Summa summarum ist es für das Kapital der billigste Zeitpunkt für einen Lockdown!

Kein Wunder also, dass große Kapitalfraktionen die Wirtschaftspolitik der Regierung durchaus mit Wohlwollen betrachten. Die Unternehmen, die mit stärkerer Kritik gegenüber den Maßnahmen laut wurden, sind vor allem in der Zirkulationssphäre ansässig, wie beispielsweise die Veranstaltungsbranche, der Tourismus- und Hotelsektor und auch der „nicht-systemrelevante“ Einzelhandel. Diese sollten teilweise mit halbgaren Überbrückungshilfen befriedet werden oder durch Appelle daran, dass „Einkaufen […] eine patriotische Pflicht“ ist, wie CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier es formulierte.

Verschiebung des Kräfteverhältnisses

Dass die SPD und die Gewerkschaften den Kurs der Regierung mitbestimmten bzw. mittragen, erklärt wesentlich, warum es bislang so wenig Widerstand von links gab. Über Monate befand sich auch die Linkspartei im Dornröschenschlaf. Mit dem Herbstbeginn geht sie immerhin vermehrt auf Distanz zur Regierung und fordert eine Vermögensabgabe von 300 Milliarden Euro über 20 Jahre.

Auch wenn die Krise 2020 teilweise beschränkt wurde durch Milliardenstützen, KurzarbeiterInnengeld, Finanzhilfen aller Art, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie schon in diesem Jahr zu dramatischen Einkommenseinbußen, Lohnverzicht, Entlassungen, Betriebsschließungen geführt hat:

  • Noch immer arbeiten Millionen in Kurzarbeit. Viele Kleinunternehmen, FreiberuflerInnen, Selbstständige stehen vor dem Aus.
  • In der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes erlitten die Gewerkschaften eine schwere Niederlage, was zu stagnierenden oder sinkenden Einkommen für Millionen Beschäftigte in den nächsten 3 Jahren führen wird.
  • In der Großindustrie – insbesondere im Automobil- und Luftfahrtbereich – drohen oder laufen massive Kürzungsprogramme, Massenentlassungen und der Verlust zehntausender Arbeitsplätze in Konzernen wie Daimler.
  • Der Umstieg auf Homeoffice während der Pandemie verändert Millionen Arbeitsverhältnisse und damit die Ausbeutungsraten massiv zugunsten des Kapitals.
  • Während Teile des Unternehmertums massive Einbußen erlitten, gibt es natürlich auch „Corona-GewinnerInnen“ wie Logistik, Versandhandel oder die Pharma-Industrie.
  • Der sog. Green New Deal entpuppt sich als Förderprogramm für die E-Mobilität – auf Kosten von Beschäftigten und Umwelt, wie am Dannenröder Wald zu sehen ist.
  • Hunderttausenden droht, wegen sinkender Einkommen und weiter steigender Mieten und Wohnungsspekulation ihr Heim zu verlieren.
  • Regierungen und Kapital nutzen die Pandemie zur Einschränkung demokratischer Rechte und zur Einschüchterung der ArbeiterInnenklasse und sozialer Bewegungen. Nicht nur Gesetze werden verschärft. Alle, die mit Demonstrationen, Besetzungen für ihre berechtigten sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Interessen eintreten, werden unter Generalverdacht gestellt, die Gesundheit anderer zu gefährden. Die wahnwitzige, pseudoradikale kleinbürgerliche Querdenken-Bewegung, die Freiheit mit Rücksichtslosigkeit gleichsetzt und tatsächlich den Tod Tausender billigend in Kauf nimmt, erleichtert den bürgerlichen Kräften dabei ihre Politik.

Aufgaben für 2021

Die Zögerlichkeit der Regierungen in Bund und Ländern bezüglich der Einschränkungen zwischen Weihnachten und Neujahr, aber auch die Friedhofsruhe bezüglich der fiskalpolitischen Maßnahmen gegenüber der Corona-Neuverschuldung zeigen einerseits, dass die Pandemie sicher zum Hauptthema der kommenden Bundestagswahl wird. Andererseits wird die Regierung versuchen, die ganz massiven Einsparungen erst in der nächsten Legislatur durchzuziehen. Bis zur Bundestagswahl soll alles am besten noch „abgefedert“ und sozial stattfinden. Die Gesamtrechnung für die Bekämpfung der Pandemie und für die Kosten der kapitalistischen Krise – insbesondere für die Staatsverschuldung – soll erst nach den Wahlen präsentiert werden.

Die Maßnahmen der Regierung verdeutlichen, dass im Kapitalismus eine Bekämpfung der Pandemie höchstens über ein medizinisches Heilmittel erfolgreich sein kann. Währenddessen werden wir durch ein widersprüchliches Krisenmanagement von einer Welle in die nächste zu geraten drohen.

Dem Lockdown der Regierung müssen wir die Forderung nach einer Schließung aller für Gesundheit, Versorgung, Infrastruktur nicht notwendigen Bereiche entgegenstellen. Dabei können wir uns nicht auf das Kabinett oder die MinisterpräsidentInnen und ihren Apparat – und erst recht nicht auf die UnternehmerInnen verlassen. Diese muss vielmehr unter Kontrolle der Beschäftigten und Gewerkschaften erfolgen. Diese müssen bestimmen, welche Arbeit, welche Art Produktion aufrechterhalten und welche wie lange eingestellt wird. An den Schulen müssen Kontrollausschüsse aus Beschäftigten, SchülerInnen und Eltern festlegen, ob und unter welchen Bedingungen der Unterricht aufgenommen werden kann.

Ein solcher Lockdown ist angesichts der aktuellen Notlage notwendig. Er muss zugleich ergänzt werden durch den Ausbau der Testkapazitäten, von Infrastruktur in Schulen und Betrieben, wie mit Raumluftfiltern, Quarantäneangeboten in Hotels für Personen ohne eigenen Rückzugsort (z. B. Flüchtlinge und Obdachlose) und einer gesellschaftlichen Kontrolle über die Vergabe sicherer Impfstoffe.

Ergänzt werden muss dies durch die Sicherung der Einkommen und Löhne von allen, die in Kurzarbeit sind; für Arbeitslosengeld in der Mindesthöhe von 1600.- Euro/Monat statt Hartz IV, durch die Auszahlung eines Mindesteinkommens für kleine Selbstständige und Studierende und für Stützungsprogramme von Kleinunternehmen, um sie vorm Ruin zu bewahren.

Zugleich braucht es aber auch entschiedene Maßnahmen, um die Kosten der Krise und der Pandemie den großen Kapitalien und VermögensbesitzerInnen aufzuzwingen. Ohne Eingriffe in das Privateigentum an den großen Unternehmen, in das Kreditwesen, in den Kapitalverkehr wird jede Bekämpfung der Pandemie immer nur Stückwerk bleiben, immer vom Widerspruch zwischen allgemeinen Gesundheits- und Lebensinteressen und den Profitinteressen des Kapitals geprägt sein.

Die entschädigungslose Verstaatlichung des gesamten Gesundheitswesens unter Kontrolle der dort Arbeitenden wäre dazu ein erster unerlässlicher Schritt – und zugleich auch ein Mittel sicherzustellen, dass ein Impfstoff allen gemäß ihrer Bedürftigkeit kostenlos zukommt und zwar nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in der sog. Dritten Welt.

Die Frage der entschädigungslosen Enteignung betrifft aber auch alle Sektoren, die mit Entlassungen, Kürzungen drohen oder diese schon vornehmen – womit auch ein wichtiger Schritt gesetzt wäre zur Enteignung der Schlüsselpositionen der Wirtschaft, vor allem der großen Konzerne, Banken und Finanzinstitutionen.

Nur durch eine Verstaatlichung unter Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung wäre es möglich, die Produktion und Investitionen gemäß eines gesellschaftlichen Plans über notwendige, nützliche, aufzunehmende und unnötige, einzustellende Arbeit in der Pandemie und zum Umbau nach ökologischen und sozialen Kriterien zu reorganisieren.

Kampf

Eine solche Lösung der gesundheitlichen (und ökonomischen) Krise muss jedoch erkämpft werden. Das Perfide an der Situation ist, dass wir damit rechnen müssen, dass die sozialen Angriffe zurzeit noch nicht mit einem Schlag, sondern eher in Form einer Salamitaktik einschlagen. Dagegen entsteht zwar spontan lokaler Widerstand, aber er verbindet sich keineswegs automatisch. Die Gewerkschaften begrenzen die Auseinandersetzungen in der Regel auf den jeweiligen Standort – auch dort, wo betriebliche Auseinandersetzungen gegen Schließungen und Entlassungen geführt werden. Sie weigern sich aus Perspektive von Co-ManagerInnen, dies im Gesamtbetrieb, geschweige denn innerhalb der Branche oder gar in der Gesellschaft insgesamt auszufechten. Dadurch entstehen zwar immer wieder heroische betriebliche Auseinandersetzungen. Diese verpuffen jedoch schnell und zeichnen so auch ein Bild von Aussichtslosigkeit.

Die Aufgabe von RevolutionärInnen, von klassenkämpferischen ArbeiterInnen besteht aktuell nicht darin, auf die Spontaneität der Klasse zu hoffen, sondern schon jetzt die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, seien es Gewerkschaften oder Parteien wie die SPD und die Linke in Debatten um die Organisierung und den Inhalt eines Widerstandes zu ziehen und den Aufbau eine Antikrisenbewegung in Angriff zu nehmen. Um den Inhalt, die Forderungen, die Strukturen einer solchen Bewegung braucht es eine öffentliche und kontrovers geführt Diskussion – vor allem aber die gemeinsame Aktion, um die Frage des Kampfes gegen die Krise nicht dem bürgerlichen Parlament zu überlassen und zugleich offen um die effektivsten Kampfmethoden zu streiten.




Luxemburgs Beitrag zum Marxismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

In der Nacht vom 15. zum 16. Januar 1919 wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – heroische VorkämpferInnen und führende Köpfe der Revolution – bestialisch ermordet. Der deutsche Imperialismus zeigte einmal mehr, dass er zum Erhalt seiner Macht vor keinem Verbrechen zurückschreckt. Auch die deutsche Sozialdemokratie offenbarte wie schon im Ersten Weltkrieg oder später bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik ihre Bereitschaft, für die Verteidigung des Kapitalismus durch ein Meer von Blut zu waten.

Politische Leichenschändung

Wie viele andere revolutionäre KämpferInnen des 20. Jahrhunderts mussten Liebknecht und Luxemburg nicht nur zu ihren Lebzeiten Verleumdung und pogromartige Hetze ertragen. Auch posthum wurde ihr Andenken geschändet – und zwar nicht nur von der offen bürgerlichen, imperialistischen Reaktion.

Die Sozialdemokratie, die Luxemburg und Liebknecht bis aufs Blut bekämpft hat, und deren Parteispitze an ihrer Ermordung tätig mitwirkte, beruft sich bei Bedarf auch auf das „Erbe“ jener, die sich gegen solche obszön-zynische Eingemeindung nicht mehr wehren können.

In ähnlicher Weise „gedachte“ jahrzehntelang die stalinistische Bürokratie, die schon Lenins revolutionäres Erbe pervertiert hatte und den Strategen und Führer der Oktoberrevolution unfreiwillig symbolträchtig im Mausoleum entsorgte, jener Rosa Luxemburg, gegen deren revolutionären Internationalismus sie im Zuge der bürokratischen Degeneration zu Felde zog.

Ihrem politischen und theoretischen Beitrag zum Marxismus, der sie zur größten Revolutionärin des 20. Jahrhunderts machte, wollen wir uns in diesem Artikel widmen. Angesichts seiner Kürze kann die Darstellung nur einen Überblick über ihre zentralen theoretischen Positionen liefern. Eine intensivere Beschäftigung mit dem Werk Rosa Luxemburgs will sie nicht ersetzen, sondern vielmehr anregen.

Das trifft umso mehr zu, als die 1871 im polnischen Zamosc in einem liberalen jüdischen Elternhaus geborene Luxemburg in ihrem kurzen Leben auf verschiedenen Feldern für den revolutionären Marxismus focht.

Sie gründete zwei revolutionäre Parteien: die „Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen und Litauen“ (SDKPL) und die KPD bzw. deren Vorläufer Spartakusbund und leitete sie. Sie stand jahrelang auf dem linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie und der Zweiten Internationale – gegen den aufkommenden Reformismus, aber auch als eine der ersten gegen den Zentrismus der KautskyanerInnen.

Ihr Name ist untrennbar mit dem Kampf gegen den Revisionismus, mit der Analyse der Tendenzen der kapitalistischen Weltwirtschaft, mit der programmatischen Entwicklung der revolutionären Linken vor dem Ersten Weltkrieg und mit der Gründung der KPD verbunden.

Revisionismusstreit

Ende des 19. Jahrhunderts, am Übergang zur imperialistischen Epoche, entbrannte in der ArbeiterInnenbewegung eine grundlegende theoretische und programmatische Debatte um die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und die Taktik der sozialistischen Parteien.

Der wohl bekannteste Theoretiker der sozialdemokratischen Rechten, Eduard Bernstein, versuchte in der 1899 erstmals veröffentlichten Arbeit „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, die Marx’sche Theorie und die darauf fußende revolutionäre Taktik einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen. Er wollte damit zugleich der mehr und mehr reformerisch gewordenen, auf Wahlkämpfe und Wahlen konzentrierten Alltagspraxis der Sozialdemokratie wie dem rein auf ökonomische Verbesserungen beschränkten Wirken der Gewerkschaften eine theoretische Grundlage verschaffen.

Bernstein argumentierte, dass die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts Marx‘ Konzeption des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise widerlegt hätte. Auch die Tendenz zur immer größeren Konzentration und Zentralisation des Kapitals hätte sich nicht verwirklicht. Vielmehr wären die Mittelklassen angewachsen. Schließlich ginge die Entwicklung des Kapitalismus mit einer immer größeren Ausdehnung der bürgerlichen Demokratie einher und würde so der ArbeiterInnenbewegung im Bündnis mit DemokratInnen die schrittweise Verbesserung, die „Hebung der Lage der ArbeiterInnenklasse“ und die schrittweise, reformerische Umgestaltung der Gesellschaft ermöglichen.

Luxemburg antwortet in „Sozialreform oder Revolution“ mit einer vernichtenden Kritik an Bernstein und am gesamten Revisionismus.

Auf über 100 Seiten widerlegt sie die Bernstein’schen Thesen präzise. Sie nimmt damit auch die Entgegnung auf die wichtigsten Argumentationsketten ganzer Generationen später geborener ReformistInnen und SozialreformerInnen, der Lafontaines und Gysis, der Corbyns und Tsipras‘, der verschiedenen „demokratischen SozialistInnen“ und anderer Mini-Bernsteins des 20. und 21. Jahrhunderts vorweg. So fasst sie die Konsequenzen dieser Theorie u. a. in folgenden Worten zusammen:

„Am nächsten und wahrscheinlichsten erfolgt dann eine Verschiebung in der Taktik nach der Richtung, um durch alle Mittel die praktischen Resultate des Kampfes, die Sozialreformen zu ermöglichen. Der unversöhnliche, schroffe Klassenstandpunkt, der nur im Hinblick auf eine angestrebte politische Machteroberung Sinn hat, wird immer mehr zu einem bloßen Hindernis, sobald unmittelbare praktische Erfolge den Hauptzweck bilden. Der nächste Schritt ist also eine „Kompensationspolitik“ – auf gut deutsch: eine Kuhhandelspolitik – und eine versöhnliche, staatsmännisch kluge Haltung. Die Bewegung kann aber auch dabei nicht lange stehen bleiben. Denn da die Sozialreform einmal in der kapitalistischen Welt eine hohle Nuß ist und allezeit bleibt, mag man eine Taktik anwenden, welche man will, so ist der nächste logische Schritt die Enttäuschung auch in der Sozialreform, d. h. der ruhige Hafen, wo nun die Professoren Schmoller und Co. vor Anker gegangen sind, die ja auch auf sozialreformerischen Gewässern durchstudierten die groß‘ und kleine Welt, um schließlich alles gehn zu lassen, wie’s Gott gefällt. Der Sozialismus erfolgt also aus dem alltäglichen Kampfe der Arbeiterklasse durchaus nicht von selbst und unter allen Umständen. Er ergibt sich nur aus den immer mehr sich zuspitzenden Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft und aus der Erkenntnis der Arbeiterklasse von der Unerläßlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung. Leugnet man das eine und verwirft man das andere, wie es der Revisionismus tut, dann reduziert sich die Arbeiterbewegung zunächst auf simple Gewerkvereinlerei und Sozialreformerei und führt durch eigene Schwerkraft in letzter Linie zum Verlassen des Klassenstandpunktes.“ (Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, in: Gesammelte Werke [LGW] 1/1, S. 402 ff.)

Notwendigkeit der revolutionären Machteroberung

Luxemburg verdeutlicht hier den unüberbrückbaren Gegensatz von revolutionärer, marxistischer Strategie und Taktik einerseits und reformistischer andererseits. In „Sozialreform oder Revolution“ zeigt sie, dass, anders als von Bernstein und Co. behauptet, der imperialistische Kapitalismus nicht mehr und mehr zur Demokratie führt.

So weist sie Bernstein und Co. nach, dass sie die Ablösung einer halbfeudalen oder feudalen Staatsmaschinerie im 19. Jahrhundert und ihre Ersetzung durch einen kapitalistischen und bürokratischen Mechanismus oberflächlich mit einem „mehr an Demokratie“ verwechseln. Vielmehr geht die allgemeine Tendenz der Entwicklung Richtung verschärfter und verallgemeinerter Konkurrenz auf dem Weltmarkt, Militarismus, also Reaktion nach außen. Dieser entspricht, so Luxemburg, zunehmende Reaktion, Einschränkung der bürgerlichen Demokratie im Innern.

Aus alldem ergibt sich für Luxemburg die unbedingte Notwendigkeit des Festhaltens an der revolutionären Machtergreifung, der Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat.

„In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft diente die gesetzliche Reform zur allmählichen Erstarkung der aufstrebenden Klasse, bis sie sich reif genug fühlte, die politische Macht zu erobern und das ganze bestehende Rechtssystem umzuwerfen, um ein neues aufzubauen. Bernstein, der gegen die Eroberung der politischen Macht als eine blanquistische Gewalttheorie wettert, passiert das Malheur, daß er das, was seit Jahrhunderten der Angelpunkt und die Triebkraft der menschlichen Geschichte ist, für einen blanquistischen Rechenfehler hält. Seit die Klassengesellschaften existieren und der Klassenkampf den wesentlichen Inhalt ihrer Geschichte bildet, war nämlich die Eroberung der politischen Macht stets ebenso das Ziel aller aufstrebenden Klassen, wie der Ausgangs- und der Endpunkt jeder geschichtlichen Periode. Dies sehen wir in den langen Kämpfen des Bauerntums mit den Geldkapitalisten und dem Adel im alten Rom, in den Kämpfen des Patriziertums mit den Bischöfen und des Handwerkertums mit den Patriziern in den mittelalterlichen Städten, in den Kämpfen der Bourgeoisie mit dem Feudalismus in der Neuzeit.

Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbuffet nach Belieben wie heiße Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z. B. Südpol und  Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.

Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.“ (ebenda, S. 427 f.)

Generalstreikdebatte

Die Frage des Verhältnisses von Reform und Revolution warf in der Sozialdemokratie natürlich auch praktische Fragen auf. Hier nur einige, wichtige:

  • Auseinandersetzung um den Eintritt in bürgerliche Reformregierungen durch die französische Sozialdemokratie;
  • Haltung zum Generalstreik;
  • Kampf um das Frauenwahlrecht;
  • Kolonialpolitik;
  • Kampf gegen den Militarismus und den herannahenden Krieg.

Wie schon aus den obigen Fragen erkennbar, betrafen die Auseinandersetzungen zwischen rechtem und linkem Parteiflügel bis zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale alle grundlegenden Fragen der nationalen und internationalen Politik. Die zunehmenden Gegensätze, deren Unvereinbarkeit Luxemburg früher als alle anderen prominenten AnführerInnen des linken Flügels, also auch eher als Lenin und Trotzki, erkannte, wurden immer deutlicher. Immer mühsamer wurde sie, v. a. nach der Niederlage der Russischen Revolution 1905, vom „Zentrum“ um Bebel und Kautsky zusammengehalten. Ihre Lösung für die Konflikte zwischen Linken und Rechten bestand zunehmend in Formelkompromissen, Zurückweisung von Revisionismus und Reformismus in der Theorie und deren Akzeptanz in der Praxis.

Luxemburg wurde hingegen mehr und mehr zum Hassobjekt nicht nur der Reaktion, von Feudalen und Bürgerlichen, sondern auch der Parteirechten und der GewerkschaftsführerInnen in Deutschland.

Gerade in den Spitzen der Gewerkschaften fand sich um die Jahrhundertwende der organisierte Kern der Rechten in der Partei, des Revisionismus. Was Bernstein „wissenschaftlich“ zu begründen suchte, setzten die „PraktikerInnen“ längst um. Sie wollten keine „Revolutionsspielchen“, sie wollten keine „Generalstreikabenteuer“ oder „Generalunsinn“, sie wollten sich nicht von Sozialistischer Internationale und Partei zu militanten Formen des Klassenkampfes gegen den heraufziehenden imperialistischen Krieg oder gar gegen die Kanonenbootpolitik des Wilhelminismus verpflichten lassen. Wie Luxemburg gut erkannt hatte, war der „schroffe Klassenstandpunkt“ des Marxismus für sie ein Hindernis bei ihrer gewerkschaftlichen „Kompensationspolitik“.

Verhältnis von Partei und Gewerkschaft

Daher auch das permanente Streben der Gewerkschaftsführungen in Deutschland, sich von Beschlüssen der Sozialdemokratie oder internationalen Kongressen „unabhängig“ zu machen. Luxemburg wetterte scharf gegen diese Absichten und zerpflückte die ganze Politik der Apparate in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“:

„Diese Theorie von der parallelen Aktion der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften und von ihrer ,Gleichberechtigung‘ ist jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern hat ihre geschichtlichen Wurzeln. Sie beruht nämlich auf einer Illusion der ruhigen, ,normalen‘ Periode der bürgerlichen Gesellschaft, in der der politische Kampf der Sozialdemokratie in dem parlamentarischen Kampf aufzugehen scheint. Der parlamentarische Kampf aber, das ergänzende Gegenstück zum Gewerkschaftskampf, ist ebenso wie dieser ein Kampf ausschließlich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Er ist seiner Natur nach politische Reformarbeit, wie die Gewerkschaften ökonomische Reformarbeit sind. Er stellt politische Gegenwartsarbeit dar, wie die Gewerkschaften ökonomische Gegenwartsarbeit darstellen. Er ist, wie sie, auch bloß eine Phase, eine Entwicklungsstufe im Ganzen des proletarischen Klassenkampfes, dessen Endziele über den parlamentarischen Kampf wie über den gewerkschaftlichen Kampf in gleichem Maße hinausgehen. Der parlamentarische Kampf verhält sich zur sozialdemokratischen Politik denn auch wie ein Teil zum Ganzen, genauso wie die gewerkschaftliche Arbeit. Die Sozialdemokratie [an sich] ist eben heute die Zusammenfassung sowohl des parlamentarischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes in einem auf die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gerichteten Klassenkampf.

Die Theorie von der ‚Gleichberechtigung‘ der Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie ist also kein bloßes theoretisches Mißverständnis, keine bloße Verwechslung, sondern sie ist ein Ausdruck der bekannten Tendenz jenes opportunistischen Flügels der Sozialdemokratie, der den politischen Kampf der Arbeiterklasse auch tatsächlich auf den parlamentarischen Kampf reduzieren und die Sozialdemokratie aus einer revolutionären proletarischen in eine kleinbürgerliche Reformpartei umwandeln will. Wollte die Sozialdemokratie die Theorie von der ,Gleichberechtigung‘ der Gewerkschaften akzeptieren, so würde sie damit in indirekter Weise und stillschweigend jene Verwandlung akzeptieren, die von den Vertretern der opportunistischen Richtung längst angestrebt wird.“ (LGW 2, S. 156 f.)

Obiges Zitat verdeutlicht übrigens auch, dass Luxemburg keineswegs eine „reine“ „Spontaneitätstheorie“ der Entwicklung von Klassenbewusstsein oder des Verhältnisses von Partei und Bewegung vertrat. Das kommt auch dort zum Vorschein, wo sie immer wieder die Notwendigkeit der Sammlung, Formierung und Schulung der fortgeschrittensten ArbeiterInnen, der Avantgarde, in einer revolutionären Klassenpartei betont, einer Partei, die Führerin des Kampfes sein muss.

Kritik an Kautsky

Ein bleibendes Verdienst Luxemburgs ist es, nicht nur gegen die Rechte zu polemisieren, sondern auch – früher als andere – den zunehmend kompromisslerischen und hohlen Charakter der Politik Kautskys zu erkennen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere in den Jahren 1910 – 1914, verschärfte sie ihre Angriffe gegen das „Zentrum“ der Partei, weil dieses mehr und mehr von revolutionärer Klassenpolitik gegen den Imperialismus abgerückt war. So brandmarkte Luxemburg die reformistische und pazifistische Programmatik Kautskys (Rüstungsbeschränkung, internationales Schiedsgerichte usw.).

Es ist kein Wunder, dass diese Arbeiten Rosa Luxemburgs heute kaum bekannt sind und rezipiert werden, bilden sie doch nicht nur eine vernichtende Kritik an Reformismus und Zentrismus, sondern auch den UN-Huldigungen der heutigen „Friedensbewegung“, der LINKEN, der DKP oder der Gewerkschaftsbürokratie.

Der zunehmende Gegensatz von Luxemburg zu Kautsky war zweifellos kein gewollter, von ihr forcierter. Er ergab sich vielmehr daraus, dass Luxemburg für einen aktiven, tätigen Marxismus eintrat, der mit den Grenzen der sozialdemokratischen Politik und programmatischen Methode immer wieder in Widerspruch geriet.

Diese wesentlich von Kautsky entwickelte Methode trennte schematisch zwischen dem Minimalteil, also den anstehenden „Tagesforderungen“ (gewerkschaftliche Rechte, Löhne, gesetzliche Reformen) und dem Maximalteil (Sozialismus, Machtergreifung des Proletariats). Da zwischen diesen beiden keine Vermittlung stattfand, konnte die Vorkriegssozialdemokratie jahrzehntelang eine reformistische Praxis betreiben und zugleich eine formell marxistische Theorie pflegen. Da die Revolution in weiter Ferne zu liegen schien, konnte der innere Gegensatz übertüncht werden.

Aber die aufkommende imperialistische Reaktion, der Militarismus, die Aufrüstung wie auch grundlegende demokratische Fragen und der Kampf gegen die soziale Unterdrückung der Frauen bedeuteten, dass sich die Grenzen des Minimal-Maximal-Programms auch in praktischen Fragen immer wieder zeigten.

Die Parteirechte und die revisionistischen TheoretikerInnen wollten keine „radikalen“ Aktionen wie den Generalstreik – weder im Kampf gegen den Militarismus noch für das allgemeine (Frauen-)Wahlrecht. Sie fürchteten, dass solche Kampfmethoden ihrer gradualistischen Politik, stetig mit friedlichen Mitteln neue Reformen zu erreichen, einen Strich durch die Rechnung machen, die Mittelklasse abschrecken und die Reaktion radikalisieren würden.

Für Luxemburg hingegen stellte die Zuspitzung der Klassengegensätze eine unvermeidliche Folge der Kapitalbewegung selbst dar. Daher betrachtet sie den Revisionismus nicht nur als eine Aufgabe des Klassenstandpunktes, sondern auch als reaktionäre Utopie.

Das hatte für sie Implikationen nicht nur für die direkte revolutionäre Zuspitzung des Kampfes, sondern auch für den um Reformen. Luxemburg war sich darüber klar, dass das allgemeine (Frauen-)Wahlrecht eine bürgerlich-demokratische Reform darstellt. Sie lehnte es aber nicht nur entschieden ab, dieses als untergeordnete Frage zu verstehen oder den Kampf hintanzustellen. Vielmehr schlug sie angesichts des extremen Widerstandes der bürgerlichen und auch monarchischen Reaktion vor, zu revolutionären Kampfmethoden wie z. B. dem politischen Massenstreik zu greifen, um solche Reformen durchzusetzen.

Allein diese Vorstellung beunruhigte die Parteirechte und brachte praktisch den Gegensatz des sich formierenden linken Flügels zum Revisionismus zum Ausdruck. Luxemburgs Versuch, die Parteitaktik zu radikalisieren, stellte also den „Frieden“ in der Sozialdemokratie in Frage, den das Zentrum Kautskys unbedingt bewahren wollte. Daher die zunehmende Schärfe dieses Gegensatzes schon lange vor dem Ersten Weltkrieg. Die Formierung einer subjektiv revolutionären Linken in der deutschen Sozialdemokratie und der zunehmende Bruch mit dem Zentrum Kauskys stellten zweifellos ein Verdienst Luxemburgs und anderer Parteilinker dar – aber, anders als die Formierung des Bolschewismus in der russischen Sozialdemokratie – nahm er keine systematisierte programmatische und organisatorische Form an. Die Stärke und Schwäche prägte schließlich auch die Herausbildung des Spartakusbundes, sein Verhältnis zur USPD und die verspätete Gründung der KPD.

Imperialismusbegriff und Krisentheorie

Luxemburg war bekanntlich auch eine Theoretikerin, die versuchte, die Entwicklung des Kapitalismus, seine inneren Krisentendenzen zu fassen. In „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ sowie in „Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik“ (beide in LGW, Band 5) stellt sie selbst den Anspruch, „daß die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet und mit ihnen in Einklang gebracht werden muß“ (Antikritik, LGW 5, S. 431).

So groß Luxemburgs Verdienste in der Verteidigung der marxistischen Theorie und Positionen in vielen Fragen – nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie, wo sie zeigt, dass Marx sehr wohl eine „Zusammenbruchstheorie“ kennt – sind, so muss auch festgehalten werden, dass ihre Imperialismustheorie grundlegende methodische Schwächen aufweist und ihrer eigenen Zielsetzung, die „ökonomischen Wurzel (…) aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation“ herzuleiten, gerade nicht nachkommt.

Darauf haben u. a. Roman Rosdolsky in „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ und Henryk Grossmann in „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ hingewiesen. Dort fasst Grossmann seine Kritik wie folgt zusammen:

„Nicht aus den immanenten Gesetzen der Kapitalakkumulation, aus einer bestimmten Höhe derselben, leitet sie die Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus ab, sondern aus der transzendenten Tatsache des Fehlens nichtkapitalistischer Länder. War für Marx die Problematik des Kapitalismus mit dem Produktionsprozeß verknüpft, so verlegt Rosa Luxemburg die für die Existenz des Kapitalismus entscheidenden Probleme aus der Produktionssphäre in die Zirkulationssphäre.“ (Grossmann, S. 21)

Fehler Luxemburgs

Wie alle großen RevolutionärInnen hat Luxemburg auch wichtige Fehler gemacht. Sicher gehört zu den bekanntesten ihr mangelndes Verständnis der nationalen Frage und damit des Befreiungskampfes unterdrückter Nationen, wie Lenin in seiner Kritik an der Junius-Broschüre richtig festhält. Ebenso gehört zu den theoretischen Schwächen ihre, wenn auch von grundsätzlicher Solidarität getragene, Kritik an etlichen politischen und ökonomischen Maßnahmen der Oktoberrevolution unter Lenin und Trotzki dazu. Doch ihre Begeisterung für die Revolution war unbestreitbar groß. Sie erblickte im Oktoberaufstand immerhin die „Ehrenrettung des internationalen Sozialismus“.

Aber Luxemburg mochte sich mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen des ehemals zaristischen Russlands ebensowenig anfreunden wie mit dem Agrarprogramm der Oktoberrevolution.

Ihre vielleicht tiefstgehende Meinungsverschiedenheit zeigte sich an ihrer Kritik an der Auflösung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki im Jahr 1918. Darin plädierte Luxemburg noch für eine parallele Einrichtung von Sowjetorganen und Konstituante und dafür, dass die Bolschewiki eine Neuwahl zur konstituierenden Versammlung hätten durchführen sollen.

Luxemburg war hier nicht klar, dass unter der Diktatur des Proletariats, wie überhaupt in der proletarischen Revolution ein dauerhafter Dualismus von Organen der revolutionären Demokratie, von Räten, also Organen der Klassenherrschaft des Proletariats einerseits und von bürgerlich-parlamentarischen Organen, also Herrschaftsformen der Bourgeoisie, nicht möglich ist. Dieser Dualismus würde eine Permanenz der Doppelmacht bedeuten; er würde bedeuten, dass sich nach erfolgter Machteroberung der ArbeiterInnenklasse die Reaktion automatisch um die bürgerlichen Organe formiert. Es bedeutet, dass dieser Dualismus in der einen oder anderen Weise zugunsten der einen oder anderen Seite, von Revolution oder Konterrevolution, beendet werden muss.

Wie Paul Frölich in seiner lesenswerten Luxemburg-Biografie schreibt, weist einiges darauf hin, dass Luxemburg anhand der Erfahrungen der deutschen Revolution und der konterrevolutionären Rolle, die darin die verfassunggebende Versammlung spielte, die Schwächen ihrer Position zu erkennen begann. Wie sehr diese Einschätzung stimmt, ist unklar. In jedem Fall wiesen wichtige VertreterInnen des Spartakusbundes (u. a. Zetkin, Meyer, Leviné) Luxemburgs Position von Beginn an zurück.

Haltung zum Leninismus

Doch selbst in ihren Fehlern und Schwächen war und bleibt Luxemburg revolutionäres Vorbild, denn selbst diese speisten sich immer aus dem Willen, den Klassenkampf des Proletariats theoretisch und praktisch voranzubringen.

Auch wenn sie keine „Spontaneitätstheorie“ der Entwicklung des Klassenbewusstseins vertrat und der „Luxemburgismus“ über weite Strecken eine posthume Konstruktion darstellt; auch wenn sie unbedingt an der Notwendigkeit einer revolutionären Partei festhielt, so wäre es falsch, ihre Unterschiede zu Lenin zu negieren.

Erstmals traten diese schroff in der russischen Sozialdemokratie nach dem Parteitag 1903 zutage, nach dem Luxemburg heftig gegen Lenins Kampf für eine straff zentralisierte und disziplinierte Partei von BerufsrevolutionärInnen polemisierte. Zweifellos gehören diese Artikel – im Inhalt durchaus Trotzkis antibolschewistischen Broschüren und Aufsätzen dieser Periode ähnlich – zu den schwächsten und oberflächlichsten Arbeiten Luxemburgs.

In „Rosa Luxemburg und die IV. Internationale“ bietet Trotzki eine sehr klare und ausgewogene Einschätzung von Luxemburgs Parteiverständnis im Unterschied zu Lenin:

„Rosa selbst blieb nie bei der reinen Spontaneitätstheorie stehen wie etwa Parvus, der später seinen sozialreformerischen Fatalismus mit ekelhaftestem Opportunismus vertauscht hat. Im Gegensatz zu Parvus war Rosa Luxemburg bestrebt, den revolutionären Flügel des Proletariats im voraus zu erziehen und – sowie möglich – organisatorisch zu erfassen. In Polen hat sie eine sehr straffe selbständige Organisation aufgebaut. Man könnte höchstens sagen, daß bei Rosa in ihrer geschichtsphilosophischen Einschätzung der Arbeiterbewegung die vorbereitende Auslese der Avantgarde im Vergleich zu den zu erwartenden Massenaktionen zu kurz gekommen ist, während Lenin – ohne sich mit den künftigen Aktionswundern zu trösten – stets und unermüdlich die fortgeschrittenen Arbeiter illegal oder legal, in den Massenorganisationen oder im Versteck, vermittels eines scharf umrissenen Programms zu festen Zellen zusammenschweißte.

Die Sponaneitätstheorie Rosas war eine heilsame Waffe gegen den verknöcherten Apparat des Reformismus. Indem sie sich manchmal gegen die Leninsche Arbeit des Aufbaus eines revolutionären Apparats richtete, offenbarte die Theorie – allerdings nur im Keime – ihre reaktionären Züge. Bei Rosa selbst geschah es nur episodisch. Sie war viel zu realistisch im revolutionären Sinne, um aus den Elementen der Spontaneitätstheorie eine vollendete Metaphysik zu konstruieren. Praktisch untergrub sie selbst – wie gesagt – diese Theorie auf Schritt und Tritt. Nach der Novemberrevolution von 1918 begann sie die leidenschaftliche Arbeit der Zusammenfassung der proletarischen Avantgarde.“ (Trotzki, Rosa Luxemburg und die IV. Internationale, in: ders., Schriften über Deutschland III, S. 687 f.)

Die große Revolutionärin konnte diese Arbeit nur beginnen. Im Januar 1919 wurde sie von der Konterrevolution ermordet. Doch ihr Vermächtnis und auch die Aufgaben, für die sie unermüdlich arbeitete, leben weiter: die proletarische Weltrevolution, der Aufbau einer neuen, kommunistischen Partei und Internationale.




Riexingers Green New Deal: “System Change” statt Sozialismus

Mattis Molde, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Bernd Riexinger, der scheidende Vorsitzende der LINKEN, geht unter die BuchautorInnen. Schon 2018 legte er mit „Neue Klassenpolitik“ einen Text vor, in dem er die strategische Ausrichtung der Linkspartei zu begründen suchte. Mit seinem vor wenigen Monaten beim Hamburger VSA-Verlag erschienenen „System Change, Plädoyer für einen linken Green New Deal“ versucht er, eine langfristige, strategische Antwort auf die derzeitige Krise vorzulegen.

Er will deshalb die herrschenden Zustände angreifen, den „Status quo in Frage stellen“. Auch wenn er den Kapitalismus nicht abschaffen will, so will er eine andere „Formation“ desselben erreichen. Dass der Vorsitzende einer reformistischen Partei dem Reformismus treu bleibt, überrascht nicht weiter. Die Beschäftigung mit seinem Buch erweist sich dennoch als sinnvoll. Reformistische Parteien und ParteichefInnen begründen ihre „Realpolitik“ in der Regel erst gar nicht theoretisch, da sie diese ohnedies, ganz im Sinne ihres engen, pragmatischen Horizonts, für alternativlos betrachten.

Riexinger hingegen hält dies für nötig, weil er einen „neuen“ Linksreformismus begründen will, dessen Vorstellung von Systemwandel (System Change) und Green New Deal sich nicht nur vom revolutionären Marxismus, sondern auch von den Konzepten der Sozialdemokratie und der Grünen unterscheiden und abgrenzen soll.

Krisenerscheinungen

Dabei greift er reale Probleme auf: „Lange schon schwelen verschiedene Krisen des Kapitalismus: Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, Grenzen des Wachstums, soziale Ungleichheit, Zusammenbruch der öffentlichen Daseinsvorsorge und das Gefühl von vielen, dass die Gesellschaft nicht mehr zusammenhält. Corona hat diese Vielfachkrise des Kapitalismus verschärft und zugespitzt.“ (System Change, S. 9) Er beschreibt Erscheinungen und Probleme, die mit dem Kapitalismus zu tun haben bzw. von ihm produziert werden. Punkte, an denen man spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist auf dieser Welt. Aber eine marxistische Krisenanalyse stellt dies nicht dar. Die kommt auch später nicht.

Ein Beispiel: „Soziale Ungleichheit“: Ist das eine „Krise des Kapitalismus“? So wie dieses System funktioniert, produziert und reproduziert es immer Ungleichheit, da die BesitzerInnen von Kapital dieses ständig vermehren, während die Arbeitenden im Normalfall nur sich und ihre Familie reproduzieren können. Man könnte die Frage stellen, ob die Ungleichheit gewachsen ist oder ob soviel Kapital angehäuft worden ist, dass seine Verwertung so schwierig wird, dass dies zu einer Krise des Systems wird, die aus der Entfaltung seiner eigenen Gesetzmäßigkeiten erfolgt. Das wäre eine „Krise des Kapitalismus“ im marxistischen Sinne. Da solche Analysen in dem Buch nicht vorkommen, will uns Riexinger wohl nur sagen, dass die Ungleichheit zunimmt, dass dies ungerecht ist und bekämpft gehört.

Letztere Aussage ist ja unbestreitbar richtig. Wir werden später aber sehen, dass dieses Herumwerfen mit Begriffen eine politische Funktion hat.

Krisenursachen

Die Untersuchung des Kapitalismus findet also nicht statt und auch nicht, wie diese einzelnen „Krisen“ zusammenhängen. Er beschreibt die Erscheinungen meist ganz treffend und belegt, dass die vorgeblichen Bemühungen von Bundesregierung oder EU-Kommission, bestimmte Probleme, z. B. die globale Erwärmung, anzugehen, hilflos sind, Einzelmaßnahmen darstellen und durch die generelle Ausrichtung der Politik konterkariert werden.

Ein Beispiel: „ EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bereits Ende 2019 ein Konzept für einen Green Deal auf den Weg gebracht, der die Klima- und Wirtschaftspolitik stärker aufeinander abstimmen soll. Ziel sind massive Investitionen in neue Technologien zur effizienteren Ressourcennutzung und zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen. Das klingt gut, erweist sich aber bei näherem Hinsehen wie eine Mischung aus „Greenwashing“ und Wettbewerbspolitik. Das Ziel, bis 2050 eine „grüne Null“ zu erreichen, ist für die EU ein Fortschritt, reicht aber nicht aus, um die Klima-Katastrophe zu verhindern. Während aus einem Fonds Investitionen in den Klimaschutz finanziert werden sollen, fördern zahlreiche EU-Töpfe mit Milliarden Euro klimaschädliche Großprojekte.“ (System Change, S. 24)

Aus all diesen Beispielen folgt für Riexinger, dass eine neue Politik nötig ist.

Wer soll es richten?

Riexingers Verdienst besteht darin, ein Projekt vorzulegen, das versucht, die ganzen Probleme in ihrer Vielfältigkeit anzugehen. Sein Ziel ist es, alle Bewegungen, die gegen diese aktiv sind, zu einer einzigen zu vereinen, die dann alles für alle erreicht, was sozial und ökologisch ist, unabhängig von Geschlecht und Herkunft.

Dieses Projekt stellt politisch sehr viel mehr dar, als was andere reformistische Führungen derzeit zu bieten haben: Die Sozialdemokratie besinnt sich gerade darauf, dass es ein Jahr vor den Bundestagswahlen vielleicht opportun wäre, wenigstens ein paar Forderungen zu haben, die klarmachen, wo sie steht, bzw. die den schäbigen sozialen Flicken der SPD am Kostüm der Großen Koalition mehr Glanz verleihen sollen. Die Gewerkschaften im DGB sind komplett unfähig, irgendeine Gemeinsamkeit für die ökonomischen und ökologischen Herausforderungen zu formulieren. Jeder Teil der Bürokratie bleibt borniert bei den Leisten seiner Branche.

Riexinger fasst sein Projekt so zusammen: „Entscheidend ist, ein Bündnis sozialer Bewegungen für den sozial-ökologischen Umbau und unteilbare Solidarität aufzubauen. Dafür ist der Green New Deal kein Masterplan, sondern ein strategischer Vorschlag, wie wir eine bessere Welt gewinnen können.“ (System Change, S. 132 f.)

Die Ziele, die er vorschlägt, basieren auf den bekannten Forderungen der Linkspartei:

  • Löhne, die zum Leben reichen, 13 Euro Mindestlohn, Leiharbeit verbieten, prekäre Arbeit abschaffen, Arbeitszeit um die 30-Stunden-Woche mit Lohnausgleich,
  • Rentenniveau auf 53 % anheben, Mindestrente von 1.200 Euro, AlG I auf 24 Monate verlängern, Elterngeld auf 24 Monate anheben.

Für die „Transformation der Auto-Industrie“ stellt Riexinger sich unter anderem vor, Fahrzeuge für kollektive Mobilitätskonzepte herzustellen und einen Ausbau der Bahn zu forcieren.

Utopie

Der Weg, diese guten Dinge zu erreichen, geht darüber, dass die Bewegungen, die es schon gibt und die sich ja noch mehr verbinden müssen, soviel Druck auf den Staat ausüben, dass dieser die Konzerne und das Kapital dazu zwingt. Am Beispiel der Auto-Industrie liest sich das so: „Der Staat muss die Auto-Konzerne auf einen sozial gerechten, ökologischen Transformationspfad verpflichten. Das wird nur gelingen, wenn Belegschaften, Gewerkschaften, Umweltverbände und Klimabewegung an einem Strang ziehen.“ (System Change, S. 59 f.) Er verweist darauf, dass es im Konjunkturpaket Gelder der Regierung für Transformation gebe.

Für die Zukunft will er dann die Wirtschaft demokratisieren. DAX-Unternehmen sollen mindestens zu 21 % in öffentlichem Eigentum stehen, 30 % Belegschaftseigentum, den Rest dürfen private AktionärInnen behalten (System Change, S. 62). Was er nicht sagt, ist wie den DAX-Konzernen 51 % ihres Kapitals genommen werden sollen.

Solche Utopien kann man nur schreiben, wenn man alles ignoriert, was MarxistInnen über den bürgerlichen Staat formuliert haben. Die Marx’sche Sichtweise erledigt Riexinger, indem er die Aussage, der „Staat sei nur ein Instrument in den Händen von Kapital und Konzernen“ (System Change, S. 103) so interpretiert, als würde sie bedeuten, dass sich der Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht im Staat reflektieren würde, als könnten überhaupt keine politischen Reformen errungen werden. Darüber hinaus unterstellt er der marxistischen Staatstheorie, sie würde Staat und Kapital als identisch betrachten. Zwar weist er die platte bürgerliche Idee, dass „der Staat ein neutrales Instrument sei“ (ebenda) zurück und erklärt stattdessen, „dass sich im Staat Kräfteverhältnisse verdichten. Er ist das Feld, auf dem die verschiedenen Interessen (Klasseninteressen) ausgetragen werden.“ (ebenda)

Hinter diesen Ideen, die auf u. a. auf Poulantzas zurückgehen, steckt zwar ein Körnchen Wahrheit, nämlich dass rein gewerkschaftliche oder soziale Kämpfe alleine nicht ausreichen, um grundlegende Veränderungen zu erzielen, sondern dass ein politischer Kampf notwendig ist. Aber durch die Weigerung, den bürgerlichen Klassencharakter dieses Staates anzuerkennen, verkommt das Ganze nur zu einer komplexeren Begründung einer reformistischen, bürgerlichen Reformstrategie. Letztlich muss und kann die ArbeiterInnenklasse in Riexingers Augen den Staat in einem langwierigen gesellschaftlichen und institutionellen Kampf übernehmen und verändern.

Genau hier liegt der entscheidende Unterschied zur marxistischen Staatstheorie, die den bürgerlichen Staat als Herrschaftsinstrument des Kapitals begreift, das über tausende Fäden materieller Spitzenprivilegien die Armee, den Repressionsapparat, die Justiz- und Staatsbürokratie auf sich als herrschende Klasse verpflichtet, um die Interessen des Gesamtkapitals wahrzunehmen. Die Crux besteht gerade darin, dass der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist fungieren kann, weil er nicht mit einzelnen Kapitalien oder der ökonomischen Vertretung der Bourgeoisie identisch ist. So kann er deren Gesamtinteresse auch gegen einzelne dieser Fraktionen durchsetzen – wie ironischerweise beim New Deal der 1930er Jahre.

Das ist auch der Grund, warum ein revolutionäres kommunistisches Programm immer auf die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seine Ersetzung durch einen Rätestaat der ArbeiterInnenklasse, die Diktatur des Proletariats, zielt.

Kein Ausrutscher

Es würde aber auch reichen, die politische Realität wahrzunehmen: Es ist ja kein Ausrutscher, wenn in den Konjunkturpaketen keine Auflagen für die Lufthansa oder die Autokonzerne enthalten sind, denn es geht diesem Staat, seiner Regierung und seinem Apparat dabei immer um das, was im Wortsinn „systemrelevant“ ist: den Erhalt der Profitmaschinen der deutschen Bourgeoisie im Konkurrenzkampf mit ihren internationalen Konkurrentinnen. Dem werden alle sozialen und ökologischen Fragen untergeordnet.

Es zeigt sich an dieser Stelle, dass die Schwammigkeit zu Beginn des Buches bei der Darstellung der vielfältigen „Krisen des Kapitalismus“ ihre Ergänzung und Fortsetzung findet, wenn es um den Staat im Kapitalismus geht. Die Utopie schließt auch ein, dass dieser sozial und ökologisch gebändigte Kapitalismus funktioniert und nicht weiter Krisen produziert.

Riexinger hält seine Utopie für Realismus. Sein Credo ist, man müsse an den realen Bewegungen anknüpfen, weil nur Menschen in Bewegung etwas verändern können. Sein Irrtum besteht darin, dass er auch an den Irrtümern der Bewegungen festhält, ja sie zu seinen eigenen macht. Die Führung der Umweltbewegung beispielsweise glaubt, dass eine ökologische Wende in diesem System, ja sogar mit diesen Regierungen möglich sei.

RevolutionärInnen vertreten einen anderen Ansatz: Sie wollen, dass Menschen in der Bewegung lernen und ihre Ziele ändern. Dafür gilt es immer, Vorschläge zu unterbreiten, die realistisch sind, weil sie funktionieren können. Wir hoffen nicht, dass der Staat der Bourgeoisie durch eine Bewegung gezwungen werden könnte, Maßnahmen gegen jene durchzusetzen und sie teilweise zu enteignen. Wir propagieren, dass die ArbeiterInnenklasse ihre eigene Macht aufbaut. Dass die Beschäftigten Betriebe besetzen, die geschlossen werden sollen. Dass sie unter ihrer eigenen Kontrolle die Produktion oder die Umstellung dieser organisieren. Dass sie sich gegen die Übergriffe des Staates selbst verteidigen.

Eine solche Perspektive ist im revolutionären Sinne realistisch, weil sie von den realen gegensätzlichen Interessen der Klasse und der Rolle des Staates ausgeht und nicht selbst Luftschlösser produziert. Indem sie die Kämpfenden in den Bewegungen darauf vorbereitet, deren Illusionen und falschen Vorstellungen solidarisch kritisiert und darlegt, welche Aktionen und Forderungen notwendig sind, um kurz- und langfristige Ziele zu erreichen, tritt sie für einen revolutionären Realismus ein.

Gewerkschaften

Für seine Vision muss sich Riexinger aber nicht nur den Kapitalismus und seinen Staat schönreden, sondern auch die AkteurInnen seiner Bewegung. Das fängt an bei der Linkspartei, die sich „behauptet“ und die „stabil“ ist, aber auch in „ständiger Veränderung“ (System Change, S. 16). Dafür nennt er neue Mitglieder und WählerInnen im Westen. Meint er auch diejenigen, die die Linke an die AfD verloren hat? Stellt er sich die Frage, warum die Linke so gut wie nichts aus den Verlusten der SPD gewinnen konnte? Was ist mit der Politik der Linken an der Regierung? Martin Schulz sagt zu Recht: „Eine Regierung SPD-Grüne-Ramelow, zum Beispiel, vor der hat in Deutschland keiner Angst.“ Das sollte den Parteivorsitzenden der Linken Angst machen.

In den Gewerkschaften sieht Riexinger völlig zu Recht eine entscheidende Kraft für jede Veränderung. Er sieht auch, dass diese sich entscheiden müssen, „ob sie sich als mobilisierende, organisierende und konfliktorientierte Interessenvertretung stärken oder ob sie sich auf die korporatistische Zusammenarbeit mit (exportorientiertem) Kapital konzentrieren wollen.“ (System Change, S. 96) Dann lobt er das IG Metall-Vorstandsmitglied Urban, um anschließend festzustellen: „Selbstverständlich gibt es auch ganz andere Stimmen. Betriebsräte und GewerkschafterInnen, die Abwrackprämien auch für neue Dieselautos fordern.“ (System Change, S. 97) Diese „anderen“ Stimmen sind in der IG Metall die absolute Mehrheit. Auch Urban hat der Forderung nach Kaufanreizen für Verbrenner-Autos nicht widersprochen.

Aber die SozialpartnerInnenschaft floriert nicht nur in der Exportindustrie. Die maßgeblich von der Linkspartei und ihren FunktionärInnen in ver.di angestoßene Pflegekampagne wurde trotz breiter Wirkung von der ver.di-Bürokratie auf einzelne Betriebe beschränkt, eine Politisierung durch die Verbindung mit der Forderung nach Rekommunalisierung der Krankenhäuser bekämpft und die ganze Kampagne in die Sackgasse von BürgerInnenbegehren gelenkt.

Um die Gewerkschaften und ihre Millionen Mitglieder für antikapitalistische Kampagnen jeder Art zu gewinnen, ist also eine systematische Auseinandersetzung mit der SozialpartnerInnenschaft und ihrer Trägerin, der Gewerkschaftsbürokratie, nötig. Schon die Debatte darüber, wie diese aussehen könnte und sollte, wird in der Linken nicht geführt und auf den Streikkonferenzen der Luxemburg-Stiftung konsequent unterdrückt.

No Deal

Die Idee eines sozial gebändigten Kapitalismus‘ ist nicht neu. Riexinger legt dem Raubtier nur noch eine neue ökologische Schleife an. Dieser Traum ist immer wieder befeuert worden, weil es Phasen gab, in denen die Bourgeoisie Zugeständnisse an die ArbeiterInnenbewegung machen musste. Er wurde auch genährt, weil in Krisenperioden die gängigen bürgerlichen Ideologien selbst fraglich werden. Daher suchen auch viele nach radikalen Alternativen. Auch das versuchen Riexinger und die Linkspartei wie auch viele ähnliche Strömungen in Westeuropa, den USA und auf der gesamten Welt aufzugreifen, indem sie einen scheinbar radikaleren Reformismus als gangbare quasi-revolutionäre, antikapitalistische Politik zu begründen versuchen.

Wir wollen was anderes. Die Aufgabe für SozialistInnen und KommunistInnen bleibt es, in einer historischen Krise des kapitalistischen Systems nicht für eine neue sozialere Formation des Kapitalismus zu kämpfen, welche dieses verrottete System sofort wieder zerlegen würde, sobald es kann. Unser Ziel ist der Sieg über dieses System – seine endgültige Abschaffung!




Konflikt um EU-Budget: Haus ohne Halt

Jürgen Roth, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Nach wochenlangem Streit mit Polen und Ungarn konnte die deutsche Ratspräsidentschaft die nächste drohende Katastrophe der EU gerade noch einmal vermeiden. Am Donnerstag, den 10. Dezember 2020, einigte sich der Europäischer-Rats-Gipfel, das Treffen der europäischen Staats- und Regierungsspitzen, auf einen Kompromiss.

Der Haushalt mit mehrjährigem Finanzrahmen für die Jahre 2021 – 2027 steht. Sein Volumen beträgt ca. 1,1 Billionen Euro. Zusätzlich wurden ca. 750 Milliarden Euro für Corona-Hilfen bewilligt, die besser als Umstrukturierungsfonds für erhöhte „grüne und digitale“ Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union bezeichnet werden sollten. In der Frage des Rechtsstaatsmechanismus‘ hatte die deutsche Präsidentschaft des EU-MinisterInnenrats einen für die beiden Visegrád-Staaten akzeptablen Kompromiss durchgesetzt.

Rechtsstaatlichkeit

Polen und Ungarn wird bekanntlich seit langem vorgeworfen, Einfluss auf Justiz und Medien auszuüben und Minderheiten zu wenig Schutz zu gewähren. Der Kompromiss sieht vor, das neue Verfahren zur Ahndung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit durch eine Zusatzerklärung zu ergänzen. Darin sind die Möglichkeiten festgelegt, sich gegen die Anwendung der Regelung zu wehren, z. B. durch eine Überprüfung seitens des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Außerdem soll die Feststellung eines Verstoßes erst dann zur Kürzung von Finanzhilfen führen können, wenn klar nachgewiesen wird, dass die Verletzung negative Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geldern hat. Überdies müssen sich bei Streitfragen die Staats- und RegierungschefInnen, also der Europäische Rat (ER), mit dem Thema beschäftigen.

Bei einer Ablehnung des Kompromisses hätte der EU ab Januar nur ein Nothaushalt zur Verfügung gestanden und das Corona-Konjunkturprogramm ohne die beiden „Außenseiter“ organisiert werden müssen, auf das wirtschaftlich stark leidende Länder, die gleichzeitig ein Schuldenproblem haben, wie z. B. Frankreich, Italien, Portugal, Spanien und Belgien, angewiesen sind.

Bezüglich des von Polen und Ungarn als „Sieg“ gefeierten Kompromisses entbrannte vor dem Gipfelbeschluss ein Zwist quer durch alle EU-Parteien und -Länder. Die KompromisslerInnen argumentierten teils auf der Linie des deutschen Ratspräsidialvorschlags, teils schlugen sie ein Ausklammern und eine Verlegung auf zwischenstaatliche Abkommen vor, die sich außerhalb des EU-Verfassungsrahmen bilden sollten. Vorbilder dafür sind die Eurogruppe und die Finanzmarktrettungsschirme.

Das gegnerische Lager setzte auf Härte gegenüber den beiden osteuropäischen Ländern. Für die Annahme der Rechtsstaatsklauseln im Europäischen Rat hätte eine qualifizierte Mehrheit genügt, die als sicher galt. Für Haushalt und Corona-Paket war allerdings Einstimmigkeit erforderlich und Polen und Ungarn hätten deren Beschluss durch ihr Veto verhindern können.

Die dramatische Einschränkung bürgerlich bürgerlich-demokratischer Rechte in den beiden osteuropäischen Ländern darf freilich nicht über die doppelte Heuchelei der restlichen EU hinwegtäuschen. Lediglich das EU-Parlament (EP) ist vom Volk gewählt, doch ist sein Einfluss auf die Gesetzgebung marginal. Alle übrigen Institutionen sind Bestandteile eines supranationalen Apparatgebildes, das zudem noch vom Wohlwollen der Regierungen der Mitgliedsstaaten abhängt -und zwar vor allem von jenen der dominierenden imperialistischen Mächte in der EU. Zudem bewegen sich nicht nur Ungarn und Polen, sondern faktisch alle Staaten und Institutionen auf eine Stärkung autoritärer polizeilicher Verfolgungs- und Überwachungsorgane zu oder führen, wie Frankreich, rassistische, anti-muslimische Gesetze ein. Von Menschenrechten ist an den Außengrenzen erst recht nichts zu spüren.

Zweitens geht es beim Konflikt um etwas ganz anderes als die bürgerliche Demokratie, nämlich um ein Aufbrechen des inneren Zusammenhalts, wie es sich schon im Brexit äußerte. Auf diesen widersprüchlichen Integrations- und Auseinanderentwicklungsprozess gehen wir weiter unten ein, indem wir seine Ursachen im Lichte der Entwicklung seit der Großen Krise 2007/2008 skizzieren. Zuvor wollen wir aber knapp die aktuelle ökonomische Lage skizzieren, die ihrerseits die Situation der EU vor dem Hindergrund der globalen Wirtschaftskrise verschärft.

COVID-19: Stress für die Wirtschafts- und Währungsunion

Die Herbstprognose der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erwartet für die EU bis Ende 2021 ein Schrumpfen des BIP von 3 – 5 % im Vergleich zu Ende 2019, für Großbritannien sogar 6,4 % – unter der Voraussetzung wirksamen Impfschutzes! Angesichts der infolge von SARS-CoV-2 galoppierenden Staats-, Haushalts- und Firmenverschuldung steigt die Gefahr eines Finanzkollapses historischen Ausmaßes.

Nach einer Erholung im 3. Quartal 2020 aufgrund von Lockerungsmaßnahmen erwartet die EU-Kommission jetzt für die Eurozone einen Wirtschaftseinbruch von 7,8 % für das Gesamtjahr 2020, für 2021 ein Wachstum von 4,2 % und für 2022 von 3 % (EU-Wirtschaft insgesamt: -7,4 %, + 4,1 %, + 3 %). Sowohl die Eurozone wie das Gebiet der Gemeinschaft werden Ende 2022 den Stand vor Pandemieausbruch nicht erreicht haben.

Zwar konnte der Anstieg der Arbeitslosenquote insbes. durch Kurzarbeitsregelungen gedämpft werden, doch rechnet die Kommission mit weiterem Anstieg nach Auslaufen der Soforthilfemaßnahmen ab 2021: Für die Eurozone bzw. die EU lauten die Zahlen und Prognosen für 2019 7,5 % bzw. 6,7 %, 2020: 8,3 % bzw. 7,7 %, 2021: 9,4 % bzw. 8,6 %, 2022 8,9 % bzw. 8,0 %. Das gesamtstaatliche Defizit wird in der Eurozone aufgrund von steigenden Sozialausgaben und sinkenden Steuereinnahmen gegenüber 2019 massiv steigen. Damals betrug der Anteil an der Neuverschuldung am addierten Bruttoinlandsprodukt nur 0,6 %. 2020 soll die Neuverschuldung 8,8 % des BIP betragen, 2021 6,4 % und 2022 4,7 %. Die Gesamtschuldenquote im Eurogebiet soll gegenüber 85,9 % im Jahr 2019, 2020 auf 101,7 %, 2021 auf 102,3 % und 2022 auf 102,6 % steigen.

Das „Corona-Hilfspaket“ …

390 des 750 Mrd. Euro schweren Hilfspaketes sind als nicht rückzahlbare zusätzliche Finanzmittel in einem Programm geplant, das sich Next Generation EU (NGEU) nennt. Dafür soll sich die EU erstmals langfristig bis 2058 verschulden. Vorher bestand ihr Haushalt allein aus Zuweisungen der Mitgliedsstaaten. Neben Kreditaufnahme ist auch die Einführung eigener europäischer Steuern gedacht (auf Plastik und CO2).

Eine genauere Betrachtung zeigt, dass das Ziel der Finanzhilfen jedoch kaum in der direkten Krisenbekämpfung liegen kann, sondern in erster Linie die internationale Wettbewerbsfähigkeit auf dem zunehmend umkämpften Weltmarkt mittelfristig stärken soll. 2021 und 2022 dürfte gerade einmal ein Fünftel der Mittel fließen. 218,75 Mrd. Euro, das sind 70 % der insgesamt für diesen Zweck eingeplanten Gelder von 312,5 Mrd., sollen für die beiden Jahre nicht für die Bewältigung der Krisenfolgen, sondern zur Milderung der strukturellen Probleme der EU-Länder auf dem Arbeitsmarkt verwendet werden und bemessen sich an deren Arbeitslosenquoten zwischen 2015 und 2019, also Jahre vor der Corona-Krise. Die zeitliche Verteilung zwischen 2021 und 2026 ist intransparent. Zsolt Darvas vom Think Tank Bruegel schätzt, dass 2021 10 % und 2022 13 % ausgezahlt werden sollen.

Der Bedarf für direkte krisenbezogene Maßnahmen ist offensichtlich auch begrenzt. So haben 17 EU-Staaten im Rahmen des SURE-Programms 90 Mrd. Euro für die Unterstützung von Kurzarbeitsregelungen beantragt. Gleichzeitig blieben 240 Mrd. zinsgünstige Darlehen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM für solche Maßregeln insbes. im Gesundheitswesen bislang unangetastet, obwohl der Verzicht auf umfassende „Reform“auflagen bei deren Inanspruchnahme beteuert wurde. Angesichts der Erfahrungen in der Eurokrise vor 6 Jahren finanzieren sich viele EU-Länder lieber zu Niedrigzinsen auf dem Kapitalmarkt, als diesen womöglich doch vergifteten Köder zu schlucken.

… und die Zukunft der Währungsunion

In den letzten Jahren hat sich die Rolle der Europäischen Zentralbank EZB deutlich verändert. Die Grenzen zwischen Notenbank und Geschäftsbank, die sie ursprünglich strikt befolgen sollte, muss sie immer weniger einhalten. So kann sie faule Staats- und Bankenpapiere kaufen und gleichzeitig die Leitzinsen niedrig halten. Diese Politik des lockeren Geldes (Quantitative Easing; QE) wird zudem flankiert von der Tatsache, dass der Euro zum ersten Mal seit Februar 2013 im Oktober 2020 den US-Dollar als internationales Zahlungsmittel wieder überholt hat. Im Finanzierungsgeschäft bleibt dessen Rolle allerdings ungebrochen. Laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) entfielen bis Juli 2020 mehr als die Hälfte aller internationalen grenzübergreifenden Kreditgeschäfte auf den Dollar.

Aber was passiert, wenn die Gesundheits-Krise und deren ökonomische Folgen länger als geschätzt andauern, sei es weil zu spät, zu wenig und zu unwirksam geimpft wird? Was geschieht, wenn die nicht durch die Pandemie bedingten wirtschaftlichen, strukturellen Ursachen mit Firmen- und Bankenzusammenbrüchen durchschlagen? Wird die EZB QE durchhalten können, wenn der privatkapitalistische Wirtschaftssektor nicht wieder auf eigenen Füßen steht, nachdem die Regierungssubventionen wegfallen? Schon jetzt steht das Ausmaß der Gesamtverschuldung, darunter auch die der Unternehmen, laut Institute of International Finance (IIF) im Vergleich zum BIP weltweit auf einem nie dagewesenen Hoch und machte in diesem Jahr einen Rekordsprung von 320 (2019) auf 365 %. Die OECD rechnet damit, dass 30 % der Unternehmen diese Stunde der Wahrheit nicht überleben werden. Banken werden mit Verweigerung des Kredits untereinander reagieren sowie auf eine Erhöhung ihrer Einkommensquelle, der Zinsen, drängen müssen, wollen sie nicht in diesen Strudel geraten. Deren Erhöhung verteuert auch die Staatsanleihen und damit die Gefahr staatlicher Zahlungsunfähigkeit. Dieses weltwirtschaftliche Damoklesschwert schwebt natürlich auch über der EU.

Robuster oder krisenanfälliger?

Covid-19 treibt auch Europa auseinander. Vielerorts sind die gemessenen Infektionszahlen, allerdings auf Basis breiterer Tests, höher als im April. Die aussagekräftigere Zahl der Toten ist sogar in der BRD mittlerweile deutlich höher. Wirtschaftlich betroffen ist insbesondere die für die Süd- und Südostländer so wichtige Tourismusbranche. Und insbesondere Frankreich, Italien und Spanien leiden unter einem viel schlimmeren Wirtschaftseinbruch als z. B. Deutschland. Zudem belaufen sich die Staatsschulden dieser 3 Länder auf mehr als zusammengerechnet 6 Bio. Euro bei einer Wirtschaftsleistung, die gerade anderthalbmal so groß wie die der BRD ausfällt.

Um die Frage der Krisenanfälligkeit beantworten zu können, betrachten wir die Entwicklung der EU seit der letzten Krise. Anders als herkömmliche Interpretationen der Eurokrise gehen wir nicht davon aus, dass die Zahlungsbilanzungleichgewichte in erster Linie durch zu hohe Löhne in den Defizitländern (neoliberale Lesart) bzw. zu niedrige in den Gläubigerstaaten (die neokeynesianische) verursacht wurden.

Dahinter steht vielmehr eine nur zum Teil durch die Lohnentwicklung bestimmte ungleiche internationale Arbeitsteilung. Eine übergeordnete bzw. dominante Position in dieser ergibt sich aus der Kapazität einiger weniger Produktionssysteme, komplexer Produktionsmittel, insbes. solche zur eigenständigen Herstellung anderer Produktionsmittel (Maschinenbau, Elektrotechnik, chemische Industrie). Als Ergebnis musste die südeuropäische Peripherie einen erheblichen Bedeutungsverlust hinnehmen, während sich zentrale imperialistische Ökonomien wie Deutschland gerade auf eine entwickeltere und produktivere Leistung in diesen zentralen Sektoren stützen.

Strukturreformen

Seit 2008 kam es neben dem Fokus auf Haushaltskonsolidierung, die mittlerweile eine Art Verfassungsrang einnimmt zu einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, zu einer merklichen Erweiterung der EU-Kompetenzen auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik. Kern ist das Europäische Semester (ES), welches die Koordination und Überwachung der nationalen Wirtschafts-, Fiskal-, Arbeits- und Sozialpolitiken gewährleisten soll. Damit sollen übrigens auch in die Lohnentwicklung mit Sanktionen eingegriffen werden, falls dass ein Referenzwert von 9 % Steigerung in 3 Jahren überschritten wird. Das ES ist neben der Troika aus EZB, IWF und EU-Kommission sowie dem ESM ein dritter Krisenbewältigungsmechanismus.

Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt führten schon bisher zu einer Schwächung der Rolle der Gewerkschaften, Abnahme der Tarifbindung, Verbetrieblichung der Lohnentwicklung, Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse und unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung. Trotz des Aufschwungs in den meisten EU-Ländern nach der letzten Krise und steigender Beschäftigung kam es zu einer Verlangsamung des Lohnwachstums. Hierbei stieg die Zahl atypischer Beschäftigung und Leiharbeit ab 2010 bzw. 2014 wieder an.

Die verheerenden Auswirkungen waren in den Ländern am größten, die Kredite aus dem Rettungsschirm ziehen mussten. Die Zahlungsbilanzungleichgewichte der südeuropäischen Länder sanken infolge des austeritätspolitisch induzierten Rückgangs der Importe, der selbst aus dem Rückgang der effektiven Kaufkraft resultierte. Dies hat offenkundig nichts mit einer Verbesserung ihrer internationalen Wettbewerbsposition zu tun. Die wachsenden Exporte aus der Peripherie dürfen nicht als Abbau tiefer Ungleichgewichte interpretiert werden. Vielmehr spricht der Einbruch der Industrieproduktion für eine weitere Erosion ihrer Produktionsstrukturen. Ganz anders dagegen die Entwicklung z. B. in Deutschland und Österreich. Diese Polarisierung innerhalb der europäischen Arbeitsteilung führte zu einer Abnahme der Bedeutung Südeuropas als Absatzmarkt für deutsche Exporte. Die BRD fährt seit 2012 einen größeren Außenhandelsüberschuss gegenüber dem Rest der Welt, v. a. den sog. Schwellenländern, als gegenüber der Eurozone ein.

Ökonomische Verschiebung

Der zweite Faktor, der die aktuelle Position Merkels und der Bundesrepublik im Haushaltskonflikt erklärt, ist die gegenläufige Entwicklung in den Visegrád-Ländern (Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn). Die Industrieproduktion entwickelte sich dort noch geschwinder als in Deutschland und Österreich und stieg um mehr als ein Drittel gegenüber dem Vorkrisenniveau. Auch der Anteil der Bereiche Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik und Chemie nahm zu von 57 auf 59,6 %, am deutlichsten in der Slowakei. Mit Ausnahme Polens wurden diese Volkswirtschaften allerdings immer tiefer in das deutsche Produktionssystem integriert, zu verlängerten Werkbänken.

Politisch bedeutet dies eine relative Schwächung Südeuropas und folglich eine wachsende Asymmetrie in der für den bisherigen Integrationsprozess konstitutiven Achse Berlin – Paris und eine Gewichtsverlagerung von Süden nach Osten. Zugleich erleben wir in Osteuropa einen widersprüchlichen Prozess. Die wachsende ökonomische Dominanz des deutschen Kapitals geht mit politischen Konflikten Deutschlands (und der EU) mit den Regierungen dieser Staaten einher, die sich aus verschiedenen Quellen – nicht zuletzt auch – dem Agieren imperialistischer Konkurrenz speist. Andererseits setzt die wachsende ökonomische Abhängigkeit der Region der Zuspitzung des Konflikts Grenzen und erklärt auch das größere Interesse Deutschlands an Kompromissen selbst mit den polnischen und ungarischen Regierungen.

Italien: neues Zentrum der Widersprüche?

Italien nimmt in der Hierarchie der innereuropäischen Arbeitsteilung eine Zwischenposition zwischen Deutschland und der Peripherie in Süd- und Osteuropa ein. Seit den Umbrüchen der 1990er Jahre und dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht haben sich die Konkurrenzbedingungen gravierend geändert. Mit Wegfall der Abwertungsmöglichkeiten durch die Einführung des Euro geriet die italienische Industrie aufgrund ihres Spezialisierungsprofils unter verstärkten Kostensenkungsdruck. Hatte das Land einst ein außergewöhnlich hohes Niveau industrieller Beschäftigung ähnlich der BRD aufrechterhalten können, scheint sich ein Trend zur teilweisen Deindustrialisierung durchzusetzen.

Es ist also zu erwarten, dass Italien zum Herd eines künftigen Schwelbrands in der EU werden wird. Die aktuelle EU-Haushaltspolitik der Großen Koalition in der BRD und ihre vergleichsweise versöhnlerische Haltung gegenüber Polen und Ungarn reflektieren auch eine Veränderung der Ökonomie des Kontinents. Die explosive Vertiefung der Krise in Italien würden die EU und ihre Führungsmacht vor noch größere Herausforderungen stellen.

Düstere Aussichten

Obwohl die Haushaltskrise letztlich in einem vom deutschen Imperialismus vermittelten Kompromiss endete, verdeutlichte das Gezerre, das innerhalb der führenden Kreise der EU und innerhalb ihrer dominierenden Mächte, allen von in Deutschland, auch ein Konflikt über die zukünftige Europa-Strategie stattfindet. Sollen „abweichende“ kleinere Staaten oder Staatengruppen weiter taktisch eingebunden werden oder sollen die EU und die Eurozone zu einem zentralisierten, ökonomisch und politische einheitlicheren Staatenblock unter deutscher bzw. deutsch-französischer Führung geschmiedet werden.

Zugleich droht das größer gewordene wirtschaftliche Gefälle zwischen Norden und Süden in der EU den Zusammenhalt der Union weiter zu unterminieren. In Anbetracht einer herannahenden Krise in einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannten Ausmaß ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Länder wie Österreich, die Niederlande, Finnland und Schweden, aber auch Teile des BRD-Kapitals solidarisch die Krisenlasten mit den kränkelnden Volkswirtschaften teilen. Der deutsche und der französische Imperialismus stehen somit vor schwer unlösbaren Herausforderungen angesichts der globalen Krise und der Konkurrenz durch China und die USA.

Der französische Imperialismus unter Macron versucht sich als als Vorreiter europäischer „Eigenständigkeit“ zu präsentieren. Angesichts der Schwächen der französischen Wirtschaft und der inneren politischen Krisen Frankreichs verbrauchen sich die meisten seiner Initiativen fast so schnell, wie sie in die Welt gesetzt wurden. Der deutsche Imperialismus setzt mit Merkel und von der Leyen zumindest der Form nach auf Ausgleich und Kompromiss – doch die Zeit läuft ihnen angesichts einer krisengeschüttelten Europäischen Union und  immer tieferer Widersprüche davon.

Härtere Gangart

Die Drohungen gegenüber Ungarn und Polen im Haushaltsstreit signalisierten, dass auch die Führung der EU-Kommission und Teile des deutschen Imperialismus erwägen, eine härtere Gangart gegenüber „abweichenden“ Mitgliedern der EU einzuschlagen. Im Haushaltsstreit hätte er mit einer „kompromisslosen“ Haltung letztlich aber mehr verloren und gewonnen. Die Dauer und Härte des Konflikts zeigen freilich, welche weit größeren uns noch bevorstehen, wenn die gegenwärtige Krise entscheidende Volkswirtschaften der EU – wie z. B. Italien – an den Rand des Bankrotts treiben sollte.




Imperialismus – Theorie, Kontroversen und Kritik

Redaktion, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Neu erschienen:

Revolutionärer Marxismus 53

Imperialismus – Theorie, Kontroversen und Kritik

Buch, A 5, 308 Seiten, 12,- Euro, zu bestellen über unsere Kontaktadresse: info@arbeitermacht.de

Der Imperialismus stellt eine schlagende Realität dar. Doch so einfach sein Verständnis auf den ersten Blick erscheint, so verschieden sind die Theorien, die dieses auf den Begriff zu bringen versuchen. Vielfach wurde dieser reduziert auf einige Teilaspekte wie Vorherrschaft von Monopol- und Finanzkapital, Militarismus, Aufteilung der Welt unter Großmächte, Verschmelzung von Monopolen und imperialistischem Staat, Werttransfer von der „abhängig entwickelten“ Peripherie in die Metropolen. Einige behaupteten einen Bruch mit den von Marx beschriebenen Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation, andere versuchten, den Begriff des Imperialismus aus ebendiesen abzuleiten, freilich ohne dies erfolgreich einlösen zu können.

In dieser Ausgabe des Revolutionären Marxismus gehen wir von Folgendem aus: Die imperialistische Epoche lässt sich nur durch die Totalisierung der Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation und ihrer Krisentendenzen auf der Ebene eines die Weltökonomie als Ganzes beherrschenden Kapitalverhältnisses verstehen. Nur so ergibt sich aus den genannten Teilaspekten eine dynamische Einheit, in der einmal dieser oder jener Aspekt in sich verändernden Gestalten in den Vordergrund tritt, ohne das Wesen zu verändern. Auf dieser Grundlage werden die Debatten um die marxistische Imperialismustheorie ebenso entwickelt wie die Kritik der Theorien neokolonialer Verhältnisse nach dem 2. Weltkrieg. Wir präsentieren außerdem eine allgemeine Beurteilung der gegenwärtigen Phase des Imperialismus, in der die Krisenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit des globalen kapitalistischen Akkumulationsregimes, als Imperialismus, wieder besonders deutlich hervortritt.

Inhalt

Martin Suchanek, Marxistische Imperialismustheorie: Bestandsaufnahme und Aktualisierung

Markus Lehner, Imperialismustheorie und Neokolonialismus

Moritz Sedlak, US-Imperialismus vor, während und nach Trump

Alex Zora, China als Modell?

Jahreskonferenz der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Oktober 2020, Politisch-ökonomische Perspektiven für Deutschland

Aventina Holzer, Social Reproduction Theory: moderner Marxismus oder feministische Sackgasse?




Ver.di und die Tarifrunde Öffentlicher Nahverkehr: Gut gestartet – gelandet wie ein Papiertiger

Helga Müller, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Zum Neuauftakt der Tarifrunde im öffentlichen Nahverkehr hielten wir im September 2020 fest: „Die Tarifrunde im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) enthält das Potential, zu einer wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung im Herbst 2020 zu werden. Sie beinhaltet die Möglichkeit, das Tarifritual, an dem die Gewerkschaftsapparate eisern festhalten, in Zeiten von Krise und Corona zumindest ein Stück weit zu durchbrechen.“ (Susanne Kühn, Klotzen nicht kleckern, Neue Internationale 249)

Bedingungen

Nicht nur weil gerade im öffentlichen Nahverkehr die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen sehr mies sind und ver.di zum ersten Mal eine gemeinsame bundesweite Tarifrunde zur Vereinheitlichung des Flickenteppichs mit 16 Landestarifverträgen in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen angehen wollte. Die Gewerkschaft wollte außerdem die Einstellung von zusätzlichem Personal und die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs ins Gespräch bringen. Für die Durchsetzung dieser Ziele holte sie sich auch Fridays for Future (FFF) als Bündnispartner mit ins Boot.

Dies hätte die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung eröffnet, die jahrelange Sparpolitik von Bund, Ländern und Kommunen, verbunden mit Privatisierung von großen Teilen des öffentlichen Nahverkehrs, zu durchbrechen. Dies hätte auch eine Perspektive für Millionen von KollegInnen, Arbeitslosen, RentnerInnen, Jugendlichen und MigrantInnen eröffnet, wie der Kampf gegen die Abwälzung der Krisenlasten organisiert werden könnte.

Interessengleichheit?

Während der Tarifrunde appellierte ver.di – ähnlich wie in der im öffentlichen Dienst – immer wieder an die „Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber“ (VKA), dass ein gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr im Interesse beider Seiten liege. Auch hier lautete die Antwort der VKA ähnlich wie im öffentlichen Dienst: Das wäre alles sehr schön, aber es solle am besten nichts kosten. Übersetzt: Wenn die KollegInnen Besserungen bei den Arbeitsbedingungen wünschen, dann sollen sie dies durch Zurückhaltung bei den Löhnen selber zahlen.

Also auch hier müssen die KollegInnen mit weiterhin schlechten Arbeitsbedingungen rechnen und wahrscheinlich auch mit einem neuen Vorstoß, zusätzliche Teile aus dem öffentlichen Dienst auszulagern und diese an private Unternehmen zu vergeben. Der Köder an die Arbeit„geber“Innenseite ging genauso ins Leere wie in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes. Die VKA verfolgte  auch hier ihre Interessen und wollte die Situation infolge schlechterer Mobilisierungsbedingungen aufgrund der Pandemie nutzen, um die Lasten an die Beschäftigten weiterzugeben. Ver.di hingegen hat sich geweigert, diesen Angriff zu kontern und aufzuzeigen, dass die Zukunft des ÖPNV ebenso wie die Frage der ökologischen Umgestaltung untrennbar an Klasseninteressen gebunden sind – an die von VW & Co. oder an unsere!

Die Tarifrunde hätte auch dazu genutzt werden müssen, eine gemeinsame Kampffront mit den Beschäftigten in den privaten Unternehmen zu bilden, gleiche Arbeitsbedingungen und Entgelte im gesamten Nahverkehr durchzusetzen und für die Rekommunalisierung und entschädigungslose Enteignung der privaten Konkurrenz einzutreten. Diese Tarifrunde hätte genauso die Chance geboten, zusammen mit den KollegInnen aus dem öffentlichen Dienst, die in diesem Jahr fast zur gleichen Zeit zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen wurden, gemeinsame Demos, Kundgebungen und Warnstreiks durchzuführen.

Leider wurde diese Chance vergeben. Sicherlich gab es in der einen oder anderen Stadt Initiativen für gemeinsame Warnstreiks mit den KollegInnen aus den privatisierten Unternehmen – wie z. B. in München. Gemeinsame Warnstreiks oder Kundgebungen mit den KollegInnen aus dem öffentlichen Dienst wurden z. B. in Stuttgart durchgeführt. Aber eine ernsthafte gemeinsame Strategie wie gegen die Offensive der öffentlichen Arbeit„geber“Innen in beiden Tarifrunden vorgegangen werden sollte, war bei der bundesweiten Streikleitung nicht vorhanden. Die Gefahr ist jetzt groß, dass  weitere Privatisierungen bei den Kommunen folgen werden, vergrößert durch Schuldenbremse und Sparpolitik.

Im Stich gelassen

Zudem hatte ver.di nach der 3. Verhandlungsrunde im öffentlichen Dienst Ende Oktober 20 einen Abschluss mit den öffentlichen Arbeit„geber“Innen VKA und Bund ausgehandelt, den wir als Niederlage einschätzen. Damit hat die Führung den kleineren Bereich des öffentlichen Nahverkehrs (mit ca. 80.000 Beschäftigten gegenüber ca. 2,3 Mio. im öffentlichen Dienst) sich selbst überlassen, sich gegen die Angriffe der öffentlichen Arbeit„geber“Innen zur Wehr zu setzen.

Vor diesem Hintergrund und im Zusammenhang mit der alten Sozialpartnerschaftspolitik ist es denn auch kein Wunder, dass die bundesweiten Warnstreiks abgebrochen wurden und die einzelnen Landestarifkommissionen auf sich gestellt alleine weitermachten. Einige Tarifkommissionen wie in Bayern versuchten noch, weiter zu streiken – andere wie in Baden-Württemberg unterzeichneten einen Abschluss auf Grundlage dessen vom öffentlichen Dienst, versuchten, das noch als Erfolg hinzustellen und die Einstellung der weiteren Kampfmaßnahmen mit Corona zu entschuldigen: „Aber gegen die Pandemie kamen wir nicht an. Hätten wir jetzt nicht abgeschlossen, wir hätten anfangen müssen, ganz von vorn zu verhandeln. Die steuerfreie Coronaprämie wäre weggefallen. 100 % Weihnachtsgeld wären bestenfalls nächstes Jahr nachgezahlt worden. Und wir hätten streiken müssen. Mehr als bisher … “ (Flugblatt ver.di tv-n-bw busse und bahnen  vom 30.10.2020)

Flickenteppich reloaded

Die Lohnerhöhung entspricht der des öffentlichen Dienstes und stellt damit für viele auch einen Reallohnverzicht dar, auch wenn das Urlaubsgeld etwas erhöht wurde. Zudem gibt es die Wahlmöglichkeit, bis zu 2 Entlastungstage pro Jahr zusätzlich zu nehmen, wovon einer aber von den KollegInnen mit einem Lohnverzicht von 0,5 % selber bezahlt wird! Der bisherige Manteltarifvertrag wurde ohne Änderungen bis zum 31. Dezember 2022 verlängert. Dabei waren gerade hierin die meisten Forderungen nach Entlastung enthalten, die allesamt nicht durchgesetzt wurden!

In Bayern wurde schließlich zwar auch der Abschluss der Tarifrunde öffentlicher Dienst übernommen, aber mit etwas besseren Vereinbarungen zur Coronaprämie für 2020, mit einer Laufzeit bis Ende April 2021 und mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die Tarifrunde im Frühjahr 2021 weiter fortgeführt werden soll.

In den meisten Landestarifverträgen wurden jedoch längere Laufzeiten – teilweise bis 2022 oder 2023 abgeschlossen. Von daher wird es für die KollegInnen sehr schwierig werden, wieder bundesweite einheitliche Forderungen mit gleichzeitigen Arbeitskampfmaßnahmen durchzusetzen.

Auch diese Abschlüsse stellen – genauso wie im öffentlichen Dienst – eine Niederlage dar, nicht nur in Bezug auf die materiellen Ergebnisse, die noch nicht einmal dazu dienen, den Kaufkraftverlust auszugleichen, sondern auch in Hinblick darauf: Wer wird, wenn die Krise richtig zuschlägt, dafür zahlen? Die vielen KollegInnen oder die, die sie verursacht haben – die großen Konzerne und Regierungen! Auch in dieser Tarifrunde – selbst wenn sie in Bezug auf die Forderungen und Vorbereitung kämpferischer aussah als die im öffentlichen Dienst – akzeptiert die ver.di-Führung, dass die Krisenlasten einseitig auf die KollegInnen abgewälzt werden, um letztendlich dem Standort Deutschland im internationalen Konkurrenzkampf einen Vorteil zu verschaffen.

Kontrolle durch die Basis

Auch hier zeigt sich – wie in Bezug auf die Führung der Tarifrunde und auf den Abschluss im öffentlichen Dienst – , dass es immer dringlicher wird, dass die KollegInnen selbst über die Forderungen, über die Vorgehensweise in der Tarifauseinandersetzung und über die Verhandlungen diskutieren und entscheiden müssen. Die Einführung von TarifbotschafterInnen als Delegierte aus den Betrieben und Dienststellen und Zusammenführung in Videokonferenzen war sicherlich ein Schritt, die Vorgehensweise transparenter zu machen. Aber solange die KollegInnen nicht selbst miteinander diskutieren und die Tarifkommissionsmitglieder nicht auf die Umsetzung der Beschlüsse der Beschäftigten verpflichtet werden können, wird es immer zu Abschlüssen kommen, die den Arbeit„geber“Innen nicht zu sehr weh tun und sie noch zusätzlich dazu ermuntern, noch weiterzugehen.




MetallerInnen demonstrieren gegen Schließung des Daimler-Werks in Berlin

Martin Suchanek, Infomail 1129, 10. Dezember 2020

2.500 Arbeiterinnen und Arbeitern droht das Aus. So viele arbeiten – noch – am Berliner Daimler-Standort Marienfelde, viele seit ihrer Ausbildung. Nun steht er auf der Kippe und droht dem globalen Spar- und Rationalisierungskurs der KonzernchefInnen zum Opfer zu fallen. Auch wenn es keinen formellen finalen Schließungsbeschluss gibt, zeichnet sich das Ende der Produktion ab. In Verbrennungsmotoren, deren Komponenten bislang in Berlin gefertigt wurden, soll nicht weiter investiert werden. Von einer Umstellung der Produktion ist bislang nichts bekannt.

So stellt auch der Ruf nach Informationen eine der unmittelbaren Forderungen der Beschäftigten, der Betriebsräte, Vertrauensleute und der IG Metall dar.

Demonstration und Betriebsversammlung

Wie an vielen anderen Daimler-Standorten rief die Gewerkschaft, die noch im Juli dem letzten Sparprogramm zugestimmt hatte, um betriebsbedingte Kündigungen bis 2030 in Deutschland zu verhindern, zu Demonstrationen und Betriebsversammlungen auf.

Am heutigen 9. Dezember wenigstens stehen die Bänder in Berlin-Marienfelde endlich einmal still. Wie schon im November beteiligt sich ein großer Teil der Belegschaft, weit über 1.000 Menschen, an der Demonstration, die vom Werkstor durch den Stadtteil und zurück führt. Anschließend findet eine Online-Betriebsversammlung statt, von der Tausende wenigstens mehr Klarheit erhoffen.

Für die KollegInnen ist es nicht die erste und, wollen sie ihre Arbeitsplätze verteidigen, sicher auch nicht die letzte Aktion. Auf der Homepage der Berliner IG Metall gibt sich der Betriebsratsvorsitzende Michael Rahmel entschlossen: „Wir Daimler-Beschäftigte werden am Mittwoch nicht arbeiten. Wir nehmen uns diesen Tag, um dem Vorstand klar zu zeigen, dass wir uns von ihm nicht abwracken lassen.“

Die vergleichsweise radikale Rhetorik in der Pressemeldung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die IG Metall keine Kampfstrategie zur Verteidigung der Arbeitsplätze hat. Die Forderung nach einem Bekenntnis zur Zukunft des Standortes darf uns nicht weismachen, dass Gewerkschaftsapparat und Betriebsratsspitze durchaus bereit sind, über weitere „Opfer“ zu verhandeln, dem Konzern „entgegenzukommen“. So erklärt Jan Otto, der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Berlin, in derselben Meldung: „Wir erwarten auf der Betriebsversammlung eine klare Ansage des Vorstandes, dass er zumindest Teile des Stilllegungsbeschlusses zurücknimmt, wir mehr Zeit und die Zusage bekommen, dass hier nicht Teile dieses Werkes rasiert werden.“

Mit anderen Worten: Wenn sich der Konzern zum sozialpartnerschaftlichen Ausgleich bereit erklärt, sichern wir den Weihnachtsfrieden in der schönen Daimler-Welt. Schließlich wäre es nicht der erste „sozialverträgliche Umbau“, den Betriebsräte und IG Metall „mit“gestaltet hätten.

Damit, so erinnern die GewerkschaftsrednerInnen auf der Kundgebung die Bosse, wäre Daimler schließlich immer gut gefahren. Irene Schulz, Hauptrednerin auf der Zwischenkundgebung und Mitglied des IG-Metall-Vorstandes, verdeutlich dabei die Taktik der Bürokratie. Einerseits appelliert sie an die KollegInnen, lobt ihren Einsatz, ihre Arbeit und auch ihren Widerstandswillen. Der Konzern müsse wissen, dass er mit deren Kampfkraft zu rechnen hätte.

Andererseits erinnert sie den Konzern daran, dass die Gewerkschaft durchaus Verständnis für die schwere Lage „unseres“ Unternehmens hätte – ganz als würde Daimler irgendwie auch den Beschäftigten oder wenigstens der IG Metall gehören. Diese hätte sich jedenfalls für KurzarbeiterInnengeld und Milliardensubventionen eingesetzt, die Daimler wie der Autoindustrie zugutekamen. Da wäre es doch nur anständig, fair und gerecht, dass der Konzern auch den Standort erhalten würde.

Natürlich weiß auch Schulz, dass es um Fairness und Gerechtigkeit nicht geht, und macht bei dieser Gelegenheit den Standort auch noch schmackhaft. Hier könne die Transformation zur E-Mobilität praktisch und in eine „Brückentechnologie“ investiert werden: den ökologischen Verbrennungsmotor, unfreiwillig doppeldeutig auch als „Umweltverbrenner“ angepriesen. Doch all das Co-Management hilft nichts, schließlich hat Daimler schon ein Management und auch eine Konzernstrategie.

Co-Management schadet

Im Kampf gegen alle Entlassungen und die konzernweite, globale Offensive der Bosse schadet das Co-Management. Das lehrt nicht nur die Erfahrung und jede einigermaßen nüchterne Einschätzung des Kapitalismus.

An diesem Tag wird es regelrecht spürbar. Kampfstimmung will bei den Beschäftigten nicht aufkommen. Sorgen und Existenzangst sind allgegenwärtig, fast noch mehr aber Pessimismus und Perspektivlosigkeit. Die Masse der Demonstrierenden folgt der IG Metall, fühlt sich von „ihrem“ Konzern verlassen und hofft doch darauf, weiter arbeiten zu dürfen.

Jahre des sozialpartnerschaftlichen Kurses, ständig neue Produktivitätsabkommen, Benchmarks (interne Leistungsvergleiche) und stetiges Zurückweichen haben Spuren hinterlassen in Gestalt einer relativ privilegierten Stellung der Kernschichten beim industriellen Exportkapital. Diese arbeiterInnenaristokratischen Schichen bildeten und bilden den Kern der SozialpartnerInnenschaft. Ihre Arbeit prägt einerseits extreme Arbeitsproduktivität, -intensität und damit eine sehr hohe Ausbeutungsrate. Andererseits erhalten sie vergleichsweise hohe Löhne, Sonderzahlungen und Boni. Letztere werden 2020 mit 1000 Euro wohl mager ausfallen im Vergleich mit den Vorjahren – doch die Hoffnung auf ein „gutes“, partnerschaftliches Ende stirbt viel zu langsam.

Die klassenkämpferischen Teile der Belegschaft sind vielmehr ausgedünnt – nicht nur wegen der Verhältnisse in dieser Produktionssphäre, sondern auch weil Betriebsratsbürokratie und IG-Metall-Apparat als politische Polizei, als Ordnungsfaktor für das Kapital wirken – und zwar seit Jahrzehnten. So hoffen die meisten Beschäftigten nicht viel anders als IG Metall und Betriebsrat auf ein Weihnachtswunder der SozialpartnerInnenschaft.

Letztlich flehen diese Apparate das Kapital an, irgendwie die soziale Regulation des Kapitalismus in Deutschland auch über die gegenwärtige Krise retten zu können. Dabei besteht das Neue gerade darin, dass die SozialpartnerInnenschaft und die damit verbundene Stillhaltepolitik auch große Teile der ArbeiterInnenaristokratie, darunter Belegschaften wie bei Daimler-Marienfelde, nicht integrieren, sondern in die Arbeitslosigkeit oder Leitarbeit führen werden.

Globale Offensive

Daimler wie die gesamte Autoindustrie steht vor einer grundlegenden Umstrukturierung, bei der es nicht bloß, ja nicht einmal in erster Linie um die Veränderung der Produktpalette und neue Antriebssysteme geht. Es dreht sich vor allem darum, den Konzern für einen globalen Vernichtungswettkampf mit konkurrierenden Unternehmen fit zu machen. Daher wird gekürzt, Personal abgebaut – und zwar nicht nur, wenn die Wirtschaft strauchelt, sondern selbst wenn Milliardengewinne eingefahren werden.

Die drohende Schließung in Marienfelde stellt selbst einen Teil einer globalen „Sparoffensive“ dar, die einmal mehr auf Kosten der Belegschaften gehen soll, die seit Jahren von einer Produktivitätssteigerung, von einer „Benchmark“ zur anderen getrieben werden.

Erfüllt wurden diese Programme alle – ausgezahlt haben sie sich vor allem für den Weltkonzern. Trotz Umsatzeinbrüchen im Corona-Jahr wartete Daimler lt. FAZ im 3. Quartal mit einer Gewinnerwartung von 3,7 Milliarden Euro vor Steuern auf – mehr als im Vergleichsquartal 2019. Ende 2020 soll sich dieser Trend fortsetzen.

Am milliardenschweren Kürzungsprogramm, dem rund 30.000 Beschäftigte, darunter die Berliner KollegInnen zum Opfer fallen sollen, hält der Konzern fest – „sozialverträglich“, wenn möglich, weniger sozialverträglich, wenn nötig. Offenherzig, wie es sich gegenüber der LeserInnenschaft der FAZ gehört, erklärt die Konzernspitze auch, warum das so ist: „Nicht Wachstum um des Wachstums willen sei das Gebot der Stunde, so betonte Daimler-Vorstandsvorsitzender Ola Källenius in dieser Woche in einer Journalistenrunde, sondern profitables Wachstum.“

Die Corona-Pandemie hat das Unternehmen gut überstanden, insbesondere wegen der raschen Erholung des chinesischen Marktes und der gestiegenen Nachfrage nach luxuriösen Autos. Vor der E-Mobilität soll der Verbrenner die Aktienkurse befeuern. Damit diese weiter steigen und das Wachstum profitabel bleibt, wird zugleich das nächste Kürzungsprogramm durch den Konzern getrieben und der Ruf nach staatlicher Unterstützung bei der Transformation zur E-Mobilität laut.

Welche Politik?

Das Daimler-Management reagiert damit auf die veränderten und verschärften Bedingungen der globalen Konkurrenz. Die sozialpartnerschaftliche Ausrichtung der IG Metall und die Politik des Co-Managements erweisen sich in dieser Lage nicht nur als arbeiterInnenfeindlich. Diese angeblich realistische Politik entpuppt sich als reinster Utopismus, als Beschwörung eines Klassenkompromisses, dessen ökonomische Grundlagen längst der Vergangenheit angehören.

Eine solche Politik demoralisiert, desorientiert und entpolitisiert die Lohnabhängigen. Sie führt zum Rückzug und zur Niederlage. Während die Apparate krampfhaft hoffen, die SozialpartnerInnenschaft und ihre Position als Mittler zwischen Lohnarbeit und Kapital zu halten, sollen die ArbeiterInnen auch noch die Folgen dieser Politik ausbaden.

In dieser Situation wird der Bruch mit der SozialpartnerInnenschaft, mit Co-Management und sozialdemokratischer Unterordnung zur Notwendigkeit, wenn Schließungen, Entlassungen, Flexibilisierung, Kürzung auf dem Rücken der Beschäftigten gestoppt und verhindert werden sollen. Ein solcher Schritt erfordert freilich auch den Bruch mit der Politik der Klassenzusammenarbeit und mit der ArbeiterInnenbürokratie in den Gewerkschaften und Großkonzernen, die diese verkörpert. Dafür ist der Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung nötig, um für eine Erneuerung der Gewerkschaften zu sorgen.

Dies mag vielen in weiter Ferne erscheinen – unrealistisch angesichts des Kräfteverhältnisses und vorherrschenden Bewusstseins der Klasse. Allein, der Schritt ist letztlich alternativlos. Wer eine klassenkämpferische Politik vertritt, kann sicherlich auch verlieren. Wer selbst den Kampf für diese ablehnt oder hinausschieben will, hat jedoch schon verloren.

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht zur Demonstration und zur Aktionswoche gegen drohende Schließungen und Entlassungen bei Daimler: Gegen alle Entlassungen und Schließungen! Stoppt die Angriffe!



Ein paar Gedanken zum „Danni“ – ein Bericht

Leo Drais, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Vorbemerkung: Am 08. Dezember fielen mit dem Barrio „Oben“ die letzten Baumhäuser im „Danni“. Ende November war ich für einige Tage dort gewesen, als noch 4 – 5 Barrios der Rodung standhielten. Dieser Bericht erinnert an diese Zeit.

Woodcracker schneiden Bäume, als wären es Grashalme, werfen sie gleich einem Mikadospiel zu Boden. Die Kettensägen der Harvester kreischen. Nach 20 Sekunden ist eine eben noch stattliche Tanne entastet, geschält und zerteilt. Hunderte Cops stehen hinter Bauzäunen und NATO-Draht. Sie gewähren den schweren Forstmaschinen Geleit, haben selbst mächtige Wasserwerfer, Räumpanzer und Teleskopbühnen mitgebracht. Keine 10 Meter von fallenden Fichten entfernt, in 20 Metern Höhe, klammern sich die letzten Baumhäuser und mit ihnen einige AktivistInnen des Barrios „Morgen“ an Buchen und Eichen fest, die vermutlich älter sind als alle Menschen, die an ihren Wurzeln stehen.

Der Mensch, der in meiner Hörweite die Parents for Future durch den Wald führt, erklärt: „Laut Gesetz muss bei Baumfällungen die doppelte Baumlänge als Sicherheitsabstand eingehalten werden.“ Es ist offensichtlich, dass Bullen und BaumfällerInnen darauf scheißen. EinE AktivistIn wird über mir ins Baumhaus geholt Sie hatte sich außerhalb des Fensters über dem Abgrund festgeklammert, dem SEK den Einsatz schwerer machen wollen. Immerhin: Hier, wo die „Zivilgesellschaft“ sie beobachtet, benehmen sich die Cops einigermaßen. Ich denke an die Geschichten von brutal Weggeschleppten, von getretenen AktivistInnen, von im Baumhaus Zusammengeschlagenen und an voreilig oder vorsätzlich zerschnittene Seile, an denen Menschenleben hingen.

Inhalt im Wald

Vom „Morgen“ aus laufe ich tiefer in den Dannenröder Wald, kraxle durch eine in junge Buchen geschlagene Lichtung, bin bald in „Oben“ angekommen. Hier hatte vor 15 Monaten die Besetzung begonnen, hier wird sie enden. Auf der Suche nach den Inhalten einer heterogenen, anarchistisch dominierten Bewegung stolpere ich durch die Barrios, lese die aufgehängten Transparente. „Carpitalismus“ lese ich irgendwo, mit Anarchie-A – eine Anspielung auf die Macht der kapitalistischen Autoindustrie. Ansonsten finde ich vieles gegen Cops, Kapitalismus, Autobahn und Nazis; Flüche gegen die Grünen, ihren hessischen Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen, Al-Wazir, und Bundesverkehrsminister Scheuer gibt‘s auch. Feminismus, das Leben einer Utopie, die Schönheit des Waldes werden gepriesen.

In „Unterwex“ entdecke ich die auf Stoff gebannte Solidarität mit der kurdischen Bewegung. Sehr selten ist die konkretisierte Form einer Verkehrswende auf den Stofffetzen in den Bäumen zu lesen, lediglich zweimal so was wie „Nahverkehr zum Nulltarif.“ Die Ideen von Enteignung der Verkehrsindustrie, ArbeiterInnenkontrolle oder demokratisch geplantem Verkehr existieren allenfalls als schwacher, kaum sichtbarer Schimmer in dieser kleiner werdenden Parallelwelt, die sich befreit gibt und an deren Unfreiheit sie der behelmte, knüppelnde bürgerliche Staat doch täglich erinnert.

Dann habe ich den Wald durchquert. 300 m waren es vielleicht noch, die die beiden sich aufeinander zu bewegenden Schneisen voneinander trennen. Ein paar Cops stehen wie verloren in der überwältigend breiten Rodungsstrecke. Hier wird heute nicht geräumt. Ich denke an die gestrige Kundgebung, vor allem zwei sinngemäße Aussagen des Redners der Deutschen Umwelthilfe wechseln sich mit meinen Gedanken ab:

  • „Autobahnen sind nicht mehr zeitgemäß“. Waren sie es denn mal? Oder gibt es sie viel eher, weil der Individual- und Schwerlastverkehr dem deutschen Kapital mehr Profite brachte und bringt, als es ein öffentlich organisierter Verkehr je könnte?

Ich denke über diesen Begriff nach: „Zeitgemäß“. Von Fridays for Future bis hierher – das Wort ist populär, obwohl es doch so inhaltsleer ist.

Autobahnen sind gesamtgesellschaftlich irrational. Es bräuchte sie nicht, gäbe es den gut ausgebauten, flächendeckenden Schienenverkehr, gäbe es die nach Bedürfnissen ausgerichtete Produktionsweise und nicht jene nach Profiten zwanghaft lechzende.

Zu sagen, Autobahnen seien „nicht mehr zeitgemäß“, suggeriert doch, dass sie irgendwann mal rational und richtig waren. Damals wie heute machen sie aber nur für den fortwährend beschleunigenden Kapitalismus Sinn, nicht aber für die Menschheit als Ganze.

  • „Die Grünen an der Landesregierung haben uns enttäuscht!“ Tjoa. Enttäuscht ist ja nur, wer anderes erwartet hatte.

Durch meine Fantasie läuft der Paradezug der grünen Partei auf einer frisch asphaltierten Autobahn, angeführt von Habeck und Al-Wazir in einem übergewichtigen E-Auto, angetrieben von Illusionen und falschen Hoffnungen tausender WählerInnen auf eine konsequente Klimapolitik. Der folgende Aufzug präsentiert protzig Bilder: Kosovo, Afghanistan, Agenda 2010, Stuttgart 21, Hambi holzen. Am Schluss des Zuges folgt eine nie endende Schlange Ruß kotzender Lkws, mit dem Holz des Danni beladen. Reste von Baumhäusern hängen an den Stämmen.

Die Grünen sind eine bürgerliche Partei. Schon längst haben sie die Bewegung hinter sich gelassen, auf deren Rücken sie emporstiegen. Sie machen Politik von und fürs BürgerInnentum. Nicht für den Danni. Nicht für‘s Klima. Nein. Sie hoffen auf eine Koalition mit der CDU im Bundestag. Sie machen Politik zuallererst für die bürgerliche Klasse, heißt für deren Eigentum, heißt für deren geheiligte Autoindustrie und streichen sie blassgrün an. All dies heißt: Die A49 wird gebaut (und im Gekreisch der Kettensägen hört man leis‘: „Aber wir, die Grünen, haben das nie gewollt … wir können bloß nicht anders.“

Zurück im Wald. Eine Rodungskante wie ein Abgrund. Mittlerweile liegt Schnee. Es ist der nächste Tag. Auf Plattformen, Konstruktionen und Baumhäusern harren AktivistInnen der Kälte. Die Gesichter sind bemalt, Hände zerschnitten, mit Sekundenkleber und Glitzerkonfetti unkenntlich gemacht. Für manche hat es auch was von Abenteuer: Das SEK holt dich vom Baum. Benimmst du dich, benimmt es sich hoffentlich auch. Die Bereitschaftscops bringen dich aus dem Wald, durchsuchen dich. Platzverweis, Verstoß gegen das Waldschutzgesetz (welch Ironie). Identität? Verweigert. Sind genug AktivistInnen beisammen, fährt ein Bus in die Gefangenensammelstelle (Gesa). Frankfurt. Kassel. Oder woandershin. Kripos durchsuchen dich, versuchen, irgendwas zu deiner Identität rauszukriegen. Fotos. Missglückte Fingerabdrücke … das Glitzerzeug dürfen sie nicht abschrubben. Nach wenigen Stunden: Freilassung. Dann zurück in den Wald. Aber nicht vergessen: Die Ordnungsmacht kann auch anders.

Für die einen hat es was von einem Spiel, für andere bedeutet die Räumung den Verlust von ein bisschen Zuhause. Die Besetzung ist vieles: Eine scheinbar gelebte anarchistische Utopie, die völlig abhängig ist von der kapitalistischen Außenwelt und der – im Verhältnis zur Masse der Lohnabhängigen – auch relativ privilegierten Stellung eines Teils der AktivistInnen. Enthusiastisch sprechen sie, da ist der Danni noch nicht mal gefallen, von Besetzungen in anderen bedrohten Wäldern.

Auch ist das Ganze ein kreativer Protest, der mit bewundernswertem Durchhaltevermögen und Geschick versucht, die Übermacht des Staates zu stoppen. Und klar, über allem schwebt der gegen die bestehende Verkehrspolitik. Aber welche konkrete bräuchte es stattdessen? Und wer soll sie liefern? Diese Antwort scheint großteils anderen überlassen. Ich komme noch darauf zurück.

Und jetzt?

Ich konnte nur ein paar Tage im Wald bleiben. Viele andere waren eine gefühlte Ewigkeit auf den Bäumen oder im Camp am Dorfrand Dannenrods. Seit 40 Jahren kämpft ein Teil der Menschen hier gegen die A49. Ohne deren aufrichtige Unterstützung wäre die Protestform der dauerhaften Besetzung unmöglich – vor beiden Lagern habe ich allein schon fürs Durchhalten großen Respekt. Ihre drohende Niederlage tut mir leid.

Verkürzt wäre es zudem, die Bewegung auf die BürgerInneninitiativen und die Besetzung zu reduzieren. Kinderdemos, Fridays for Future, Ende Gelände, Demos in Berlin, Frankfurt und anderswo sowie Soli-Baumhäuser und (wenig sinnhafte) individualistische Autobahnblockaden in der ganzen Republik rahmen die Proteste gegen Autobahnbau und Verkehrspolitik ein.

Trotzdem fielen tausende Bäume für eine Autobahn. Ist denn ein Sieg unmöglich? Ich glaube nicht. Vielmehr fehlt der Bewegung Entscheidendes, etwas, das nicht durch Kreativität und Durchhalten ersetzt werden kann. Es braucht eine konkrete Perspektive, anstatt auf Instagram zu jammern, dass der Wald so schön sei und nun kaputt gemacht wird.

Was heißt das?

Einerseits die Bewegung lokal vertiefend zu verankern, nicht nur in Form von BürgerInneninitiativen, sondern auch in Betrieben wie Ferrero Stadtallendorf oder MHI-Steine Nieder-Ofleiden (Stadtteil von Homberg im mittelhessischen Vogelsbergkreis), wo der Schotter für die A49 herkommt. Die hier Arbeitenden könnten bspw. für „Gleise statt Autobahn“ gewonnen werden, ebenso wie jene von STRABAG. Ein politischer Streik mit Besetzung der Baustelle durch diese Belegschaften wäre vielfach effektiver als Sitzblockaden vor den Werkstoren.

Andererseits muss die bundesweite Umweltbewegung ebenso auf die ArbeiterInnenklasse zugehen. Tausende Jobstreichungen, Gehaltsverluste und Abwälzen der Krisenkosten auf die Beschäftigten stehen hier an. Warum das nicht nutzen und aus der Umweltbewegung den Startpunkt einer Antikrisenbewegung machen?

Warum nicht sagen: „Die Reichen, die Konzerne und Industrien sollen für die Krise zahlen!“? Keine Entlassung wegen Wirtschaftskrise oder Verkehrswende! Stattdessen: Massive Besteuerung der Gewinne von klimaschädlichen Produktionen, kostenloser Nah- und Berufsverkehr für alle, Umstellung der Produktion auf medizinische Ausrüstung und klimaneutrale Verkehrskonzepte, demokratisch kontrolliert durch die ArbeiterInnenklasse selbst! Für politische Massenstreiks bis hin zum Generalstreik, um dies durchzusetzen!

Natürlich wäre die Entwicklung einer solchen Perspektive etwas in der Bewegung heiß Diskutiertes. Gut so! Nicht zu diskutieren, heißt, die Verkehrspolitik in den Händen von Regierung und Staat zu belassen.

Mich des Erlebten im Danni erinnernd, blicke ich auf dem Heimweg aus dem Fenster der Regionalbahn. Anstatt an die Utopie einer in Bäume gezimmerten Parallelwelt zu glauben, tagträume ich von flächendeckendem kostenlosem Nahverkehr und gut ausgebauten Schienennetzen: Stadtallendorfer Pralinen werden wesentlich mit Güterzügen transportiert, Verkehrswege und Wohnraum werden reorganisiert, entflochten.

Die Verkehrsindustrie und Transportunternehmen sind enteignet, ArbeiterInnen haben die Kontrolle übernommen, setzen eine demokratisch von ihnen selbst geplante ökologisch sinnvolle Notumstellung der Produktion um. Die Arbeitszeit ist bei vollem Lohn auf 30 Stunden in der Woche reduziert, die gesellschaftlich notwendige Arbeit wird auf alle verteilt. Scheuer, Al-Wazir und die Bosse von DEGES, VW und Co. wurden aus ihren Ämtern gejagt. Ihr Staat existiert nicht mehr. Nun forsten sie die Schneise eines Waldes auf eigene Kosten und mit eigener Arbeitskraft wieder auf. Minibagger und Gießkanne statt Dienstwagen und Krawatte heißt das Programm …

Eine Zugbegleiterin weckt mich, fragt nach meinem Ticket. 10 Minuten später habe ich ein Schwarzfahrerticket, 60 Euro, mein Fahrschein sei ungültig. Ein Anruf beim Kundendienst des Verkehrsverbundes beweist mir, dass dessen Angestellte selbst keine Ahnung von den Tarifbestimmungen haben. Sauer lege ich auf. Höchste Eisenbahn, diese antikapitalistische Verkehrswende!




Daimler: Gegen alle Entlassungen und Schließungen! Stoppt die Angriffe!

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1129, 8. Dezember 2020

Das Konzernmanagement stellt alles in Frage: Ganze Standorte sind in Gefahr, Zehntausende Arbeitsplätze sollen gestrichen werden, „Zukunftsverträge“ haben eine Verfallzeit von 2 Jahren und werden schlicht gebrochen, Erpressung wird Methode.

Die Bosse behaupten, es gehe um „Transformation“ zur E-Mobilität. Aber wie immer dreht es sich vorrangig um Profite. Die Verlegung von Konstruktion und Produktion von Motoren und Teilen für Verbrenner nach China hat nichts mit „E-Mobilität“ zu tun, zumal der Aufbau von Elektromotoren und Teilen dafür ebenfalls vorrangig im Ausland stattfinden soll.

Die Bosse behaupten, sie würden so handeln, um die Zukunft des Unternehmens zu sichern. Das haben sie auch gesagt, als sie am Verbrenner festhielten, obwohl klar war, dass die Klimakatastrophe die Zukunft der Menschheit gefährdet. Sie haben lieber bei der Abgasmessung betrogen.

Sie haben auch von der Zukunft des Unternehmens gesprochen, als sie wieder und wieder Opfer von den Belegschaften verlangt haben. Das Ergebnis ist, dass unsere Arbeitsplätze so bedroht sind wie noch nie. Wieso sollten wir heute ihren neuen Versprechungen glauben?

Vom Protest zum Widerstand

Zwei Dinge gilt es aus dieser Erfahrung zu lernen: Wir müssen unsere Interessen selber verteidigen und uns selbst um unsere Zukunft kümmern!

Es macht keinen Sinn, dass die Betriebsräte erneut über die Zumutungen der Bosse verhandeln und ihren Angriffen zuzustimmen, um im Gegenzug die schlimmsten sozialen Härten zu vermeiden oder wieder neue Versprechungen zu erhalten, die nicht eingehalten werden.

Die Daimler-Belegschaften haben in den letzten Wochen gezeigt, dass sie zu breiten Protesten fähig sind. Das ist ein gutes Zeichen! Das kann auch das Beispiel für andere ArbeiterInnen in der Auto- und Zulieferbranche sein! Das kann auch die IG Metall beleben, die das ganze Jahr wie scheintot gewirkt hat.

Es reicht aber nicht, mehr Postkarten auszufüllen oder Protestversammlungen zu organisieren. Wir müssen den Bossen klarmachen, dass wir die Macht haben, ihre Profitmaschine zu stoppen, ihre Umstrukturierungen, Kürzungen, Entlassungen und Schließungen zu blockieren oder ihre Entscheidungsmacht einzuschränken.

Dieser Widerstand muss konzernweit organisiert werden, alle Belegschaften müssen mitmachen. Am besten sollten auch die Werke in anderen Ländern einbezogen werden, wie im französischen Hambach, das jetzt abgestoßen werden soll, um letztlich dichtgemacht zu werden. Wenn alle Belegschaften gemeinsam handeln, können uns die Bosse nicht weiter gegeneinander ausspielen.

Natürlich müssen sich die Belegschaften koordinieren. Das können wir nicht nur den Betriebsräten Gesamtbetriebsräten und Gewerkschaftsführungen überlassen, die sehr tief in die „Partnerschaft“ mit den Bossen verstrickt sind. Das müssen also insbesondere auch die Gewerkschaftsmitglieder und Vertrauensleute tun. Dafür müssen sie auch Initiative und Ideen entwickeln. Vertrauensleute und Betriebsräte, die auf SozialpartnerInnenschaft und „Kompromisse“ mit den Bossen setzen, müssen letztlich durch klassenkämpferische KollegInnen ersetzt werden, die den Belegschaften verantwortlich sind.

Wir brauchen also:

  • Vollversammlungen in allen Betrieben und Werken, einschließlich der LeiharbeiterInnen
  • Aktionskomitees in allen Werken und Werksteilen, die von diesen gewählt, abwählbar und ihnen rechenschaftspflichtig sind
  • bundesweite und internationale Koordination
  • ein demokratisch beschlossenes Kampfprogramm gegen alle Angriffe: einschließlich Demonstrationen, Blockaden, Streiks und Besetzungen.

Die derzeitigen Angriffe finden nicht nur bei Daimler statt: Die ganze Autobranche, ja alle Sparten der Wirtschaft sind davon betroffen. Überall führen die „Lösungen“ der KonzernchefInnen zu neuen sozialen und ökologischen Katastrophen. So ist jetzt schon klar, dass das E-Auto keine Arbeitsplätze wirklich sichert und außerdem neue ökologische Probleme schafft.

Zukunft selbst in die Hand nehmen

IG Metall und Betriebsräte müssen also aufhören, immer die „Strategie“ der Konzerne mitzumachen: Sie haben am Verbrenner festgehalten, bis wir uns alle die Finger verbrannt haben. Sie haben zu Abgasbetrug geschwiegen und keine Umrüstung verlangt – alles zum Schaden der KäuferInnen. Sie waren für große Volumen statt Effizienz und Ressourcenersparnis. Und jetzt wieder die gleiche Gläubigkeit beim E-Auto!

Unsere Gewerkschaft müsste vielmehr endlich die Debatte starten, wie die Zukunft der Mobilität aussieht, wie Verkehrssysteme vernetzt, wie die verschiedenen Bedürfnisse auf dem Land und in den Metropolen ökologisch erfüllt werden können.

Die Entscheidung darüber können wir nicht dem Kapital überlassen. Solange die Profitmaximierung der Zweck der Produktion ist, werden Beschäftigte und Umwelt auf der Strecke bleiben. Daher muss die Kontrolle über die Produktion, über Forschung und Entwicklung den UnternehmerInnen entrissen werden, denn unsere Interessen als ArbeiterInnen und VerbraucherInnen sind grundsätzlich andere als jene der KapitalistInnen, ja diesen entgegengesetzt.

Um eine solche ArbeiterInnenkontrolle durchzusetzen, brauchen wir dauerhafte Macht in den Betrieben: das Recht, gegen gesundheitsgefährdende Produktion einzuschreiten, gegen Stilllegungen, Verlagerungen und Entlassungen (auch von LeiharbeiterInnen) vorzugehen. Betriebe oder Werksteile, die stillgelegt werden sollen, müssen entschädigungslos enteignet und unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.

Letztlich ist eine ökologische Erneuerung des Verkehrswesens nur möglich, wenn die großen Konzerne unter Kontrolle der Beschäftigten verstaatlich werden, Forschung, Entwicklung wie überhaupt das gesamte Energie- und Transportwesen unter Kontrolle der ArbeiterInnen gestellt werden.

Dahin ist es sicher noch ein weiter Weg – aber der Kampf gegen Entlassungen, Kürzungen, Sparprogramme erfordert letztlich eine gesellschaftliche Antwort für die gesamte Autoindustrie, ja für die gesamte Wirtschaft.

Diese wird letztlich auch unserem Abwehrkampf zugutekommen, weil die Probleme, die sich für die Zukunft bei Daimler stellen, auch in den meisten anderen Betrieben und für die Gesellschaft existieren.

Wir rufen alle, die sich gegen die Angriffe der KapitalistInnen wehren wollen, auf, die Solidarität gegen diese mit der Arbeit an einer Zukunftsperspektive zu verbinden. Wir schlagen vor, ein Solidaritäts- und Aktionskomitee zu bilden, um den Abwehrkampf bei Daimler zu unterstützen.

Kontakt: gegenwehr@arbeitermacht.de




Frankreich: Nieder mit den „Sicherheits“-Gesetzen und der Straffreiheit der Polizei!

Marc Lassalle, Infomail 1128, 1. Dezember 2020

Die zweite Welle der Pandemie, verbunden mit einem zweiten monatelangen Shutdown, stellt sicherlich bei weitem nicht die beste Voraussetzung dar, um einen Abwehrkampf gegen das drakonische neue Sicherheitsgesetz von Staatspräsident Emmanuel Macron zu organisieren. Doch seine Regierung sieht sich plötzlich mit großem Widerstand konfrontiert: Mehr als hunderttausend marschierten am 28. November in Dutzenden von Demonstrationen im ganzen Land. Allein in Paris war die Demonstration massiv, und selbst das Innenministerium, das dafür berüchtigt ist, solche Zahlen herunterzuspielen, sprach von 46.000 daran teilnehmenden Menschen. Nach Angaben der OrganisatorInnen beteiligten sich 200.000!

Die Menschen auf den Straßen haben absolut Recht, das neue ultrarepressive Sicherheitsgesetz abzulehnen. Sollte es angenommen werden, würde es jede/n bestrafen, der/die Bilder von PolizistInnen mit dem Ziel verbreitet, „ihre physische oder psychische Integrität zu gefährden“. Natürlich sind die Bestimmungen absichtlich vage gehalten, aber wenn es angenommen würde, würde es die Rechte von JournalistInnen ernsthaft einschränken, ebenso wie die Freiheit von allen Menschen, missbräuchliche oder gewalttätige Handlungen der Polizei als Beweismittel für eine Anzeige zu filmen.

„Auf dem Weg zu einem Polizeistaat?“ lautet der Titel einer Analyse dieses Gesetzes, die vom Syndicat de la Magistrature, der Gewerkschaft der RichterInnen, erstellt wurde und in der behauptet wird, dass das Gesetz jede demokratische Kontrolle der Polizei noch weiter schwächen würde. Gérald Darmanin, Innenminister und Hauptbefürworter dieses Gesetzes, hatte den VertreterInnen der Polizei bereits vor der Abstimmung über das Gesetz in der Assemblée Nationale (dem französischen Parlament) versichert: „Seien Sie versichert, dass wir zusammen mit dem Präsidenten und dem Premierminister immer da sein werden, um Sie zu schützen.“

Laut der NGO-ReporterInnen von Sans Frontières (Ohne Grenzen) „könnten die PolizeibeamtInnen, wenn sie mit einem/r JournalistIn konfrontiert werden, der/die sie filmt, davon ausgehen, dass diese Bilder in großem Umfang mit dem Ziel reproduziert werden, sie zu kompromittieren, und könnten daher die betreffenden Personen festnehmen, um sie wegen eines offensichtlichen Vergehens zu verfolgen“. In der Tat hat Darmanin bereits klargestellt, dass JournalistInnen, die über Demonstrationen berichten wollen, sich bei den Polizeibehörden akkreditieren sollten, was eine weitere offensichtliche Verletzung der Rechte der Presse darstellt.

Tagtägliche Polizeigewalt und Rassismus

Zwei aktuelle Beispiel von Polizeimethoden machen deutlich, warum jede/r die bestehenden Rechte verteidigen sollte. Die erste ereignete sich am 24. November, als die Polizei etwa hundert MigrantInnen, die auf dem Place de la République (Platz der Republik) im Zentrum von Paris Zelte aufgeschlagen hatten, gewaltsam vertrieb. Einige MigrantInnen wurden brutal zu Boden geworfen, andere wie Müll aus ihren Zelten gezerrt, mit Schlagstöcken geschlagen und mit Tränengas besprüht. Selbst Darmanin fühlte sich genötigt, diese Bilder als „schockierend“ zu bezeichnen. Natürlich stellt das keinen „Einzelfall“ dar, sondern war und ist seit Monaten alltägliche Praxis im Umgang mit MigrantInnen und Roma, die zu Tausenden aus maroden Lagern rund um Paris und anderswo vertrieben wurden.

Der gewalttätige Überfall von vier PolizistInnen auf den (schwarzen) Musikproduzenten Michel Zecler, nur weil er keine Gesichtsmaske trug, begleitet von rassistischen Beleidigungen, erinnert uns ein weiteres Mal daran, dass Polizeibrutalität kein Einzelfall ist. Ohne diese Bilder wären diese Übergriffe unbekannt oder unbewiesen geblieben, und die Polizei würde von völliger Straffreiheit profitieren. Als Reaktion auf den Protest von „Black Lives Matter“ in den USA marschierten im Juni zwanzigtausend Menschen in Paris, um diese systematische Anwendung staatlicher Gewalt anzuprangern, wie z. B. den Erstickungstod von Adama Traoré im Jahr 2016 im Polizeigewahrsam, oder die Vergewaltigung eines jungen Mannes, Théo, mit einem Schlagstock, der so schwer verletzt wurde, dass er operiert werden musste usw. Beides geschah in Aulnay-sous-Bois im Norden von Paris.

Das neue Sicherheitsgesetz ist nur das letzte in einer langen Liste repressiver Maßnahmen, die oft im Gefolge von Terroranschlägen überstürzt eingeführt wurden: 30 solcher Gesetze in den letzten 20 Jahren. Vor einem Monat schockierte der brutale Mord an Samuel Paty, einem Lehrer, bei einem Terroranschlag das ganze Land. Diesen Schock versuchte die Regierung für repressive Gesetze zu missbrauchen – unter dem Vorwand, die „Meinungsfreiheit“ zu verteidigen – ein makaberer Witz, wenn man bedenkt, was sie selbst tut: das Arsenal der Sicherheitsgesetze zu verstärken und eine brutale Unterdrückung jeglicher Proteste vorzubereiten.

Dasselbe geschah unter allen früheren Präsidenten: Jacques Chirac, dann Nicolas Sarkozy und François Hollande. Abgesehen von der Stärkung eines Polizeistaates haben diese Maßnahmen auch ein kurzfristigeres Ziel: Sie zielen darauf ab, die rechten WählerInnen und sogar die AnhängerInnen des reaktionären Rassemblement National (des ehemaligen Front National; FN) davon zu überzeugen, dass Macron eine energische rechte Politik verfolgt und sie deshalb bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 für ihn stimmen sollten. Es ist kein Zufall, dass alle wichtigen MinisterInnen der gegenwärtigen Regierung Macrons früher Persönlichkeiten der rechtsgaullistischen Partei UMP (Union pour un mouvement populaire; Union für eine Volksbewegung) waren, insbesondere Jean Castex (Premierminister), Gérald Darmanin (Innenministerium) und Bruno Le Maire (Wirtschaft).

Ein weiteres kürzlich von der Regierung vorgeschlagenes Gesetz gegen „Separatismus“ (gegen „antirepublikanisches Gedankengut“) stellt in Wirklichkeit ein weiteres islamfeindliches Gesetz dar, das nahelegen soll, dass der Islam unweigerlich hinter Unsicherheit und Terrorismus steht. Hinzu kommen eine weit verbreitete, von der Regierung geförderte Hexenjagd in den Medien, die Halal-Regale (mit Lebensmitteln gemäß islamischem Kodex) in Supermärkten als Zeichen von „Separatismus“ anprangert, Angriffe auf die „Islamo-Linke“ als gefährlichen Wundbrand an Universitäten oder die Schließung des Kollektivs gegen Islamophobie (CCIF), einer Organisation zur Verteidigung der Opfer antimuslimischer Angriffe.

Während die Regierung nun kleinere symbolische Gesetzesänderungen anbietet, fordern die Gewerkschaften zu Recht Einstellung und Aufgabe des gesamten Projekts. Die Solidarität zwischen allen Opfern des Rassismus und der organisierten ArbeiterInnenklasse ist unerlässlich für diesen Kampf. Angesichts einer neuen Welle von Massenentlassungen in wichtigen Unternehmen wie Renault, das die Schließung seines Werks in Flins, seines wichtigsten französischen Standorts, mit einem Verlust von 2.574 Arbeitsplätzen plant, wird das neue Sicherheitsgesetz morgen gegen ArbeiterInnen und Jugendliche in Streikposten, bei Betriebsbesetzungen oder auf der Straße eingesetzt werden, die ihre Arbeitsplätze und ihre demokratischen Rechte verteidigen.

Die Demonstrationen vom letzten Wochenende können zum Fanal für den Aufbau einer gemeinsamen Massenbewegung werden – gegen die sog. Sicherheitsgesetze, gegen Rassismus und zum Kampf gegen Schließungen und Massenentlassungen!