25 Jahre Trend-Online: Aufgaben der „Klassenlinken“

Martin Suchanek, Infomail 1133, 4. Januar 2020

Politische Nachrufe nehmen oft die Form einer kritischen Würdigung an und münden in Lehren und Folgerungen für eine – hoffentlich – bessere Zukunft. Dem Format wollen oder können wir uns im Beitrag zu letzten Ausgabe der Trend-Online-Zeitung auch nicht entziehen.

Wer 25 Jahre lang ein Magazin herausbrachte, das von unterschiedlichen Strömungen und Personen der „radikalen Linken“ als Medium genutzt wurde, muss auch etwas richtig gemacht haben. In jedem Fall hat Trend-Online einem realen Bedürfnis einer politisch zersplitterten Linken links von der Sozialdemokratie Rechnung getragen – dem Bedürfnis, ein breiteres Publikum zu erreichen, als es die eigenen Organe vermochten, wie auch dem nach Austausch und Diskussion. Trend-Online stellte somit auch einen Ansatzpunkt dar, eine Art Gegenöffentlichkeit zur bürgerlichen herzustellen.

Dies bildete natürlich kein Alleinstellungsmerkmal. Andere Plattformen waren und sind jedoch entweder auf bestimmte Formen der Auseinandersetzungen zentriert – wie z. B. das Labournet – oder sie wurden wie indymedia faktisch zum exklusiven Privatmedium einer bestimmten ideologischen Strömung – im konkreten Falle von indymedia eines libertären, anarchistischen, mehr oder minder autonomen Sektors der „radikalen“ Linken, der schon bald Statements und Positionspapiere von Gruppen, zumal von „autoritären“, blockierte.

Natürlich war auch Trend-Online nie eine „über den Parteien und Strömungen“ stehende, vorgebliche selbstlose Plattform. Und das war gut so. Anders als z. B. indymedia proklamierte das Trend-Online nicht. Schließlich stellt die Behauptung, dass es ein solches, vorgeblich neutrales, über den verschiedenen Gruppierungen der antikapitalistischen Linken stehendes Medium überhaupt geben könne, im besten Fall eine ideologische Selbsttäuschung dar – oft genug eine schlichte Lüge, mit der sich missliebige Strömungen unpolitisch ausschließen lassen.

Trend-Online stand es gut zu Gesicht, nie vorzugeben, dass es nicht selbst Partei und parteiisch wäre, nicht selbst Teil einer seit Jahrzehnten auf das Stadium kleiner Propagandagesellschaften, Zirkel oder „Sekten“ zurückgeworfenen subjektiv, also dem eigenen Anspruch nach, revolutionären Linken.

Trend-Online bot in den letzten Jahren den von der Redaktion selbst „Klassenlinke“ bezeichneten Gruppierungen ein Forum, die sie sonst nicht gehabt hätten, da sie in weiten Teilen der kleinbürgerlich geprägten „radikalen“ Linken der Bundesrepublik selbst ausgegrenzt werden. Innerhalb der „Klassenlinken“ stand die Trend-Online-Redaktion dem Maoismus näher als jeder anderen Strömung. Aber sie erfüllte ihr Ziel einer strömungsübergreifenden Veröffentlichungspolitik weitgehend, jedenfalls weit mehr als alle sog. antiautoritären Plattformen.

Für viele kleinbürgerlich-(post)autonom geprägte „Linksradikale“ mag das paradox erscheinen – und paradox ist dies auch von einem Standpunkt aus, für den das revolutionäre Subjekt letztlich eine Sammlung von Individuen darstellt. Für eine marxistische, also klassenpolitische, Linke hingegen bedeutet das revolutionäre Subjekt immer ein Klassensubjekt, nicht bloß eine Sammlung von mehr oder weniger vielen Menschen guten Willens.

Daher erfordert die Herausbildung eines solchen Subjekts – des Werdens einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich – immer eine Verbindung zu den Grundfragen von Theorie, Programm, Strategie, Taktik und des Aufbaus einer revolutionären Partei und Internationale in einer konkreten geschichtlichen Lage.

Trend-Online wollte einen Beitrag zur Lösung dieser ungelösten Hauptaufgabe der kommunistischen Linken leisten und versuchte z. B., in den NaO-Prozess einzugreifen, aus dem der „Arbeitskreis Kapitalismus aufheben“ (AKKA) entgegen der Einwände der Gruppe ArbeiterInnenmacht sehr früh ausgegrenzt wurde.

Unabhängig davon zeigten sich in der Programm- und Organisationsfrage aber auch Schwächen und Grenzen des Projekts. Trend-Online bot zwar eine Tribüne, aber es organisierte weder eine darüber hinausgehende Diskussion noch vertrat es eigene politische und programmatische Vorschläge zur Überwindung der Zersplitterung der „Klassenlinken“. Im Grunde, so unsere Kritik, erhoffte sich die Redaktion eine organische Zusammenführung von Positionen, die aus guten Gründen, also aufgrund realer und ernster theoretischer und programmatischer Differenzen, als verschiedene Organisationen existieren.

Eine Vereinigung solcher Gruppierungen bzw. deren Neuzusammensetzung in einer größeren, revolutionären Organisation kann jedoch, so unsere Erfahrung, nur durch eine Verbindung von gemeinsamer Aktion/Praxis und theoretischer und programmatischer Klärung erfolgen, also durch die Vereinheitlichung auf Basis eines revolutionären Programms.

Ansonsten existieren unterschiedliche, letztlich in verschiedene Richtungen drängende Gruppierungen unter einem Dach ohne theoretisch fundierte Grundlage weiter. Eine davon angeleitete, gemeinsame Praxis wie auch die Verallgemeinerung kollektiver Erfahrung ist ohne diesen gemeinsamen Bezugsrahmen letztlich jedoch unmöglich. Einer solchen Konstruktion steht das Zerfallsdatum schon eingeschrieben.

In der Online-Zeitung äußerte sich diese Problem letztlich nur indirekt, in deren Erscheinungsform. Alle möglichen Beiträge unterschiedlicher Gruppen standen oft unvermittelt nebeneinander, quasi als  „klassenlinke“ Rundschau, als Sammlung von Statements, teilweise auch als innere Nabelschau und als Update neuester Spaltungen samt politischer Schmutzwäsche.

Es wäre ungerecht, diese Probleme bloß Trend-Online anzulasten. Die Veröffentlichungspraxis reflektierte schließlich nicht nur dessen Redaktion, sondern auch die „Klassenlinke“ selbst – und damit deren eigene Schwächen. Sie existiert weitgehend unvermittelt voneinander, weil sie Zusammenarbeit und Kritik oft genug als einander ausschließende Faktoren betrachtet. Das hat zwar mit Marxismus, Leninismus oder Trotzkismus wenig zu tun – umso mehr aber mit der politischen Dünnhäutigkeit und theoretischen wie programmatischen Dürftigkeit eines großen Teils der „radikalen“ Linken. Diesem hielt Trend-Online zum Teil den Spiegel vor Augen, kam aber über die Bespiegelung nicht wirklich hinaus.

Dabei wäre das dringend nötig – und mit einigen Gedanken und zur Diskussion dieser Frage wollen wir schließen. Die aktuelle Mehrfachkrise des Kapitalismus – globale Rezession; Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten; drohende ökologische Katastrophe und die Pandemie, die mittlerweile schon 1,8 Millionen Tote gefordert hat – erfordern eigentlich ein koordiniertes, bundesweites wie internationales Eingreifen der „Klassenlinken“. Dazu braucht es unserer Meinung nach eine Verständigung über ein Aktionsprogramm, also zentrale ökonomische, soziale und politische Forderungen sowie eine Politik der Einheitsfront gegenüber den Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse. An dieser Stelle wollen wir nur kurz auf unser Corona und Krise: Aktionsprogramm für die ArbeiterInnenklasse! verweisen.

Nicht minder wichtig und damit verbunden, bedarf es einer Diskussion zu theoretischen und programmatischen Grundfragen revolutionärer Politik. Mit der neuesten Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“ widmen wir uns einem solchen Themenkomplex, der Frage des Imperialismus, der marxistischen Theorie, ihrer Aktualität, aber auch der Notwendigkeit ihrer Aktualisierung. Dazu werden wir im kommenden Halbjahr auch eine Reihe von Online-Veranstaltungen durchführen. Wir hoffen, so einen Beitrag zur politischen Stärkung, Formierung und zur revolutionären Vereinheitlichung einer „Klassenlinken“ zu leisten, die in nicht allzu ferner Zukunft das Stadium des Zirkelwesens zu überwinden fähig ist.

Redaktioneller Hinweis

Der Artikel erschien ursprünglich in Nr. 1/2021 der von Trend-online Zeitung. Alle Ausgaben von Trend-online sind weiter als Archiv auf http://www.infopartisan.net/ zugänglich.




Politisch-ökonomische Perspektiven für Deutschland

Jahreskonferenz der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Oktober 2020, Revolutionärerer Marxismus 53, November 2020

Vorbemerkung

Der folgende Text beginnt mit einer ausführlicheren Darstellung der internationalen Lage und von Schlüsselfragen für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten. Wir halten dies aus mehreren Gründen für geboten.

Erstens muss jede politisch-ökonomische Perspektive vom kapitalistischen Gesamtsystem, also von der internationalen Lage ausgehen. Das trifft auf eine Krisenperiode, in der sich die gesamte Weltwirtschaft, alle Nationalökonomien in einer Rezession befinden und wo es keinen rein nationalen Ausweg geben kann, erst recht zu. Drittens gilt das noch viel mehr für eine imperialistische Exportnation und Führungsmacht einer krisengeschüttelten EU.

Viertens werden erst aus der internationalen Betrachtung die Unterschiede, Besonderheiten, aber auch die Relativität der „nationalen“ Verhältnisse deutlich. Die internationale Lage bildet letztlich den entscheidenden Gesamtrahmen auch für den deutschen Imperialismus und damit für alle gesellschaftlichen Verhältnisse.

1. Internationale Lage und Schlüsselaufgaben

Die Weltlage ist von einer akuten globalen Krise gekennzeichnet. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 erlebten alle Länder einen massiven Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und der Industrieproduktion. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzte im Juni 2020, dass das globale BIP im Laufe des Jahres um 4,9 Prozent schrumpfen wird. Jenes der USA würde um rund 8 Prozent zurückgehen, das der Europäischen Union (EU) um durchschnittlich 10,2 Prozent. Das chinesische Wachstum wird für 2020 auf 1,0 Prozent geschätzt. All dies basiert auf der eher fragwürdigen Annahme, dass es keine zweite Welle der SARS-CoV-2-Pandemie geben wird.

Eine solche ist jedoch durchaus wahrscheinlich. Ende August waren mehr als 25 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Die Pandemie breitet sich weiter aus – und zwar immer stärker in den halbkolonialen Ländern. Nach offiziellen Zahlen sind diesen Infektionen mittlerweile rund 850.000 Menschen zum Opfer gefallen. Die Dunkelziffer liegt sicher deutlich höher. Auch wenn das Virus die globale ökonomische Krise nicht verursacht hat, so hat es diese befeuert und vor allem auch dazu beigetragen, dass praktisch alle Länder von ihr gleichzeitig erfasst wurden (anders als bei der letzten globalen Krise). Folgerichtig kam es zu einem massiven Niedergang des Welthandels und des Weltmarktes. Somit brach einer der wichtigsten Faktoren weg, der die Weltwirtschaft trotz struktureller Überakkumulation in den letzten Jahren am Laufen hielt.

In dieser Situation versuchen die Regierungen und Zentralbanken der reichen, imperialistischen Länder, das Schlimmste mit Milliarden von Dollar, Euro oder Yuan (Renminbi) zu verhindern, um ihre Wirtschaft anzukurbeln – mit anderen Worten, um die Großindustrie, den Handel und das Finanzkapital vor dem Zusammenbruch zu schützen.

Zur Zeit bremsen die Konjunkturpakete der großen Mächte noch die verheerenden Effekte der Krise. Teile dieser Pakete werden auch verwendet, um die Auswirkungen auf Teile der Mittelschicht, der Kleinbourgeoisie und selbst auf die ArbeiterInnenklasse abzufedern. Es ist jedoch klar, dass die Kosten für diese Maßnahmen von den Lohnabhängigen, ja selbst den Mittelschichten und dem KleinbürgerInnentum, der Bevölkerung der halbkolonialen Welt bezahlt werden und dass große Mengen überschüssigen Kapitals vernichtet werden müssen. Das heißt, wir stehen erst am Beginn einer Krise, deren negative Auswirkungen auf die Massen noch weit dramatischer geraten werden, obwohl sie teilweise schon jetzt historische Dimensionen annehmen.

Prägendes Merkmal wird in nächster Zeit der Kampf unter den imperialistischen bzw. Regionalmächten um die Neuaufteilung von Märkten sein und letztlich um die Frage, wer post-Covid-19 im globalen Wettbewerb den Hut auf hat. Dieser Kampf ist naturgemäß destruktiv und kann die Krise ökonomisch und politisch zuspitzen, ein Beispiel ist der Ölpreiskrieg zwischen Russland und Saudi-Arabien. Dieser Konflikt verschärfte auch die Lage an den Ölmärkten. Es war aber vor allem die massive Überproduktion von Rohöl in den USA, die am 19./20. April den Kurs für WTI-Futures (Terminkontrakte für ein eine Sorte von leichtem, an den US-Börsen gehandeltem Rohöl, die einen wichtigen Index für den Rohölpreis in den USA darstellen) zeitweise unter Null gedrückt hat und weitere Erschütterungen an den Finanzmärkten auslöste.

Folgen für die Lohnabhängigen

Ganz sicher werden die Herrschenden nicht die Einkommen und das Leben der Masse der ArbeiteInnenklasse schützen, ganz zu schweigen von ihren am meisten unterdrückten Teilen wie der Schwarzen und People of Colour in den USA oder den ArbeitsmigrantInnen in Europa. Mehr als 40 Millionen Arbeitslose in den USA machen deutlich, womit wir es zu tun haben. In Großbritannien berichtete das Amt für nationale Statistik am 15. Mai, dass die Zahl der Anträge auf Arbeitslosenunterstützung auf 2,1 Millionen gestiegen ist, den höchsten Stand seit 1996. Am 14. Juni arbeiteten rund 9,1 Millionen Beschäftigte nicht, sondern waren im Rahmen des Arbeitsbeibehaltungsprogramms der Regierung „beurlaubt“.

Lohnkürzungen und verstärkte Ausbeutung wie die Verlängerung des Arbeitstages werden für diejenigen, die noch arbeiten, die Norm sein. Dramatische Kürzungen bei Löhnen, Transferleistungen und sozialen Diensten: so sieht die Zukunft für Arbeitslose und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen aus. Für die KapitalistInnen stehen der Schutz der Bevölkerung, die Sicherung von Einkommen und Gesundheit, nicht im Vordergrund. Ganz im Gegenteil, die schwarze Bevölkerung in den USA hat die höchste Todesrate des Coronavirus zu tragen. Die Bourgeoisie drängt darauf, die Wirtschaft für ihre Profitmacherei um fast jeden Preis wieder zu öffnen.

Ende April warnte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), dass 1,6 Milliarden Beschäftigte in der informellen Wirtschaft, fast die Hälfte der weltweiten Erwerbsbevölkerung, unmittelbar von der Zerstörung ihrer Existenzgrundlage bedroht seien. „Der erste Monat der Krise hat schätzungsweise zu einem Rückgang des Einkommens der informellen ArbeiterInnen weltweit um 60 Prozent geführt. Von diesem Rückgang sind 81 Prozent in Afrika und Amerika, 21,6 Prozent in Asien und dem Pazifik und 70 Prozent in Europa und Zentralasien betroffen.“

Dabei bedeutet all das keinesfalls, dass es überhaupt keine Maßnahmen gäbe, die Last der Krise und der Pandemie für die ArbeiterInnenklasse zu mildern. Viele imperialistische Länder haben Kurzarbeit oder Zwangsbeurlaubung für 2020 zu 60 bis 80 Prozent des vorherigen Lohns angesetzt; ebenso haben einige Länder Formen der staatlichen Planung im Gesundheitssektor eingeführt, um das Schlimmste zu verhindern.

Solche Maßnahmen sollten jedoch nicht mit einer Hinwendung zur Umverteilung von Reichtum verwechselt, sondern müssen vielmehr als Teil einer Politik zur Verteidigung des längerfristigen allgemeinen Interesses des Kapitals verstanden werden. Der normale Kapitalkreislauf ist unterbrochen worden und wird wahrscheinlich wieder unterbrochen werden, so dass ein „freies“ Spiel der Marktkräfte die Sache noch verschlimmern würde. In dieser Situation muss der Staat eingreifen. Aber es ist klar, dass dies nur vorübergehend sein wird.

Wir können bereits jetzt Schlüsselelemente beobachten, wie die ArbeiterInnenklasse die Kosten zu tragen hat, sogar in den imperialistischen Kerngebieten: Forderungen nach einer Durchlöcherung der arbeitsrechtlichen Standards; Schließung ganzer Standorte; weitere Verlagerungen ganzer Standorte in sogenannte Best Cost Countries; Massenentlassungen bzw. die Drohung mit diesen; Reduzierung der Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen und Kultur und schließlich neue Privatisierungswellen. Aber es ist auch klar, dass die Krise nicht nur die Widersprüche zwischen den GroßkapitalistInnen in der imperialistischen Welt und ihren Staaten massiv verschärfen wird, sondern auch den Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

Lage in den Halbkolonien und der Unterdrückten

Die Pandemie und die Wirtschaftskrise werden die halbkolonialen Länder dabei noch härter treffen als die imperialistischen Kernländer.

Erstens sind ihre Gesundheitssysteme durch Neoliberalismus, Sparmaßnahmen und imperialistische Ausplünderung noch stärker als in den kapitalistischen Zentren heruntergewirtschaftet worden. In den meisten dieser Länder gibt es kaum ein Gesundheitssystem für die Armen, die ArbeiterInnenklasse, die Bauern/Bäuerinnen oder sogar große Teile der Kleinbourgeoisie.

Zweitens ist die ArbeiterInnenklasse mit einem anderen System der Ausbeutung konfrontiert. Die meisten LohnarbeiterInnen werden in ein Vertragssystem gezwungen, in unsichere, prekäre Arbeitsverhältnisse, oft ohne jegliche Kranken- und Sozialversicherung. Das bedeutet, dass Millionen und Abermillionen mit Armut, Hunger und Unterernährung konfrontiert oder gezwungen sind, weiterhin unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen zu arbeiten.

Drittens wird die Landfrage (und damit implizit auch die Umweltfrage) eine noch schärfere Form annehmen. Die extreme Ungleichmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung wird die Situation in einer Reihe der fortgeschrittensten Halbkolonien mit großen ArbeiterInnenklassen und gleichzeitig einer riesigen Landbevölkerung und Agrarsektoren, die selbst voller innerer Widersprüche sind, sehr explosiv machen. Selbst in China kann diese extreme Form der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung eine explosive und destabilisierende Form annehmen, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhält.

Wie in jeder solchen Krise sind die am stärksten unterdrückten Schichten und Teile der ArbeiterInnenklasse und Bauern/Bäuerinnen am härtesten betroffen, d. h. die MigrantInnen, die rassisch und national Unterdrückten, die Jugend, die Frauen, die älteren Menschen. Während der Pandemie haben wir eine massive Zunahme der Doppelbelastung erlebt, der Frauen als Lohnarbeiterinnen ausgesetzt sind, oft in gesellschaftlich äußerst wichtigen Berufen wie dem Gesundheitssektor, und zusätzlich in der Hausarbeit, die durch die Schließung von Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen zugenommen hat. Diese Entwicklung geht mit einem dramatischen Anstieg häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Familie oder „PartnerInnenschaft“ einher.

In der letzten globalen Rezession war die Reaktion auf die Krise durch einen Anstieg der Revolutionen, wie im Arabischen Frühling, sowie der ArbeiterInnenklasse und der Linken, vor allem in Griechenland, gekennzeichnet. Dieses Mal ist es anders. In den letzten Jahren hat es einen Aufstieg der Rechten in verschiedenen Formen gegeben: autoritäre, rechte oder bonapartistische Regime und reaktionäre Massenbewegungen des Rechtspopulismus, des Rassismus und sogar des (Halb-)Faschismus. Während die internationale Bourgeoisie in der Zeit nach 2007/2008 befürchtete, dass die (äußerste) Linke politisch aus der Krise Vorteile ziehen könnte, leben wir jetzt in einer Situation, in der rechte, antidemokratische Kräfte die Krise ausnutzen können. Diese ist Ausdruck einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses in den letzten Jahren.

Der Nahe Osten ist weiterhin Konfliktherd und zunehmend in einer sozial sehr fragilen Lage. Der Iran wurde durch verschärfte Sanktionen und durch einen außer Kontrolle geratenen Covid-19-Ausbruch wirtschaftlich verwüstet, das Regime hat sein Pulver längst verschossen. Die Frage ist nicht, ob es erneut zu einer revolutionären Zuspitzung kommt, sondern ob die Linke und die Arbeiterinnenbewegung programmatische Antworten finden, um spontanen Bewegungen eine Richtung zu geben. Der Irak gehört zu den vom Ölpreiseinbruch stark betroffenen Ländern. Die verschärfte soziale Misere trifft auf eine bereits vorhandene Diskreditierung des konfessionalistischen Post-Besatzungs-Systems. Verheerend ist die Krise für die migrantischen Arbeiterinnen in den Golfstaaten.

Saudi-Arabien versucht vergeblich, sich von einer Öl exportierenden Rentenökonomie in eine „normale“ kapitalistische zu transformieren, ohne dabei seinen despotischen Überbau und seine soziale Basis wirklich anzutasten. Die verstärkte Konkurrenz auf dem Ölmarkt und die Ölpreiskrise haben dieses Vorhaben quasi verunmöglicht. Das Königshaus ist zu weitreichenden sozialen Angriffen gezwungen, um sein Budgetdefizit zu reduzieren. Ein zentraler US-Verbündeter und damit das Kräftegleichgewicht im Nahen Osten drohen ins Wanken zu geraten. U. a. deshalb soll Saudi-Arabien durch „Normalisierung“ der Beziehungen zu Israel aufgefangen werden. Ähnliches gilt für andere Golfstaaten.

Es liegt auf der Hand, dass wir vor einer Situation stehen, in der die gesamte Phase der Globalisierung nach den 1980er Jahren weltweit in eine historischen Krise geraten ist, eine Krise des gesamten Systems der Bourgeoisie. Es gibt weder in ihren internationalen Institutionen, der UNO, dem IWF, der Welthandelsorganisation (WTO), der Weltbank, ja nicht einmal in der Weltgesundheitsorganisation (WHO), noch innerhalb der einzelnen Staaten eine einvernehmliche oder einheitliche strategische Antwort. In der Tat hat die Krise an vielen Orten (USA, Brasilien, die meisten europäischen Länder …) innere Spaltungen aufgezeigt, und diese werden wahrscheinlich auch in der nächsten Zeit anhalten.

Reformismus, Populismus, Gewerkschaftsbürokratien als Hindernisse

In den meisten Ländern haben die etablierten Führungen der ArbeiterInnenbewegung (Sozialdemokratie, Labour, viele „Kommunistische Parteien“, linksreformistische Parteien, GewerkschaftsführerInnen und LinkspopulistInnen) im Allgemeinen nach einem Bündnis mit dem „vernünftigen“ Teil der herrschenden Klasse gesucht und (informelle) Koalitionen unter dem Banner der nationalen Einheit und SozialpartnerInnenschaft angestrebt. In Ländern wie Deutschland nimmt dies weiterhin eine Regierungsform an. In anderen, wie den USA, bedeutet es, dass GewerkschaftsführerInnen oder LinkspopulistInnen wie Sanders versuchen, die ArbeiterInnenklasse an vermeintlich fortschrittlichere Flügel der Bourgeoisie zu binden, in diesem Fall den Präsidentschaftskandidaten Biden, und ihm gegen die Bedrohung durch Trump Wahlunterstützung geben.

Dies ist im Allgemeinen die Politik der offiziellen Führungen der ArbeiterInnenbewegung. Der Aufstieg der Rechten, selbst ein Ergebnis früherer Zugeständnisse und von Bewegungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie nach rechts, fließt auf tragische Weise in die Politik der „nationalen Einheit“ ein, d. h. in die Pakte mit den „antipopulistischen“, „demokratischen“ Teilen der Bourgeoisie.

Dies erklärt, warum die FührerInnen der ArbeiterInnenbewegung (einschließlich der meisten linken ReformistInnen) und ihre Kontrolle über die Gewerkschaften sich als Hindernis für Kampfmaßnahmen der ArbeiterInnenklasse erwiesen haben. Wo sie z .B. in Italien stattfanden, um Sicherheit am Arbeitsplatz zu fordern, wurden sie oft von der Basis, von oppositionellen oder lokalen Sektoren initiiert, die keine Unterstützung von ihren nationalen Führungen erhielten, selbst wenn sie wichtige Streiks durchgeführt haben. Dies zeigt auch, dass es starken Druck und Schläge entweder vom Feind oder von der Linken und den Massenbewegungen braucht, um die reformistischen oder bürokratisierten ArbeiterInnenbewegungen zum Handeln zu zwingen.

Bedeutung der USA

Die scharfen Widersprüche und Wucht der Konfrontation werden jedoch zu Widerstand, Gegenwehr und spontanen Ausbrüchen des Klassenkampfes führen.

Gerade in den letzten Monaten haben wir auch die Wut und explosive Kraft dieser Bewegung erleben können.

Die Rebellion in den USA und die weltweite Ausbreitung der „Black Lives Matter“-Bewegung zeigen dies. Sie verdeutlichen das Potential, das in der gegenwärtigen globalen Situation steckt. Die Ausbreitung dieser Massenbewegung der Unterdrückten mit Millionen von Menschen auf den Straßen und Millionen von Menschen der ArbeiterInnenklasse und insbesondere der Jugend, die weltweit solidarisch mobilisiert werden, kann in dieser Situation eine echte Veränderung bewirken.

Die Revolte der rassistisch unterdrückten schwarzen Bevölkerung hat in den USA eine vorrevolutionäre Krise geschaffen, die sich über eine längere Periode hinziehen wird. Die US-Wirtschaft steckt in einer tiefen Rezession, die herrschende Klasse ist tief gespalten, der Wahlkampf nimmt die Form eines Richtungsstreits an. Im Fall einer Niederlage von Trump könnte es zu einer Verfassungskrise kommen, wenn er sich weigert, eine solche anzuerkennen. Im Falle seines Sieges würde er seinen Kurs verschärfen.

Die Entwicklung in den USA steht daher im Fokus der internationalen Politik und der Weltöffentlichkeit in den nächsten Monaten. Der Ausgang der US-Präsidentschaftswahl wird für die internationalen Beziehungen eine enorme Rolle spielen, auch wenn die grundlegenden Konfliktlinien zwischen den Großmächten unabhängig davon existieren, wer im Weißen Haus regiert.

In jedem Fall können wir mit einer fortgesetzten Periode der Instabilität in den USA rechnen. Während Trump ein aggressives Programm der Konfrontation v. a. mit den unterdrücktesten Teilen der ArbeiterInnenklasse fährt und dabei auf Rassismus und eine Mobilisierung seiner reaktionären Basis setzt, präsentieren sich die DemokratInnen als Partei der „Einheit“ über Klassengrenzen hinweg. Sie versprechen einmal mehr, die rassistische Unterdrückung anzugehen, Sexismus zu bekämpfen oder zumindest ein kleineres Übel als Trump darzustellen.

Doch die Unterstützung der Demokratischen Partei durch Sanders und selbst Teile der linken ReformistInnen und ZentristInnen wird die durchaus reale Bedrohung durch Trump nicht stoppen. Die Unterstützung des vermeintlich kleineren Übels Biden wird sich vielmehr als politische Fessel für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten weisen. Sie wirkt desorientierend, indem sie einerseits Trump sein demagogisches Spiel und seine Anti-Establishment-Rhetorik erleichtert, anderseits Bewegungen wie BLM, den Women’s March und v. a. die Gewerkschaften an die demokratischen Teile des Kapitals bindet und deren Interessen letztlich denen der weißen herrschenden Klasse unterordnet.

Die zentrale Bedeutung der Lage in den USA für die weitere internationale Entwicklung ergibt sich aus der zentralen Bedeutung einer, wenn auch niedergehenden, Hegemonialmacht.

Die Entwicklungen im Libanon und Belarus zeigen freilich auch, wie fragil, wie explosiv die Lage in praktisch allen Ländern, insbesondere den halbkolonialen aussieht. Wir müssen uns darauf einstellen, dass solche Massenbewegungen auch in anderen Regionen der Welt entstehen können, ja werden. Zugleich sind auch diese von der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse in einer dramatischen Form geprägt, weil entweder die Diktatur und Repression oder die Zerfallskrise der Gesellschaft selbst die Entstehung proletarischer Massenorganisationen wie z. B. vom Staat unabhängiger Gewerkschaften (und erst recht von ArbeiterInnenparteien) über Jahrzehnte blockiert haben. Unter den dortigen Bedingungen eines revolutionären Aufbegehrens geht daher die Frage der Schaffung einer revolutionären Partei mit der der Bildung von elementaren proletarischen Organisationsformen wie auch von räteähnlichen Strukturen, also von Doppelmachtorganen, einher.

Aufgaben für die Liga und ihre Sektionen

In dieser Situation müssen selbst kleine kämpferische Propagandagruppen Wege finden, um in solche Bewegungen oder Kämpfe der ArbeiterInnenklasse dort einzugreifen, wo sie ausbrechen. Das bedeutet, dass wir strategische, programmatische Antworten für die Bewegungen geben müssen. Wir müssen die Einheitsfronten, Forderungen und Organisationsformen, die notwendig sind, um die Bewegungen und Kämpfe der Unterdrückten mit der ArbeiterInnenklasse zu vereinen, präsentieren und dafür argumentieren. Dazu gehört eindeutig eine offene und scharfe Kritik an den Führungen der ArbeiterInnenbewegung sowie der Unterdrückten.

Der Schlüssel dazu werden der Aufruf und die Argumente für Kampfformen sein, die die Masse der ArbeiterInnen, der Jugend und der Unterdrückten einbeziehen können. Wir müssen uns auch mit der Frage auseinandersetzen, wie wir sicherstellen können, dass die Verbindung zwischen der ArbeiterInnenbewegung und den Unterdrückten auf einer Grundlage stattfindet, die das Selbstvertrauen, die Kampfmoral, die Organisiertheit und das Bewusstsein der rassisch, national, geschlechtlich und sexuell Unterdrückten dieser Welt, d. h. der Mehrheit unserer Klasse, stärkt – und zwar gegenüber dem/r gemeinsamen GegnerIn wie auch innerhalb unserer Klasse.

Während in der gegenwärtigen Situation Bewegungen spontan und in Sektoren entstehen können, in denen die reformistische oder bürokratische Kontrolle schwächer ist, so kann und wird die weitere Entwicklung auch bedeutende Teile der industriellen Kernschichten der Klasse – sei es in imperialistischen oder halbkolonialen Ländern – zum Kampf zwingen. Um die Verbindung zwischen den verschiedenen Schichten herzustellen und eine revolutionäre Strategie in der Klasse zu verankern, führt jedoch kein Weg daran vorbei, dass diese Bewegungen vernetzt und in den Kampf für den Aufbau neuer ArbeiterInnenparteien und -führungen integriert werden müssen.

Die Bewältigung der Führungskrise wird von entscheidender Bedeutung sein, und dies muss innerhalb der Bewegung aufgegriffen werden, mit dem Ziel, die engagiertesten und politisch fortschrittlichsten KämpferInnen zu vereinen. Dies wird die flexible Anwendung von Taktiken wie des Entrismus, der Umgruppierungstaktik und des Eintretens für revolutionäre Einheit, der ArbeiterInnenpartei erfordern. Es wird den Kampf gegen eine Wirtschaftskrise durch ein Programm von Übergangsforderungen sowie die Aufdeckung von Verbindungen zwischen kapitalistischer Ausbeutung und sozialer Unterdrückung, einschließlich einer Kritik an falschen Ideologien und Irreführung, erfordern.

Die kommenden Monate werden durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet sein:

  • Weitere Erschütterung der Macht des US-Imperialismus und eine offenkundige politische Krise, eine vorrevolutionäre Situation, im Herzen der Bestie. Die USA werden der Schlüssel für die globale Situation sein. Die BLM-Bewegung und die Rebellion werden nicht nur zentral für die politische Entwicklung der US-ArbeiterInnenklasse und der Linken sein, sondern auch ein globaler Bezugspunkt.
  • Vertiefung der Weltwirtschaftskrise und weitere Ausbreitung der Pandemie, vor allem in der halbkolonialen Welt. Dadurch werden Länder wie Brasilien oder Indien zu wichtigen Schauplätzen des globalen Kampfes.
  • Anhaltende interne Spaltungen innerhalb der Bourgeoisien der meisten imperialistischen Mächte. Nicht nur die Wahlen in den USA, sondern auch die Krise in der EU werden dabei eine Schlüsselarena sein, auch wenn Länder wie Deutschland im Vergleich zu den meisten anderen der Welt kurzfristig relativ stabil sein mögen.
  • Aufrechterhaltung der Strategie der Klassenzusammenarbeit, der nationalen Einheit und der Pakte mit den verschiedenen Flügeln der Bourgeoisie durch den rechten Flügel und die FührerInnen der „Mitte“ der ArbeiterInnenbewegung. Sogar die linken Parteien und die linken PopulistInnen befürworten im Wesentlichen die gleiche Strategie, wenn auch mit einer eher linken Färbung, wie z. B. Forderungen nach einer „echten“ transformatorischen Politik, nach einem „echten“ grünen und sozialen New Deal. Der „Green New Deal“ mutierte schon seit einiger Zeit von einer ideologisch-strategischen Klammer zwischen reformistischen und linksbürgerlichen Parteien zu einem (hinsichtlich seiner ökologischen und sozialen Seiten weiter verwässerten) „Modernisierungsversprechen“ eines Flügels des Kapitals.
  • Gleichzeitig können und werden sich auch Teile des Linksreformismus und des radikaleren Kleinbürgertums, zum Beispiel die linken Flügel des Feminismus oder der BLM-Bewegung und des Zentrismus, unter dem Einfluss, dem Druck und der echten Inspiration durch die Massenrebellion und ähnliche Bewegungen nach links bewegen. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Gruppen, die diese Richtung einschlagen, mit ihrer Vergangenheit brechen und für revolutionäre Politik und Programme gewonnen werden können, sondern dass sie auch der ideologischer Ausdruck eines Linksrucks viel breiterer Schichten, ganzer Flügel oder Strömungen innerhalb der Massenbewegungen sind.
  • Das bedeutet, dass unsere Sektionen und unsere Propaganda diese Schichten in einer Weise ansprechen müssen, die sie zu einem weiteren Linksruck ermuntern. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Kritik verbergen oder herunterspielen oder irgendwelche theoretischen oder programmatischen Zugeständnisse machen, aber es bedeutet, dass wir unsere Kritik in einer ermutigenden, engagierten und „pädagogischen“ Weise vortragen. Gleichzeitig müssen wir sehr scharf rechtsgerichtete oder passive Strömungen und die klassenkollaborationistischen FührerInnen der Massenorganisationen angreifen und zugleich die Notwendigkeit erklären, auch an diese FunktionsträgerInnen Forderungen zu stellen.

Die gegenwärtige, sich entfaltende Krisenperiode stellt alle politischen Strömungen auf die Probe. Sie stellt uns vor die historische Alternative Sozialismus oder Barbarei. Sie zugunsten der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten zu lösen, erfordert eine revolutionäre Antwort – ein revolutionäres Programm, revolutionäre Parteien und eine neue, Fünfte Internationale.

2. Wirtschaftliche Lage in Deutschland und Konjunkturpakete

Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und jener der EU sehen auch die Konjunkturprognosen für die deutsche Ökonomie alles andere als rosig aus. Das unternehmensnahe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) rechnet für 2020 mit nachlassender Wirtschaftsleistung von 9,4 % und für 2021 mit einem Wirtschaftswachstum von lediglich 3 %. Die Arbeitslosenquote soll auf 5 – 6 % steigen. Nach Bekanntgabe der ersten 130 Mrd. Euro fürs Konjunkturpaket mit einem geschätzten Effekt von 1,3 % wurde der Einbruch also auf 8,1 % taxiert, immer noch weitaus mehr als 2009.

Die Bundesregierung ist da optimistischer (2020: – 6,3 %; 2021: + 5,2 %). Diesen Optimismus teilt auch die Industriestaatenorganisation OECD nicht: – 6,6 bis 8,8 % sagt sie für 2020 voraus.

Das DIW geht in seiner pessimistischen Prognose von keiner zweiten Pandemiewelle im Herbst aus. Die Ausrüstungsinvestitionen werden laut seiner Schätzung dieses Jahr um ein Fünftel (!) geringer als 2019 ausfallen, der Konsum wird um 8,5 % nachgeben. Im Gegensatz zur letzten Krise wird sich die deutsche Wirtschaft aus der „Coronakrise“ nicht herausexportieren können, denn im Unterschied zu 2009 schrumpfte der Welthandel dramatisch um rund ein Drittel.

Das eher pessimistische Szenario ergänzt der BRD-Außenhandel im Mai. Er lag mit 80,3 Mrd. Euro um 29,7 % unter dem Vorjahresmonat. Besonders rückläufig waren die Exporte in die stark von der Pandemie betroffenen USA und nach Großbritannien. Gegenüber April 2020 stiegen sie allerdings wieder um 9 %. Die Importe lagen mit einem Gesamtwert von 73,2 Mrd. Euro um 21,7 % niedriger als im Mai 2019.

An der düsteren Lage und an der schlechten bis unsicheren Prognose wird auch die Tatsache nichts ändern, dass sich der DAX (wie auch andere Börsen) nach einer ersten Talfahrt wieder einigermaßen erholt hat/haben (Absacken von 13.800 Punkten auf 8.450 im April; Erholung auf rund 13.000 Punkte Anfang September). Insgesamt ist selbst auch an den Börsen die Lage weiter sehr unbeständig, wie die rückläufige Kurse an der Wall Street in der ersten Septemberwoche zeigten. Auch das Konjunkturpaket der Bundesregierung wird mit Sicherheit nicht ausreichen. Weitere werden, wie Olaf Scholz schon angekündigt hat, folgen müssen, um den Auswirkungen der Pandemie und der Rezession auf ökonomischer Ebene entgegenzuwirken. Auch die Wirtschaftsforschungsinstitute fordern solche Pakete – sie müssten aber vor allem „der Wirtschaft“ helfen, sei es durch Steuererleichterungen, Subventionen wie auch durch strategische Investitionen in Digitalisierung und Bildung.

Von entscheidender Bedeutung für die weitere Zukunft des deutschen Kapitalismus wird freilich nicht nur die eigene Wirtschaftspolitik, sondern vor allem die weitere Entwicklung in Europa sein. Die EU könnte zum nächsten Corona-Opfer werden. Ihre inneren Widersprüche sind in dieser Lage kaum auszugleichen, wie das Gezerre um den EU-Haushalt und die Stützung der europäischen Wirtschaft deutlich zeigt. Der Kompromiss beim letzten EU-Gipfel befriedete zwar die Staats- und RegierungschefInnen einigermaßen – aber schon die Verhandlungen im EU-Parlament werden neue Probleme heraufbeschwören, auch wenn es wahrscheinlich zu einem Haushalt und einem, gegenüber den Vorschlägen von Merkel und Macron ohnedies schon abgespeckten, Konjunkturpaket kommen wird.

Gegenüber den USA und China hat die EU im letzten Jahrzehnt nicht nur weiter an Boden verloren, sie ist unter den größeren imperialistischen Mächten nach wie vor strukturell der schwächste und verwundbarste Block, weil sie keinen einheitlichen Staat darstellt, weil es kein europäisches Gesamtkapital gibt, sondern die EU weiter ein Staatenbund ist. Der Brexit bedeutet eine wichtige Schwächung der EU, auch wenn er längerfristige die Vereinheitlichung der Union begünstigen könnte. Aber das ist keineswegs ausgemacht.

Die EU ist ein Bund einschließlich historisch gewachsener imperialistischer Staaten, die um die Vorherrschaft konkurrieren. Eine Vereinheitlichung der EU auf kapitalistischer Basis würde daher auch eine dauerhafte Festlegung dieses Verhältnisses erfordern, also Unterordnung der schwächeren Nationen vor allem unter den deutschen Imperialismus. Ihre Partnerschaft ist daher immer auch krisenbehaftet, zumal sich neben Frankreich und Deutschland mit Italien, Spanien und den Niederlanden veritable weitere imperialistische Staaten in der Union befinden. Die Auseinandersetzung um EU-Haushalt und die Frage der Gemeinschaftsverschuldung verdeutlicht, dass auch Staaten wie die Niederlande in der Lage sind, einen Block kleinerer imperialistischer Länder um sich aufzubauen.

Die Krise der EU wird sich 2020 und 2021 weiter verschärfen. Damit ist aber auch ein strategisches, vitales Interesse des deutschen Imperialismus betroffen, der seit Jahren zwar die EU ökonomisch dominiert, sich aber als unfähig erweist, die EU zu einem stärkeren, globalen Block unter seiner Führung zusammenzuschmieden. In der nächsten Zukunft wird der deutsche Imperialismus versuchen, die EU zusammenzuhalten und die kapitalistische Vereinheitlichung voranzutreiben. Das brachte auch der Merkel-Macron-Vorschlag zur Finanzpolitik zum Ausdruck, der anders als in der letzten globalen Krise praktisch ohne nennenswerte öffentliche Kritik aus den Reihen der Union und der Unternehmerverbände über die Bühne ging. Doch dies bedeutet keinesfalls, dass die EU-skeptischen Stimmen im deutschen Kapital und unter dem KleinbürgerInnentum verschwinden werden. Scheitern die Antikrisenmaßnahmen der EU, so sind weitere Konflikte vorprogrammiert.

Hinzu kommt, dass sich die EU und die verschiedenen Nationalstaaten in einer geostrategischen Zwickmühle befinden bezüglich ihres Verhältnisses zu den USA, Russland und China. Die Frage von Sanktionen gegen Russland und die Infragestellung von Nord Stream 2 verdeutlichen das einmal mehr. Ähnliche Probleme werden in der Frage der Krise im Mittelmeer (Türkei – Griechenland) oder generell im Nahen Osten auftauchen. Von einer einheitlichen EU-Außenpolitik kann nur in jenen Fällen die Rede sein, wo es einen etablierten Konsens (inklusive mehr oder weniger abgestimmter militärischer Interventionen gibt). Auch wenn die deutsche Europapolitik zur Zeit auf die EU setzt, so wird diese nicht nur weitere Krisen durchmachen, sondern eine Neubestimmung von Allianzen zwischen verschiedenen Staaten erleben. Ein Scheitern des Projekts ist in der kommenden Krisenperiode weiter leicht möglich.

Was Deutschland betrifft, so können wir von einer tiefen Krise 2020 ausgehen. Der Aufschwung 2021 wird keinesfalls wie der große „Wumms“ ausfallen, den Olaf Scholz verspricht, sondern er wird von einer weiter instabilen Weltwirtschaft, einer bis ins Jahr 2021 hinein wirkenden Pandemie und zusätzlichen Verwerfungen in der EU geprägt sein.

3. Lebensbedingungen, zentrale Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten

Gleichzeitig werden sich die Klassenkämpfe um die Kosten der Krisenlasten verschärfen, auch wenn die Bundesregierung und die Gewerkschaften versuchen werden, diese abzufedern, jedenfalls bis zur Bundestagswahl 2021. Trotzdem gibt es untrügliche bedeutende Zeichen für massive Angriffe. Schon jetzt müssen wir eine massive Verschlechterung der Lebenslage der ArbeiterInnenklasse, der Mittelschichten und des KleinbürgerInnentums konstatieren. Zu dieser kommen Auswirkungen der Krise hinzu, die von sich aus den Druck auf Arbeitsbedingungen, Löhne, Einkommen verschärfen werden.

Kurzarbeit, Personalabbau, Massenarbeitslosigkeit

Im Mai erreichte die Zahl der KurzarbeiterInnen mit 7,3 Millionen ihren bisherigen Höhepunkt, doch selbst im Juli war sie mit 5,6 Millionen um ein Vielfaches größer als auf dem Höhepunkt der letzten Krise (Mai 2009 mit 1,44 Millionen). Anders als in der letzten Krise sind nicht vorwiegend IndustriearbeiterInnen davon betroffen, sondern auch viele Beschäftigte in kleineren Unternehmen. Trotz der Millionen KurzarbeiterInnen meldeten sich im August 2020 600.000 Menschen mehr arbeitslos als im Vergleichzeitraum des letzen Jahres.

Die Bundesregierung hat im August eine Verlängerung der Kurzarbeiterregelungen beschlossen. Damit sollen einerseits ArbeiterInnenklasse und Gewerkschaften befriedet werden. Andererseits kommt die Regelung auch einer Lohnsubvention der KapitalistInnen gleich, was die Zustimmung aus dem UnternehmerInnenlager erklärt. Schließlich wird damit sowohl etwaiger Personalabbau leichter durchführbar werden (wenn die Beschäftigten faktisch schon länger aus dem Betrieb verschwunden sind) wie auch ein, im Vergleich zur internationalen Konkurrenz, rascheres Regieren auf einen etwaigen Aufschwung.

Es wird auch versucht, Entlassungen sozial abzufedern und betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden. Das stellt sich aber als immer schwieriger dar. In etlichen Branchen wurden selbst bei voller Konjunktur massive Überkapazitäten aufgebaut. Der Kapitalstock muss in wichtigen Bereichen erneuert werden, die Wettbewerbsfähigkeit soll durch Produktivitätszuwächse, Verlagerungen, Umstrukturierungen gesichert werden.

Gerade die Ver- als auch Auslagerungen an externe Dienstleistungsunternehmen in Deutschland oder in andere Länder (Halbkolonien, teilweise imperialistische Länder) werden die bereits existierenden Spaltungen innerhalb der ArbeiterInnenklasse sowohl hierzulande wie auch in den anderen Ländern weiter verschärfen und das Konkurrenzdenken innerhalb der Belegschaften eines Unternehmens (meist bei Großkonzernen, die international agieren) befördern. Die Politik der Industriegewerkschaften, die dieses Konkurrenzdenken durch ihre Standortlogik ebenfalls fördern und verteidigen, leisten dabei einen erheblichen Anteil wie durch die Verhinderung praktischer internationaler Solidarität (Beispiele bei der Schließung von Mahle-Werken in UK, Italien … ). Andererseits trägt auch, wie schon am Anfang kurz skizziert, die Auslagerung weiterer zentraler Bereiche nicht nur handwerklicher Tätigkeiten oder der Müllentsorgung, Reinigung usw., sondern auch von IT, Finanzbuchhaltungen, Entwicklungstätigkeiten etc. entweder an externe Firmen oder konzernintern in Dienstleistungszentren in Halbkolonien zu einer weiteren Zerfaserung der Belegschaften bei. Diese meist hochbezahlten Tätigkeiten werden gerade dann gerne verlagert, wenn es um eine Reduzierung der Kosten geht. In diesen Bereichen eine gewerkschaftliche Organisierung gegen weitere Angriffe zu erreichen, ist extrem schwer, da dort ArbeiterInnen unter prekären Bedingungen arbeiten und gerade in Halbkolonien gewerkschaftliche Organisierung nicht selten schweren Repressionsschlägen ausgesetzt ist. In Deutschland wird dabei eher das Modell des „Union Busting“, also der Zerschlagung gewerkschaftlicher Strukturen auf juristischer Ebene, angewendet.

Dass die Wirtschaftskrise ihre unmittelbare Auslösung durch eine Pandemie fand, verschleiert ihre eigentlichen ökonomischen Ursachen und erleichtert daher ideologisch die Angriffe auf Lohnabhängige durch das Kapital. Die Krise erscheint als Ergebnis einer Fremdeinwirkung, gegen die sich die Nation – also Kapital und Arbeit – vereint wehren müsste, wobei natürlich auch etwaige Verluste alle zu tragen hätten, was realiter einen massiven Angriff der Kapitals bedeutet.

Wir werden es also faktisch mit massenhaftem Personalabbau zu tun haben, der Millionen betrifft. Er trifft sie aber zersplittert in einzelnen Betrieben oder Bereichen. Die sozialen Abfederungen der Prozesse und sozialpartnerschaftliche Regulierungen halten ihn zwar nicht auf, verlangsamen und fragmentieren ihn jedoch und führen dazu, dass die eigentlich kampfstärkeren Bereiche eher befriedet werden können. Daher hat auch das Kapital oder jedenfalls ein bestimmter Teile der KapitalistInnenklasse daran ein Interesse und fordert im Gegenzug für sozialverträglichen Umbau eine WettbewerbspartnerInnenschaft von Gewerkschaften und BetriebsrätInnen in der internationalen Konkurrenz, wozu die Industriegewerkschaften auch nur allzu gern bereit sind.

Einkommen, Löhne und Arbeitsbedingungen

Mit der Kurzarbeit, einer steigenden Arbeitslosigkeit und den Einbußen großer Teile des KleinbürgerInnentums mussten in den letzten Monaten auch fast alle Schichten der Bevölkerung große Einkommensverluste hinnehmen. Bei einer vergleichenden Untersuchung in den USA, GB und der BRD gaben im Mai 2020 5 % der Befragten an, in den letzten vier Wochen Einkommensverluste in der Höhe von 100 % erlitten zu haben (in den USA 13 %). Weitere 5 % gaben an, 75 % ihres Einkommens verloren zu haben, 6 % zwischen 50 und 75 %. Auch wenn das nur eine Momentaufnahme ist, so sind allein diese Verluste beachtlich. 29 % der Befragten gaben an, zwischen 25 und 50 % ihres Einkommens verloren zu haben, 41 % verloren zwischen 10 und 25 %. Nur 14 % gaben an, nicht mehr als 10 % an Einbußen erlitten zu haben.

Die zur Zeit des Höhepunkt der Schließungen der Wirtschaft erhobenen Daten (im April 2020) verdeutlichen den enormen Einschnitt bei den Einkommen der Masse der Bevölkerung – nicht nur der ArbeiterInnenklasse, sondern auch der Mehrheit des KleinbürgerInnentums, der Mittelschichten und selbst der kleineren KapitalistInnen.

Dieser Einbruch befördert einerseits eine imaginäre Einheit aller Klassen, von fleißigen UnternehmerInnen und Beschäftigen, als Opfer der Krise und der Pandemie. Dies kommt sowohl bei der Politik des nationalen Schulterschlusses wie auch bei den rechtspopulistischen reaktionären Hygiene-Demos zum Ausdruck. Diese sind auch deshalb gefährlich, weil in Wirklichkeit die ArbeiterInnenklasse und das KleinunternehmerInnentum gegensätzliche Antworten auf die Krise haben. Letztere drängen nicht nur auf Öffnung ihrer Geschäfte, auf Steuererleichterungen, Stützung usw. – sie fordern vor allem auch eine Senkung der Löhne bis hin zur Infragestellung des Mindestlohns, dem Ruf nach Aussetzung von Tarifverträgen, Arbeitsschutz, Arbeitszeitbeschränkungen.

Gesundheit und soziale Vorsorge, Renten, Bildung, Wohnen

Die Corona-Krise verdeutlichte auch, dass das Gesundheitssystem eines Landes wie Deutschland schlecht bis gar nicht auf die Krise vorbereitet war. Sie führte uns auch vor Augen, dass das privatkapitalistische System versagt hat.

Erst recht trifft dies auf andere Bereiche der Pflege, der Kranken- und Altenbetreuung, auf die Hilfe für Menschen mit Behinderungen zu. In der Not mussten einzelne Bereiche des Gesundheitssystems unter staatliche Aufsicht gestellt werden. Aber sdies stellte keineswegs einen Schritt in ein neues System dar, sondern Krisenmaßnahmen, von denen das Kapital schon bald nichts mehr wissen will.

Das hat seine Gründe. Die Kosten für soziale Maßnahmen, Gesundheit etc. mussten natürlich auch aus Schulden finanziert werden, die in den nächsten Jahren bedient werden wollen.

Zweitens erscheinen die Kosten für Bildung, Ausbildung, Gesundheit, Altersvorsorge, Kultur und Freizeit – auch wenn sie eigentlich für die Reproduktion der ArbeiterInnenklasse notwendig sind und direkte oder umverteilte Lohnbestandteile darstellen – vom Standpunkt des einzelnen Kapitals als Abzug vom Profit, als unnütze Kosten. Wir können daher mit einem wachsenden Druck des Kapitals rechnen, diese zu reduzieren, Einrichtungen oder Leitungsbezug zu privatisieren oder die Kosten der „Allgemeinheit“, also der ArbeiterInnenklasse, über Steuern aufzudrücken.

Hinzu kommt, dass Arbeitslosigkeit, Einkommensverluste … auch die Lage der Lohnabhängigen als KonsumentInnen weiter verschlechtern. Das trifft schon seit Jahren auf den Wohnungsmarkt zu. Angesichts drohender massiver Einkommenseinbußen würde sich die Lage der Lohnabhängigen auf dem Wohnungsmarkt sogar verschlechtern, wenn es keine Mietpreiserhöhungen gäbe. Kurzfristige Stundungen helfen hier allenfalls im Einzelfall, strukturell haben sie minimale Auswirkungen.

Angriffe auf Jobs, Arbeitsbedingungen, Löhne werden also mit einem gleichzeitigen Angriff auf den „Soziallohn“ und auf die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen (z. B. Wohnen) einhergehen.

Sozialer Abstieg, Differenzierung und die gesellschaftlich Unterdrückten

Die Angriffe gelten einerseits zwar allen Teilen der ArbeiterInnenklasse – inklusive ihrer industriellen Kernschichten. Andererseits treffen sie verschiedene Sektoren sehr unterschiedlich. Schon jetzt erfasst die Krise die gesellschaftlich Unterdrückten sowie die schlecht bezahlten und prekär beschäftigen Teile der Klasse besonders hart. Hinzu kommt aber auch, dass sie bedeutende Teile der produktiven, industriellen ArbeiterInnenklasse treffen wird, wenn auch zuerst oft in sozialpartnerschaftlich vermittelter Form. Auch wenn in einzelnen Bereichen durchaus neue Schichten der ArbeiterInnenaristokratie entstehen können, so werden wichtige Teile dieser relativ privilegierten Lohnabhängigen existenziell getroffen werden, in einem bedeutenden Umfang sogar härter als die Masse der Klasse.

Die generelle Tendenz für die Klasse bedeutet sozialen Abstieg, Erhöhung der Ausbeutungsrate und Verschlechterung der Lage der gesellschaftlich Unterdrückten, besonders von Jugend, MigrantInnen und Frauen sowie – auch wenn sie keine sozial Unterdrückten im engen Sinn darstellen – der RentnerInnen. Zudem werden die prekären Schichten wie auch die Masse der Klasse in Industrie und Dienstleitungen weiter nach unten gedrückt.

Diese allgemeine objektive Verschlechterung führt jedoch keineswegs automatisch zur Vereinheitlichung von Kämpfen und Bewegungen. Dies können wir schon seit Jahren bei der Umweltbewegung und bei antirassistischen Kämpfen beobachten. Umgekehrt trifft das aber auch auf Abwehrkämpfe der ArbeiterInnenklasse zu (denken wir z. B. nur an die Beschäftigten bei Fluglinien und Flughäfen einerseits und Umweltbewegungen wie FFF, EG oder XR andererseits).

Die Tatsache, dass besonders Unterdrückte von den Angriffe extrem betroffen sind, äußert sich in einer Zunahme der doppelten Belastung von proletarischen Frauen in Haushalt und Beruf, einer erschreckenden Zunahme von Gewalt und sexuellen Übergriffen gegen Frauen und LGBTIAQ-Menschen. Rassistische Angriffe nehmen ebenso zu – begleitet und oft noch verschärft durch staatlichen Rassismus in seinen verschiedensten Formen.

Massive Angriffe werden auch RentnerInnen zu erleiden haben und Jugendliche. Diese sind von Billigjobs, Prekarisierung usw. besonders betroffen. Ausbildungsplätze sind rar, Übernahmen erst recht ungewiss. All dies führt aber auch dazu, dass die berufstätigen Teile der Klasse größere Teile ihres Einkommens und ihrer Zeit für Kinder (und tendenziell auch für die Pflege von Kranke und Alten) aufwenden werden müssen.

All dies sind Formen eines gezielten Angriffs auf Lohnabhängige, die auch die Spaltung in der Klasse, innere Gegensätze verschärfen und staatlicherseits auch direkt verschärfen sollen, selbst wenn gern das Gegenteil behauptet wird.

Wir können zugleich davon ausgehen, dass die MigrantInnen, Frauen und Jugendliche wegen ihrer Betroffenheit, aber auch weil sich in den letzten Jahren immer wieder Bewegungen, Bündnisse, Aktionen gebildet haben, wichtige Mobilisierungen initiieren werden, in die wir eingreifen können und müssen. Hinzu kommt, dass die kleinbürgerlichen und reformistischen, teilweise auch direkt bürgerlichen Führungen weniger strukturierte und damit Handlungen bestimmende Kontrollmacht ausüben als die Bürokratie im Betrieb und in den Gewerkschaften. Hinzu kommt, dass sie anders als die LohnarbeiterInnen nicht der, in letzter Instanz despotischen, Herrschaft des Privateigentums im Betrieb ausgesetzt sind. Aus diesen beiden Gründen können auch eher spontane Bewegungen entstehen.

Umgekehrt müssen wir uns davor hüten, aus der größeren Wahrscheinlichkeit von unmittelbaren Mobilisierungen in obigen Bereichen ein Schema für die ganze vor uns liegende Periode zu machen. Erstens stehen schon jetzt wichtige Großunternehmen oder Sparten im Fokus von Krise, Schließungen, Personalabbau oder steuern darauf zu (Flughäfen, Luftfahrt, Automobilindustrie, Handel …). Das heißt, dass die Krise auch Kernschichten der Klasse massiv treffen wird – und in bestimmten Sparten und Regionen sogar besonders hart treffen kann, wenn Abfederungsmaßnahmen auslaufen oder nicht mehr greifen. Zweitens kommt diesen Sektoren der ArbeiterInnenklasse, gerade im Bereich der industriellen Arbeit, eine Schlüsselposition für einen erfolgreichen Abwehrkampf zu. Die aktuellen Angriffe können nicht durch Straßenaktionen gestoppt werden. Diese sind, selbst in ihrer militanten Form, letztlich symbolische Maßnahmen des Protests. Es braucht politische Massenstreiks und diese müssen die Kernsektoren der produktiven Arbeit umfassen. Daher ist es, unabhängig von deren aktueller Friedhofsruhe, notwendig, diesen Sektoren der Klasse vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken, sich auf diese zu beziehen und, wo möglich, dort einzugreifen.

Umwelt, Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen

Die kapitalistische Krise wirkt sich fortgesetzt und letztlich verschärfend auf die ökologische aus. Die von der herrschenden Klasse selbst einst proklamierten Klimaziele sind in weite Ferne gerückt. Die kurzzeitige Reduktion von umweltschädlichen Emissionen und anderen die Natur belastenden Stoffen im Zuge des Produktions- und Handelseinbruchs hat allenfalls kurzfristigen Wert, dient im Grunde mehr der statistischen Beschönigung als der realen Verbesserung.

Dabei haben große Teil der bürgerlichen Parteien und sogar die EU-Kommission den „Green New Deal“ proklamiert. Letztere verkündet gar: „Der europäische Grüne Deal ist unser Fahrplan für eine nachhaltige EU-Wirtschaft.“

In Wirklichkeit bedeutet der Green New Deal E-Auto, E-Commerz, E-Logistik. Der „Kompromiss“ um den Braunkohleausstieg verdeutlicht die Realität der aktuellen Umweltpolitik, mag sie sich auch gern ökologisch nennen. Der bürgerliche Ökologismus erweist sich als völlig unfähig, ein anderes Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu etablieren, weil er die gesellschaftlichen Verhältnisse ausblendet, ja ausblenden muss, die den metabolischen Riss zwischen Mensch und Natur unvermeidlich vertiefen.

Die Krise wird den Gegensatz zwischen Markt und Profit einerseits und ökologischer Nachhaltigkeit andererseits verschärfen. Daher werden wir es weiter mit großen Mobilisierungen in diesem Bereich, v. a. unter der Jugend, zu tun haben. Zum anderen hat sich – siehe FFF – in der letzten Periode auch eine direkt bürgerliche Führungsschicht herausgebildet, die eng mit der grünen Partei verbunden ist, während bei EG und XR eher kleinbürgerliche Führungsgruppen vorherrschen.

Rechtspopulismus, Faschismus, Autoritarismus

Eine weitere, durch die Krise und die Pandemie befeuerte Gefahr stellen Rechtspopulismus, Rassismus und Faschismus dar. Wir erleben seit Jahren einen Rechtsruck, der sich in verschiedenen Formen manifestiert.

Einerseits stellt er sich als rechtspopulistische Absetzbewegung von den etablierten Parteien dar, die sich um die AfD oder um Bewegungen wie „Querdenken 711“ und die Hygiene-Demos schart. Politisch bildet der Rechtspopulismus dabei eine zentrale Kraft, dessen Ziel letztlich eine Rechtsverschiebung des politischen Spektrums ausmacht, wo Parteien wie die AfD gewissermaßen als Pressure Group auf CDU und FDP wirken. Dem Rechtspopulismus geht es trotz der ständigen Beteuerung von Freiheit und Demokratie letztlich um die Freiheit des/r egoistischen, rücksichtslosen KleinproduzentIn, die/der mit dem Rücken zur Wand steht, andererseits um eine autoritäre Umstrukturierung der Demokratie, staatlicher Herrschaft mit Tendenz zum Bonapartismus. Die eigentliche Demokratie bildet die plebiszitäre Zustimmung zur autoritären Führung. Es ist kein Zufall, dass Trump und Putin als Vorbilder diese „DemokratInnen“ gelten. Der Populismus appelliert zwar an das Volk – also an die Masse des KleinbürgerInnentums, der Mittelschichten und rückständige und demoralisierte Lohnabhängige. Letztlich zielt er aber auf eine Veränderung der bürgerlichen Herrschaft. Nationalismus, Rassismus, Chauvinismus bilden ebenso wie Verschwörungstheorien und Irrationalismus notwendige Bestandteile seiner politischen Ideologie.

Den anderen, extremen Pol der rechten Mobilisierungen stellen faschistische und protofaschistische Kräfte dar. Zu diesen Gruppierungen zählen auch jede Menge Übergangsformationen und Überlappungen, die teilweise selbst Bewegungsform annehmen (z. B. Pegida). Die offen faschistischen Kräfte stellen sicher noch eine Minderheit dar, haben sich aber stärken können und sind deutlich anerkannter. Die Demonstrationen von „Querdenken“ im August 2020 (1. und 29.8.) haben verdeutlicht, dass nicht nur wenig „Berührungsängste“, sondern eine regelmäßige, organisierte Kooperation besteht/bestehen, bei der sicher beide Teile – RechtspopulistInnen wie FaschistInnen – darauf spekulieren, ihre Verbündeten letztlich für ihre Zwecke ausnützen zu können.

Diese Kräfte konnten in der Krise Zehntausende mobilisieren. Die von „Querdenken 711“ und anderen initiierten Proteste haben einen Bewegungscharakter angenommen. Die AfD konnte – auch aufgrund ihrer aktuellen inneren Konflikte, aber auch wegen Richtungswechsel in der Corona-Politik – bei den Umfragen davon noch nicht profitieren. Es ist jedoch zu befürchten, dass dies in den nächsten Monaten und bei den kommenden Wahlen der Fall sein wird.

Unabhängig von Umfragen und Momentaufnahmen im rechten Spektrum hat sich eine rechte, rassistische und populistische Bewegung formiert, die ihre Basis im KleinbürgerInnentum zweifellos stärken konnte und der die Krise automatisch weitere AnhängerInnen zuführen wird, solange die Masse der ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaften, SPD und Linkspartei an SozialpartnerInnenschaft und „nationale Einheit“ gebunden sind. Anders als bisherige rechte Bewegungen, die Massenzulauf vor allem in ökonomisch schlechter gestellten Regionen hatten, entwickelt sich mit „Querdenken“ auch in einem der ökonomisch stärksten Bundesländer eine solche Bewegung, was verdeutlicht, dass es ihr mittlerweile gelingt, in das traditionelle westdeutsche KleinbürgerInnentum und die Mittelschichten einzudringen, die um ihr „normales Leben“ fürchten.

Zugleich darf auch nicht unterschätzt werden, dass die Rechten (nicht nur die direkten Nazis) zu einer immer größeren Gefahr für Flüchtlinge, MigrantInnen, MuslimInnen, Linke, Juden/Jüdinnen werden, was sich auch eindeutig an einer Zunahme rechter Gewalt zeigt.

Dies zeigen vor allem auch die rechten Gruppierungen innerhalb verschiedener Teile des Repressionsapparates, die sich bisweilen zu Terrornetzwerken zusammenschließen und verschiedene Aktionen (Anschläge etc.) planen. Aber auch außerhalb des Repressionsapparates formieren sich militante, faschistische Gruppierungen, welche ähnliche Pläne entwickeln (Provokation von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, Erstellung von Todeslisten, Beschaffung von Waffen, Sprengstoffen etc.). Hier sticht bisweilen auch die sog. „Reichsbürgerszene“ heraus, der nach verschiedenen Schätzungen ca. 20.000 Personen in Deutschland angehören.

Angriff auf demokratische Rechte

Mit dem Rechtsruck eng verbunden ist die Stärkung der autoritären, antidemokratischen Elemente bürgerlicher Herrschaft, des Staatsapparates. Diese muss jedoch vom Entstehen des Faschismus unterschieden werden (wie wir auch kategorisch alle Thesen der Faschisierung des Staates zurückweisen müssen).

Die Einschränkung demokratischer Rechte stellt einen zentralen Aspekt des zunehmenden Autoritarismus dar, der in der Corona-Zeit faktisch mit einer Lähmung großer Teile der organisierten ArbeiterInnenklasse einherging. Die meisten Rechte wurden nicht gegen den Willen von Gewerkschaften und reformistischen Parteien eingeschränkt, sondern mit deren Zustimmung. Diese selbst demobilisierten in den letzten Monaten. In der kommenden Periode wird die Bedeutung dieser Frage noch weit dringlicher werden. Wir müssen die Notwendigkeit der Verteidigung und Ausweitung solcher Rechte – insbesondere auch bezüglich des Streikrechts und des Rechts auf politische Betätigung im Betrieb – hervorheben.

Die Aufgabe wird in den Augen vieler ArbeiterInnen und Linker dadurch verkompliziert, dass die Pandemie tatsächlich Einschränkungen von Freiheiten oder die Durchsetzung bestimmter Verhaltensregeln (z. B. Maskenpflicht, Abstandsregeln) erfordert. Aber damit ist – siehe die Begrüßung von Demonstrationsverboten für Corona-LeugnerInnen und andere SpinnerInnen – durch große Teile der reformistischen und kleinbürgerlichen Linken die Gefahr eines Schulterschlusses mit bürgerlichen Kräften und Zustimmung zu staatlichen Verbotsmaßnahmen verbunden, die sich in der Realität nicht nur als unwirksam erweisen, sondern auch leicht zum Mittel gegen linken Aktionen und die ArbeiterInnenklasse werden können.

Der Angriff auf demokratische Rechte geht mit einer weiteren Ausdehnung staatlicher Überwachung einher und umfasst auch eine ideologische Bekämpfung von Widerstand. Diese ist umso gefährlicher, als Teile der ArbeiterInnenbewegung und der Pseudolinken hier direkt in staatliche Repression und Überwachung integriert sind. Dies inkludiert nicht nur Bespitzelung und Kriminalisierung (siehe den Verfassungsschutzbericht), sondern auch Verleumdung und politische Ausgrenzung (z. B. „Antisemitismusvorwurf“ von ZionistInnen, Antideutschen, deutscher Außenpolitik). Sie erstreckt sich auf scheinbar harmlose Fahnen- und Propagandaverbote gegen organisierte Linke aus trotzkistischer oder stalinistischer Tradition. Letztlich geht es dabei jedoch um die Monopolisierung der linken Öffentlichkeit durch alle jene, die verbindliche kommunistische und revolutionäre Organisierung ablehnen. Staatlicherseits geht der „Antisemitismusvorwurf“ untrennbar mit der Einschränkung demokratischer Rechte und des öffentlichen Raums für alle antiimperialistischen und internationalistischen Organisationen – nicht zuletzt auch von uns – einher.

Neben dem Kampf um eigene demokratische Rechte und politischen Spielraum kann der für demokratische Rechte und gegen Autoritarismus in der nächsten Periode einige Mobilisierungskraft entfalten – und zwar weit über die Linke hinaus, wie auch in den letzten Jahren immer wieder zu sehen war.

Krieg/Militarisierung/Außenpolitik

Die Frage der ideologischen Diffamierung (siehe oben), aber auch wachsender Rassismus und Nationalismus hängen eng mit den imperialistischen Ambitionen Deutschlands im Kampf um die Neuaufteilung der Weilt zusammen. Das betrifft auch die positive Besetzung des „wehrhaften“ Nationalismus‘. Aktuell wird das vorzugsweise im demokratischen Gewand versucht. Die Bundeswehr firmiert als Friedensstifterin, Auslandeinsätze werden als humanitäre Aktionen präsentiert.

Zunehmend wird aber auch offen verteidigt, was ohnedies längst außen- und verteidigungspolitische Doktrin ist – die ökonomischen und geostrategischen Interessen. Angesichts des Führungspersonals der imperialistischen Konkurrenz (Trump, Putin, Xi, Johnson) und etlicher regionalpolitisch ambitionierter Mächte der halbkolonialen Welt werden die „Übernahme von Verantwortung“ durch Deutschland und eine von Deutschland geführte EU als Segen für die Welt verkauft.

Die Bundesregierung hat es bisher recht gut verstanden, die reale, wenn auch längst nicht abgeschlossene Aufrüstung der Bundeswehr, die Beschaffung neuer Ausrüstung und Waffensysteme usw. relativ widerstandslos durchzusetzen. Die Ausweitung des Budgets für die Armee trifft auf keinen größeren Widerstand, die laufenden Auslandseinsätze werden mittlerweile routinemäßig bewilligt. Mittelfristig können wir allerdings einen weiteren Schub an Aufrüstung und Militarisierung erwarten, da ansonsten die EU und Deutschland noch mehr hinter der US-amerikanischen, chinesischen und russischen Konkurrenz zurückbleiben werden.

Wie die letzten Jahre immer wieder gezeigt haben, wird sich eine Massenbewegung gegen Aufrüstung und Krieg wahrscheinlich erst an Fragen eines größeren Einsatzes entzünden, also bei drohenden größeren kriegerischen Auseinandersetzungen und Einsätzen (wie früher zu Jugoslawien, Afghanistan und Irak).

4. Nationaler Konsens und Sozialpartnerschaft – (noch) bevorzugte Politik der herrschenden Klasse

Angesichts der tiefen Krise und der Pandemie, der Notwendigkeit von Staatseingriffen zur Sicherung des Gesamtinteresse des Kapitals, der EU-Krise und der, eine einigermaßen klare Außenpolitik zu formulieren, erlebte die Große Koalition 2020 eine unerwartete Stabilisierung.

Galt sie infolge der Krise der SPD, der Wahl von Walter-Borjans und Esken zu Parteivorsitzenden sowie angesichts der noch immer nicht gelösten Kanzlerkandidatur bei der Union als Auslaufmodell, das noch vor Ende der Legislaturperiode das Zeitliche segnen könnte, so gilt es als wahrscheinlich, dass die Regierung Merkel bis zum Ende dieser Legislaturperiode durchhält.

CDU/CSU konnten parteipolitisch von der Krise profitieren und liegen in den Umfragen mittlerweile stabil über 35 %. Die SPD konnte zwar bei den Umfragen nicht zulegen, hat sich aber auf Olaf Scholz, den personifizierten Vizekanzler, als Spitzenkandidaten festgelegt. Die Grünen sind etwas abgefallen und müssen sich nun mit der SPD um den Platz 2 in den Umfragen streiten, statt die CDU/CSU herauszufordern.

Die AfD hat von der Krise bislang nicht profitieren, sich aber bei 10 % stabilisieren können. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Probleme der kommenden Monate kann man davon ausgehen, dass sie eher zulegen wird (sofern sie sich nicht spaltet, was unwahrscheinlich ist).

Unter den Parlamentsparteien stellen FDP und Linkspartei bislang die eindeutigen Verliererinnen der Corona-Zeit dar.

2021 wird nicht nur das Jahr der Bundestagswahlen. Das politische Leben bis dahin wird von mehreren wichtigen Landtags- und Kommunalwahlen geprägt werden, die auch ein Barometer für die Stimmung im Bundesgebiet abgeben und noch vor den Bundestagswahlen stattfinden: Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sowie Kommunalwahlen in Hessen am 14. März 2021, Landtagswahlen in Thüringen im April, in Sachsen-Anhalt im Juni sowie im Berlin im Herbst 2021.

Hinzu kommt, dass, abgesehen von der SPD, noch alle Parteien ihre SpitzenkandidatInnen für die Bundestagswahlen küren müssen. Für die FDP und die Grünen wird das relativ konfliktfrei zu bewerkstelligen sein. Bei AfD, Linkspartei, vor allem aber bei der CDU/CSU kann das durchaus zu größeren inneren Konflikten führen.

Bei der CDU sind die drei möglichen Vorsitzendenkandidaten (und damit potentielle Kanzlerkandidaten) in der Corona-Krise entweder kaum in Erscheinung getreten oder haben sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Der lange als Favorit gehandelte Laschet versuchte sich wohl zu früh als populistischer Beendiger der Corona-Maßnahmen. Merz und der ohnedies chancenlose Röttgen traten kaum in Erscheinung, auch wenn sich letzter jüngst als außenpolitischer Scharfmacher gegen Russland zu profilieren versucht. Dafür spielte sich Bayerns Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender Söder in den Vordergrund. Auch Gesundheitsminister Spahn konnte sich gegenüber Laschet und Merz profilieren und kommt nun seinerseits als möglicher Kanzlerkandidat (evtl. in Verbindung mit Laschet als Vorsitzendem) in Frage.

In jedem Fall hat die CDU noch keine Entscheidung getroffen. Angesichts der bevorstehenden Agenda eines neuen Anlaufs auf eine stärkere EU-Integration, einer veränderten EU-Finanz- und Kreditpolitik sowie der Notwendigkeit einer gewissen Integration von Gewerkschaften und einer Pseudoklimapolitik, die allesamt auf eine Koalition mit den Grünen (oder als unwahrscheinlichere Option mit der SPD) hinauslaufen, scheint Merz als Vorsitzender oder Kanzlerkandidat unwahrscheinlich.

In jedem Fall wird eine CDU/CSU-Politik auch nach den Wahlen auf eine Stärkung der EU und damit auch eine strategische Partnerschaft mit Frankreich (sowie eine Stabilisierung derer mit Italien und Spanien) zielen. Diese Politik kann außerdem auf Unterstützung durch Grüne und SPD setzen und stößt somit auf wenige parlamentarische Hindernisse. Hinzu kommt, dass die aktuelle Krise das überlegene relative Gewicht des deutschen Kapitalismus gegenüber dem französischen noch einmal deutlich gemacht, was eine Allianz in gewisser Weise erleichtert, solange Deutschland auch gewisse Zugeständnisse an den Partner macht.

Doch diese Politik wird selbst bei einem „dynamischeren“ Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich auf enorme Schwierigkeiten stoßen und die EU wird weiter heftige Krisen durchlaufen. Zum anderen erhöhen die gegenwärtige Krise und die verschärfte internationale Konkurrenz auch den Druck zur Blockbildung bei Strafe des weiteren Zurückfallens.

Daher ist bis zur Bundestagswahl eine Fortführung der Politik der Klassenzusammenarbeit und des nationalen Konsenses wahrscheinlich.

  • Auf politischer Ebene bedeutet das eine Fortsetzung der Großen Koalition bis zum Ende der Legislaturperiode.
  • Die großen Kapitale und die von ihnen dominierten Unternehmerverbände, Stiftungen und Institutionen setzen ihrerseits darauf. Das schließt beginnende, teilweise massive Umstrukturierungen nicht aus. Aber sie sind dabei auf staatliche Unterstützung in gigantischem Ausmaß angewiesen und die Kollaboration mit den Gewerkschaften (insb. IG Metall, BCE, EVG, aber letztlich auch ver.di und andere).
  • Damit soll auch eine relativ einheitliche Außenpolitik gewährleistet werden, eine Fortsetzung der Europapolitik von Merkel/von der Leyen mit Unterstützung von Sozialdemokratie (und Grünen). Auf europäischer Ebene entspricht dem eine fragile Koalition von Konservativen (EVP), Sozialdemokratie, Grünen und Liberalen.
  • Deren politisch-ideologische Klammer bildet ein „Modernisierungsprogramm“, eine Art „Grüner New Deal“ auf europäischer Ebene, dem auf Seiten von Gewerkschaften und reformistischen Apparaten ironischerweise ein Verzicht selbst auf verhaltene Mobilisierungen (also auf ökonomischen Kampf) auf europäischer Ebene entspricht.

Eine Fortsetzung des nationalen Konsenses, der StandortpartnerInnenschaft und der SozialpartnerInnenschaft im Betrieb stößt zugleich auf massive Hindernisse auf internationaler wie nationaler Ebene, die diese Politik zunehmend auch in Frage stellen werden:

  • Dauer und Tiefe der Krise. Je länger diese dauert, umso größer und härter wird der Kampf um eine Neuaufteilung der Märkte und geostrategische Einflusszonen, umso schwerer jede Zusammenarbeit gegen die Krise. Je länger und tiefer die Krise, umso mehr werden die Gegensätze in der EU hervortreten, umso schwieriger das Aushandeln ohnedies schon schwer findbarer Kompromisse.
  • Je länger diese dauert, umso kostspieliger, schwieriger wird die Aufrechterhaltung einer klassenkollaborationistischen Strategie, umso schwerer wird es auf allen Seiten, die eigenen AnhängerInnen, also die Klassen bei der Stange zu halten, die verschiedene Parteien vertreten oder zu vertreten vorgeben. Der Aufstieg des Rechtspopulismus verdeutlicht dieses Problem.
  • Zur Zeit wird die Politik der Zusammenarbeit in Deutschland von der Rechten weitaus heftiger und deutlicher angegriffen als von der Linken und der ArbeiterInnenbewegung. Das liegt zum einen daran, dass Teile des KleinbürgerInnentums, kleine UnternehmerInnen oder Mittelschichten von der Krise sehr heftig betroffen sind, aber auch die schlechter organisierten und daher von Schutzmaßnahmen wie KurzarbeiterInnengeld weniger abgedeckten Schichten der ArbeiterInnenklasse. Zum anderen ist es darin begründet, dass die Rechten eine, wenn auch reaktionäre, populistische, scheinbar radikale Antwort auf die Krise präsentieren.
  • Hinzu kommt, dass wir schon in den letzten Jahren einen Rechtsruck erleben konnten, der politische Antielitenrhetorik, Rassismus mit Nationalismus, Angriffen auf soziale Sicherungsleistungen und andere Einschränkungen der Unternehmerfreiheit verbindet. Wie bei der AfD fungieren Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus als Kitt, der eine imaginäre Einheit von deutschem Kapital und deutscher Arbeit verspricht.
  • Die Mobilisierungen der Umweltbewegung oder gegen Rassismus signalisieren zwar ein Potential einer Gegenbewegung, müssten sich aber mit der organisierten, betrieblichen ArbeiterInnenklasse verbinden. Bei dieser manifestieren sich Ansätze von Gegenwehr bei einzelnen betrieblichen Auseinandersetzungen, möglicherweise in Tarifrunden.
  • Auch wenn die Kernparteien des „nationalen Konsenses“ (CDU/CSU, SPD, Grüne) bei den Umfragen über eine klare Mehrheit verfügen, so dürfen wir angesichts der wirtschaftlichen und politischen Instabilität des kommenden Jahres keineswegs auf eine Extrapolation der aktuellen Umfragen bis zu den Wahlen zählen oder mit einer einfachen Regierungsbildung rechnen, auch wenn zur Zeit eine Koalition aus CDU/CSU und Grünen am wahrscheinlichsten erscheint.

5. Die bürgerlichen Parteien

Die offen bürgerlichen Parteien reflektieren entweder in Parteiform oder in inneren Auseinandersetzungen verschiedene Frontstellungen.

Die CDU/CSU setzt zur Zeit mehrheitlich auf eine Strategie, Kapitalinteressen mit einer gewissen Einbeziehung der ArbeiterInnenklasse (also über Gewerkschaften und Betriebsräte sowie die SPD) zu sichern. Das heißt, sie verleiht sich eine gewisse „soziale“ oder auch „ökologische“ Seite.

In der Substanz kommt für die Lohnabhängigen allenfalls eine mildere Form der Umverteilung von unten nach oben rum, also eine sozial abgefederte Formen der „Sanierung“ von Unternehmen.

Die rechte Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik aus der Union, die Manöver mit der AfD in Thüringen und Sachsen, die offene Kritik am Merkel-Kurs noch im letzten Jahr und deren erzwungener Rücktritt vom Parteivorsitz dürfen trotz günstiger Umfragen nicht vergessen lassen, dass die Gegensätze in der CDU (und CSU) keineswegs beseitigt sind, nur weil die Merkel-KritikerInnen zur Zeit kaum offen auftreten. Die Auseinandersetzungen haben gezeigt, dass es in der Union einen durchaus beachtlichen rechten Flügel gibt, der sich die Option auf eine Koalition mit der AfD als Regierungsalternative zumindest offenhalten will. Die „Querdenken“-Demos werden zweifellos auch einen Einfluss auf die Union in dieser Hinsicht ausüben.

CDU/CSU werden versuchen, die Wahl von CDU-Vorsitz und die Kür des/der KanzlerkandidatIn ohne zu große öffentliche Konflikte zu lösen. Ob und wie das gelingt, ist unklar. Es wäre aber letztlich nur möglich, wenn Merz die Wahlen klar verliert oder aufgibt. Eventuell könnten eine Wahl Spahns oder dessen Aufbau als zukünftige Führungsfigur die Lage in der CDU bis zu einem gewissen Grad befrieden. Umgekehrt aber wird keine Entscheidung verhindern können, dass die Flügelkämpfe in der CDU/CSU an einem gewissen Punkt neu aufbrechen, weil ihnen unterschiedliche Ausrichtungen bürgerlicher Politik zugrunde liegen.

Wir sollten also den derzeitigen Höhenflug der Union in den Umfragen keineswegs als Lösung ihrer Probleme betrachten. Letztlich sind die grundlegenden Schwierigkeiten – das Fehlen einer einheitlichen, längerfristigen Strategie für das deutsche Kapital – nicht gelöst, auch wenn die Notwendigkeit von deren Lösung bewusster sein mag.

Die Grünen versuchen, sich in dieser Lage weiter als Nummer 2 im bürgerlichen Lager zu etablieren. Ihre Transformation von einer kleinbürgerlichen Bewegungspartei zu einer offen bürgerlichen ist längst abgeschlossen, auch wenn sie bis heute nicht auf so viele direkte Unterstützung aus der KapitalistInnenklasse und enge, organisierte Verbindungen verweisen können wie CDU/CSU oder FDP. Im Unterschied zur Union verfügen sie über eine gemeinsame strategische Antwort oder wenigstens eine Formel für die Zukunft des deutschen Imperialismus und der Welt – den Green New Deal.

Dies macht auch ihre Stärke aus. Sie verfügen über ein Konzept, das eine Reorganisation des Gesamtkapitals und zugleich auch eine gesellschaftliche Perspektive für die Mittelschichten, das KleinbürgerInnentum und die Lohnabhängigen verspricht. Daher erscheinen sie auch vielen als einzige bürgerliche, demokratische Alternative zum Rechtspopulismus, während verschiedene Flügel in der CDU/CSU, FDP, aber auch in SPD, Gewerkschaften und selbst der Linkspartei unterschiedliche, ja gegensätzliche Antworten auf den Aufstieg des Rechtspopulismus und der AfD gaben und geben.

Zudem haben die Grünen bereits in der Vergangenheit bewiesen, dass sie auch auf Bundesebene durchaus in der Lage sind, die Interessen des deutschen Kapitals mit umzusetzen, wie etwa die Zustimmungen zum Jugoslawien- oder Afghanistankrieg zeigten. Aber auch in der Gegenwart schaffen es die Grünen, sich als ernsthafte Regierungsoption zu präsentieren wie etwa in Baden-Württemberg, wo sie seit nunmehr neun Jahren den Ministerpräsidenten stellen, welcher die Interessen der Autoindustrie gegen Widerstände aus der eigenen Partei durchsetzt.

Die FDP vertritt eigentlich auch ein Konzept – (Neo-)Liberalismus pur. Auch wenn wichtige Aspekte neoliberaler Doktrin weiter zentrale Bestandteile imperialistischer und kapitalistischer Politik bilden und selbst in scheinbar entgegengesetzte Konzepte aufgenommen werden (selbst in den Green New Deal), so hat die FDP kein wirklich positives Programm. Hinzu kommt, dass der „reine“ Neoliberalismus und das ständige Beschwören des Marktes in der aktuellen Lage keine integrierende Kraft im „Volk“ (also bei der Masse des KleinbürgerInnentums, den Mittelschichten oder in der ArbeiterInnenklasse) entfalten kann.

Ihre langjährige exklusive Stellung als Mehrheitsbeschafferin oder Sprachrohr eines Minderheitsflügels des Kapitals musste die FDP im deutschen bürgerlichen System schon längst abgeben. Auch deshalb verliert sie bei Umfragen. Andererseits wird sie für das deutsche Kapital und die CDU/CSU weiter eine nützlich Rolle spielen, weil sie, trotz des Lobes für Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten, wohl nur für eine Regierung unter CDU/CSU-Führung zur Verfügung steht, also nur als Fortsatz der Unionspolitik vor allem ihres offen neoliberalen Aspekts, in Frage kommt.

Die AfD hat sich als rechtspopulistische, rassistische und nationalistische bürgerliche Oppositionspartei etabliert. Sie ist in praktisch allen Landesparlamenten vertreten. Die Frage ihrer strategischen Ausrichtung hat sie jedoch nicht gelöst. Ein Pol steht für eine Partei, die auf eine Regierungsoption mit der CDU/CSU setzt, der andere fußt auf einem aggressiveren, populistischen Flügel. Das Beispiel Thüringen zeigt, dass auch Teile des „Flügels“ für eine Koalitionsoption zu haben sind. In jedem Fall droht ein weiteres Anwachsen des Rechtspopulismus in Parteiform. Angesichts der aktuellen Politik der Gewerkschaften, der reformistischen Parteien und des Zustands der „radikalen“ Linken ist das fast unvermeidlich. Parallel dazu droht auch eine deutliche stärkere Formierung einer radikaleren, halbfaschistischen und faschistischen Rechten, teilweise in, teilweise außerhalb der AfD.

Bewegungen wie „Querdenken 711“ können eine wichtige Rolle beim Anwachsen beider Kräfte spielen, vor allem aber können sie der AfD, sofern diese in der Lage ist, sich als Wahlalternative für die neue Bewegung zu etablieren, eine ganze Schicht von KleinbürgerInnen und MittelständlerInnen zuführen und damit den genuin kleinunternehmerischen Teil der AfD stärken. Der Zulauf zum Rechtspopulismus nährt sich letztlich aus der Krise des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie.

Die Mittelschichten und das KleinbürgerInnentum bilden zwar in relativ stabilen Perioden die zentralen TrägerInnen der bürgerlichen Demokratie. Aber mit deren drohendem Niedergang schwindet ihr Vertrauen in das politische System. Sie wenden sich Scheinalternativen zu, die ihnen Rettung – und sei es unter der Flagge „echter“ Demokratie, also echten Populismus‘ versprechen. Diesem Scheinradikalismus kann letztlich nur durch ein wirklich radikales, antikapitalistisches Programm der ArbeiterInnenklasse, durch radikale Klassenpolitik der Boden entzogen werden. Nur so kann die ArbeiterInnenklasse zum Pol der revolutionären Hoffnung als Alternative zum scheinradikalen Programm der Konterrevolution werden.

6. ArbeiterInnenklasse und ArbeiterInnenparteien

Der Bewegungsspielraum der herrschenden Klasse hängt zu einem bedeutenden Teil von der Politik der Gewerkschaften und reformistischen Parteien SPD und Linkspartei ab. Im Grunde fungieren Gewerkschaften und SPD als direkte Verbündete der herrschenden Klasse, die selbst eine keynesianische und sozialchauvinistische Politik des deutschen Imperialismus vertreten. Dieser soll im Austausch für die Zusammenarbeit der Klassen und die Unterstützung seiner außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Ziele Zugeständnisse machen, um einen gewissen Mindeststandard für (Teile der) Lohnabhängigen zu sichern.

Diese Politik funktioniert letztlich immer nur auf Kosten der Gesamtinteressen der Klasse, konkret immer auch auf Kosten der schwächer gestellten Lohnabhängigen außerhalb der großen Unternehmen, von MigrantInnen, proletarischen Frauen, Jugendlichen, RentnerInnen. Selbst die Zugeständnisse, die für die Kernschichten der Klasse abfallen, die oft einen wichtigen Teil der ArbeiterInnenaristokratie stellen, sind durch enorme Ausbeutung eben dieser Teile der Klasse erkauft. Hinzu kommt, dass es bei einer solchen Politik gerade in Krisenperioden unmöglich ist, dass die ArbeiterInnenbewegung den lohnabhängigen Mittelschichten und auch den unteren Schichten des KleinbürgerInnentums eine Perspektive bieten und so eine Alternative zum Rechtspopulismus darstellen kann.

Gewerkschaften

Die Absage aller Aktionen am Ersten Mai durch den DGB, die Verschiebung von Tarifrunden, aber auch die Forderungen und Strategien, die von den Führungen erhoben werden, sprechen alle dafür, dass die Gewerkschaften auf eine sozialpartnerschaftliche Strategie in der Krise setzen – teilweise sogar rechts von der SPD, wie die Auseinandersetzung um Kaufprämien für die Autoindustrie zeigte. Dass die Gewerkschaftsspitzen einer Konfrontation aus dem Weg gehen wollen, zeigen u. a. der Verrat der IG Metall-Bürokratie in Sonthofen oder die Abkommen bei Lufthansa oder Galeria Karstadt Kaufhof. Auch in den Tarifrunden werden die Gewerkschaftsführungen auf Kompromisse setzen.

Andererseits ist ihr Spielraum nicht unbeschränkt. Grundsätzlich hängt er davon ab, ob das Versprechen „(zeitweiliger) Verzicht gegen Erhalt der Arbeitsplätze“ aufgeht. Für beachtliche Teile der ArbeiterInnenklasse wird das nicht möglich sein, selbst wenn der deutsche Imperialismus stärker als seine Konkurrenz aus der Krise herauskommt.

Folgerichtig wird sich Widerspruch zwischen den Interessen der Bürokratie und der Klasse in der Krise verschärfen. Dem versuchen die Apparate zwar, durch das Anknüpfen an langjährige Forderungen und Erwartungen (4-Tage-Woche bei IG Metall, 4 Prozent Lohnforderung im ÖD) nachzukommen. Gleichzeitig nehmen sie diesen durch Zugeständnisse an das Kapital (kein Lohn- und Personalausgleich beim IG Metall-Vorschlag einer Arbeitszeitverkürzung; Laufzeit im ÖD) im Voraus die Spitze.

Zugleich werden die Reste innergewerkschaftlicher Demokratie weiter angegriffen oder beschnitten. Dazu wurden auch die Corona-Regeln extensiv genutzt. Der objektiv wachsende Gegensatz zwischen Bürokratie und ArbeiterInnenklasse erfordert auch einen noch härteren Zugriff auf die Gewerkschaften als Organisation.

Angesichts der Passivität im Kampf, des Verzichts auf jede eigenständige politische Mobilisierung der Gewerkschaften hat diese Politik eine demoralisierende Wirkung auf die gesamte Klasse und macht sie für rechte Strömungen, Rassismus und Populismus empfänglich, zumal diese an die nationalistische Standortpolitik und die SozialparterInnenschaft anknüpfen können. Die Bürokratie fesselt die Klasse nicht nur an Kapital und Kabinett, ihre Strategie hat auch verheerende, zerstörerische Auswirkungen auf das Bewusstsein. Die Entsolidarisierung der Lohnabhängigen, die die Bürokratie und auch reformistische PolitikerInnen gern beklagen, haben sie zu einem guten Teil selbst zu verantworten. Es gehört zu den TaschenspielerInnentricks der Apparate, die Verantwortung für die Entpolitisierung der Beschäftigten, die die herrschende Gewerkschaftspolitik aktiv befördert, diesen selbst in die Schuhe zu schieben. Mit der Krise und dem Aufstieg des Rechtspopulismus droht real die Gefahr, dass politisch rückständigere und frustrierte ArbeiterInnen nach rechts gehen, weil sie vom pseudoradikalen Oppositionsversprechen des Populismus anzogen werden. Die Wahlerfolge der AfD unter Lohnabhängigen und auch Gewerkschaftsmitgliedern belegen, wie bedrohlich und real diese Entwicklung geworden ist.

Dessen ungeachtet wird sich der Apparat weiter unvermeidlich gegen linke AbweichlerInnen, Aufbauversuche einer organisierten Opposition und auch gegen Lohnabhängige richten, die aufgrund des Drucks der Verhältnisse aus dem Korsett des Apparats auszubrechen versuchen.

Eine klassenkämpferische Linke muss diese Schichten (wie auch kämpfende, unorganisierte ArbeiterInnen) ansprechen und versuchen, sie zu einer bundesweiten klassenkämpferischen Opposition, einer Basisbewegung zu formieren. In der nächsten Periode werden sich Ansatzpunkte dazu ergeben, die auch in Betrieben auftauchen können, die bisher als unpolitisch galten. Die VKG stellt bei allen unbestreitbaren Schwächen zur Zeit den einzigen bundesweiten Ansatz für die Vernetzung und Organisierung von kämpferischen ArbeiterInnen, linken gewerkschaftlichen und betrieblichen Gruppierungen und linken Organisationen dar. Ihre Bedeutung sollte daher nicht unterschätzt werden. Ein Kurswechsel in den Gewerkschaften und in den Betrieben wird nicht einfach spontan entstehen. Er erfordert den Aufbau einer Opposition, die für Klassenkampf statt Klassenkollaboration und den Bruch der Macht der Bürokratie, also für eine arbeiterInnendemokratische Reorganisation der Gewerkschaften steht.

Die Frage der Kontrolle des Apparates über die Klasse hat noch weitere Seiten. An einem bestimmten Punkt kann auch die Einheit der Bürokratie in Frage gestellt werden, z. B. wenn sich Teile des Apparates genötigt sehen, unter dem Druck der Verhältnisse weiter zu gehen, als sie wollen. Eine solche Entwicklung würde nicht nur enorme Konsequenzen für die Gewerkschaften haben, sie würde eine noch weit größere Umgruppierung der Klasse auf die Tagesordnung setzen, die auch enorme Auswirkungen auf SPD und Linkspartei hätte und die Frage eine revolutionären politischen Neuformierung aufwerfen würde. Auch wenn die Gewerkschaftsbürokratie und die reformistischen Führungen eine solche Entwicklung in jedem Fall vermeiden und verhindern wollen, so kann eine schockartige, dramatische Zuspitzung des Klassenkampfes in der kommenden Periode zu solchen Brüchen führen.

SPD und Linkspartei

Die Kontrolle der sozialdemokratischen Bürokratie über die Gewerkschaften wurde zwar in den letzten Jahren von der Linkspartei etwas relativiert. Sie erhielt aber letztlich nur einen Teil der Apparatbeute. Politisch hat es an der SPD-Kontrolle nichts geändert. Im Gegenteil, die Linkspartei präsentiert sich als Stütze des Apparates in seiner Gesamtheit.

Die relativ stabile Kontrolle der Gewerkschaften durch die Bürokratie und die Bedeutung der sozialdemokratischen Gewerkschaften für die SPD zeigte sich nicht zuletzt in der letzten Parteikrise. Während die Mitglieder der SPD eigentlich mehrmals bei Urabstimmungen ihren Wunsch nach Ende der Großen Koalition zum Ausdruck brachten, stand und steht die Gewerkschaftsbürokratie für eine weitere Beteiligung an ihr. Für die herrschende Klasse erweist sich die Sozialdemokratie gerade deshalb als nützlich, weil ihre Regierungsbeteiligung auch gewährleistet, dass die Gewerkschaften Ruhe halten, als Ordnungsfaktor und Garant des Klassenfriedens wirken.

Die SPD-„Linke“ wiederum hat wenig eigenständige politische Kraft und Basis, wie die Ernennung von Scholz zum Kanzlerkandidaten gezeigt hat. Bis auf wenige Ausnahmen wie Hilde Mattheis (Vorsitzende des Vereins Forum DL 21) hat sie sich mit der Großen Koalition und Scholz als Kanzlerkandidaten abgefunden. Der ehemaliger Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert kann sich u. U. sogar eine Fortsetzung der Großen Koalition vorstellen.

Dahinter steht auch die irrige Vorstellung, dass die SPD in den letzten Monaten, zumal unter der Corona-Krise, die Koalition nach links getrieben hätte. Dabei rechnet sie sich alle Maßnahmen zur Abfederung der Krise als beginnenden „Kurswechsel“ an und wird dabei von Teilen der Gewerkschaftsbürokratie unterstützt.

Zugleich verspricht die SPD eine „Reformkoalition“ unter Olaf Scholz, ein politisches Wunder für den Fall, dass es für Rot-Rot-Grün eine parlamentarische Mehrheit geben sollte und Grüne und Linkspartei dabei mitspielen sollten.

Andererseits hat die SPD ihre kategorische Ablehnung einer Regierung mit der Linkspartei politisch aufgegeben, was nicht nur den linken Flügel befrieden soll, sondern auch die einzige Möglichkeit darstellt, das Ziel einer SPD-geführten Regierung wenigstens rechnerisch zu begründen.

Wie die Landesregierungen schon seit Jahren zeigen, ist eine Zusammenarbeit von SPD und Linkspartei politisch recht problemlos. Hinzu kommt, dass einige Abgeordneten der SPD, Linken und Grünen schon seit Jahren den Boden für eine solche Koalition vorzubereiten versuchen – wahrscheinlicher wird sie deshalb jedoch nicht. Dem deutschen Kapital erscheint das außenpolitische Risiko der Linkspartei an der Regierung zu groß. Grüne und SPD-Rechte ziehen daher eine Koalition mit der Union oder ihre Oppositionsrolle einer „linken“ Regierung vor. Eine rot-rot-grüne Koalition ist daher nicht nur sehr zweifelhaft, weil die drei Parteien zusammen wahrscheinlich keine Mehrheit erringen werden. Selbst im Fall eines Wahlerfolges der drei dürfte sie nicht zustande kommen. Insbesondere die Grünen ziehen eine Koalition mit CDU/CSU einer „linken“ Regierung vor.

Die Linkspartei hadert zwar noch etwas mit der Koalitionsausrichtung. Ihre Führung will diese aber herbeiführen. Im Grunde wäre angesichts des durch und durch reformistischen Programms der Partei auch alles andere unlogisch. Wer den Kapitalismus mithilfe von parlamentarischen Mehrheiten „transformieren“ oder wenigstens bändigen will, der muss auch in bürgerliche Regierungskoalitionen eintreten. Praktisch beweist die Linkspartei ohnedies täglich in Landesregierungen, dass die herrschende Klasse von ihr nicht allzu viel zu befürchten hat.

Auch politisch-ideologisch hat die Linkspartei das Problem eigentlich gelöst mit den Formeln der „Transformationsstrategie“, die ausdrücklich auch Regierungsbeteiligungen einschließt, sofern es eine „gesellschaftliche Mehrheit“ für ein Reformprogramm gibt.

Die Frage, ob sich die Partei eher parlamentarisch oder bewegungsorientiert ausrichten soll, ist praktisch immer schon entschieden gewesen. Seit einigen Jahren ist sie aber auch „theoretisch“ gelöst in der Formel der „verbindenden Partei“, die in Parlament, Regierung und auf der Straße aktiv sein solle und so einen „Transformationsblock“ an der Regierung und, wenn nötig auch in der „begleitenden“ Mobilisierung für diesen, voranbringen soll.

Die Ausrichtung der Linkspartei auf ein Bündnis mit der SPD, das mögliche Drücken beider in die Oppositionsrolle, der gleiche Klassencharakter der Parteien als bürgerliche ArbeiterInnenparteien wirft trotz aller ideologischen Unterschiede und trotz der Tatsache, dass die Linkspartei oft einen Bezugspunkt für politisch fortgeschrittenere ArbeiterInnen und v. a. auch soziale Bewegungen verkörpert, die Frage auf, wozu es eigentlich zwei verschiedene reformistische, bürgerliche ArbeiterInnenpartei gibt.

Diese Frage würde sich sowohl bei einer (unwahrscheinlichen) gemeinsamen Regierung wie auch im Falle einer Opposition stellen. Die nach dem zukünftigen Verhältnis der Parteien wie überhaupt der Gewerkschaften zur ArbeiterInnenklasse könnte sich aber auch bei einer Verschärfung von Konflikten der Gewerkschaften mit (öffentlichen) Arbeit„geber“Innen oder bei Brüchen von Basis und Führung in den Gewerkschaften stellen. So wie sich daraus Spaltungstendenzen in der SPD ergeben können, so können solche Absatzbewegungen auch die Linkspartei (wenn auch vorzugsweise im Osten) treffen.

Umgekehrt werden die Frage der kommenden Wahlen und die der Regierungsbeteiligung in der Linkspartei weit mehr innere Konflikte aufwerfen als in der SPD. Die Kandidatur von Wissler (marx21) und deren Unterstützung durch Lafontaine/Wagenknecht wie von der Thüringer Landesvorsitzenden Hennig-Wellsow stehen deutlicher für die verschiedenen Flügel der Linkspartei als die beiden bisherigen Vorsitzenden. Hinzu kommt, dass bei der Linkspartei ein Flügelkampf um die Frage der Vorsitzenden, der SpitzenkandidatInnen und die zentralen Wahlaussagen entstehen kann, weil sie stärker in linken, sozialen Bewegungen verankert ist, einen vergleichsweise stärkeren und radikaleren linken Flügel als die SPD hat und weit weniger unter Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie steht. Zudem wird die Kandidatur von Wissler auch marx21 unter Druck setzten, und zwar von rechts (z. B. zu Palästina) wie von links (als vorgebliche Revolutionärin, die womöglich eine grün-rot-rote Regierung aushandeln muss).

Auch aus diesem Grund müssen wir den ideologischen und politischen Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften, der SPD und vor allem der Linkspartei Aufmerksamkeit schenken, darin eingreifen. Unter Umständen, wenn auch wahrscheinlich nicht vor den Bundestagswahlen, kann es in diesen zu Brüchen kommen. In jedem Fall ist die Linkspartei die unmittelbar instabilste Kraft des reformistischen Spektrums. Zugleich müssen wir uns zur Zeit auf die Frage von Betrieben und Gewerkschaften konzentrieren, weil hier der Gegensatz von bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik und den Interessen der Basis deutlicher wird. Diese Probleme wirken außerdem in alle Formen der sozialen Bewegungen oder aus ihnen hervorgehender Gruppierungen hinein – die Grünen in FFF, der Einfluss der Linkspartei in Migrantifa, …

7. Radikale Linke und linke Strömungen

Die radikale Linke – also eine bunte Mischung unterschiedlicher Kräfte, die sich am linken Rand der reformistischen Parteien (EntristInnen in der Linkspartei) oder links von der Linkspartei befinden, steckt selbst in einer tiefen Krise. Aus der Passivität und Stagnation der Linkspartei vermag sie keinen Nutzen zu ziehen. Im Gegenteil, ein großer Teil der „radikalen Linken“ oder radikaler Bewegungselemente ist direkt oder indirekt an reformistische oder linksbürgerliche Kräfte oder Institutionen des ideologischen Staatsapparates (Unis, Stiftungen, NGOs, …) gebunden.

Eine besondere, eigentlich auch im weiteren Sinn nicht zur politischen Linken zählende Form stellen dabei die sog. Antideutschen dar. Ihre gegen alles und jeden, vor allem aber gegen InternationalistInnen und AntiimperialistInnen erhobener Vorwurf „verkürzter“ oder genauer „regressiver“ Kapitalismuskritik und ihr inflationär, demagogisch und denunziatorisch gebrauchter „Antisemitismusvorwurf“ entpuppen sich regelmäßig als staatstragende, proimperialistische Ideologie. Die Antideutschen sind wenig mehr als eine fünfte Kolonne des deutschen und US-amerikanischen Imperialismus‘.

Da sie aber als scheinbar linke KritikerInnen des Kapitalismus auftreten und einen ideologischen Einfluss unter Studierenden, Intellektuellen, aber auch in Gewerkschaften und reformistischen Parteien (v. a. deren Jugendorganisationen) ausüben, braucht es auch eine gezielte, politische Auseinandersetzung mit ihren Ideologien, um ihren Einfluss gezielt zu bekämpfen.

Sie haben sich auch gut in Teilen der reformistischen Apparate eingenistet und betreiben dort wie auch in mehr oder minder offener Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz eine aktive Politik zur Denunziation von antiimperialistischen Linken, um deren Veranstaltungen zu verhindern oder auch Berufsverbote und Entlassungen zu erwirken.

Bewegungen und kleinbürgerliche Strömungen

In der radikalen Linken sind außerdem in den letzten Jahren verschiedene Spielarten des kleinbürgerlichen Radikalismus ideologisch vorherrschend, also von „linken“ Theorien und Konzepten, die sich von Klassenpolitik und marxistischer Theorie mehr oder minder bewusst entfernt haben und diesen eigentlich entgegengesetzt sind.

So herrschen in verschiedenen Bewegungsansätzen und Milieus in der Regel Arten kleinbürgerlicher (tw. auch offen bürgerlicher Ideologie) vor. Politisch ist das eine Strafe für das Versagen und die Anpassung der Führungen der ArbeiterInnenbewegung. Es ist aber auch ein Resultat des Vordringens reaktionärer Weltanschauungen, vor allem des Postmodernismus und des subjektiven Idealismus, also ideologischer Ausdruck von Niederlagen der ArbeiterInnenklasse seit 1990.

In der Umweltbewegung – insbesondere in FFF – können wir einen bedeutenden Einfluss offen bürgerlicher, grüner Politik und Programmatik erkennen. Doch auch die Gruppierungen wie EG oder XR prägenden Theorien und Konzepte sind einer Klassenpolitik direkt entgegengesetzt. XR repräsentiert eine wilde Mischung eines pseudodemokratischem Populismus‘. EG vertritt einen kleinbürgerlichen Antikapitalismus, der anstelle einer demokratischen Planwirtschaft auf das Zauberwort „dezentral“ setzt. Es ist kein Zufall, dass diese Bewegungen und Kräfte nicht in der Produzentin des gesellschaftlichen Reichtums, der ArbeiterInnenklasse, das Subjekt der Veränderung erblicken, sondern in den „kritischen“ KonsumentInnen.

Die Frauenbewegung erlebte im Gefolge der internationalen Frauenstreiks auch einen gewissen Aufschwung, ist jedoch in Deutschland deutlich kleinbürgerlich-feministischer geprägt als in anderen Ländern, wo der Frauenstreik sehr viel mehr einer der ArbeiterInnenklasse war (Schweiz, Spanien) oder wo sozialistisch-feministische Theorien am linken Flügel stärker wurden (z. B. Feminismus für die 99 %) und z. B. in der „Social Reproduction Theory“ einen materialistischen Anspruch erheben.

Eine Dominanz von gegen den Marxismus gerichteten Theorien können wir auch unter Teilen der antirassistischen Mobilisierungen, v. a. im universitären Bereich, feststellen. AnhängerInnen der Postkolonialismustheorie treten dort mit dem Anspruch auf, eine „neue“ Theorie entwickelt und den „eurozentristischen“ Marxismus überwunden zu haben. In Wirklichkeit stellen sie eine politisch-ideologische Regression dar, die, insbesondere gegenüber der halbkolonialen ArbeiterInnenklasse zu extrem reaktionären Schlussfolgerungen führt.

Mit diesen Konzepten sind oft verschiedene Spielarten von Identitätspolitik und Dekonstruktivismus verbunden. Typisch für viele AnhängerInnen oben genannter Ideologien und viele AktivistInnen kleinbürgerlicher Bewegungen werden diese Konzeptionen in den eigentümlichsten Mischungen kombiniert. Dieser Mangel an innerer Folgerichtigkeit erscheint ihren AnhängerInnen oft nicht als Problem, sondern im Gegenteil als Vorzug gegenüber dem „starren“ Marxismus. Theorien, die die Totalität der Verhältnisse in ihrem Zusammenhang schlüssig zu erklären, Programme, die einen klaren Klassenstandpunkt und innere Folgerichtigkeit für sich beanspruchen, erscheinen in der kleinbürgerlichen Linken per se verdächtig, ja geradezu „totalitär“, autoritär, bevormundend.

Geschichte und Gesellschaft werden nicht als Gesamtzusammenhang betrachtet, deren innere Entwicklungslogik und Gesetzmäßigkeiten verstanden werden wollen, um eine konsequente revolutionäre Politik zu begründen. Geschichte wird zum „Narrativ“, zur letztlich subjektiven Erzählung. Der „Erzählung“ der Herrschenden wird allenfalls ein „Gegennarrativ“ entgegengehalten, dem „Diskurs“ ein Gegendiskurs. Die vorherrschende postmoderne Ideologie wärmt letztlich immer den subjektiven Idealismus in der einen oder anderen Form auf und steht in mehr oder weniger offener Gegnerschaft zum historischen und dialektischen Materialismus. Sie reflektiert auf einer ideologischen Ebene den Rechtsruck unserer Zeit und entspricht der Klassenlage einer kleinbürgerlichen Intelligenz, der die ArbeiterInnenklasse in der Regel nur als verbürgerlichte, integrierte Klasse entgegentritt. Letzteres ist sicher nicht Schuld der StudentInnen oder von rassistisch unterdrückten Intellektuellen oder sexistisch unterdrückten Frauen oder LGBTIA-Menschen.

Subjektiv – und durchaus nachvollziehbar – erscheinen ihnen Theorien wie der Postkolonialismus als radikale Kritik an Verhältnissen, als deren integrale Bestandteile die Gewerkschaften und reformistischen Parteien tatsächlich wirken.

Das ändert freilich nichts an ihrem wirklichen Gehalt und Klassencharakter.

Es ist daher auch kein Zufall, dass sich diese Theorien und deren „radikale“ VertreterInnen leicht in gewerkschaftliche, reformistische und bürgerliche Organisationen und Apparate sowie in diverse NGOs integrieren lassen. Dieses Phänomen können wir schon seit Jahren bei Autonomen und Post-Autonomen beobachten. Es erstreckt sich natürlich auch auf andere Spielarten des kleinbürgerlichen Radikalismus.

So wie reformistisches oder radikal syndikalistisches Bewusstsein in allen betrieblichen und gewerkschaftlichen oder auch in sozialen Kämpfen (z. B. Wohnen) naturwüchsig aufkommen und uns entgegentreten werden, prägen verschiedene „radikale“ kleinbürgerliche Ideologien Bewegungen, die im Kampf gegen Unterdrückung oder Umweltzerstörung entstehen.

Das betrifft, als aktuelles, neueres Beispiel, auch die antirassistische Bewegung, in deren Kern eine starke identitätspolitische Ideologie steht. Das gilt auch für deren linken Teil, Migrantifa, wo neben universitären Intellektuellen auch stalinistische (young struggle), reformistische (Linkspartei) und zentristische Kräfte (marx21) eine wichtige Rolle spielen. Migrantifa und vergleichbare politische Strömungen beinhalten außerdem eine berechtige Kritik an der Praxis vieler MigrantInnenorganisationen, die ihre Mitglieder über Jahre aus den Kämpfen in Deutschland eher rausgehalten haben und nur in Bezug auf die Bewegungen in ihren Herkunftsländern mobilisierten. Zugleich stellt das Vordringen postkolonialistischer Theorie eigentlich eine ideologische Rechtsentwicklung dar (auch wenn der Bruch mit den vormals zumeist stalinistischen Befreiungstheorien für sich genommen richtig und notwendig ist).

Wir sollten außerdem auch nicht die weitere Bedeutung der „traditionellen“ linken migrantischen Organisationen unterschätzen, die weiter einige tausend Mitglieder organisieren. Zahlenmäßig am bedeutendsten sind hier sicher die kurdischen Organisationen. Ihr Einfluss schwindet im Moment aber unter den studentischen AnhängerInnen. Jene unter den gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen haben sie oft schon vor etlichen Jahren verloren, insbesondere in jenen Bereichen, wo migrantische Lohnabhängige in die gewerkschaftlichen Strukturen integriert werden konnten.

Eine bedeutende Entwicklung seit einigen Jahren stellt jedoch auch die Migration vieler junger Lohnabhängiger aus der EU, v. a. aus Südeuropa dar, die zunehmend auch in bestimmten Bereichen prekär Beschäftigter aktiv zu werden versuchen.

Die politische Auseinandersetzung und Arbeit mit Kräften aus diesem Spektrum ist jedoch wichtig (a) wegen der enormen Bedeutung des Kampfes gegen Rassismus in der nächsten Periode und (b), weil sich eine subjektiv radikale neue Schicht von migrantischen jungen Intellektuellen heranbildete, die natürlich auch integriert werden kann (und zum Teil auch schon wird), die jedoch auch eine wichtige Kraft für eine Neuformierung einer revolutionären Linken darstellen mag.

Postautonome

Die (post-)autonomen Kräfte bilden wohl den zahlenmäßig größten und am stärksten in Erscheinung tretenden Teil der radikalen Linken. Ihre Einheit ist jedoch überaus brüchig. Sie umfassen verschiedene Milieus, die entweder bezüglich ihrer Aktivität differieren (Hausbesetzung/Stadtteilarbeit versus Kampagnen in bestimmten Politikfeldern) und/oder aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung. Dies umfasst Strömungen, die Versatzstücke aus Autonomismus und Maoismus zu kombinieren trachten, ohne sich jedoch offen stalinistisch zu geben (z. B. die Perspektive Kommunismus). Diese üben regional einen bestimmten Einfluss aus (z. B. die Revolutionäre Aktion Stuttgart, RAS, oder auch der Rote Aufbau Hamburg, beide Teil von Perspektive Kommunismus, oder auch die Organisierte Autonomie in Nürnberg).Insgesamt besitzen sie aber keine wirkliche Aufbauperspektive.

Des Weiteren findet sich ein großes, dem Anarchismus oder „traditionellen“ linksradikalen Autonomismus zugehöriges Milieu (z. B. etliche aus der HausbesetzerInnenszene), das wahlweise auf gewisse Wiederbelebungsversuche von Antifa oder Kiezarbeit setzt. Dieses Milieu versucht, auch in der MieterInnenbewegung tw. zu agieren.

Ein Teil der Szene ist weiter stark von Antideutschen beeinflusst und kann im Grunde als eigentümliche Mischung aus Linksradikalismus und reaktionärer Politik gelten. Er dürfte regional einige Bastionen haben, z. B. in Leipzig. Diese Teile der Autonomen stellen letztlich den verrottetsten und nutzlosesten Teil der „Szene“ dar, der praktisch offen antiinternationalistisch und arbeiterInnenfeindlich auftritt.

Die wichtigsten, weil konzeptionell und organisatorisch wohl hegemonialen Teile der Postautonomen, bilden entweder antinationale Strömungen wie NIKA (darunter TOP in Berlin), die sich als kommunistisch darstellen, im Grunde eine mildere Version der Antideutschen, wenn auch mit einem für die Autonomen relative hohen theoretisch-inhaltlichen Niveau. Sie hegen auch den Anspruch auf eine gewisse innere Folgerichtigkeit ihrer Ideen, sind aber hoffnungslos in eine obskure Mischung aus Wertkritik, Linksradikalismus und Propagandismus verstrickt. Wo sie praktische Forderungen erheben, tun sie das in der Form eines Minimal-Maximal-Programms.

Die weitaus wichtigste Kraft im postautonomen Spektrum ist weiter die IL. Sie ist als einzige dieser Gruppierungen bundesweit kampagnenfähig und dominiert auch seit Jahren bestimmte politische Bündnisse und Bewegungen. So übt die IL einen dominierenden Einfluss auf EG aus.

Allen diesen Kräften gelingt es aber nicht, sich in Betrieben und Gewerkschaften zu verankern. Das liegt bei einem Teil daran, dass der betriebliche oder gewerkschaftliche Kampf als solcher bei vielen keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Zum anderen aber auch daran, dass diese Tätigkeit – insbesondere auch die Arbeit für Gewerkschaftsapparate oder linke Parteien – als Privatsache verstanden wird. So sind eigentlich mittlerweile viele, darunter auch ehemalige Autonome, GewerkschaftsfunktionärInnen geworden oder von Stiftungen der Linkspartei aufgesogen. Aber dies war immer von ihrer autonomen Tätigkeit abgetrennt. So mag die Arbeit bei Gewerkschaften oder in linken Institutionen als „private“ Tätigkeit begonnen haben, faktisch wird ein Teil der Autonomen von diesen absorbiert und so integriert.

Es folgt – trotz aller Beschwörung von „Klassenorientierung“ bei der IL – aus dem Konzept der Postautonomen, dass der betriebliche und gewerkschaftliche, zumal der gesamte antibürokratische Kampf von der politischen Tätigkeit der autonomen Gruppen getrennt konzipiert ist, so dass ihnen sämtliche Elementarformen des Klassenkampfes im Betrieb fremd bleiben oder allenfalls das Privatvergnügen Einzelner oder kleiner Arbeitsgruppen darstellen. Diese faktische Abstinenz von Betrieb und Gewerkschaft reflektiert letztlich den kleinbürgerlichen Charakter der autonomen Szene, eine Schranke, die immer wieder Minderheiten der Autonomen zu überschreiten versuchen. Damit das aber gelingt, ist nicht weniger als ein Bruch mit der (post)autonomen Politik nötig.

Da sich das Gros der Szene aber gerade in die gegenteilige Richtung bewegt, kann davon ausgegangen werden, dass die Autonomen in den kommenden Kämpfen und für die Entwicklung des Klassenkampfes vor allem ein Hindernis darstellen werden.

Stalinismus und Maoismus

Die außerhalb der Linkspartei existierenden reformistischen, stalinistischen und maoistischen Gruppierungen, aber auch die ZentristInnen trotzkistischen Ursprungs stagnieren.

DKP und die SDAJ befinden sich in einem weiteren Niedergang, erstere überaltert immer mehr. Sie verliert auch die letzten Reste ihrer betrieblichen und gewerkschaftlichen Positionen und ihres Einflusses, zugleich hat sie sich eindeutig restalinisiert. Daran ändert die Abspaltung der KO als an der KKE orientierte Strömung auch nichts.

Im Grunde sind beide Gruppen politisch nutz- und perspektivlos. Sie tragen mehr zur Desorientierung bei als zu sonst etwas. Von ihnen ist nicht zu erwarten, dass sie eine bedeutende Rolle in zukünftigen Auseinandersetzungen und, von Individuen abgesehen, in der ArbeiterInnenklasse spielen werden.
Dafür tragen DKP/SDAJ jedoch mehr als die maoistischen Strömungen eine gefährliche Verwirrung in die Linke und die ArbeiterInnenklasse hinein, wenn es um die Einschätzung des russischen und chinesischen Imperialismus oder solch illustrer Massenmörder wie Assad geht.

Immerhin haben DKP und SDAJ anders als andere Medien, Plattformen und Teile der Friedensbewegung bislang keine Abgleitflächen zu den Hygiene-Demos gezeigt, während Sputnik und Nachdenk-Seiten immer mehr in die Verteidigung rechter Umtriebe verstrickt sind. Dass diese Kräfte diesen Weg gingen, hängt aber nicht nur mit einer Leugnung der Corona-Gefahr und einer abenteuerlichen Beschönigung des rechten Charakters der „Querdenken“-Demos zusammen, sondern auch mit ihrer Weltsicht, der zufolge China und Russland Kräfte des Fortschritts darstellen, die die „kosmopolitischen“ Finanzkapitale plattmachen wollen. Daher ergeben sich natürlich gewisse Berührungspunkte zu rechten UnterstützerInnen von Putin und Trump wie dereinst beim „Friedenswinter“.

Die maoistischen Strömungen sind zwar in der Regel deutlich kleiner als die DKP. Aber sie strahlen mehr Dynamik aus und versuchen, mit ihrer Mischung aus Linksradikalismus und Volksfrontpolitik sowie einer mehr oder minder grotesken Selbststilisierung, die an die Dritte Periode des Stalinismus oder an die Hochzeiten des Proletkults anknüpfen soll, zu rekrutieren. Dabei versuchen die MLPD, sicherlich die mit Abstand größte und wichtigste maoistische Gruppierung, oder Gruppen wie Arbeit und Zukunft oder der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, vor allem als proletarische ArbeiterInnenorganisationen zu erscheinen (was oft ein etwas altbackenes Auftreten mit sich bringt). In jedem Fall versuchen diese Strömungen (ähnlich wie kleiner werdende Teile der DKP, eine kleine Minderheit der Autonomen und etliche trotzkistisch-zentristische Strömungen), Verbindung zu ArbeiterInnen in Kämpfen zu knüpfen, intervenieren bei ihnen jedoch mit einem klassischen Minimal-Maximal-Programm. Einige Organisationen wie Kommunistischer Aufbau versuchen, sich einen linkeren Anstrich zu geben und als jugendlich-dynamisch zu präsentieren. Im Unterschied zu DKP/SDAJ stellen die MaoistInnen mitunter jedoch Formen des Zentrismus, nicht des Reformismus, dar, was sich auch in ihrem allgemein linkeren Auftreten äußert, wenn auch mitunter mit extremen Formen des Opportunismus kombiniert.

Einige maoistische und halbautonome Gruppen bekennen sich zum Aufbau einer Antikrisenbewegung, auch wenn sie von einem korrekten Verständnis von Einheitsfront weit entfernt sind.

Trotzkistischer Zentrismus

Die trotzkistischen zentristischen Gruppierungen befinden sich wie die stalinistischen/maoistischen insgesamt auch in Stagnation bzw. verlieren. Marx21 ist wahrscheinlich die größte, aber auch am stärksten mit dem reformistischen Apparat der Linkspartei verwoben, was insgesamt auch die Frage aufwirft, ob marx21 nicht gänzlich vom Reformismus aufgesogen wird, insbesondere falls J. Wissler Parteivorsitzende der Linkspartei werden sollte. Schon seit Jahren sind die Abgeordneten von marx21 von den anderen Bundestagsabgeordneten nicht zu unterscheiden. Wer nicht weiß, dass diese „RevolutionärInnen“ sein sollen, merkt es einfach nicht. Andererseits kann die Wahl von Wissler auch zu inneren Widersprüchen bei marx21 führen, sollte sie sich als verlässliche reformistische Vorsitzende erweisen.

Die Spaltung von SoL und SAV hat beide deutlich geschwächt, wobei die SoL deutlich dynamischer und aufbauorientierter in Erscheinung tritt und zur Zeit wohl auch eher linker als die SAV ist. Dies dürfte reale Desintegrationstendenzen haben.

Die Sozialistische Gleichheitspartei, SGP, erweist sich als rein elektoraler Sektiererclub. Die ISO bewegt sich im rechten Spektrum des Trotzkismus.

Aufgrund ihrer medialen Präsenz erscheint RIO nach wie vor als dynamische Gruppe, dürfte aber realiter stagnieren und nicht in der Lage sein, aus ihren Vorfeldgruppen Mitglieder zu gewinnen.

Der trotzkistische Zentrismus unterscheidet sich trotz eines formalen Bekenntnisses zum Übergangsprogramm nicht grundlegend von anderen Spielarten des Zentrismus. Er stellt wie jener einen Teil des Problems, nicht der Lösung dar.

Wie manche StalinistInnen weisen aber einige Kräfte des trotzkistischen Zentrismus eine aktive Orientierung zur ArbeiterInnenklasse auf. Es ist kein Zufall, dass bei allen Schwächen der Gewerkschaftslinken SoL und ISO und einige kleinere Gruppierungen in dieser aktiv sind und die Notwendigkeit des Aufbaus einer Opposition in den Gewerkschaften anerkennen, auch wenn sie ein letztlich opportunistisches Verständnis von dieser Aufgabe vertreten.

Radikale Linke und Klassenkampf

Wir müssen allen Gruppen besondere Aufmerksamkeit schenken, die für den Aufbau einer Antikrisenbewegung und einer VKG gewonnen werden können, und versuchen, diese aktiv in gemeinsame Aktionen zu ziehen. Gerade der Aufbau einer Antikrisenbewegung nimmt eine zentrale Bedeutung ein, damit die radikale Linke zur Veränderung der Lage beitragen kann.

Von den Apparaten der ArbeiterInnenbewegung können wir die Initiative dazu nämlich nicht erwarten, so wichtig es auch ist, ihre Mitglieder, ihre Basis zu gewinnen und zu mobilisieren. Dazu muss die „radikale“ Linke, ob nun klassenkämpferische GewerkschafterInnen, MieterInnenbewegung, AntirassistInnen, Umweltbewegung … jedoch selbst eine politische Initiative ergreifen.

An Einzelkämpfen, Mobilisierungen für bestimmte Themen, gegen Räumungen, gegen Braunkohlekraftwerke oder auch rassistische und faschistische Angriffe, selbst an Warnstreiks oder einzelnen betrieblichen Abwehrkämpfen wird es nicht mangeln. Alle diese verdienen und brauchen Solidarität und Unterstützung.

Für sich allein werden sie jedoch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis nicht verändern. Das ist angesichts der geringen Größe der Kräfte links von der Linkspartei, der „radikalen Linken“ und linker GewerkschafterInnen auch nicht von diesen zu verlangen.

Aber sie können die Initiative für ein Aktionsbündnis ergreifen, das alle wichtigen politischen, gesellschaftlichen und betrieblichen Aspekte des Kampfes gegen die Krise bündelt und zusammenfasst. Eine solche Kraft wäre natürlich noch immer zu schwach, die Angriffe von Kapital und Regierung zu stoppen, ein Antikrisenprogramm im Interesse der Masse der Bevölkerung durchzusetzen, den Kampf gegen alle Entlassungen zu führen, Betriebsschließungen zu verhindern, gleiche Rechte für alle, die hier leben, durchzusetzen usw. usf.

Aber eine solche Kraft könnte als Hebel fungieren, um den Einfluss des Reformismus und der Gewerkschaftsapparate über die Klasse in Frage zu stellen und die Gewerkschaften, die Linkspartei, ja selbst Teile der SPD und damit ihre AnhängerInnen zur Aktion zu zwingen.

Dass sich die Formierung von Antikrisenbündnissen so schwierig erweist, verdeutlicht freilich die Krise der „radikalen“ Linken selbst. Ihr Verhalten zu dieser Aufgabe ist ein wichtiger Test für die Brauchbarkeit oder Nutzlosigkeit verschiedener Strömungen.

Die knappe Übersicht über die „radikale“ Linke zeigt außerdem, dass diese stagniert. Einerseits aufgrund objektiver Entwicklungen, d. h. der Dominanz der ArbeiterInnenbürokratie über die Klasse und des Rechtsrucks, der auch nicht verschwindet, wenn seine Existenz bestritten wird. Andererseits aber auch aufgrund des Scheiterns opportunistischer oder sektiererischer Konzeptionen, die zu einer Reihe von Spaltungen geführt haben (v. a. unter der organisierten Linken).

Noch weitaus problematischer als die numerische Stagnation oder das Schrumpfen ist freilich die Unfähigkeit und Unwilligkeit der „radikalen“ Linken, einen politischen Ausweg aus der aktuellen Krise zu weisen.

Genau davor drückt sie sich auf verschiedene Weise. Entweder durch Rückzug auf Bereichs-, Kampagnen-, Kiezarbeit, gewerkschaftlichen Ökonomismus, Antifa, Antira usw., ohne die analytischen, theoretischen, politischen und programmatischen Aufgaben der aktuellen Periode anzugehen.

Das ist aber die Vorbedingung für jede revolutionäre Politik. Ein Großteil der „radikalen“ Linken vermeint, überhaupt ohne Programm und ausgewiesene Methodik auskommen zu können – und agiert entsprechend. Er macht dabei aus der Not eine Tugend. Ein Programm von Übergangsforderungen erscheint diesen Strömungen als „abstrakt“, ein mehr oder weniger bornierter Kiezreformismus, der zur „revolutionären“ Verankerung im Stadtteil stilisiert wird, als „konkret“.

Selbst jene Kräfte, die die Notwendigkeit eines Programms proklamieren, erweisen sich als unfähig und unwillig, ein Aktionsprogramm für die aktuelle Periode zu skizzieren und entwickeln. Dies folgt vor allem aus ihrem falschen, ökonomistischen Verständnis von Programm. Den meisten ReformistInnen und ZentristInnen zufolge soll es nämlich nicht von der objektiven Lage, sondern vom aktuellen Bewusstsein der Klasse ausgehen. Darin besteht ein grundlegender Fehler, der notwendigerweise zur Anpassung an deren rückständiges Bewusstsein führen muss. Ein revolutionäres Aktionsprogramm hingegen muss von der objektiven Lage ausgehen. Nur so kann es eine Brücke schlagen von demokratischen, ökonomischen, sozialen Forderungen zum Kampf um die Macht. Nur so vermag es, nicht nur einzelne Übergangsforderungen aufzustellen, sondern diese zu einem System miteinander verbundener Forderungen, zu einem Programm zu verweben.

Ein solches Programmverständnis wie überhaupt politische Klarheit sind in einer Periode wie der aktuellen die unerlässliche und unverzichtbare Voraussetzung für revolutionäre Politik. Ein Programm ist zwar nicht alles, aber ohne revolutionäres Programm ist alles andere letztlich nichts.

Trotzdem wäre es falsch, alle Kräfte der radikalen oder reformistischen Linken als gleich verloren oder gleich interessant zu betrachten. Die kommende Periode wird die verschiedenen Strömungen nicht nur einem politischen Test unterziehen, sie wird auch zu massiven Verschiebungen, Spaltungen, evtl. auch Fusionsprozessen, Veränderungen in der „radikalen“ Linken führen. Als kleine revolutionäre Propagandagruppe müssen wir folgende Aufgaben erfüllen:

a) Eine Hinwendung zur Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit oder zumindest zu den zentralen Problemen der Klasse, zu spontanen Kämpfen und Bewegungen.

b) Exemplarische Intervention in einzelnen Bereichen.

c) Entwicklung, Propagierung, Kampf für ein Programm von Übergangsforderungen.

d) Kritik und Polemik nicht nur gegen die großen Apparate, sondern auch ideologischer Kampf gegen antiproletarische Theorien sowie gegen kleinbürgerlichen Radikalismus, Reformismus und Zentrismus.

e) Auch wenn wir ideologisch weiter gegen den Strom schwimmen müssen, so kann und wird die kommende Periode auch Kämpfe, Bewegungen, Umgruppierungen, Verschiebungen in der Klasse hervorbringen, die es uns in einzelnen Fällen ermöglichen, eine führende Rolle zu spielen. Diese Initiativen müssen wir auch ergreifen.




Der Abschluss für den Öffentlichen Dienst und die Linke

Mattis Molde, 21. November, Infomail 1127

Die erste große Tarifrunde nach Beginn der Pandemie und der Vertiefung der Wirtschaftskrise ist vorbei. Der öffentliche Dienst hat Maßstäbe auch für die nächsten Runden gesetzt. Aber es ging nicht nur um die ökonomischen Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Es ging um mehr. Es ging darum, wie sich die ArbeiterInnenklasse politisch aufstellt in einer entscheidenden historischen Phase, in der sich eine Krise des kapitalistischen Systems entfaltet, die tiefer und länger zu werden verspricht als die vor 10 Jahren, ja jetzt schon mit der von 1931 verglichen wird. Die begleitet ist von Krisen der politischen Systeme nicht nur in Halbkolonien, sondern auch in den Zentren der Macht wie in den USA und der EU. Die dominiert wird von rechten Massenmobilisierungen und Wahlerfolgen, in der es aber auch Gegenbewegungen gibt.

Ausverkauf

Das Kapital und sein Staat haben sich in dieser Tarifrunde von Anfang an klar positioniert. Das war zu erwarten. Die ver.di-Führung ignorierte das anfangs trotzdem und streute ihren Mitgliedern Sand in die Augen, als sie von einer „Politik der ausgestreckten Hand“ schwadronierte. Als diese Vorgangsweise scheiterte, erklärte sie es zum Ziel der Warnstreiks, dass die Arbeit„geber“Innen „endlich ein Angebot vorlegen“. Die Forderung von 4,8 % mit einer Laufzeit von einem Jahr war damit schon unauffällig ersetzt. Entsprechend haben die SpitzenverhandlerInnen das „respektlose“ erste Angebot der Arbeit„geber“Innenverbände in der letzten Verhandlung nur durch Umverteilung unter den Beschäftigten modifiziert, im Volumen kaum erhöht und dann zu „respektabel“ umgetauft. Diese Einschätzung macht nur dann einen Sinn, wenn man einen Streik von vorneherein ausschließt, wie es offensichtlich die ver.di-Führung getan hat, und noch nicht einmal eine Streikvorbereitung als Drohpotential aufbaut. Das macht diese Niederlage zur Kapitulation. Das haben wir an anderer Stelle ausführlich dargelegt. Eine Niederlage zu erleiden, ist eine Sache, eine andere, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.

Viele linke Gruppen und Personen haben das Ergebnis analysiert und fast alle kommen zum Schluss, dass es ein schwacher Abschluss war, der meilenweit von der Forderung entfernt war. Aber die meisten betonen, dass immerhin weitergehende Angriffe auf die Beschäftigten abgewehrt worden seien. So titelt die SAV: „Angriff abgewehrt, Gegenoffensive verpasst“. Ähnlich sieht das Olaf Harms in der UZ „Licht und Schatten“. Die Sol (Sozialistische Organisation Solidarität) meint: „Kampfkraft nicht genutzt“ und „ernüchterndes Ergebnis“. Auch RIO nennt das Ergebnis „,mager“. Die Rote Fahne schreibt „das Ergebnis: ein fauler Kompromiss, weil die volle gewerkschaftliche Kampfkraft nicht eingesetzt wurde“.

Apparat

Alle diese Einschätzungen sind näher an der Realität als die selbstgefällige Lobhudelei, die ver.di selbst verbreitet. Letztere wird nicht besser dadurch, dass ein Teil der Mitglieder das Einknicken der Verhandlungsführung unterstützte oder keine Alternative dazu sah. Aber sehr viele protestieren auch gegen diesen Abschluss auf Webseiten von ver.di oder in öffentlichen Medien. Aus den Kreisen der vielen GewerkschaftssekretärInnen, von denen etliche in linken Organisationen wie DIE LINKE, IL oder marx21 politisch organisiert sind, ist kein Anflug einer Kritik zu hören, alle tragen brav die Entscheidung mit. Sie verwechseln die Disziplin innerhalb einer ArbeiterInnenorganisation, beschlossene Aktionen auch gemeinsam durchzuführen, mit einer  innerhalb eines Apparates gegen diese Organisation: In einer Phase, in der ein Abschluss diskutiert werden soll, vertreten diese „Hauptamtlichen“, wie sie sich selber nennen, die Linie der Spitze und bekämpfen die Kritik, die von der Basis geäußert wird. Das Gleiche gilt für die breite Masse der betrieblichen SpitzenfunktionärInnen, der sogenannten Ehrenamtlichen, der linken wie der rechten.

Diese Einstellung der „Linken“ in der Struktur von ver.di ist verheerend. Sie führt erstens dazu, dass sich die Kritik aus der Basis nicht wirklich innerhalb der Gewerkschaft ausdrücken kann. Diejenigen, die innerhalb der Strukturen Funktionen innehaben, weigern sich, sich zum Sprachrohr der Kritik zu machen. Sie überlassen die Basis sich selbst und sind hauptverantwortlich dafür, wenn jetzt gerade kritische KollegInnen den Laden verlassen. Zweitens sind damit auch die nächsten Niederlagen vorprogrammiert. Dies wird innerhalb von ver.di vor allem der ÖPNV sein mit den Tarifverträgen Nahverkehr. Für die ganzen schlechter und schwächer organisierten Beschäftigtengruppen ist das Signal, das ver.di gegeben hat, eine wirkliche Entmutigung.

Diese Verweigerung der Linken im ver.di-Apparat, sich zum Sprachrohr der kritischen Teile der Gewerkschaftsbasis zu machen, wird übrigens voll auch von der Partei DIE LINKE getragen. Der Vorstand hat bisher kein einziges Wort der Kritik veröffentlicht und damit gezeigt, dass die Partei in dieser Frage als Wasserträgerin des reformistischen ver.di-Apparates fungiert und null Unterschied zur SPD darstellt. Auf unterer Ebene der Linkspartei gab es kritiklosen Jubel (Niedersachsen:), leichte Kritik (z. B. Oberhausen), aber auch kommunale MandatsträgerInnen, die sich von Anfang an mit Blick auf ihre Gemeindefinanzen gegen die Forderungen gestellt hatten.

Zurückbleiben

Aber auch die Gruppen und Organisationen, die Kritik an dem Abschluss üben, müssen sich fragen, ob ihre Antworten ausreichend sind. So ist das Bemühen, dem Abschluss noch etwas Gutes abzugewinnen, mehrfach problematisch: Erstens führt es zu falschen oder unzureichenden Schlussfolgerungen bezüglich der betroffenen KollegInnen. Zweitens zu falschen Perspektiven für die weiteren Tarifrunden und alle Abwehrkämpfe gegen die Krise.

Erstens gehört es zum ABC jeglicher Verhandlung auf jeglichem Gebiet, dass auch weitergehende Forderungen aufgestellt werden, auf die im Laufe der Verhandlungen verzichtet werden kann. Frank Werneke beispielsweise hat ja sehr offen zum Thema Laufzeit erklärt, dass die Forderung nach einem Jahr nie ernst gemeint gewesen sei, „weil da ja dann Bundestagswahl“ wäre. Warum das nicht gehe, ist damit noch nicht erklärt, aber anschaulich dargestellt, wie die Spitzen der Bürokratie zur „demokratischen Beschlüssen“ stehen. Natürlich stellt auch die andere Seite weitergehende Forderungen als Verhandlungsmasse auf. Linke sollten daraus lernen, nicht Scheinerfolge zu preisen oder kleine Lichter im großen Schatten auszumachen.

Zum Zweiten ist es eine sehr gängige Methode bei Tarifabschlüssen, diese möglichst nicht nachrechenbar zu gestalten: Tariferhöhungen, die in die Lohnstruktur eingehen, werden mit Einmalzahlungen vermengt. Gerne können einzelne Positionen in einzelnen Bereichen zeitlich verschoben, manchmal können bestehende Zahlungen angerechnet werden. Das Ganze dann unterschieden nach Einkommenshöhe usw. Das lässt jede Menge Spielraum für Schönrechnerei.

Ver.di hat diesmal vor allem auf den Trick gesetzt, die Minderheit der Beschäftigten in Krankenhäusern besserzustellen gegenüber allen anderen, die Reallohnverlust erleiden werden. Die Krankenhausbeschäftigten, die noch im öffentlichen Dienst arbeiten und für die der Tarif gilt, stellen übrigens auch nur die Minderheit der Gesamtbeschäftigten in diesem Sektor dar. Ver.di hat also als Preis für diese Abschlusskosmetik mit einer neuen Spaltungslinie bezahlt, mit einem hohen Frust bei der Masse der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und besonders bei denen, die an anderer Stelle im Gesundheitswesen arbeiten, zum Beispiel als RettungssanitäterInnen oder in den Gesundheitsämtern.

Es ist also ein Fehler für Linke, dies mit dem reinen Geldbeutelblick zu analysieren und als „gut für die einen, schlecht für die anderen“ zu befinden. Die Spaltung schwächt die gesamte Klasse, auch diejenigen, die noch ein paar Rosinen abbekommen. Sie ist vor allem schlecht in einer Zeit, in der die Klasse als Ganzes angegriffen wird und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch, wo dieser Angriff vom bürgerlichen Staat organisiert wird, aber auch von rechten PopulistInnen. Heute, wo es so bitter nötig ist, dass wir die Perspektive „uns als Klasse gemeinsam gegen Kapital und Staat zu wehren“ gegen nationalistische und rassistische Demagogie verbreiten, sind der Reallohnverlust und die Entsolidarisierung durch diesen Tarifabschluss politisch verheerend. Sie stellen genauso eine Spaltung der Klasse dar wie die Standortpolitik der IG Metall, die die Beschäftigten dazu erzieht, ihre Interessen auf Kosten der LeiharbeiterInnen und der KollegInnen bei der Konkurrenz im eigenen Konzern, in anderen Unternehmen oder in anderen Ländern zu sichern.

Die Halbherzigkeit in der Analyse, das Bemühen, auch da noch Licht zu sehen, wo keines ist, fällt im Grunde auf die Strickmuster der Bürokratie für Tarifabschlüsse und zugleich auf deren ökonomistische, unpolitische Herangehensweise herein. Das wird dann auch bei Schlussfolgerungen deutlich, die von den meisten Linken gezogen werden. Fast alle weigern sich, eine Niederlage zu erkennen, wo sie stattfindet. Aber aus Niederlagen muss man lernen. Das gilt für Linke ebenso wie für gewerkschaftliche AktivistInnen und die große Masse.

Die entscheidende Antwort auf eine Führung, die bewusst Niederlagen organisiert, ist der Kampf für eine neue!

Kritik von links auf halbem Wege

Dies formuliert am klarsten die VKG: „Festzuhalten ist: Zu einem solch umfassenden Kampf war die Gewerkschaftsführung offenbar nicht bereit, einen solchen wagen sie seit langem nicht mehr zu führen. Und von der Basis her gab es die große Druckwelle nicht, die den Apparat in diese Richtung unter Druck gesetzt hätte. Dies hängt auch damit zusammen, dass auf gesamtgewerkschaftlicher Ebene eine sichtbare klassenkämpferische Strömung fehlt, die für Unentschlossene eine Orientierungshilfe oder Ermutigung hätte sein können. Diese gilt es aufzubauen.“ Leider scheut sich auch diese Erklärung, eine Niederlage als das zu bezeichnen, was sie ist. Unsere GenossInnen im Koordinationskreis der VKG sind hier in der Minderheit geblieben.

Auch die Sol, ebenfalls Teil der VKG , fordert in ihrer Erklärung: „Nun geht es darum, eine kämpferische Opposition innerhalb von ver.di aufzubauen, um zukünftig wirkliche Verbesserungen zu erreichen.“

Die SAV, obwohl auch Teil der VKG, kann sich in ihrer eigenen Erklärung nicht dazu entschließen, eine Opposition in den Gewerkschaften als Perspektive anzugeben. Sie beschränkt sich darauf, von der Gewerkschaftsführung den Bruch mit der Großen Koalition und der SPD zu fordern: „Für eine solche politische Kampagne muss sich die Gewerkschaftsführung aber mit den Parteien in der Großen Koalition im Bund anlegen, anstatt der SPD bei den Wahlen weiter die Treue zu halten.“

Ja, sie kritisiert die ver.di-Führung nur dafür, eine „Gelegenheit verpasst“ zu haben, „Kämpfe zusammenzuführen und die nötige gesellschaftliche Antwort in diesen Zeiten zu geben und den Widerstand aufzubauen.“ Ob Werneke für solche guten Ratschläge ein offenes Ohr hat?

Olaf Harms in der UZ beschreibt sehr richtig, was politisch nötig wäre: der Kampf gegen Fallpauschalen und Privatisierung sowie für Arbeitszeitverkürzung (AZV): „Es gilt nun nicht nachzulassen, den gestiegenen Kampfgeist auch angesichts der offensichtlichen Widersprüche in dieser Krise zu nutzen, weiter zu diskutieren und zu kämpfen: Für mehr Personal, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen. Eine Erhöhung des Personals in den Krankenhäusern ist entsprechend des tatsächlich vorhandenen Bedarfes mittels einer Personalbemessung notwendig. Mit den bestehenden Fallpauschalen ist das nicht zu machen – sie müssen weg. Nach der überfälligen Angleichung der Arbeitszeiten von Ost an West muss endlich die Forderung über eine grundlegende Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich verhandelt werden – 30 Stunden die Woche sind genug. Und es geht um den Kampf gegen Privatisierungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge.“

Aber er verschweigt, dass diese Forderungen und Ziele bewusst von der Führung aus dem Tarifkampf ausgeklammert worden waren: Die AZV war schon ein Beschluss des letzten Gewerkschaftstages. Dass die Privatisierung und die Fallpauschalen angegriffen werden sollten, dafür gab es Beschlüsse vor der Tarifrunde. Die Frage nicht aufzuwerfen, warum die Bürokratie, das verhindern wollte und verhinderte, heißt letztlich, deren Politik abzudecken und den BasisaktivistInnen zu raten, einfach tapfer weiterzukämpfen, so wie es auch die reformistischen FührerInnen der Gewerkschaften immer nach Niederlagen tun.

Auch RIO greift in ihrer ersten Stellungnahme einen richtigen Ansatz auf: Sie schlägt vor, von der Basis her die Ablehnung des Tarifergebnisses zu organisieren. „Das Verhandlungsergebnis muss von allen Beschäftigten abgestimmt werden und das Abstimmungsergebnis sollte mit einfacher Mehrheit für die Bundestarifkommission (BTK) und alle Gremien von ver.di bindend sein.“ In einem anderen Artikel wird gefordert: „Es braucht, besonders jetzt nach dem Tarifabschluss, demokratische Online-Versammlungen der Beschäftigten und ein Programm, um gewerkschaftlich Druck für weitere Kämpfe aufzubauen.“ Wie aber eine Bewegung der Basis in einer Organisation organisiert werden soll, deren Organisationsstrukturen von der Bürokratie beherrscht werden, sagt RIO nicht – auch wenn sie generell eine scharfe Kritikerin der Bürokratie ist. Der Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung kann aber nicht mit einer spontanen Bewegung von unten gleichgesetzt werden, insbesondere wenn jeder Spontaneismus von Corona gedämpft wird.

Bleiben noch die Stimmen aus dem postautonomen Spektrum. Im AK schrieben Daniel und Lisa (IL) noch vor dem Abschluss zu Recht, dass „ es sich bei den aktuellen Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst um eine Schlüsselauseinandersetzung in den heraufziehenden Verteilungskämpfen um die Finanzierung der Krisenkosten handelt. Ihre politische Bedeutung geht jedoch über eine bloße Umverteilung von Geldern hinaus, denn diese Tarifrunde ist auch ein feministischer Kampf: Sie betrifft wichtige Bereiche des öffentlich verwalteten gesellschaftlichen Reproduktionssektors.“ Aber schon da verzichteten sie darauf, die Führung dieser Tarifrunde durch ver.di auch nur mit einem Wort an dieser politischen Erkenntnis zu messen. Vielmehr wird die Unverschämtheit der Arbeit„geber“Innen beklagt und ver.di noch für den „Gesundheitstisch“ gelobt. Dabei war schon damals klar, dass dieser keineswegs die ursprünglichen, schon fallengelassenen Forderungen nach Privatisierung, Abschaffung der Fallpauschalen, Personalbemessungsschlüssel verfolgen würde, sondern die Spaltung der ÖD-Belegschaften vorbereitete.

So fokussiert der Artikel auf die Bewusstseinserweiterung der Beschäftigten:

„Wir haben es den erfolgreichen Kämpfen der letzten Jahre zu verdanken, dass es überhaupt zu einem Konflikt kommt und ver.di eine Nullrunde – und damit den Einstieg in die nächste Runde Austeritätspolitik – nicht einfach akzeptiert. Auch dass der Widerspruch zwischen Dankbarkeit und materieller Anerkennung so deutlich zutage tritt, ist ein Erfolg der vergangenen Kämpfe von Krankenhausbeschäftigten. Es ist unsere Aufgabe als radikale Linke, genau in diese Widersprüche zu intervenieren und uns mit den Beschäftigten aktiv zu solidarisieren.“ Also ver.di ist irgendwie scheiße und hätte am liebsten ’ne Nullrunde akzeptiert, aber wir haben keine politische Kritik daran, solidarisieren uns mit den Beschäftigten, helfen ihnen aber nicht gegen die Bürokratie. Das ist eine „radikale Linke“ so recht nach dem Geschmack von Frank Werneke.

Ähnlich die RAS aus Stuttgart. Ihre Unterorganisation „Solidarität und Klassenkampf“ benennt in ihrer Analyse viele der Schwachstellen des Ergebnisses und geht von einer starken Ablehnung dessen aus: „Deshalb fordern wir auch alle Beschäftigten auf, bleibt ver.di Mitglieder! Nichts wäre falscher, als auszutreten und unsere Kampfkraft zu schwächen.“ (https://solidaritaet-und-klassenkampf.org/2020/10/ein-respektables-ergebnis-oder/) Aber der Vorwurf der Schwächung wird keineswegs an die Führung gerichtet und es wird auch kein Kampf gegen diese propagiert jenseits dessen, das Ergebnis in Abstimmungen abzulehnen.

Das Fehlen einer expliziten Kritik am Vorgehen des Apparates in Verbindung mit der Perspektive, dass die Beteiligung an den Streiks nur größer werden müsste, um mehr Druck auf die Arbeit„geber“Innenseite aufzubauen, um ein besseres Ergebnis zu erzielen, bedeutet: Es wird letztlich die Schuld der Gewerkschaftsbasis in die Schuhe geschoben, die halt noch nicht so weit sei.

Stattdessen sollen die Unzufriedenen für den Sozialismus kämpfen: „Wir wollen aber mehr als die Gewerkschaften. Uns geht es nicht nur um ein paar Prozente mehr oder weniger, sondern um ein grundlegend anderes System.“ Der Weg dahin ist natürlich „lang“. Deshalb tut es auch den reformistischen BürokratInnen nicht weh, wenn die GenossInnen der RAS ihnen heute brav keine Steine in den Weg legen.

Hoher Aktivismus, wie ihn die RAS und ihr Umfeld an den Tag legen, ist gut. Aber er ist kein Mittel um die rechten, prokapitalistischen Positionen des Gewerkschaftsapparats zu bekämpfen. Einflussnahme der Basis, wie sie RIO propagiert, ist nötig im Kampf gegen die Bürokratie, aber sie braucht noch Organisierung unabhängig von jener und ein entsprechendes politisches Kampfprogramm. Die VKG und die darin aktiven Gruppen haben den Schritt gemacht, die aktuellen Kämpfe mit dem permanenten Eintreten für den Aufbau einer antibürokratischen Opposition in den Gewerkschaften zu verbinden.

Es sind Auseinandersetzungen wie dieser Tarifkampf, die aufzeigen, was das Ziel einer solchen Opposition sein muss: Eine Verankerungen in den Betrieben aufzubauen und eine Struktur, die die das Monopol der Bürokratie in der Propaganda und der Aktion durchbrechen kann: eine klassenkämpferische Basisbewegung.

Wir wenden uns an alle kritischen und unzufriedenen KollegInnen genauso wie an die Organisationen der radikalen Linken, die diesen Abschluss kritisch bewerten: Zieht die entscheidende Konsequenz aus dieser Niederlage: Bauen wir gemeinsam die VKG auf, bündeln wir unsere Kräfte gegen die Bürokratie und führen wir eine solidarische Debatte, um unsere Differenzen zu klären!




Krisenbündnis Stuttgart: Linke Aktionseinheit statt Transpi-, Fahnen- und Organisationsverbote!

Ronja Keller, Infomail 1110, 10. Juli 2020

In einigen Städten haben sich in den letzten Wochen Anti-Krisenbündnisse gebildet, die gegen die Abwälzung der Krise auf den Rücken der Massen kämpfen. So hat sich auch in Stuttgart ein solches Bündnis gegründet, an dem wir uns beteiligen – neben einem sehr breiten Querschnitt der Stuttgarter Linken, VertreterInnen der Bewegung gegen den Klimawandel, GewerkschafterInnen und anderen. Eine Aktionseinheit aller Linken ist angesichts von Krise, Krisenabwälzung auf die Massen und rechten Mobilisierungen zwingend erforderlich. Dabei tritt das neue Bündnis in die Fußstapfen des alten Stuttgarter Anti-Krisenbündnisses, welches in den Jahren nach 2009 den Kampf gegen Bankenrettung und Spardiktate organisierte.

Aktuell bestimmen Kapital und Regierung die öffentliche Meinung und predigen die Alternativlosigkeit ihrer Politik. Dabei kann sich die Regierung Merkel auf die Unterstützung von SPD- und Gewerkschaftsführung verlassen, so dass die Krisenpolitik als „nationaler Konsens“ im Interesse aller dargestellt werden kann. Dies ist die Ausgangslage für die kommenden Kämpfe und zugleich die Grundlage dafür, dass rechte SpinnerInnen sich mit reaktionären Zielen als „echte Opposition“ aufspielen können.

In dieser Situation ist nicht nur eine Aktionseinheit aller Linken nötig, es ist auch Zeit für eine Debatte darüber, für welche Perspektiven und mit welchen Methoden Linke gegen die Krisenabwälzung und gegen den rechten Vormarsch kämpfen sollten, wie wir hierfür die ArbeiterInnenklasse und andere Unterdrückte mobilisieren können. Daher muss es zu den Grundprinzipien der Aktionseinheit gehören, dass alle politischen Strömungen der Bewegung ihre jeweiligen Positionen darstellen können und die Vorbereitung der Aktionen selbst auf demokratischen Prinzipien und offener Diskussion basiert. Oder ist eine der beteiligten Organisationen der Meinung, die Antwort auf alle Fragen schon gefunden zu haben? Eine Reihe von Organisationen des neuen Stuttgarter Krisenbündnisses hingegen beschäftigt sich bis dato primär mit dem penetranten Versuch, genau das zu unterbinden.

Der Umgang der Linken miteinander – wie die Linke ihre Kampfkraft schwächt

Beim Bündnistreffen am 17. Juni wurde durch VertreterInnen der RAS (Revolutionäre Aktion Stuttgart) schon der Antrag gestellt, die MLPD aus dem Bündnis auszuschließen. Begründet wurde er damit, dass die MLPD mehrmals die Polizei gerufen haben soll, als GenossInnen der RAS ihnen rustikal den Zutritt zu Veranstaltungen verweigert hätten. Zudem hätte die MLPD die entsprechenden Namen und Funktionen von Genossinnen und Genossen der RAS publik gemacht. Nach einer kontroversen Diskussion wurde der Antrag auf die nächste Sitzung am 23. Juni verschoben, da man den Gegenstandpunkt der MLDP hören wollte.

Dort wurde zunächst, durch VertreterInnen der Interventionistischen Linken (IL) und des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart und Region (AABS), den VertreterInnen der MLPD der Zutritt zum Raum verwehrt mit der unwahren Behauptung, dies sei auf dem vorherigen Bündnistreffen so beschlossen worden. Ein derartiger Beschluss wurde nicht gefasst und lässt sich auch im Protokoll des entsprechenden Treffens nicht finden. Im Anschluss stellte das sog. Orga-Komitee, dem u. a. die genannten Organisationen angehören, einen Antrag zur Abstimmung, der den Ausschluss der MLPD von der geplanten Kundgebung des Bündnisses am 18. Juli beabsichtigt. Wortmeldungen zum Antrag oder zum Vorgehen wurden mit Verweis auf die Diskussion auf dem vorherigen Bündnistreffen nicht zugelassen. Dieser Antrag wurde mit den Stimmen von IL, RAS, DIE LINKE und einer Reihe von Umfeldgruppen aus dem „Linken Zentrum Lilo Herrmann“ mit 13-Pro- und 8 Gegenstimmen bei einer Enthaltung beschlossen. Ein von der Gruppe ArbeiterInnenmacht gestellter Antrag wurde weder zur Diskussion noch zur Abstimmung zugelassen. Ein Mitglied des Orga-Kreises applaudierte zur Entscheidung von 2 TeilnehmerInnen, das Treffen aufgrund des undemokratischen Vorgehens des Orga-Komitees zu verlassen. Applaus also für die Schwächung des Bündnisses!

Unser Antrag beinhaltete folgende Kernpunkte:

  • Alle Organisationen und Gruppen, die die praktischen Ziele des Aktionsbündnisses teilen, haben das Recht, ihre Fahnen, Transpis, Publikationen und andere Symbole zu zeigen. Es ist widersprüchlich, dieses „Parteien“ zu verbieten, aber politischen Strukturen, die ebenso über eine politische Programmatik und Methode verfügen, wie FFF oder Antifa-Gruppen, zu erlauben. Ein solches Verhalten ist nichts anderes als Zensur, gegen die alle Linke kämpfen sollten, statt sie zu praktizieren. Gleiches gilt für Fahnenverbote, auch die sind letztlich immer gegen die Linke und eine demokratische Auseinandersetzung innerhalb ihrer gerichtet.
  • Physische Angriffe innerhalb der Linken sind ein No-Go. Vielmehr sind alle BündnisteilnehmerInnen verpflichtet, Demos und andere Aktionen gegen Angriffe der Staatsorgane oder der Faschos zu verteidigen. Wir verurteilen jede Form von körperlicher Gewalt innerhalb der Linken.
  • Politische Konflikte sollen innerhalb der Linken durch Diskussionen gelöst werden. Das Hinzuziehen von Polizei und Justiz als Schiedsrichterinnen über Konflikte der Linken ist unzulässig. Dieses erkennt die Staatsgewalt als legitime Schlichterin in der Linken und Arbeiterbewegung an und nährt nur die Illusionen in den „neutralen“ Staatsapparat!
  • In Konfliktfällen sollen die Bündnisse die strittigen Fragen durch Kommissionen aus nichtbeteiligten Bündnismitgliedern lösen.

Die Verbannung von linken Organisationen oder ihren Fahnen, Transpis, Slogans etc. verstößt gegen grundlegende Prinzipien linker Bündniszusammenarbeit und wird etwa seit längerer Zeit von rechteren Kräften innerhalb der Klimabewegung gegen Linke eingesetzt. Wir verteidigen das Recht, andere Gruppen im Bündnis für ihr Verhalten politisch zu kritisieren, aber wir verurteilen bürokratische Methoden, wie sie vom Orga-Kreis eingesetzt werden, um BündnisteilnehmerInnen auszuschließen. Dass Gruppen aus dem Orga-Kreis sich dabei die Argumentation für Fahnenverbote aus dem bürgerlichen Flügel der Klimabewegung zu eigen machen, wirft ein Schlaglicht auf deren opportunistische Methode und zeigt, dass es ihnen gerade nicht um linke Prinzipien, nicht um den argumentativen Austausch, sondern um die Durchsetzung eines nicht demokratisch legitimierten Führungsanspruchs geht.

Wir werden weiterhin im Bündnis für die oben genannten Prinzipien eintreten, die die Voraussetzung für eine wirkungsvolle Aktionseinheit sind!




Frankreich: Nieder mit der Krankheit des Kapitalismus!

Marc Lassalle, Infomail 1097, 31. März 2020

„Wir befinden
uns im Krieg. Die gesamte Aktion der Regierung und des Parlaments sollte nun
auf die Bekämpfung der Epidemie ausgerichtet werden.(…) Wir befinden uns im
Krieg. Die Nation wird ihre Söhne und Töchter unterstützen, die als
medizinische Fachleute in den Städten und in den Krankenhäusern an der Front
sind. Wir sind ihnen die Mittel und den Schutz schuldig“.

Mit martialischen Tönen, die sich vage an den reaktionären Premierminister Clemenceau während des Ersten Weltkriegs anlehnten, appellierte Präsident Macron in den letzten zehn Tagen mehrmals an die französische Nation und kündigte die besonderen Bewegungsbeschränkungen an, um die Epidemie zu stoppen. Doch trotz ihrer Schwere können seine Worte kaum eine Realität verbergen, die sich von seiner Erzählung ganz erheblich unterscheidet.

Regierung

Erstens ist die Kriegsmetapher natürlich eine reine Propagandafiktion. Nein, es ist kein Krieg. Es ist die Pandemie, vor der die WHO und andere SpezialistInnen die Regierungen der Welt seit Jahrzehnten gewarnt haben. Was haben sie getan, um sich darauf vorzubereiten? Schlimmer als nichts.

Monatelang hat
die Regierung die Schwere der Krankheit geleugnet. Bis Ende Februar glaubten
die meisten Menschen den Medien und dachten, es handele sich um kaum mehr als
eine Art Grippe. Als ob sie das noch einmal betonen wollte, bestand die
Regierung darauf, den ersten Wahlgang der Kommunalwahlen am 15. März zu
organisieren. Dies war trotz der sich häufenden Beweise und Empfehlungen völlig
verrückt, da es die Verbreitung des Virus dramatisch steigern würde.

Ein weiterer
Beweis ist das schiere Fehlen von Schutzmasken in Frankreich. Im Jahr 2011 gab
es noch etwa eine Milliarde Masken auf Lager. Dann entschied die Regierung,
dass es zu teuer sei, diesen Bestand zu halten, und gab die Verantwortung
angeblich an lokale Organisationen ab. In der Folge verschwand der Bestand, und
heute müssen sogar ÄrztInnen schutzlos an die „Front“ gehen, ganz zu schweigen
von den ArbeiterInnen in den Geschäften, im Transportsektor usw. All dies wurde
durch eine Nebelwand der Propaganda verdeckt, die behauptete, dass Masken nicht
wirklich so nützlich seien und dass es ausreiche, sich nur die Hände zu waschen.
Heute versucht die französische Regierung jedoch krampfhaft, etwa 100 Millionen
Masken aus China zu kaufen, was kaum für einen Monat ausreichen wird.

Dasselbe gilt
für die Virentests. Während die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, zu
testen, zu testen und abermals zu testen, ist das französische System völlig
überfordert und kann nur etwa 2.000 Tests pro Tag durchführen, während
Deutschland ein Mehrfaches davon absolvieren kann und Südkorea bereits einen
guten Bruchteil der Bevölkerung getestet hat.

Natürlich sind
die ÄrztInnen und das Pflegepersonal empört, denn dies ist nur ein weiteres
Zeichen für die schrecklichen Folgen der neoliberalen Politik, die seit
Jahrzehnten von rechten und linken Regierungen auf diesem Sektor betrieben
wird.

Die Zahl der
Krankenhausbetten, die jetzt so kostbar erscheinen, ging zwischen 1982 und 2013
von 612.898 auf 428.987 zurück, ein Rückgang um 30 Prozent als Folge einer
Reihe von Reformen, die den gesamten Sektor umstrukturierten und nur durch den
Willen zur Reduzierung des Staatshaushalts diktiert wurden. In Paris und in
allen Regionen wurden Krankenhäuser geschlossen, weil sie als „nicht rentabel“
eingestuft wurden. Wo sie doch offen blieben, war dies oft nur das Ergebnis
langer Kämpfe der ArbeiterInnen und der lokalen Bevölkerung.

Seit mehr als
einem Jahr streikt das Personal der Notaufnahmen und fordert die Einstellung
von mehr Krankenpflegekräften und ÄrztInnen sowie Lohnerhöhungen. Tatsächlich
sind die Krankenhäuser bei jeder Grippeepidemie überfordert. Infolgedessen
sieht sich das französische System nun mit der Pandemie konfrontiert, die den
Osten des Landes und die Pariser Region besonders schwer getroffen hat, ohne
die notwendige Schutzausrüstung, entwaffnet und geschwächt durch die Regierung
selbst.

Der öffentliche medizinische Forschungssektor hat den Mangel an Finanzmitteln für die Untersuchung dieser speziellen Art von Virus angeprangert. Der Privatsektor hat sie nie als attraktive Option betrachtet, wahrscheinlich weil solche Krankheiten lange Zeit die  halbkoloniale Welt trafen, die für die Damen und Herren der Pharmakonzerne kaum der Mühe wert waren. Um das Jahr 2000, insbesondere mit dem Aufkommen von SARS, wurde im öffentlichen Sektor eine gewisse Forschung über Behandlungen und Impfungen begonnen. Nach dem Abklingen der Epidemie wurde all dies jedoch aufgrund mangelnder Mittel und des dürftigen Interesses der medizinischen Behörden eingestellt. Da SARS dem Coronavirus ähnlich ist, gingen wertvolle Jahre verloren, um sich auf diese neue Epidemie vorzubereiten.

ArbeiterInnenklasse

Natürlich soll
die Kriegsrhetorik der Regierung in Wirklichkeit nur dazu dienen, abweichende
Stimmen zum Schweigen zu bringen. Oder wie Macron es ausdrückt: „Wenn man sich
auf einen Krieg einlässt, muss man sich ganz und gar engagieren, man muss sich
in Einheit mobilisieren“. Unheilvoller Weise war eine der ersten Aktionen
dieses „Krieges“ eine Flut von 25 Dekreten zur Deregulierung der
ArbeiterInnenrechte: Der Arbeitstag wurde auf 12 Stunden (von 10) erhöht, die
Arbeitswoche kann bis zu 60 Stunden (von 48) betragen, die Ruhezeit wird auf 9
Stunden (gegenüber 11 heute) reduziert, und all dies bis Dezember 2020. Die
klare Absicht besteht darin, die ArbeiterInnen am Ende der „Sperrzeit“
überauszubeuten, damit die Bosse einen Teil ihrer Gewinne zurückerhalten
können. In der Tat werden die massiven Refinanzierungspakete, die die Regierung
den Bossen versprochen hat, und das Programm der Verstaatlichungen enorme
Kosten für die ArbeiterInnenklasse verursachen. Wie 2008 sollen sie die
Hauptlast einer massiven Erhöhung der Staatsverschuldung und der Kürzungen des
Sozialsystems und Einschränkungen der Arbeitsrechte tragen.

Auf Initiative der radikalen Linken (NPA, Nouveau Parti anticapitaliste, SUD, Solidaires Unitaires Démocratiques) analysiert ein interessanter Appell aktiver GewerkschafterInnen und AktivistInnen der sozialen Bewegungen die Situation und kritisiert die Regierung. Er enthält eine Reihe von Forderungen, die wir voll und ganz unterstützen können:

  • die sofortige Einstellung aller Unternehmen, die für das Funktionieren der Gesellschaft nicht unerlässlich sind;
  • eine massive und sofortige Finanzspritze für das Gesundheitssystem;
  • Verstaatlichung der pharmazeutischen Industrie;
  • sofortige und groß angelegte Öffnung von Unterkünften für Obdachlose und die sogenannten Sans-Papiers, die keine offiziellen Dokumente besitzen;
  • Schließung von Zentren für amtlich Internierte;
  • die Befreiung eines Maximums von Gefangenen aus den überfüllten Gefängnissen.

Dieser Appell
schließt jedoch mit einer utopischen Note. „Teilung des Reichtums angesichts
von Covid-19. Die Zeit von Covid sollte nicht eine Zeit der Angst, der
Ausgrenzung und des repressiven Staates sein. Sie sollte im Gegenteil eine Zeit
der Solidarität sein, eine Zeit der Organisation der Gesellschaft selbst, um
unsere eigene Solidarität durchzusetzen und zu verwirklichen. Wir sollten
TrägerInnen von Forderungen, Initiativen zur Kontrolle und Neuorganisation der
Gesellschaft, zur sanitären und sozialen Dringlichkeit sein“.

Gegen all dies
haben der Kapitalismus und sein Staat den Krieg erklärt, und sie werden zum
bösartigsten Widerstand fähig sein. Die ArbeiterInnenklasse sollte nicht von
einem friedlichen Prozess träumen, sondern ihre Waffen des Klassenkampfes
vorbereiten und zu den ernsthaftesten Maßnahmen bereit sein, einschließlich des
Generalstreiks, der Revolte und der Machtergreifung, um ihre Eroberungen zu
verteidigen und ihre eigene Neuordnung der Gesellschaft durchzusetzen.




Einschränkung offener Diskussion: Antideutsche und Hausverbote

Tobi Hansen, Neue Internationale 243, Dezember 2019/Januar 2020

In ihrer Hetze gegen InternationalistInnen, AntizionistInnen
und AntiimperialistInnen greifen antideutsche Gruppierungen nicht nur zu Lüge
und Diffamierung – sie versuchen auch gezielt, linke Veranstaltungen zu
verhindern. Davon sind palästinensische und antizionistische AktivistInnen,
BDS, ja sogar die Friedensbewegung regelmäßig betroffen.

Hetze

Ähnlich erging es unserer Veranstaltungsreihe,
„Antisemitismus – eine marxistische Analyse“, in der wir unsere theoretische
Arbeit vorstellen. Bislang konnten wir diese in Berlin, Stuttgart, Dresden und
Wien erfolgreich durchführen. An dieser Stelle schon mal vielen Dank an alle,
die trotz massiven Drucks auf ihre Räumlichkeiten nicht eingeknickt sind,
sondern die Durchführung der Veranstaltungen erlaubt haben. Vielen Dank an
dieser Stelle auch an die beteiligten GastrednerInnen vom Palästinakomitee
Stuttgart und BDS Berlin. Vor allem die AusrichterInnen mit ihren
Räumlichkeiten wurden nach der Ankündigung von der antideutschen Szene unter
Druck gesetzt. Das führte zu Absagen in Berlin (Mehringhof) und Stuttgart (Büro
der SJD – Die Falken) sowie zu einer Protestkundgebung einiger Verwirrter in
Dresden gegenüber dem ausrichtenden kurdischen Verein.

In unserer Veranstaltung legten wir einerseits eine Analyse
der Wurzeln des Antisemitismus, seiner Funktion im Kapitalismus und der Mittel,
ihn zu bekämpfen, dar. Andererseits gingen wir auf die Diskurs-Verschiebung der
letzten Jahrzehnte und deren politischen Zweck ein. So heißt es in der
Veranstaltungsankündigung:

„Gleichzeitig hat sich der Zionismus durch die aktuelle
Entwicklung der israelischen Politik in einen immer reaktionäreren
Nationalismus gewandelt, der starke Momente des Rassismus in sich aufgenommen
hat – und im Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung weiter radikalisiert.
Damit wird der berechtigte Kampf gegen den Antisemitismus verwirrt durch einen
Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs, der gegen alle verwendet wird, die sich
nicht bedingungslos hinter die Apartheid-Politik der israelischen Regierung
stellen.“

Die Kündigung von Räumlichkeiten stellt nur einen Ausdruck
von Diffamierung und Hetze gegen alle dar, die sich der prozionistischen und
imperialistischen Diskursverschiebung entgegenstellen.

Die sog. Antideutschen sind selbst im weitesten Sinn keine
„Linken“. Ihr ganzer Existenzzweck besteht in der Verteidigung des westlichen
Imperialismus und der postkolonialen Unterdrückung. Dazu schreckten einige
ihrer ideologischen Köpfe und Magazine (Wertmüller, Bahamas) vor dem Hofieren
der nationalistischen Rechten und Zusammenarbeit mit ihr nicht zurück. Sie
stellen eine „radikale“, reaktionäre kleinbürgerliche Strömung dar, die
deutlichst gegen jede Klassenpolitik kämpft und den Imperialismus verteidigt.

In den „deutschen“ Besonderheiten dieser Strömung werden
Masse und Klasse als reaktionäre Grundformen begriffen. Jegliche
„Personifizierung“ wird als „Verkürzung“ der Kapitalismuskritik dargestellt,
die letztlich antisemitisch sei. Diese „post-intellektuelle“ Verhunzung von
Marx und Engels ist nicht links, sondern durch und durch reaktionäre
bürgerliche Ideologie.

Mit dieser Antisemitismus-Definition versuchen deren
ParteigängerInnen seit Jahren, sich auch als treue HandlangerInnen des deutschen
und US-amerikanischen Imperialismus innerhalb der ArbeiterInnenbewegung
einzunisten. Israel stellt als Besatzungs- und Militärmacht auch aktuell einen
wichtigen Stützpunkt des imperialistischen Systems dar. Jegliche Solidarität
mit dem palästinensischen Widerstand, jegliche Diskussion über das reale
Apartheid-Regime in der Westbank, der „Ghettoisierung“ von Gaza wird zum
„Antisemitismus“ verkehrt. Zugleich wird der reale, wachsende Antisemitismus
verharmlost. Die Antideutschen zeigen sich einig mit der Bundesregierung, dem
Verfassungsschutz, den DGB-Gewerkschaften, größeren Teilen der Linkspartei,
aber auch der AfD. Denunziert werden alle palästinensischen, arabischen,
internationalistischen und antiimperialistischen Gruppierungen. Das reicht
schon mal für Haus- und Auftrittsverbote, Androhungen von physischer Gewalt,
Zuhilfenahme der Polizei, Störungen von Veranstaltungen, Zusammenarbeit mit
offen bürgerlichen und reaktionären Kräften – das ganze Repertoire von
„zivilgesellschaftlicher“ und staatlicher Sabotage.

Zensur

Gefährlich wird es, wenn sich dieses Spektrum als Zensor
dazu erheben möchte, Veranstaltungen zu verbieten.

Die Gruppe ArbeiterInnenmacht musste diese Erfahrung schon
mehrmals machen.

So beim diesjährigen „Klimacamp“ im August 2019 (siehe: http://arbeiterinnenmacht.de/2019/08/11/klimacamp-leipzig-antiimperialismus-unerwuenscht) oder anlässlich unserer aktuellen Veranstaltungsreihe. So galt der Mehringhof in Berlin lange Zeit als ziemlich „offen“ für alle Spektren, auch wenn dies die Antideutschen einschloss (siehe: http://arbeiterinnenmacht.de/2019/11/03/diskutieren-geht-nicht-veranstaltungsreihe-zum-antisemitismus-wird-bekaempft-rede-und-versammlungsrecht-verteidigen/).

Nachdem uns die Hausversammlung des Mehringhofs die Räume
für die Berliner Veranstaltung gekündigt hatte, forderten wir eine Begründung
der Entscheidung und das Recht ein, 
bei der nächsten Versammlung zumindest vorsprechen zu können. Selbst
dieses demokratische Ansinnen betrachteten die selbsternannten
SzenewächterInnen offenbar als Zumutung. Hinkünftig sollen die Räumlichkeiten
an ArbeiterInnenmacht überhaupt nicht mehr vermietet werden – natürlich ohne
Begründung. Wir fordern die Organisationen, die Mitglieder der Hausversammlung
sind, auf, uns Rederecht zu geben, diese Willkür zu beenden und den Beschluss
zu revidieren. Mit dem Verbot verhält sich der Mehringhof nicht nur als
verlängerter Arm der Antideutschen, sondern als Erfüllungsgehilfe der
deutschen, imperialistischen Nahostpolitik.

In jedem Fall werden wir uns diesem reaktionären Druck nicht
beugen – und wollen und werden uns dabei verstärkt mit anderen
internationalistischen Gruppierungen koordinieren.

Wir planen die Fortsetzung der Veranstaltung in Hamburg,
München, Frankfurt/Main und Kassel. Wir rufen alle antiimperialistischen Linken
dazu auf, in dieser Frage solidarisch zusammenzustehen. Dabei geht es eben
nicht allein um die Darstellung unserer Positionen und  Schlussfolgerungen, es geht auch um den
Kampf gegen Zensur und Einschüchterung sowie für demokratische Rechte.




25.000 gegen IAA und Automobilkonzerne: Wie weiter nach dem politischen Erfolg?

Martin Suchanek, Infomail 1068, 16. September 2019

Die Autoindustrie und die IAA haben Probleme. Am letzten Wochenende kam noch eines dazu. 25.000 beteiligten sich am 14. September an einer Großdemonstration, darunter 18.000 an einer großen Fahrrad-Sternfahrt. Rund 600–1000 Protestierende blockierten an zwei, zeitweilig an drei Eingängen die IAA, wenn auch zum größten Teil „nur“ symbolisch. Politisch ging das Wochenende eindeutig an die Umweltbewegung. Allein die Großdemonstration ließ die VeranstalterInnen der IAA und ihr überholtes „Verkehrskonzept“ alt aussehen.

Die deutsche Autoindustrie redet sich indessen die Welt
weiter schön. In einer Presseerklärung dankt sie der Polizei für ihr
umsichtiges Handeln. Der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Bernhard
Mattes, hat sogar die Chuzpe, die IAA als Beitrag zur ökologischen Umgestaltung
darzustellen.

SchönrednerInnen in der Defensive

Zuerst freue er sich, dass die IAA allein am 14. September
60.000 zahlende BesucherInnen zählte, dass die Probefahrten mit den rund 70
neuen Automodellen, Offroad-Parcours und E-Tracks seit Tagen ausgebucht wären.
Worin bei stetig steigenden Marktanteilen der spritfessenden SUVs wie auch bei
Rekordgewinnen der Konzerne der „Beitrag“ zur ökologischen Nachhaltigkeit
besteht, bleibt wohl das Geheimnis der SchönrednerInnen der Autolobby.

Mattes scheint darunter die Beteiligung an der
„gesamtgesellschaftlichen Debatte um Klimaschutz und nachhaltiger Mobilität“ zu
verstehen. Daran hätte sich die IAA mit einem „offenen Bürgerdialog mit
hochrangigen Vertretern der Automobilindustrie, der Politik und Gewerkschaften“
beteiligt, bei dem vor allem die drei Vertreter von Bosch, Daimler und Porsche zu
Wort kamen. Selbst der Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann (SPD) sagte seine
Teilnahme an der Selbstinszenierung der Industrie ab, nachdem er als Redner
ausgeladen worden war. Schon die Rede eines harmlosen Reformisten scheint bei
der peinlichen Werbeveranstaltung unkalkulierbar, dem „offenen Dialog“ abträglich.

Die Vertreterin von Fridays for Future, die auch als
Staffage bei dieser Inszenierung hätte fungieren sollen, sagte sofort ab. Unter
tosendem Beifall griff sie dies zynische Manöver der Autoindustrie auf der Abschlusskundgebung
am 14. September an.

Massendemonstration

Die Beschwörungsformel der Autolobby, dass Markt, Innovation
und „freiwillige“ Vereinbarungen alle Problem lösen würden, entpuppt sich
allein schon angesichts von Skandalen, Korruption und SUV-Hype als
unfreiwillige Realsatire. Wenn den 25.000 und den Menschen, die die IAA
blockierten, eines klar war, so die Tatsache, dass Klimaschutz und
Profitinteressen der Großkonzerne nicht miteinander vereinbar sind. Die
Mobilisierung gegen die symbolträchtige IAA, diese Hohe Messe des Fetischs
Automobil, brachte Massen auf die Straße.

Die Demonstration verdeutlichte – gewissermaßen als
Mikrokosmos der aktuellen Lage der Bewegung – deren Stärken und politische
Schwächen.

In den letzten Jahren entwickelte sich in Deutschland, aber
auch weltweit eine Massenbewegung gegen die drohende Zerstörung der natürlichen
Lebensgrundlagen, eine „Umweltbewegung“. Das zeigen die Aktionen gegen die
Braunkohleindustrie am Hambacher Forst und „Ende Gelände“ ebenso wie Fridays
for Future und auch dieses Wochenende.

Zweitens können wir davon ausgehen, dass diese Bewegung
weiter Bestand haben und wachsen wird.

Dazu trägt allein schon die reale Weigerung der Konzerne bei, jede auch noch so unbedeutende Maßnahme hinzunehmen oder gar umzusetzen, die ihre Profite zu gefährden droht. Und dazu trägt auch bei, dass „die Politik“ der Bundesregierung wie aller bürgerlichen Parteien immer wieder ihre Grenzen an den Profitinteressen der Konzerne findet.

Diese spielen zwar heute das Spiel vom Pseudo-Klimaschutz
mit, wohl wissend, dass der reaktionäre Schwachsinn der KlimaleugnerInnen von
der AfD zur Zeit nicht mehrheitsfähig ist, dass er nur ein Minderheitenprogramm
mehr oder weniger wild gewordener KleinbürgerInnen darstellt. Das kann sich
ändern. Zur Zeit jedoch geben sich Kapital und Kabinett „ökologisch“, wohl
darauf hoffend, der Bewegung durch Einbindung der Umweltverbände, der GRÜNEN,
durch „Umweltprogramme“, die dem Kapital nicht schaden, den Wind aus den Segeln
zu nehmen.

Diese Pseudoaktivität erkennen zweifellos auch immer mehr
AktivistInnen der Bewegung – einschließlich der sog. Umweltverbände und NGOs.
Andererseits – und hier kommen wir zu den Schwächen der Bewegung – läuft deren
gesamte politische Strategie darauf hinaus, die Industrie und „die Politik“
durch Bewegung und Dialog, durch „Vernunft“ und „Druck von der Straße“ auf eine
wirkliche „Umkehr“ zu verpflichten. Das schließt durchaus Verbote und
Zwangsmaßnahmen gegen einzelne Kapitalgruppen, Unternehmen oder Produktsparten
ein – allerdings in Form einer politischen „Wende“, die das Privateigentum an
den Produktionsmitteln, Markt und Konkurrenz in Kraft lässt. Am Profit haben
die Naturschutzverbände und die GRÜNEN, die die Bewegung politisch dominieren,
nichts auszusetzen – er sollte nur „ökologisch sinnvoll“ reinvestiert werden.
Die Marktwirtschaft soll nicht nur „sozial“, sondern auch „ökologisch“
reguliert werden.

Hier erhebt sich eine Hauptfrage der gesamten Bewegung und
somit ein zentraler Hebel für eine revolutionäre Klassenpolitik: die
Eigentumsfrage. Wer die Macht der Konzerne wirklich brechen will, der muss sie
enteignen – entschädigungslos und unter ArbeiterInnenkontrolle. Wer den Konsum
der Gesellschaft wirklich nachhaltig verändern will, der muss auch die
Produktion umgestalten. Produktion für die Bedürfnisse der Massen und im Sinne
ökologischer Nachhaltigkeit erfordert die Enteignung des Kapitals, die
Ersetzung einer profitorientierten Marktwirtschaft durch demokratische Planung
im Interesse der Mehrheit der Weltbevölkerung.

Diese Fragen drängen sich in der Bewegung durchaus auf – und
zwar, wie z. B. die Wohnungsfrage und der bisherige Erfolg der Kampagne
„Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ zeigen, durchaus nicht nur im Umweltsektor.

Führungsproblem

Die Grüne Partei, die Führungen der (klein)bürgerlichen
Umweltverbände, der NGOs, aber auch von Fridays for Future stehen dieser
Perspektive entgegen. Für sie existiert die Eigentumsfrage, die Klassenfrage
allenfalls am Rande. „Bestenfalls“ stellt sie für diese Parteien und
Organisationen eine Frage der „sozialen Gerechtigkeit“, des „Ausgleichs“, einer
angeblich „fairen Verteilung“ dar – ohne das grundlegende gesellschaftliche
Klassenverhältnis in Frage stellen zu wollen. Allenfalls soll das Gewicht der
gesellschaftlichen Interessen „sozial“ verschoben werden.

Eine solche Politik, die auch die reformistischen Parteien
SPD und Linkspartei sowie die Gewerkschaftsführungen verfolgen, kommt einer
Quadratur des Kreises gleich. Sie ist zum Scheitern verurteilt, wie alle
„Reformbemühungen“ der letzten Jahrzehnte gezeigt haben. Allenfalls können sie
für bestimmte Perioden soziale Verbesserungen für die Ausgebeuteten schaffen.
Doch in einer Krisenperiode wie der aktuellen bietet auch das keine dauerhafte
Perspektive, sondern allenfalls eine kurzfristige Linderung, die so rasch wie
möglich vom Kapital wieder in Frage gestellt wird.

Das bedeutet keineswegs, dass RevolutionärInnen der
kleinbürgerlichen oder reformistischen Flickschusterei am Kapitalismus nur
abstrakt Enteignung und Revolution entgegenstellen sollen. Eine solche Politik
wäre letztlich nicht revolutionär, sondern bloß doktrinär.

Es geht vielmehr darum, den Kampf um unmittelbare
Forderungen mit dem gegen das System zu verbinden. Dazu gehört die Forderung
nach einem kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und dessen Ausbau unter
Kontrolle der Beschäftigten und NutzerInnen – finanziert durch die massive
Besteuerung der Gewinne und der großen Vermögen. Dazu gehört die Forderung nach
Umstellung der Automobilproduktion unter Kontrolle der Beschäftigten und
Gewerkschaften. Dazu gehört der Kampf gegen alle Entlassungen – auch in den
„umweltschädigenden“ Industrien, deren fortlaufende Bezahlung zu den
bestehenden Löhnen und Gehältern sowie eine etwaige Umschulung für den Einsatz
in neuen, umweltschonenden Bereichen ohne Lohnverlust.

Und die Gewerkschaften?

Ein solcher Kampf erfordert freilich, dass die
Gewerkschaften (und die gesamte ArbeiterInnenbewegung) selbst verändert werden
müssen. Die Spitzen von ver.di und IG Metall unterstützen den globalen
Klimastreik am 20. und 27. September zwar verbal und „moralisch“, doch sie
weigern sich, offen dazu aufzurufen.

Natürlich stehen einem Klimageneralstreik tarifrechtliche,
legale, vor allem aber politische Hürden entgegen. Ein offener Aufruf zum
Klimastreik hätte nämlich nicht nur mit Klagen und Drohungen zu kämpfen, er
würde vor allem einer Aufkündigung der Sozialpartnerschaft gleichkommen –
jedenfalls in den Augen der Unternehmerverbände und der Regierung. Da das die
Bürokratie auf keinen Fall riskieren will, haben wir es mit der absurden
Situation zu tun, dass die Gewerkschaften zwar den Klimastreik „gut“ finden –
aber keinesfalls auch nur in den Geruch kommen wollen, ihn praktisch
durchzuführen. Da aber die DGB-Gewerkschaften die einzigen Organisationen sind,
die einen realen Generalstreik auch durchführen könnten, entpuppen sich die
Beschlüsse der Spitzen als Luftnummern.

Eine tragische Konsequenz dieses politischen Versagen
besteht darin, dass es so erscheint, als würden wohlwollende UnternehmerInnen
nicht minder zum Gelingen der Mobilisierung am 20. September beitragen als die
ArbeiterInnenbewegung. Bislang haben rund 2.500 Unternehmen zur Unterstützung
von Fridays for Future aufgerufen. Diese Entwicklung legitimiert angesichts der
Passivität der Gewerkschaften unwillkürlich eine klassenübergreifende Politik,
die sich Unterstützung bei Gewerkschaften und „umweltorientierten“
GeschäftsbetreiberInnen sucht. Zweifellos entspricht das auch der
vorherrschenden Ideologie, dem vorherrschenden Bewusstsein einer ideell
weitgehend kleinbürgerlich geprägten Bewegung.

Die Schwäche der Gewerkschaften – wie überhaupt der organisierten
ArbeiterInnenbewegung – zeigte sich leider auch bei den Protesten gegen die
IAA. Gewerkschaftsfahnen waren praktisch nicht zu sehen. Die Linkspartei trat
gerade mit einem kleinen Block am Ende der Demo in Erscheinung. Überhaupt war
die organisierte Linke sehr schwach vertreten. Wir, die Gruppe
ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION, beteiligten uns mit dem Transparent „Konzerne
enteignen!“ an der Aktion und mit mehreren Verkaufsteams. Dabei stieß die Frage
der Enteignung auf reges Interesse und Zuspruch. Die Bewegung erweist sich also
durchaus als offen für linke, anti-kapitalistische, ja
revolutionär-kommunistische Positionen. Sie müssen aber auch verbreitet,
bewusst und offen in die Bewegung getragen werden. Zweifellos versuchten das
auch einige linke Blöcke (z. B. von Fridays for Future Köln) – aber
insgesamt war dieser Teil leider nur schwach vertreten.

Extinction Rebellion

Bei den Blockaden stellten radikalere AktivistInnen sicherlich einen größeren Teil der Anwesenden. Die dominierende Kraft bildete hier „Extinction Rebellion“, das sich als aktivistischer, radikaler Flügel der Bewegung präsentiert und Zulauf erhält. Zweifellos stellt diese Gruppierung verglichen mit dem Lobbyismus der NGOs und Umweltverbände einen Schritt nach links dar, der sie attraktiv macht. Zugleich bezieht sich die Radikalität von Extinction Rebellion aber fast ausschließlich auf die Aktion – Blockaden und andere Formen des „zivilen, gewaltfreien Ungehorsams“. Politisch inhaltlich entpuppt es sich allenfalls als linke Spielart kleinbürgerlichen Populismus. So gipfeln die Forderungen von Extinction Rebellion Deutschland darin, dass die Regierung (!) „den Klimanotstand ausrufen“ und „jetzt handeln“ müsse. Insbesondere müsse sie „eine Bürger:innenversammlung für die notwendigen Maßnahmen gegen die ökologische Katastrophe und für Klimagerechtigkeit einberufen. Darin beraten und entscheiden zufällig ausgewählte Bürger:innen darüber, wie die oben genannten Ziele erreicht werden können. Sie werden dabei von Expert:innen unterstützt. Durch die zufällige Auswahl der Bürger:innen werden alle gesellschaftlichen Gruppen eingebunden.“ (https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/unsere-forderungen)

Angesichts der drohenden Katastrophe gibt es für Extinction
Rebellion nur noch BürgerInnen, keine Klassen, keine einander entgegensetzte
Interessen, Ziele, Strategien und Programme. Diese Unterschiede müssten
vielmehr in den Hindergrund treten. Was sich als „radikale“ Alternative zum
Parlamentarismus präsentiert, stellt sogar noch einen Schritt hinter die
bürgerliche Demokratie dar, wo die „RepräsentantInnen“ der „BürgerInnen“
wenigstens per Wahl und nicht durch Zufall (Los) bestimmt werden. Hier
offenbaren sich die reaktionären Implikationen eines kleinbürgerlichen
Radikalismus, der vom Klassencharakter der Gesellschaft nichts mehr wissen will
bzw. nie wissen wollte.

Umweltfrage ist Klassenfrage

RevolutionärInnen müssen daher nicht nur die Politik der GRÜNEN,
der Umweltverbände und NGOs, von SPD, Linkspartei und Gewerkschaften
kritisieren, sondern auch den keineswegs so radikalen Flügel der Bewegung und
dessen kleinbürgerliche Ideologie.

Das erfordert:

1. Die Unterstützung der Bewegung, die Mobilisierung für und
Beteiligung an den Aktionen. Wir rufen zur Unterstützung der Demos am 20.
September, aber auch zu Blockaden wie am 15. September in Frankfurt auf.

2. Entscheidend geht es darum, das Gewicht der
ArbeiterInnenklasse ins Spiel zu bringen. Die Politik der Gewerkschaftsführungen
und der ReformistInnen stellt dabei das zentrale Hindernis dar. Das andere
bilden aber auch die realen kleinbürgerlichen Vorurteile und die nicht minder reale
Ignoranz von Teilen der Umweltbewegung gegenüber den Existenzängsten von
Lohnabhängigen.

Auch daraus erklärt sich die geringe Repräsentanz der
Kernschichten der ArbeiterInnenklasse wie auch deren unterdrücktester Teile –
MigrantInnen, prekärer Beschäftigten – in der Bewegung. Der Appell, das eigene
„Konsumverhalten“ zu überdenken und ändern, kann Menschen, deren
Konsummöglichkeiten ohnedies jährlich mehr und mehr durch Teuerung und
Einkommensverlust beschnitten werden, nur wie Hohn vorkommen. Die Forderung
nach einem pauschalen „Wachstumsstopp“ wird  vielen Menschen in den vom Imperialismus dominierten Ländern
des Südens oder auch Osteuropas, die an Deindustrialisierung oder extrem
einseitiger, selektiver Entwicklung leiden, nur als arrogante Vorstellung von
Öko-KolonialistInnen erscheinen. Und das zu Recht.

Die einzige Lösung besteht auch hier in der Eigentums- und
Systemfrage und drückt sich in Forderungen wie den folgenden aus: Enteignung
der imperialistischen Konzerne und InvestorInnen, nach sofortiger Streichung
der Auslandsschulden, nach einem Investitionsplan unter ArbeiterInnenkontrolle
gemäß der Entwicklungsbedürfnisse der Massen und ökologischer Nachhaltigkeit.

Die Umweltkatastrophe wird nicht einfach von „den“ Menschen
verhindert werden. Die Interessen der herrschenden Klasse sind auf Gedeih und
Verderb mit der Aufrechterhaltung eines Systems verbunden, wo der Zweck der
Produktion in der Aneignung der Arbeit und an der Ausnutzung Natur zur
Profitmaximierung besteht. Daher nutzen die Appelle an die „Vernunft“ und
Einsicht der Herrschenden und ihrer Regierung regelmäßig – nichts! Sie offenbaren
allenfalls eine naive, geradezu rührselige Hoffnung in die bürgerliche
Regierung.

Die ökologische Katastrophe kann nur verhindert werden, wenn
jene Milliarden Menschen, die weltweit täglich den Reichtum der Gesellschaft
hervorbringen, produzieren und ausgebeutet werden, selbst ihr Schicksal in die
eigene Hand nehmen. Doch das ist nur möglich im Kampf gegen die
Klassenherrschaft des Kapitals und seine Zuspitzung zum revolutionären Sturz
der bestehenden Verhältnisse.

So richtig und wichtig Demonstration, Blockaden,
Platzbesetzungen auch sind – verglichen mit politischen Massenstreiks der
ArbeiterInnenklasse sind dies letztlich nur vorbereitende, weitgehend
symbolische Aktionsformen. Damit der Generalstreik gegen die Klimakatastrophe
wirksam wird, muss die ArbeiterInnenklasse zur zentralen Kraft der Bewegung
werden. Dies bedeutet jedoch keineswegs nur, ja nicht einmal in erster Linie
eine Veränderung der Aktionsform – es bedeutet vor allem eine Änderung des
eigentlichen Ziels: die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer
globalen, demokratischen Planwirtschaft. Nur so kann „system change not climate
change“ Wirklichkeit werden.




Die Spaltung des CWI: Ein Bruch geht durch die Mitte

Martin Suchanek, Infomail 1066, 2. September 2019

Die Spaltung des CWI (Committee for a workers
international = Komitee für eine Arbeiterinternationale) stellte für die
Beteiligten wie für die außenstehenden BeobachterInnen des Prozesses sicher
keine Überraschung dar. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Organisation in
zwei etwa gleich große Gruppierungen zerbrach. Beide beanspruchen für sich, die
„eigentliche“ internationale Strömung zu verkörpern und die politische und
programmatische Tradition des CWI fortzuführen.

Der folgende Artikel gliedert sich in zwei große
Abschnitte. Im ersten werden wir den Bruch nachzeichnen und auf einige
Eigentümlichkeiten der Form der Auseinandersetzung eingehen. Alle Teile, die
aus der Spaltung des CWI hervorgingen, reklamieren ebenso wie die ebenfalls aus
der CWI-Tradition entstandene IMT (International Marxist Tendency =
Internationale Marxistische Tendenz) das politisch-methodische Erbe ihrer
Strömung für sich und sehen im Anknüpfen an diese Tradition einen entscheidenden
Schritt zum Aufbau einer trotzkistischen, revolutionären Organisation. Genau
diese Vorstellung werden wir im zweiten Teil des Textes kritisieren. Wir werden
zeigen, dass in den politischen Grundlagen, die im CWI längst vor der Spaltung
mit der IMT Anfang der 1990er Jahre beschlossen wurden, schon das eigentliche
Problem angelegt war, das aufgrund der politischen Entwicklungen der letzten
Jahre verstärkt an die Oberfläche trat und schließlich zur Spaltung führte.

Spaltung

Formell vollzog die Fraktion „In Verteidigung
eines proletarischen, trotzkistischen CWI“ (In Defence of a Working Class
Trotskyist CWI) den Bruch, als sie am 21. Juli auf einer Konferenz der
Socialist Party, der Sektion in England und Wales, mehrheitlich den Kurs einer
„Neugründung des CWI“ (Refoundation of the CWI) beschloss. Schon zuvor hatte
die Fraktion mehrfach erklärt, dass sie unter keinen Umständen zulassen wolle,
dass die Ressourcen des CWI „in die falschen Hände“ fallen.

Die internationale Konferenz, die im Anschluss
an die Tagung der englischen und walisischen Sektion vom 22.–25. Juli stattfand
und zu der nur die AnhängerInnen der Fraktion eingeladen wurden, vollzog diesen
Bruch sodann auf internationaler Ebene. Die Spaltung war damit amtlich. Nach
eigenen Angaben beteiligten sich Delegierte aus folgenden Ländern: England und
Wales, Schottland, Irland, Deutschland, Frankreich, Österreich, Finnland,
Indien, Sri Lanka, Malaysia, Chile und den USA. UnterstützerInnen aus Südafrika
und Nigeria konnten wegen Visaproblemen nicht teilnehmen.

So optimistisch und zuversichtlich sich die
Verlautbarungen dieser Strömung auch lesen mögen, sie können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass sie nur eine Minderheit der Sektionen des CWI unterstützt.

Diese andere Strömung, die heute als „provisorisches
Komitee“ des CWI auftritt, konnte sich formal immer auf eine Mehrheit im
Internationalen Exekutivkomitee (IEK) der Organisation stützen, also eine
Mehrheit des höchsten Leitungsorgans zwischen den internationalen Konferenzen.
Die Strömung um Peter Taaffe kontrolliert hingegen nur das kleinere, eigentlich
dem IEK verantwortliche und untergeordnete Internationale Sekretariat (IS).
Nachdem sich abzeichnete, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im IEK nicht mehr
ändern ließen, entschloss sich die Fraktion um Taaffe offenkundig dazu, Kurs
auf die Spaltung zu nehmen, indem sie sich weigerte, jedem Beschluss der
„kleinbürgerlichen Mehrheit“ auf dem IEK kategorisch zu folgen, und in jedem
Fall die Kontrolle über den Apparat der Organisation zu sichern gedachte. Dies
geht schon daraus hervor, dass sich das von der Fraktion geführte IS schon im
Frühjahr weigerte, eine Sitzung des IEK einzuberufen resp. einer solchen Folge
zu leisten, um so nicht abwählt werden zu können.

Praktisch hatte sich auch die Mehrheit des IEK
schon vor Ende Juli 2019 als eigene internationale Gruppierung zu formieren
begonnen. Wichtige Sektionen hatten schon seit Monaten ihre Beitragszahlungen
eingestellt und praktisch eine „Gegenfraktion“ zur „historischen Führung“ des
CWI um Peter Taaffe aufgebaut.

In diesem Sinn sprach die Mehrheit des IEK, die
sich auf die deutliche Mehrzahl der Sektionen stützt (wenn auch nicht unbedingt
auf die Mehrheit der Mitglieder des CWI, da die englisch/walisische Sektion
sicher noch immer die weitaus größte sein dürfte), durchaus zu Recht von einem
„Putsch“ und einem offenen Bruch des Statutes des CWI.

Nur einen Tag nach der Konferenz der Socialist
Party in England und dem Aufruf zur „Neugründung“ des CWI durch die
„proletarische“ Fraktion trat auch die Mehrheit des IEK an die Öffentlichkeit.
Während Taaffe und Co. das CWI neu gründen wollen, will die Mehrheit als CWI
weitermachen. So lässt deren „provisorisches Komitee“ verlauten:

Neben den kriminellen Handlungen einer unverantwortlichen degenerierten bürokratischen Führung hat diese Krise für unsere Organisation auch das Gegenteil gezeigt: dass das CWI eine gesunde und lebendige Organisation ist, in der es einer Mehrheit gelungen ist, sich gegen die bürokratische Degeneration zu behaupten und die Einheit der überwiegenden Mehrheit unserer Internationale aufrechtzuerhalten, obwohl sie sich dabei gegen einige ihrer Gründer*innen mit größter Autorität behaupten muss.

Die CWI-Mehrheit ist vereint, intakt und verfügt über beträchtliche Kampfkraft in über 30 Ländern rund um den Globus!“

Wie bei jeder Scheidung können wir erwarten,
dass in den nächsten Wochen und Monaten noch mehr oder weniger heftig um das
Tafelsilber, also die Ressourcen der Organisation, gerungen wird – inklusive
wechselseitiger Vorwürfe bürokratischer oder gar „krimineller“ Machenschaften.

Auch wenn die Mehrheit des IEK
formal-demokratisch sicher im Recht ist, dass die Fraktion um Taaffe und die
IS-Mehrheit das Statut gebrochen haben, so kann ein Blick in die Geschichte des
CWI nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Vergangenheit beide Seiten an
solchen bürokratischen Manövern beteiligt waren – sei es beim Bruch mit der
IMT, sei es bei der Duldung der kriminellen Methoden führender Mitglieder ihrer
ukrainischen Sektion um die Jahrhundertwende, als diese gut ein Dutzend anderer
internationaler Strömungen finanziell betrog.

Die Schwierigkeiten der Ursachensuche

Vor allem aber erklärt der Verweis auf die
rasche und bürokratische Zuspitzung des Fraktionskampfes nicht, warum es
überhaupt zu diesen Verwerfungen und schließlich zur Spaltung kam. Schon die
Entstehung einer Fraktion um den Kern der internationalen Führung ist in
Organisationen mit einem revolutionären Anspruch verwunderlich. In der Regel
werden Fraktionen und Tendenzen zur Korrektur der politischen Linie der
Organisation gegen die bestehende politische Führung gebildet, nicht als
politisches Kampfmittel des Führungskerns.

Erst recht verwunderlich wird die Sache, wenn
wir den unmittelbaren Anlass zur Gründung der Fraktion um Peter Taaffe in Rechnung
stellen, nämlich eine Abstimmungsniederlage über die Tagesordnung auf einer
internationalen Leitungssitzung Ende 2018. Damals wollten Taaffe und das von
ihm geführte Internationale Sekretariat die Diskussion über die Arbeit der
irischen Sektion ins Zentrum der Tagung rücken. Dieser wurde eine
kleinbürgerliche Abweichung vom Programm des CWI vorgeworfen wurde. Die
IEK-Mehrheit folgte diesem Tagesordnungsvorschlag jedoch nicht, was die
Strömung um Taaffe als eine Tolerierung, wenn nicht Zustimmung zum
Opportunismus der irischen Sektion betrachtete.

Ein Blick auf deren Wahlkampagne und
Intervention in die Anti-Abtreibungskampagne offenbart, dass dieser Vorwurf
keineswegs unbegründet war. Wohl aber muss sich eine internationale Führung –
zumal eine mit etlichen Hauptamtlichen – die Frage gefallen lassen, warum sie
die Sitzung nicht mit einem Dokument zur Arbeit der Sektion vorbereitet hat und
warum sie ihre Kritik nicht allen IEK-Mitgliedern und der irischen Führung
schriftlich und anhand von Zitaten und Belegen zugänglich gemacht hat. Sie muss
sich die Frage gefallen lassen, warum sie erst zu diesem Zeitpunkt mit ihrer
Kritik rausrückte und eine opportunistische Entwicklung in der irischen Sektion
feststellte, nachdem diese jahrelang aufgrund ihrer Wahlerfolge als „Kronjuwel“
des CWI über den grünen Klee gelobt worden war.

Auf all diese Fragen folgte beredtes Schweigen.
Die internen Dokumente, die in den letzten Monaten über soziale Medien an die
Öffentlichkeit kamen, umfassen zwar mehrere hundert Seiten – sie erlauben es jedoch
kaum, die wechselseitigen Anschuldigungen anhand klarer Fakten und Argumente
nachzuvollziehen.

Der Fraktion um Taaffe kann immerhin zugutegehalten
werden, dass sie schwerwiegende politische Differenzen für die damals drohende
und nunmehr vollzogene Spaltung des CWI ins Feld führte, nämlich eine
kleinbürgerliche Abweichung vom Programm des CWI, eine Anpassung an den
kleinbürgerlichen Feminismus, die Identitätspolitik sowie eine Abkehr von der
ArbeiterInnenklasse als zentralem Subjekt der gesellschaftlichen Umgestaltung.
Die irische Sektion und die Mehrheit des CWI würden in die Fußstapfen des
„Mandelismus“, also der Politik des Vereinigten Sekretariats der Vierten
Internationale, treten, der immer wieder aufgrund von Opportunismus und, in
früheren Jahren, aufgrund von revolutionärer Ungeduld „Ersatzsubjekte“ für das
Proletariat gesucht hätte.

In diesem Sinn versucht die Fraktion um Taaffe,
eine politische Differenz ins Zentrum zu rücken, freilich ohne diese
politisch-faktisch schlüssig zu untermauern. Den durchaus umfangreichen
Dokumenten mangelt es nicht an scharfen Anschuldigungen, es fehlen aber
überzeugende Darlegungen und Beweisführungen. Die „kleinbürgerlichen
Abweichungen“ werden oftmals durch eher anekdotenhafte Erzählungen belegt, z. B.
durch Berichte über politisch problematische Referate einzelner, auch führender
GenossInnen der irischen Sektion. Eine Analyse ihrer Wahlplattformen oder eine
Kritik an den opportunistischen Seiten ihrer Anti-Abtreibungsplattform wurde
allenfalls angedeutet.

Beispiel Rosa

Die fehlende Propaganda für den Sozialismus durch die irische Sektion wurde unserer Meinung nach zu Recht angeprangert. Bemerkenswert ist freilich, dass in der gesamten „proletarisch-trotzkistischen“ Kritik überhaupt kein Bezug darauf genommen wurde, dass die von der CWI dominierte und angeführte Plattform „Reproductive rights against Oppression, Sexism and Austerity“ (Rosa) die Forderung nach unbefristeter und kostenloser Abtreibung auf Verlangen nicht aufstellte. Stattdessen beschränkte sie sich auf die nach einer 12-wöchigen Fristenlösung.

Es spricht zwar nichts dagegen, eine
Massenkampagne für eine 12-wöchige Fristenlösung gegen ein gesetzliches Verbot
der Abtreibung kritisch zu unterstützen. In Irland traten jedoch die schon
bestehenden Anti-Abtreibungskampagnen Abortion Rights Campaign (ARC) und Cork
Women’s Right to Choose Group im Gegensatz zu Rosa immer schon für die radikalere
Forderung nach Abtreibung ohne Fristenlösung ein. Die CWI-Sektion und die internationale
Führung präsentierten Rosa zwar als „radikalere“, weil angeblich
sozialistischere und proletarischere Kampagne, stellten aber bewusst die
Forderung nach einer Fristenlösung auf, weil sie so hofften, dass die Kampagne
dem bestehenden, oft auch katholisch beeinflussten „ArbeiterInnenbewusstsein“
leichter zu vermitteln wäre.

Dieser reale Opportunismus wie auch das Fehlen
eines Übergangsprogramm der Sektion, das den Kampf um demokratische Rechte,
soziale Forderungen mit dem Kampf um eine sozialistische Revolution verbunden
hätte, wurde nicht einfach von der Sektion auf eigene Rechnung vorangetrieben.
Über Jahre hindurch galten die Arbeit der Sektion, ihrer Abgeordneten, ihre breiten
Kampagnen und ihre elektoralen Erfolge als Musterbeispiel „richtiger“
sozialistischer Intervention. Erst spät „entdeckte“ die ehemalige CWI-Führung
die „Abweichungen“ – und „übersah“ dabei bis heute einen zentralen Aspekt des
Opportunismus der Anti-Abtreibungskampagne.

Der Grund dafür ist wohl darin zu suchen, dass
dies nicht ins Narrativ der „proletarischen“ Fraktion passt. Sicher hat diese,
wenn auch spät, zu Recht kritisiert, dass die irische Sektion keinen
Schwerpunkt darauf legte, Gewerkschaften in die Kampagne gegen die Abtreibung
zu ziehen, dass leichtfertig und kritiklos Aussagen
kleinbürgerlich-feministischer Autorinnen oder Vertreterinnen der
#Metoo-Bewegung übernommen wurden. All dies musste dann als Beweis für die
Übernahme von Positionen des Feminismus und von Identitätspolitik herangezogen
werden – freilich ohne selbst in langen Dokumenten zur „Identitätspolitik“
diese selbst einer marxistischen Kritik zu unterziehen oder deren theoretische
und programmatische Reflexion in der Politik der irischen Sektion nachzuweisen.
Stattdessen werden seitenweise die Errungenschaften der Frauenpolitik der
britischen Militant-Strömung und CWI-Sektion angeführt, die zumeist mehrere
Jahrzehnte zurückliegen.

Nicht minder bemerkenswert ist die Tatsache,
dass Sektionen, denen heute ein Abrücken vom Proletariat vorgeworfen wird, noch
im November 2018, also beim letzten Meeting eines gemeinsamen IEK, enorme
Fortschritte attestiert wurden. So hätte sich beispielsweise die soziale
Zusammensetzung der US-amerikanischen „Socialist Alternative“ positiv verändert
und sie ihren Schwerpunkt auf die Gewerkschaften verlagert. Heute steht sie im
Lager der „kleinbürgerlichen Abweichung“, des Opportunismus gegenüber Sanders
und der Demokratischen Partei. Dabei „vergisst“ die „proletarische Fraktion“ um
Peter Taaffe, dass der Opportunismus gegenüber Sanders, die Unterstützung seiner
Präsidentschaftskandidatur im Rahmen der Demokratischen Partei (wie zuvor schon
die Unterstützung grüner Kandidaturen wie der von Ralph Nader und Jill Stein)
international anerkannte CWI-Politik war.

Anekdoten statt Argumente

Bei der Ursachensuche und beim inhaltlichen
Nachvollzug der Spaltung ergibt sich generell eine Schwierigkeit. Auf
Schuldigungen, Vorwürfe … antworten beide Seite vor allem mit einer schier
endlosen Aufzählung vergangener Ruhmestaten. So verweist die Strömung um Taaffe
immer wieder auf die „glorreichen“ Zeiten des CWI, die sie offenkundig in den 1980er
Jahren und Anfang der 1990er Jahre ansiedelt.

Die Mehrheit des IEK wiederum versuchte, sich
gegen die Vorwürfe der Fraktion durch Relativierung und den Verweis auf eigene
politische Erfolge zu behaupten. Mantraartig warf sie ihrerseits der Strömung
um Taaffe vor, alles nur aufzubauschen und zu übertreiben.

Somit ergibt sich die Eigenart, dass nach
vollzogener Spaltung beide Seiten versprechen, ausführlichere Dokumente zur
Darlegung ihrer Kritik und ihres jeweiligen Standpunkts nachzureichen. Die
Geschichte der „revolutionären“ Linken mag zwar reich an Spaltungen sein. In der
Regel verfassten die im Streit liegenden Seiten jedoch ihre wichtigsten
Fraktionsdokumente im Laufe des Kampfes – und reichten sie nicht erst nach der
Spaltung nach.

Allein die Verlaufsform des Fraktionskampfes
wirft ein problematisches Licht auf das Innenleben und die „demokratische
Tradition“ des CWI. Gerade in solchen Kämpfen, die – darüber sollte sich kein/e
RevolutionärIn Illusionen machen, auch zum Leben und zur Entwicklung
kommunistischer oder sozialistischer Organisationen gehören –, zeigt sich auch
die Reife und Qualität einer Organisation.

Differenzen in grundlegenden programmatischen
Fragen werden immer wieder zu Spaltungen führen, sollten sie nicht in eine
Klärung münden (inklusive der Möglichkeit einer gemeinsamen, höheren revolutionären
Synthese). Die Frage der Einschätzung „neuer“ sozialer Bewegungen, der Taktik
und Politik in der entstehenden neuen Frauenbewegung, in der Umweltbewegung, in
nationalen Befreiungskämpfen, im Kampf gegen Rassismus, in der Haltung zum
Brexit und zur Krise der EU, der Taktik gegenüber Corbyn, die Charakterisierung
Chinas, die Einschätzung der Weltlage … stellen wirklich grundlegende Fragen
dar, die jede Organisation, die ernsthaft einen revolutionären Anspruch stellt,
beantworten muss.

Gerade in stürmischen Zeiten von Krise und
Instabilität, eines Vordringens der Rechten und des Rechtsrucks, aber auch von
Massenwiderstand in der Situation der Defensive braucht eine revolutionäre
Organisation vor allem Klarheit, Perspektive und deren Zusammenfassung in Form
eines internationalen Programms. Jede andere Haltung mag möglich sein, nur ganz
sicher ist sie weder proletarisch noch revolutionär.

Marxismus und Fraktionskampf

In diesem Sinne hätte der Fraktionskampf –
unabhängig davon, ob er zu einer Spaltung führte oder nicht – zu einer Klärung
und politischen Schulung für tausende Mitglieder werden können. So endete
z. B. der Fraktionskampf in der US-amerikanischen, trotzkistischen SWP
1939/1940 zwar mit einer Spaltung, zugleich aber führte die Auseinandersetzung zu
einer politischen Klärung grundlegender methodischer und programmatischer Fragen.
Es ist kein Zufall, dass im Laufe dieser Diskussion zwei „Klassiker“ zu Fragen
des Parteiaufbaus, Trotzkis „In Verteidigung des Marxismus“ und Cannons „Kampf
für die proletarische Partei“ entstanden.

Einen solchen erzieherischen, das Bewusstsein
und Verständnis des Leninismus und Trotzkismus hebenden Charakter kann die
Debatte freilich nur haben, wenn in einer Krisenperiode die innerparteiliche
Demokratie ausgeweitet wird, um so ein Klima der Konzentration auf die
politische Klärung zu schaffen. Trotzki ging in den 1930er Jahren sogar so
weit, einer kleinbürgerlichen Opposition in der US-amerikanischen SWP
parteiinterne Garantien innerparteilicher Demokratie und Loyalität zu geben –
unabhängig davon, wer bei der Konferenz eine Mehrheit gewinnen würde. Für den
Fall eines Sieges der bolschewistischen Mehrheit schlug er vor, der Opposition
in der SWP(US) weitere Rechte als Minderheit (einschließlich einer begrenzten
öffentlichen Debatte der Differenzen) zuzugestehen. Für den Fall des Sieges der
kleinbürgerlichen Opposition drängte er darauf, als loyale Minderheit für die
Richtungsänderung in der Partei zu kämpfen.

Im CWI hatte keine der beiden Strömungen eine
ernsthafte interne, klärende, die Mitglieder politisch weiterentwickelnde
demokratische und fraktionelle Auseinandersetzung im Sinn. Der demokratische
Zentralismus schien allenfalls als Lippenbekenntnis Bedeutung zu haben. Die
Fraktion um Taaffe zog aus einer möglichen Niederlage offenkundig den Schluss,
dass es besser sei, das Vermögen und die Strukturen des Ladens so weit möglich
in Sicherheit zu bringen, statt auch nur für ein Jahr um die Mehrheit
organisiert zu kämpfen.

Diese Haltung scheint jedoch keineswegs nur von
der „proletarischen“ Fraktion vertreten zu werden. Die Sektionen aus Spanien,
Portugal, Venezuela und Mexiko, die seit dem 21. Juli 2019 als „Internationale
Revolutionäre Linke“ agieren und auch in Deutschland MitstreiterInnen aus der
Hamburger SAV gewonnen haben, verhielten sich recht ähnlich. Ursprünglich waren
sie Teil der Fraktion um Peter Taaffe. Ende März 2019 traten jedoch auf einem
Fraktionstreffen größere Differenzen zum Vorschein, was nicht nur mit dem
Austritt der vier Sektionen aus der Fraktion, sondern auch gleich aus dem CWI
endete.

Die Mehrheit des CWI-IEK beteuerte lange, dass
die Differenzen eigentlich gar nicht real wären und alle auf dem Boden des
CWI-Programms stünden. Naturgemäß trug diese Position auch nichts zur Klärung
bei. Die scharfe Konfrontation auf dem IEK im November 2018 und die Gründung
einer Fraktion erschienen so als eigentlich rein persönlich-bürokratisches
Vorgehen, nicht als Ausdruck politischer Differenzen. Selbst wenn diese
wirklich nur „übertrieben“ gewesen wären, so hätte sich die Mehrheit zumindest die
Frage stellen müssen, was auf Seiten der Fraktion dazu geführt hatte, worin
also deren politischer Fehler bestand. In ihrer Antwort auf die Abspaltung ist
sie gezwungen, das gewissermaßen nachzuholen, wenn sie schreibt:

„Die ehemalige, für die tagtägliche Arbeit des
CWI zuständige Führung, die einen bürokratischen Putsch in der Organisation
durchgeführt hat (die Mehrheit des Internationalen Sekretariats und die
Minderheitenfraktion, die es um sich herum versammelt hat), zeigte mangelndes
Vertrauen bezüglich der Intervention in diese Bewegungen. Sie betonten die Befürchtung,
dass unsere Mitgliedschaft von der kleinbürgerlichen Identitätspolitik und
anderen ‚fremden Ideen‘ in diesen Bewegungen verwirrt sein könnte, und zogen es
nach ihren eigenen Worten vor, sich ‚einzugraben‘ und auf Ereignisse innerhalb
der offiziellen Arbeiter*innenbewegung zu warten.

Sie griffen unsere Sektionen in Irland und den USA, die erfolgreich große Kämpfe von Arbeiter*innen, Frauen und Jugendlichen führten, in denen sie Siege erzielten und gleichzeitig das Banner des revolutionären Sozialismus prinzipientreu und flexibel hochhielten, für ‚Kapitulation vor kleinbürgerlicher Identitätspolitik‘ an. Die Mehrheit ist der Ansicht, dass eine solche Haltung nicht dazu geeignet ist, die proletarischen Prinzipien des Sozialismus zu schützen sondern unsere Mitgliedschaft unvorbereitet lassen würde und die kleinbürgerlichen Einflüsse in einigen der wichtigsten Massenmobilisierungen unserer Epoche unangefochten lassen würde.“ (Ein bürokratischer Putsch wird die Mehrheit des CWI nicht vom Aufbau einer starken revolutionär-sozialistischen Internationale aufhalten!)

Die falsche Methode, interne Auseinandersetzungen
zu führen, bedeutete nicht nur, dass die Spaltung bürokratische Formen annahm.
Der Fraktionskampf konnte so nicht einmal jene Funktion erfüllen, die er in einer
genuin revolutionären Organisation leisten sollte – Erhöhung des politischen
Niveaus der Organisation, Klärung und Schärfung der Argumente und damit auch
des Bewusstseins der Mitglieder. Solcherart könnte ein Fraktionskampf, selbst
wenn er in einer Spaltung endet, zumindest eine überaus intensive marxistische
Schulung mit sich bringen.

Dass es dazu nicht kam, erfordert jedoch selbst eine Erklärung. Diese muss unsere Meinung nach gerade dort gesucht werden, wo alle Spaltprodukte (einschließlich der lange zurückliegenden Abspaltung in Gestalt der IMT) ihre Stärke vermuten – in der ständig beschworenen „Tradition“ des CWI, die eng mit Grant, Woods, Taaffe verbunden ist. Wir werden an dieser Stelle nicht die gesamte Tradition „nacherzählen“, sondern verweisen auf einige in diesem Zusammenhang grundlegende Kritiken unserer Strömung (z. B. auf die Broschüre: Mit Nachtrabpolitik zum Sozialismus?).

Die „Tradition“ des CWI

Wir werden uns daher nur auf einige grundlegende
Eigenheiten dieser Tradition des Zentrismus, also einer Organisation, die
zwischen revolutionärem Kommunismus und Reformismus schwankt, eingehen, die zum
Verständnis der aktuellen Krise und Spaltung von größter Bedeutung sind.

Die Entwicklung des CWI als eigenständige
politische Strömung in Britannien und ab den 1970er Jahren auf internationaler
Ebene ist eng mit der Arbeit der Militant-Strömung und ihrer VorgängerInnen in
der Labour Party verbunden.

Um einen langfristigen, strategisch ausgelegten
Entrismus, also die organisierte Arbeit in der Labour Party (und später in
anderen reformistischen oder auch nationalistischen Parteien wie dem ANC) zu
rechtfertigen, entwickelten die GründerInnen der Strömung um Ted Grant ein
besonderes Verständnis von Entwicklung des Klassenbewusstseins und der
„Radikalisierung“ der ArbeiterInnenklasse.

Im Falle einer Zuspitzung des Klassenkampfes
würden die proletarischen Massen (wieder) in deren traditionelle Parteien
strömen, also in sozialdemokratische und, zur Zeit vor dem Zusammenbruch des
Ostblocks, auch in die stalinistischen. In manchen Ländern könnten de facto
auch links-bürgerliche oder nationalistische Formationen eine solche Funktion
übernehmen (z. B. ANC in Südafrika im Kampf gegen die Apartheid oder die
PPP in Pakistan).

Dahinter steckte nicht nur ein Schematismus, der
immer schon empirisch fragwürdig war. So schwollen im französischen Mai 1968
keineswegs einfach die „traditionellen“ Organisationen an, sondern die radikale
Linke erlebte einen massiven Aufschwung. Ebenso verhielt es sich in Italien
1969 und in den Folgejahren. All dies waren günstige Bedingungen für die
Schaffung direkt revolutionärer Parteien. Die Tatsache, dass die Gruppierungen
des ArbeiterInnenautonomismus, des Maoismus und Trotzkismus gegenüber den
reformistischen Parteien über keine ausreichende Taktik verfügten, offenbart
zwar eine fatale Schwäche dieser Organisationen, sie bestätigt aber keinesfalls
das Schema der Militant-Strömung.

Dieses wurde Anfang der 1990er Jahre – insbesondere
nach der Rechtswende der internationalen Sozialdemokratie – von der Mehrheit
des CWI um Peter Taaffe ein Stück weit in Frage gestellt. Im Gegensatz zu den
AnhängerInnen des CWI-Gründervaters und wichtigsten Theoretikers Ted Grant sahen
sie in der Arbeit in der britischen Labour Party keine weitere Perspektive mehr
und traten für den „eigenständigen“ Aufbau ein. 1992 erfolgte international die
Spaltung. Sicher ging auch diese nicht ohne bürokratische Manöver und Intrigen
vonstatten, aber das neu aufgestellte CWI konnte sich auf eine eindeutige
Mehrheit stützen und nahm Kurs auf den Aufbau eigener Organisationen außerhalb
der traditionellen Sozialdemokratie oder auf die Mitarbeit in „neuen“
Linksparteien, also linken reformistischen Parteien (wie z. B.
Rifondazione Comunista in Italien).

Die sozialdemokratischen Parteien – zuvor noch
als reformistische ArbeiterInnenparteien charakterisiert – änderten praktisch
überall ihren Charakter und wurden zu offen bürgerlichen Parteien erklärt.

Der Bruch war methodisch jedoch keineswegs so
grundlegend, wie es auf den ersten Blick erscheinen sollte. Während die
Charakterisierung der sozialdemokratischen Parteien geändert wurde, so
behielten beide Strömungen die falsche Vorstellung der Entwicklung revolutionären
Bewusstseins bei. Dem CWI erscheint das reformistische nämlich nicht als eine
Form bürgerlichen Bewusstseins, sondern als eine notwendige Entwicklungsstufe auf
dem Weg zum revolutionären Bewusstsein. Während die Strömung um Grant und
Woods, also die heutige IMT (in Deutschland: Der Funke) an dem klassischen
Schema und der Charakterisierung der Sozialdemokratie festhielt, führte das CWI
zwar das Schema fort, aber ohne Labour oder SPD als konkrete und notwendige Zwischenstufen
zur Entwicklung des Bewusstseins zu betrachten. Diese Rolle übernehmen entweder
diverse „Linksparteien“ (europäische Linkspartei, reformistische Strömungen in-
oder außerhalb bestehender Parteien), die Gewerkschaften oder der Aufbau
„eigener“ Parteien auf einem letztlich zentristischen Programm.

Programmatisch führte das Schema schon früh,
also lange vor der Spaltung von CWI und IMT, zu wichtigen Anpassungen an den
Reformismus bzw. an das (angenommene) vorherrschende Bewusstsein der
ArbeiterInnenklasse:

  • Die Militant-Strömung theoretisierte als einzige trotzkistische Strömung die Möglichkeit eines friedlichen, parlamentarischen Weges zum Sozialismus. Mittels einer Mehrheit und einer Massenmobilisierung der ArbeiterInnenklasse könne das Proletariat die Macht erobern und behaupten, ohne den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen und die konterrevolutionären Umsturzversuche der Bourgeoisie niederwerfen zu müssen.

„All die Intrigen und Verschwörungen der Kapitalisten können auf der Basis einer kühnen sozialistischen Politik, die von der Massenmobilisierung der Arbeiterbewegung unterstützt wird, nichtig werden. In Großbritannien ist eine völlig friedliche Umwandlung der Gesellschaft möglich, aber nur, wenn die ganze Kraft der Arbeiterbewegung kühn dazu verwendet wird, um die Veränderung zu bewirken.“ (Militant, What We Stand For, 1985, Zitiert nach Colin Lloyd, Richard Brennner und Eric Wegner: Voran, Vorwärts und die Militant-Tendenz: Bruch und Kontinuität einer Wende, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm12/cwi.htm) Mit anderen Worten: Wenn die ArbeiterInnenklasse nur wolle, müsse der bürgerliche Staatsapparat eines der mächtigsten imperialistischen Länder der Welt nicht durch eine Revolution zerschlagen und die Konterrevolution gewaltsam niedergehalten werden. Militant und ihren Nachfolgern zufolge wird das Unmöglich möglich, hört die friedliche Umwandlung auf, ein reformistisches Hirngespinst zu sein, wenn die Massen nur „mobilisiert“ bleiben.

  • Dieser fundamentale Bruch mit der marxistischen Staatstheorie und deren Revolutionsverständnis hatte notwendige programmatische Konsequenzen, die sich praktisch in allen CWI-Programmen wiederfinden. Die Frage der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates, der Bewaffnung der Klasse (Milizen, Soldatenräte) bleibt außen vor. Dies folgt einerseits aus der theoretischen Revision, zum anderen aus der Anpassung an das vorherrschende nicht-revolutionäre Bewusstsein der Klasse, die man durch „Linksradikalismus“ nicht verprellen wollte.
  • Eine weitere Form der Anpassung bestand darin, dass die Militant-Strömung (ähnlich wie andere Gruppierungen des britischen Trotzkismus) schon sehr früh die Losung einer „Labour-Regierung auf einem sozialistischen Programm“ vertrat – eine Parole, die praktisch die Möglichkeit einer revolutionären Regeneration der Labour Partei oder anderer reformistischer Parteien implizierte.
  • In der Labour Party wie auch in der „unabhängigen“ Arbeit wurde die Anpassung an vorherrschende Stimmungen der ArbeiterInnenklasse – und darüber vermittelt an das bürgerliche System – noch vertieft. So weigerte sich Militant im Malvinas-Krieg zwischen Britannien und Argentinien von Beginn an, für die Niederlage des britischen Imperialismus, also der eigenen Bourgeoisie, einzutreten. In der Frage der „offenen“ Grenzen passte sich das CWI über Jahre an den Sozial-Chauvinismus in der ArbeiterInnenklasse an und lehnte es beständig ab, für die Abschaffung aller Einreisekontrolle einzutreten. Die Abschaffung jeder staatlichen Selektion zwischen „guten“ und „schlechten“, also für das Kapital verwertbaren und nicht verwertbaren MigrantInnen wäre der ArbeiterInnenklasse nämlich nicht „vermittelbar“. Statt also dem Chauvinismus in der Klasse politisch und argumentativ entgegenzutreten, wird dieser als „natürlich“ hingenommen. Diese Anpassung findet sich schließlich aktuell besonders deutlich beim sog. „Workers Brexit“, einer angeblich linken Variante des Brexit. Damit soll der Einfluss rechts-populistischer DemagogInnen wie Farage oder Johnson bekämpft werden – in Wirklichkeit läuft das CWI diesen hinterher und kehrt darüber hinaus all jenen Lohnabhängigen, die gegen den Brexit sind, den Rücken. Hier erweist sich die Nachtrabpolitik nicht nur als opportunistisch, sondern auch als nutzlos, blöde und kontraproduktiv.

Nachtrabpolitik

Die Nachtrabpolitik des CWI hat jedoch eine
theoretische Wurzel. Es lehnt – ebenso wie die IMT – bewusst die Lenin’sche
Konzeption der Entwicklung des Klassenbewusstseins ab, wie sie z. B. in
„Was tun“ dargelegt wird. So schreibt Alan Woods in „Bolshevism: road to
revolution“:

„Die Arbeiterklasse beginnt aus lebender Erfahrung mit Ausbeutung und Unterdrückung ein sozialistisches Bewußtsein zu entwickeln, angefangen mit der aktiven Schicht, die die Klasse führt. (…) Der Klassenkampf selbst schafft unausweichlich nicht nur ein Klassenbewußtsein, sondern auch ein sozialistisches Bewußtsein.“ (Zitiert nach RSO, CWI und IMT, Marxismus Nr. 30, Februar 2009, S. 57)

Wie zahlreiche andere RevisionistInnen, die die
Lenin’sche Polemik gegen den Ökonomismus für „überzogen“ halten und daher
meinen, seine gesamte Theorie verwerfen zu können, übersieht Woods, dass seine
Vorstellung nicht nur jener von Lenin und Kautsky, sondern auch der von Marx
diametral entgegensteht. Im ersten Band des Kapital legt Marx dar, dass das
Lohnarbeitsverhältnis selbst das Bewusstsein der Klassen prägt. Die
Transformation des Werts der Ware Arbeitskraft in Arbeitslohn inkludiert auch
eine ideologische, bewusstseinmäßige Verkehrung des realen
Ausbeutungsverhältnisses:

„Bei der Lohnarbeit erscheint umgekehrt selbst die Mehrarbeit oder unbezahlte Arbeit als bezahlt. Dort (in der Sklaverei; Anm. d. Autors) verbirgt das Eigentumsverhältnis das Fürsichselbstarbeiten des Sklaven, hier das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters.

Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (Marx, Das Kapital, Band 1, S. 562)

Dies verdeutlicht wohl hinlänglich, dass sich aus
der „lebendigen Erfahrung mit Ausbeutung und Unterdrückung“ überhaupt kein
Klassenbewusstsein spontan entwickelt, sondern dass die „lebendige Erfahrung“,
der Verkauf der Ware Arbeitskraft und noch das Aushandeln der Verkaufsbedingungen
der Ware Arbeitskraft, also die regelmäßige Reproduktion des
Kapitalverhältnisses, notwendigerweise bürgerliches Bewusstsein hervorbringt.

Elementarformen des Klassenkampfes – z. B.
der Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen – können zwar in der
Aktion bestimmte Flausen, Mystifikationen (z. B. die Vorstellungen von
„Gerechtigkeit“, vom Staat, …) praktisch in Frage stellen. Aber sie führen
keineswegs spontan zur Bildung von Klassenbewusstsein, geschweige denn zum „sozialistischem
Bewusstsein“. Das rein gewerkschaftliche Bewusstsein, das zweifellos „spontan“
aus der Erfahrung in dieser Form des Klassenkampfes erwächst, stellt Marx und
Lenin zufolge noch immer eine Art bürgerlichen Bewusstseins dar. Der
Reformismus bürgerlicher ArbeiterInnenparteien wie z. B. der Labour Party,
der SPD oder der Linkspartei ist im Grunde nichts anderes als eine Ausweitung
dieser Form bürgerlichen Bewusstseins auf die politische Ebene. Gegenüber dem
rein gewerkschaftlichen stellt das zwar einen Fortschritt dar, weil es die
Notwendigkeit einer Partei der ArbeiterInnenklasse anerkennt – aber
nichtsdestotrotz bleibt auch eine solche, reformistische Partei eine
bürgerliche, auf dem Boden des Kapitalismus agierende politische Kraft, das
reformistische Bewusstsein daher bürgerliches Bewusstsein.

Der Boden für die Bildung revolutionären
Klassenbewusstseins wird zwar durch Krisen, Verwerfungen, Massenaktionen,
Aufstände usw. befördert, weil Fragen des Klassenkampfes und Machtfragen zu
unmittelbar praktischen werden. Nichtsdestotrotz erfordert die Hervorbringung konsequent
revolutionären Klassenbewusstseins auch dann eine theoretische Analyse, eine
wissenschaftliche Verallgemeinerung, die nicht nur und auch nicht vorrangig aus
der eigenen Erfahrung, sondern nur aus der verallgemeinerten Erfahrung aller
Klassekämpfe hervorgehen kann. Diese wird nicht spontan entwickelt, sondern bedarf
theoretischer Anstrengung. Revolutionäre Politik muss für den Marxismus auf
einer revolutionären Theorie fußen – ansonsten ist sie keine.

Diese Theorie muss in den Klassenkampf, in die
ArbeiterInnenklasse getragen werden – sei es durch politisch bewusste
Lohnabhängige, sei es durch kleinbürgerliche oder bürgerliche TheoretikerInnen,
die sich den wissenschaftlichen Sozialismus zu eigen gemacht haben. In die
Klasse tragen darf dabei natürlich nicht mit „Aufklärung“ verwechselt werden,
sondern bedeutet, für ein Programm zu kämpfen, das eine Brücke zwischen Theorie
und Erfahrung schlägt, das einen Weg weist, die beschränkten Kämpfe für soziale
und politische Reformen mit dem für die sozialistische Revolution zu verbinden.

Die Vorstellung, dass Klassenbewusstsein aus der
Erfahrung oder dem spontanen Klassenkampf notwendig erwachse, stellt nicht nur
einen fundamentalen Bruch mit dem Marxismus dar – sie rechtfertigt logisch auch
eine Nachtrabpolitik, eine Anpassung an des bestehende Bewusstsein, wie es
Lenin an den ÖkonomistInnen kritisierte.

Sie unterstellt nämlich, dass rein
gewerkschaftliches oder reformistisches Bewusstsein schon einen halben Schritt
zum revolutionären darstellen würden, dass diese nur quantitativ erweitert
werden müssen und sich organisch in „revolutionäres“ verwandeln würden.

Ökonomischer Kampf als eigentlicher
Klassenkampf?

In Wirklichkeit bedeutet revolutionäres
Klassenbewusstsein jedoch einen qualitativen Bruch mit dem Reformismus. Der
Kampf für revolutionäre Politik beinhaltet daher in nicht-revolutionären Zeiten
immer ein Ankämpfen gegen das spontane, vorherrschende Bewusstsein – auch innerhalb
der ArbeiterInnenklasse. Der Verzicht z. B. auf den Kampf um „offene
Grenzen“ oder Anpassung an die sozialchauvinistischen Stimmungen in der
britischen ArbeiterInnenklasse in der Frage des „Workers Brexit“ stellt
hingegen eine Form der Nachtrabpolitik dar, der Anpassung an das vorherrschende,
nicht-revolutionäre Bewusstsein der Klasse, insbesondere an den
Sozial-Chauvinismus.

Das Zitat von Woods, das bis heute dem
Verständnis von Klassenbewusstsein und dessen Entwicklung bei allen Flügeln von
CWI und IMT zugrunde liegt, impliziert noch eine bestimmte Haltung zu den
Formen des Klassenkampfes. Bekanntlich unterscheiden Engels und in seiner
Nachfolge auch Lenin und andere MarxistInnen zwischen drei Hauptformen des
Klassenkampfes: dem gewerkschaftlichen, dem politischen und dem ideologischen
(oder theoretischen). Die Aufgabe einer revolutionären Partei besteht darin,
alle drei systematisch zu betreiben und im Rahmen einer revolutionären
Strategie zu verbinden, die auf die politische Machtergreifung der
ArbeiterInnenklasse ausgerichtet ist.

In der CWI-Tradition wird unwillkürlich – und im
direkten Gegensatz zu allen klassischen marxistischen TheoretikerInnen – der
ökonomische Kampf zum Kern des Klassenkampfes.

Die Verklärung des gewerkschaftlichen
Klassenkampfes zum eigentlichen Klassenkampf, des reformistischen
ArbeiterInnenbewusstseins zum eigentlichen Sprungbrett für „revolutionäres
Bewusstsein“ stellt letztlich eine ideologische Rechtfertigung des Workerismus
dar, der die CWI-Strömung seit ihrer Entstehung prägt.

Es ist daher kein Wunder, dass diese Tendenz
gegenüber Kämpfen der Unterdrückten – nationalen Befreiungsbewegungen,
antirassistischen Kämpfen, dem Kampf für Frauenbefreiung oder gegen sexuelle
Unterdrückung – immer wieder skeptisch, oft direkt sektiererisch auftrat. So
lässt sich das bis heute an der links-zionistischen Position zu Palästina oder
der sektiererischen Haltung zum nationalen Befreiungskampf in (Nord-)Irland
zeigen.

Wenn wir von einer ökonomistischen Vorstellung
der Entwicklung des Klassenbewusstseins ausgehen, so erscheint das nicht
sonderlich problematisch, ja sogar als eine Tugend, sich auf die „echten“
ArbeiterInnenfragen zu konzentrieren.

Von einem leninistischen Standpunkt aus ist das jedoch
fatal. In „Was tun“ erklärt Lenin schließlich nicht nur, dass Klassenbewusstsein
von außen in die Klasse getragen werden muss – er legt auch verständlich und
bündig dar, was revolutionäre Klassenpolitik inhaltlich auszeichnet.

„Das Bewußtsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Mißbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren. Das Bewußtsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewußtsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden. Wer die Aufmerksamkeit, die Beobachtungsgabe und das Bewußtsein der Arbeiterklasse ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf sie selber lenkt, der ist kein Sozialdemokrat, denn die Selbsterkenntnis der Arbeiterklasse ist untrennbar verbunden mit der absoluten Klarheit nicht nur der theoretischen … sogar richtiger gesagt: nicht so sehr der theoretischen als vielmehr der durch die Erfahrung des politischen Lebens erarbeiteten Vorstellungen von den Wechselbeziehungen aller Klassen der modernen Gesellschaft. Darum eben ist die Predigt unserer Ökonomisten, daß der ökonomische Kampf das weitest anwendbare Mittel zur Einbeziehung der Massen in die politische Bewegung sei, so überaus schädlich und ihrer praktischen Bedeutung nach so überaus reaktionär.“ (Lenin, Was Tun, LW 5, S. 426)

Dass revolutionäre Organisationen eine klare
Position zum Kampf gegen Frauenunterdrückung, gegen die Unterdrückung der
Jugend, gegen Imperialismus, Rassismus und nationale Unterdrückung einnehmen,
dass sie mit einem Klassenstandpunkt in diese Bewegungen intervenieren und
einen revolutionären Kurs skizzieren, stellt keine „konjunkturelle“ Aufgabe
dar. Sie ergibt sich auch nicht nur negativ aus der Notwendigkeit, die Dominanz
bürgerlicher und kleinbürgerlichen Ideologien in Bewegungen der Unterdrückten
zu bekämpfen. Vielmehr folgt die Notwendigkeit, eine Politik zu entwickeln, die
sich gegen alle Formen von Ausbeutung und Unterdrückung wendet, aus dem
Charakter des proletarischen Befreiungskampfes selbst. Die ArbeiterInnenklasse
kann sich nämlich nur selbst befreien, wenn sie alle Verhältnisse umwirft, in
denen der Mensch eine erbärmliches, geknechtetes Wesen ist, indem sie sich
selbst durch die Revolution befreit und revolutioniert.

Das ökonomistische Schema von Woods hingegen
legt auf allen Gebieten nahe, dass der Kampf gegen soziale Unterdrückung oder
auch die „Staatsfrage“ durch das naturnotwendig stetig steigende Gewicht und
Bewusstsein der Klasse „letztlich“ und gewissermaßen automatisch gewonnen,
gelöst wird.

Die Krise des CWI ist eine Krise ihres Schemas

Die Krise des CWI muss unserer Auffassung nach
als eine Krise dieses Schemas und bestimmter damit verbundener Erwartungen an
die Entwicklung der ArbeiterInnenklasse, ihres Bewusstseins und des CWI selbst
verstanden werden.

Anders als viele konkurrierende trotzkistische
Strömungen – allen voran das „Vereinigte Sekretariat der Vierten
Internationale“, aber auch als der Morenoismus – schien das CWI nach der
Spaltung von der IMT mit großen Schritten voranzuschreiten. Die Führung der
Organisation setzte sich das Ziel, zur größten „trotzkistischen“ Strömung
weltweit zu werden. Nach der großen Krise 2008–2010 wurden diese Hoffnungen
anscheinend noch verstärkt zum Ausdruck gebracht.

Doch der Durchbruch kam nicht. Die
verschiedenen, öffentlich gewordenen Dokumente des Fraktionskampfes im CWI
legen vielmehr nahe, dass die Organisation international betrachtet in den
letzten 10 Jahren stagnierte. Zweitens offenbaren die wechselseitigen Vorwürfe
der Fraktionen, dass die Mitgliederzahlen jahrelang übertrieben wurden, um
andere Strömungen zu beeindrucken oder die Moral der eigenen Mitglieder zu
heben. Diese Beschönigung der Mitgliederstatistiken funktionierte anscheinend
jahrelang. Im Zuge der Krise hatte und hat das sicher eine demoralisierende
Wirkung auf viele GenossInnen, die schließlich jahrelang über den Zustand der
eigenen Organisation hinters Licht geführt wurden.

Drittens verschoben sich im CWI auch die
politischen Gewichte und das Verhältnis zwischen den Sektionen. Jahrelang galten
die Dominanz und politische Führungsrolle der englischen und walisischen
Sektion, der Socialist Party (SP), als unangefochten. Doch die Autorität von
Taaffe und Co. wurde ganz zweifellos unterminiert.

Politik der SP

Auch wenn die Fragen der Politik der SP selbst
in den fraktionellen Auseinandersetzungen kaum zur Sprache kamen und auch wenn
die Mehrheit des IEK diese praktisch nicht kritisierte, so war wohl
offenkundig, dass sie politisch nicht vorankam und „bestenfalls“ weniger an
Einfluss und Mitgliedern verlor als die andere große zentristische
Organisation, die SWP. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens das Festhalten am
„Workers Brexit“. Für die SP stellte die Mehrheit für den Austritt Britanniens
aus der EU einen Sieg der ArbeiterInnenklasse dar, die Führung der SAV in
Deutschland bezeichnete ihn als „Grund zu Freude“. Und die SP in Britannien
hält bis heute daran fest, dass sich Labour und die Gewerkschaften an die
Spitze einer imaginären „linken“ Brexit-Bewegung stellen müssten:

„Um erfolgreich zu sein, muss Corbyn diese Botschaft beharrlich, laut und deutlich aussprechen – einhergehend mit dem Versprechen, bezüglich des Brexit und darüber hinaus Maßnahmen für die Arbeiter*innenklasse durchzuführen. Auf dieser Grundlage könnten Labour und die Gewerkschaften Massen für einen Brexit im Interesse der Arbeiter*innenklasse mobilisieren und damit auch der Kampagne der Rechtspopulist*innen gegen die EU etwas entgegensetzen.“ (https://www.sozialismus.info/2019/04/sozialistinnen-und-der-brexit/)

Eine „Partei“, die zwischen Sieg und Niederlage
nicht zu unterscheiden weiß, die meint, die Brexit-Bewegung mit einem
nationalen Weg zum Sozialismus schlagen zu können, und dabei all jenen
Lohnabhängigen und MigrantInnen den Rücken kehrt, die gegen den
nationalistischen Brexit-Wahn kämpfen wollen, benötigt weder die britische noch
sonst eine ArbeiterInnenklasse.

Zweitens weigerte sich die SP, in die Labour
Party unter Corbyn einzutreten und auf Hunderttausende nach links gehende AktivistInnen
zuzugehen. Statt ihre eigene, vorschnelle Erklärung der Labour Party als „rein
bürgerliche Partei“ zu redividieren, klammerte sich die Taaffe-Führung an
dieser falschen Einschätzung fest und wählte die Selbstisolation außerhalb von
Labour. Zweifellos hätte eine Revision der Charakterisierung der Labour Party
kritische Fragen bezüglich der eigenen Vergangenheit aufgeworfen. Politisch
geholfen hat diese sture Verteidigung des eigenen Fehlers sicher nichts.
Erschwert wurde dieser Fehler sicher auch dadurch, dass die Labour Party unter
Corbyn auf einem links-reformistischen Programm antrat, von dem sich die SP
viel schwerer inhaltlich abzusetzen vermochte. Ihre falsche Haltung zum Brexit
und ihre Ablehnung offener Grenzen führten außerdem dazu, dass sie in diesen
zentralen Fragen des Klassenkampfes rechts von vielen Labour-AktivistInnen
stand und steht.

Entwicklung anderer Sektionen

Während die SP auf dem absteigenden Ast war,
errangen andere Sektionen des CWI – insbesondere die irische und US-amerikanische
– durchaus beachtliche Wahlerfolge auf kommunaler oder gar nationaler Ebene.

Nicht nur Größenverhältnisse änderten sich, auch
die politische Schwerpunktsetzung der einzelnen Sektionen wandelte sich und
wurde unterschiedlicher. Das CWI der 1970er und 1980er Jahre folgte einem
weitgehend einheitlichen Aufbauplan seiner Sektionen – der Arbeit in
bestehenden Massenparteien und in den Gewerkschaften. Alle Strömungen, die eine
entristische Arbeit verweigerten, wurden als „SektiererInnen am Rande der ArbeiterInnenbewegung“
denunziert. Eine solche oberflächliche Immunisierung der eigenen Mitglieder
gegenüber der „restlichen Linken“ war naturgemäß nach dem Austritt aus Labour
oder SPD nicht mehr oder nur noch bedingt möglich.

Hinzu kam, dass einige Sektionen ihren
Schwerpunkt in „neuen“ reformistischen Linksparteien suchten, andere wie die SP
in England auf den eigenen Aufbau setzten. Die Aufbautaktik wurde somit uneinheitlicher.
Mit dem Linksschwenk von Labour unter Corbyn stellte sich natürlich auch die
Frage, warum eine Arbeit in der zahlenmäßig stagnierenden deutschen Linkspartei
unbedingt notwendig sei, während ein organisierter Kampf in der Labour Party
abgelehnt wurde. Während man sich in Britannien von der „Corbyn-Bewegung“ fernhielt,
wurde zugleich die Präsidentschaftskampagne von Sanders in der offen
bürgerlichen Demokratischen Partei unterstützt.

Auch die Arbeit in den Gewerkschaften, jahrelang
in Form opportunistischer Anpassung an die linke Bürokratie ein Aushängeschild
der englischen Sektion, wurde angesichts von Niederlagen der organisierten
ArbeiterInnenklasse wie des Aufstiegs neuer sozialer Bewegungen in einigen
Ländern depriorisiert. So agierte die irische Sektion vor allem in der
Frauenbewegung und der Kampagne gegen Abtreibung.

Anpassung an unterschiedliche Milieus

Diese verschiedenen Taktiken und Aufbaumethoden
folgten mehr und mehr den unmittelbaren Bedürfnissen einzelner Sektionen.
Zugleich mussten sie früher oder später die Frage der Aufbaumethode, der
Klassenpolitik (Haltung zu den DemokratInnen in den USA), der Position zu kleinbürgerlich
geführten Bewegungen usw. aufwerfen.

Eine offene Diskussion über all diese Fragen war
jedoch über Jahre zurückgestellt worden. Es wurde eine einheitliche Linie
suggeriert, auch wenn diese in der Realität mehr und mehr aufgeweicht wurde.

Eine revolutionäre Organisation, die auf Basis
eines gemeinsamen, wissenschaftlichen Programms agiert, kann mit solchen
unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen nationaler Sektionen eigentlich leicht
leben, da es das internationale Programm erlaubt, ebendiese in einen
gemeinsamen Kontext zu stellen. Für eine ökonomistische Organisation verhält es
sich grundsätzlich anders. Gehen wir davon aus, dass das revolutionäre
Bewusstsein direkt aus dem Klassenkampf entsteht, so tendiert natürlich eine
Verschiebung des jeweiligen Fokus auch dazu, dass sich das Milieu, aus dem das
Bewusstsein organisch erwachsen soll, grundlegend ändert.

Solang alle einen Schwerpunkt auf einigermaßen
ähnliche Gewerkschaftsarbeit und auf reformistische Parteien legen, werden sich
noch einigermaßen ähnliche „Bewusstseinsansätze“ ergeben.

Anders wird es freilich, wenn verschiedene
Sektionen in unterschiedlichen Milieus und Bewegungen agieren und intervenieren
– und das noch umso mehr, als manche davon einen klassenübergreifenden
Charakter tragen. Der Kampf schafft dabei selbst kein gemeinsames revolutionäres
Bewusstsein, sondern unterschiedliche nicht-revolutionäre Bewusstseinsformen.
Diese können Formen der Identitätspolitik und des bürgerlichen oder kleinbürgerlichen
Feminismus (wie in Irland darstellen), es können ebenso Spielarten des
Reformismus und Sozial-Chauvinismus wie in Britannien sein.

So richtig daher der Vorwurf der ehemaligen
IS-Mehrheit um Peter Taaffe auch hinsichtlich der Anpassung der irischen
Mehrheit und ihrer UnterstützerInnen an die Identitätspolitik sein mag, so bleibt
die ganze Kritik blind gegenüber der Tatsache, dass diese Anpassung durchaus
aus der ökonomistischen Vorstellung der Entwicklung von Klassenbewusstsein
entspringt, die dem CWI immer schon zugrunde lag.

Wenn die „proletarische Tendenz“ von einer
Rückkehr zur „ArbeiterInnenpolitik“ spricht, so meint sie letztlich eine
Rückkehr zu den echten, ökonomistischen Wurzeln des CWI. Dieser Appell mag zu
einem Zusammenrücken der verbliebenen AnhängerInnen führen, zu einer Lösung der
Probleme des CWI wird er nicht führen – erst recht nicht mit einer Anpassung an
das vorherrschende linke, gewerkschaftliche ArbeiterInnenbewusstsein.

Umgekehrt sind bei der Mehrheit des IEK weitere
Anpassungen an kleinbürgerliche Kräfte und Ideologien, vor allem aber eine
Tendenz zum Föderalismus und zur Beliebigkeit zu erwarten. Anders als die
Strömung um Taaffe stellt sie eher eine Koalition von GegnerInnen der „alten“
Führung dar – über einen einheitlichen Gegenentwurf dürfte sie nicht verfügen.
Es handelt sich vielmehr um eine Gruppierung nationaler Sektionen, für die ihr
jeweiliger „nationaler“ Aufbau im Zentrum stehen dürfte – und damit ist
entweder Beliebigkeit oder weitere Spaltung vorprogrammiert.

Mit der Spaltung wird in jedem Fall die Krise
des CWI nicht vorüber sein. Die politischen Fehler der letzten Jahre – wie
Brexit, … – werden in den kommenden erst recht ihren Tribut fordern. Während
von der Strömung um Taaffe eher eine sektiererische Haltung zur neuen
Frauenbewegung oder zur Umweltbewegung zu erwarten ist, werden andere auf
Anpassung setzen. Und solche kann – nehmen wir nur den Aufstieg populistischer
Bewegungen wie der Gilets Jaunes – zu weit größeren Fehlern als eine Adaption
an Identitätspolitik oder Reformismus führen. Eine solche Entwicklung ist auch
deshalb zu befürchten, weil alle Strömungen des CWI bislang eine Verharmlosung
der reaktionären Entwicklungen der letzten Jahre eint.

Weltlageeinschätzung

So geht ihre letzte und einstimmig
verabschiedete, gemeinsame Weltlageeinschätzung mit keinem Wort auf deren
veränderten Charakter seit der Niederlage des Arabischen Frühlings in Syrien
und Ägypten und der von Syriza ein. Natürlich bestreitet das CWI dabei nicht,
dass es diese Niederlagen gegeben hat, wohl aber dass diese für die Entwicklung
des globalen Kapitalismus einen Rechtsruck und eine reaktionäre Phase bedeuten.

Wie wir sehen können, kann diese selbst
Massenwiderstand wie z. B. in Brasilien, Generalstreiks wie in Indien oder
gar Revolutionen wie im Sudan hervorbringen. Aber das ändert nichts daran, dass
die ArbeiterInnenklasse in einer Situation der Defensive agiert – einer
Defensive, die nicht nur die Schwäche der Klassenorganisationen, sondern auch
das Vordringen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologien in den Bewegungen
der Widerstandes wie in der ArbeiterInnenklasse selbst beinhaltet. Eine
Hauptgefahr – aber sicher nicht die einzige – stellt dabei der (Links-)Populismus
dar.

In den Thesen des CWI vom November 2018
erscheint dies jedoch vielmehr als Prozess, als Polarisierung, bei der erstens
nicht ausgemacht werden könne, welche Kraft – Reaktion oder Revolution – im
Vormarsch ist, und bei der die Entwicklung des Klassenbewusstseins letztlich
nur als eine Frage der Zeit erscheint, also der spontanen Entwicklung von Massenmobilisierungen.
So heißt es in dem Papier:

„Der Aufstieg des politisch nebulösen Populismus wurzelt in der Weltwirtschaftskrise von 2007/08 und ihren Folgen. Bürgerliche Analyst*innen, darunter Francis Fukuyama und eine Reihe von Kommentator*innen, spotten darüber, dass es nicht diese Linke, sondern die Rechte war, die am meisten von den politischen Folgen dieser Krise profitierte. Das stellt die Realität völlig auf den Kopf. Die Arbeiter*innenklasse wandte sich in vielen Ländern zunächst einmal der Arbeiter*innenbewegung und der Linken zu, um eine Erklärung und Lösungen für die Krise zu finden. Die Linke hätte angesichts der Schwere der Rezession, die zur Diskreditierung des Kapitalismus und seiner politischen Vertretung führte, erheblich gewinnen können.“ (https://www.sozialismus.info/2019/01/die-lage-der-welt-das-kapitalistische-system-steht-vor-politischen-und-sozialen-umbruechen)

Hier flüchtet sich das CWI einhellig in den
Konjunktiv. Zur Bestimmung des aktuellen Kräfteverhältnisse ist leider nicht
entscheidend, was hätte kommen können, sondern wie sich Bewusstsein und
Kräfteverhältnis real entwickelten.

Hinter dieser Formulierung steht letztlich ein
objektivistisches Hoffen, dass die „Radikalisierung“ und Bewusstseinsbildung
der ArbeiterInnenklasse einem „gut aufgestellten“ CWI bei den nächsten größeren
Mobilisierungen Massen in die Arme treiben würden. Die letzten Jahre zeigen,
dass die Weigerung des CWI, ihren eigenen Ökonomismus kritisch zu hinterfragen
und abzulegen, die Organisation zur Spaltung getrieben hat. Nur wenn das CWI,
einzelne Abspaltungen oder GenossInnen die falschen methodischen Grundpfeiler
ihrer Tendenz in Frage stellen, kann aus dieser Krise Positives erwachsen.




Antidogmatismus als Attitüde

Michael Eff,
Infomail 1065, 20. August 2019

Eine kurze Replik zu Manuel Kellners „Wortmeldung“ „Zum Aufbau revolutionärer Organisationen heute“, (scharf links, 12.8.19)

Zugegeben,
das Thema ist umfassend, und es ist durchaus legitim, öffentlich einige
Gedankensplitter zu dieser Problematik zu äußern, ohne gleich ein
„Aufbaukonzept“ aus der Tasche ziehen zu müssen. Aber M. K. hat hier einen ganz
eigenwilligen Argumentationsstil unfreiwilliger Komik entwickelt. Wie geht er
vor?

Zunächst einmal wird versichert: „Es geht nicht um Rechthaberei. Wir so
wenig wie Karl Marx (eine leicht größenwahnsinnige Bezugnahme, M. E.) wollen
hören oder sagen: ,Hier ist die Wahrheit, hier knie nieder!‘ “

Was
sich so bescheiden gibt, entpuppt sich sehr schnell als rituelle Floskel, denn
dann zieht M. K. vom Leder:

Alle Gruppen mit „revolutionärem Anspruch“ (ob sie sich nun selbst für
eine revolutionäre Partei oder nur für einen der Kerne einer zukünftigen
revolutionären Partei halten) – „Alle diese Gruppen irren sich“, verkündet
unser Gegner von Rechthaberei. Und dann erklärt er uns, „was sie in Wahrheit
sind“ (wie sich ihre Mitglieder darstellen und was sie tun):

  • ein
    Trotzki aus der Tube
  • Lenin
    aus der Westentasche
  • ein
    Liebknecht im Reichstag
  • diese
    Gruppen leisteten eine „Interpretation der Überlieferung als einer Enzyklopädie
    von zutreffenden Behauptungen“, die selbstständiges, kritisches Denken ersetze
  • in
    blinder Nachahmung der Bolschewiki „brandmarken“ „Samuel Sekterisch und Kumbert
    Kleingruppenhäuptling“ die „zentristischen und reformistischen Weicheier“
  • der
    Zweifel sei unangebracht
  • „Marx
    und andere komplizierte Sachen müssen sie nicht lesen, kennen sie doch die
    zutreffenden Kurzfassungen“
  • sie
    stünden an Ständen und erzählten den Leuten „ungefragt einen vom Pferd“
  • man
    dürfe die „Kontrolle“ nicht verlieren, „Hauptsache, die eigene
    Selbstreproduktion geht nicht hops und die eigenen Hauptamtlichen bleiben im
    Brot.“
  • wer
    solche Gruppen führe, dem gehe es darum, dass sein „Fußvolk dir aufs Wort
    glaubt“
  • Mitglieder
    müssten „in ihren öffentlichen Äußerungen immer einer Meinung sein“
  • es
    würden „Mitglieder scheinrevolutionärer Gruppen in das Hemd von Verrätern
    gesteckt“, wenn sie Meinungsverschiedenheiten öffentlich machten
  • die
    Mitglieder müssten „strammstehen“
  • gleichsam
    „kanonisierte Texte“ vergangener Erfahrungen dienten als „Blaupausen für das,
    was heute zu… machen ist“
  • sie
    „erziehen neue RekrutInnen so, dass sie ihren FührerInnen zustimmen“
  • die
    Gruppen pflegten mit ihrer Schulungsarbeit „ein hagiographisches
    Geschichtsbild“
  • bestenfalls
    seien diese Gruppen (vorgeblich ,trotzkistischer‘ und vergleichbarer Gruppen)
    ein „Flohzirkus“ und „scheinrevolutionär“.

Vermutlich ist die Liste nicht vollständig.
Nicht, dass es die angesprochenen Probleme gar nicht gäbe (das Papier selbst
beweist es ja…), aber nirgendwo wird etwas belegt, nirgendwo wird beispielhaft
illustriert und vor allem bleibt man im Vagen, weil nirgendwo Ross und ReiterIn
beim Namen genannt werden. Diese Methode des selbsternannten Gegners der
Rechthaberei ist perfide. So pauschal formuliert, so unspezifisch adressiert
bleibt nur eine Einordnung: Es handelt sich um blanke Verleumdungen.

Differenzierung ist nicht sein Ding. Er kann
nur pauschal „alle“ meinen. Doch halt, Rettung naht – es gibt eine
Ausnahme: der eigene Verein:

  • Unsere Vierte Internationale heute schafft
    es…zur gemeinsamen Reflexion, Positionsbildung und Bildungsarbeit auf hohem
    Niveau zusammenzuführen
  • Sie verbreitet nicht die Fiktion, ihre
    führenden Mitglieder hätten die marxistische Weisheit mit Löffeln gefressen
  • Wir haben keine Obermacker
  • Weil wir nicht in doktrinärer
    Selbstgewissheit auftreten
  • Wir geben nie auf und kämpfen bis zum letzten
    Atemzug (wörtlich!! M. E.)

Dort die verspinnerten DoktrinärInnen (eben alle anderen), – hier die
undogmatischen HeilsbringerInnen. M. K. ist um sein schlichtes Weltbild zu
beneiden.

Die Sache hat aber durchaus Methode. Wie schon bei seiner Bilanz der NaO
ersetzen die Verleumdungen anderer die inhaltlichen Auseinandersetzungen
mit ihnen. Auf acht Seiten wird zum Thema „Aufbau revolutionärer Organisationen“
kein einziges inhaltliches/programmatisches Wort verloren. Wir verlangen ja
keine „Lösungen“, aber die wichtigsten Probleme in der Welt und in unserer
Zeit, um deren Klärung (wie unvollständig und vorläufig auch immer) sich
revolutionär verstehende Organisationen bemühen müssten, sollten schon benannt
werden.

In seinem Papier gib es einen Abschnitt mit der Überschrift „Der Umgang
mit der Überlieferung“. Dort werden zwei historische Beispiele angeführt.

1. Die Bedenken, die führende USPD-Mitglieder (Crispien, Dittmann)
äußerten über die Art und Weise, wie die KomIntern organisiert bzw. geführt
werden solle. Da wird´s dann bei M. K. kryptisch. Einerseits lässt M. K. seine
Sympathien (angesichts der späteren Entwicklungen) für diese Bedenken durchblicken,
andererseits heißt es: „Natürlich empfinden wir gleichwohl die Argumente und
Positionen der damaligen Revolutionäre und Revolutionärinnen…für in der Tendenz
(?? M. E.) die besseren.“ Alles klar???

2. Der Fall Paul Levi. Ich persönlich teile Paul Levis Kritik an der
„Märzaktion“ im Wesentlichen. Auch die Umgangsweise der KomIntern mit Levi
halte ich für falsch. Jedenfalls kann man das diskutieren. Aber wozu versteigt
sich M. K.? „…wenn das Denken von überhaupt jemandem dieser Zeit auch heute
noch danach schreit…in Hinblick auf Probleme, die sich Linken heute stellen,
ausgewertet zu werden, dann seines.“ So eine Aussage kann man nicht einfach in
den Raum stellen, ohne zumindest anzudeuten, wieso Paul Levi so ein seltenes
und überragendes Exemplar ist. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Vermutlich haben die ritualhaften Zeremonien des „Undogmatischen“, das
Vermeiden inhaltlicher Auseinandersetzungen, die Sympathien mit eher
rechtskommunistisch und linkssozialdemokratischen Strömungen ihre Wurzel in der
eigenen Praxis. Auffällig ist jedenfalls, dass in dem Abschnitt des Papiers
„Linke Neuformierung“ über die brasilianische PT diese Partei lobend erwähnt
wird, weil sie „…eine Vielfalt linker Strömungen zum gemeinsamen politischen
Handeln und zur gemeinsamen Meinungs- und Positionsentwicklung zusammenführte.“
Wie harmonisch, aber leider muss auch M. K. konstatieren: „Bekanntlich ist auch
die PT gescheitert.“ Dass dies auch etwas mit der von ihm so gefeierten
Struktur der PT und ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu tun haben könnte, kommt
M. K. nicht in den Sinn. Jedenfalls ist in diesem Papier kein Wort davon zu
finden (aber immerhin die Aufforderung, die Gründe für das Scheitern zu analysieren).

Dann kommt er, so nehme ich an, zum Kern seiner Motivation, der Arbeit
in der Linkspartei. Nachdem er, wie ich finde, weitgehend richtig, die beiden
klassischen Ausformungen der Taktik des Entrismus dargestellt hat und beide für
sich zurückweist, folgt seine strategische Ausrichtung: „Die Partei Die Linke
und natürlich ganz besonders ihre antikapitalistisch und mehr oder weniger
revolutionär gesonnenen Strömungen sind keine ,feindliche Umgebung‘, sondern
einfach Teil der zeitgenössischen Neuformierung der Linken, wenn auch unter
starkem Anpassungsdruck (??, M. E.). Wer dazu beitragen möchte, diesem
Anpassungsdruck (?) zu widerstehen, tut gut daran, die Partei und diese
Strömungen mit aufzubauen und zugleich in deren Mitgliedschaft kritische
Reflexion zur genannten Problematik anzuregen und zu befördern.“

Ich habe da einen Präzisierungsvorschlag zu machen, nämlich mit der
„kritischen Reflexion“ des Scheiterns der PT zu beginnen. Vielleicht führt das
ja zur „kritischen Reflexion“ der eigenen Vorgehensweise.

Nur um nicht missverstanden zu werden. Ich bin der Meinung, dass es
durchaus Situationen gibt, in denen es für RevolutionärInnen richtig sein kann,
in der Linkspartei mitzuarbeiten, aber dann mit Sicherheit nicht, um gemeinsam
„kritisch zu reflektieren“.

Eine Stärke hat allerdings das Papier von M. K., nämlich wenn er
verkündet, dass der Gründungsanspruch „ der IV. Internationale endgültig passé
ist, nämlich den offiziellen Kommunismus…als die authentisch
revolutionär-marxistische Führung abzulösen.“ Rechthaberisch, wie wir sind,
möchten wir dazu nur bemerken, dass wir das seit Jahrzehnten wissen.

Am verblüffendsten an M. K.s Papier ist allerdings der Schlussteil „Zur
Assoziierung revolutionärer organisierter Strömungen“. Nachdem er uns auf den
ersten Seiten belehrt hat, dass „Organisationen mit revolutionärem Anspruch“
grundsätzlich falsch lägen, denn „Alle diese Gruppen irren sich…in Hinblick auf
das, was sie sind“, nachdem kübelweise Verleumdungen auf Gruppen „mit
revolutionärem Anspruch“ ausgekippt wurden, ohne Ross und ReiterIn zu nennen,
kommt folgender Vorschlag: „Vielleicht sind Formen der Assoziierung solcher
organisierter Zusammenhänge (,kleine Strömungen der revolutionär gesonnenen
Linken‘) möglich, die die Besonderheiten der verschiedenen Gruppen
respektieren…“ Wer, bitte schön, soll denn das sein, nachdem man alle
Organisationen mit revolutionärem Anspruch für politisch nicht ganz
zurechnungsfähig erklärt hat??

Auch eine Assoziierung (sofern denn so etwas möglich wäre) bräuchte doch
auch einige inhaltliche Gemeinsamkeiten. Es müsste doch geklärt werden,
was man vertagen könnte und was unabdingbar wäre. Dazu von M.
K. kein einziges Wort. Kein Wunder, man müsste sich ja inhaltlich
positionieren.




Bewegungslinke in der Linkspartei: Auf zu neuen Ufern?

Tobi Hansen, Neue Internationale 237, Mai 2019

Zum Europaparteitag der Linkspartei ist eine neue Strömung gegründet worden, die den Anspruch hat, links zu sein. Zumindest innerhalb der Partei wird sie auf dem linken Flügel verortet.  „Bewegungslinke“ nennt sich diese. Im Frühjahr 2018 fand das erste Arbeitstreffen statt, nun folgt die flächendeckende Organisierung in der Partei.

In diesem
Zusammenschluss ist z. B. marx 21 aktiv, aber es sind auch viele GenossInnen
der „Sozialistischen Linken“ (SL) dabei, welche dem „Aufstehen“-Lager nicht
folgen wollten, manche gewerkschaftlich Aktive wie auch Personen, die der
Interventionistischen Linken (IL) oder akademischen StichwortgeberInnen
„popularer Klassenbündnisse“ (Thomas Goes/Violetta Bock) zuzuordnen sind. Diese
Potpourri umfasst also eine bunte Mischung dessen, was sich als „links“ in der
Linkspartei versteht.

Ziele

Nachdem mit
„Aufstehen“ eine sog. „Sammlungsbewegung“ innerhalb und außerhalb der Partei
zur Zeit den Weg in die Selbstdemontage beschreitet, gründet sich nun eine
„Bewegungslinke“, die zumindest behauptet, dass sie die bestehende Partei
ändern möchte. Ähnlich wie bei „Aufstehen“ wird der Zusammenhang von
Klassenpolitik und Migration als ein „Gründungsgrund“ benannt, nur im Gegenteil
zu Lafontaine/Wagenknecht eben nicht mit einer offen sozialchauvinistischen
Ausrichtung:

„Wir sind keine
klassische Parteiströmung wie andere, sondern eine übergreifende
Erneuerungsbewegung der LINKEN für bewegungs- und klassenorientierte Politik.
Wir wollen eine politische Kultur stärken, die solidarisch ist und Lust aufs
Mitmachen macht. Vorschläge für eine klassenpolitische Praxis erarbeiten und
selbst ausprobieren. Mit denen ins Gespräch kommen, die das auch wollen. (…)

Für uns stellt sich deshalb die Frage, wie eine auf den Aufbau von Klassenmacht zielende Politik, die nicht an nationalen Grenzen halt machen und rassistische und sexistische Unterdrückung nicht als Nebenwidersprüche vernachlässigen will, heute nicht nur gedacht, sondern auch praktisch umgesetzt werden kann.“ (https://bewegungslinke.org/wp-content/uploads/2014/09/Diskussionsgrundlage.pdf)

Der 2. Absatz
des Zitats stellt ein löbliches Ziel dar, dem wir nicht widersprechen wollen.
Immerhin bezieht sich die „Erneuerungsbewegung“ positiv auf „Basics“ der
Klassenpolitik und versucht diese im Gegensatz zu „Aufstehen“ auch zu
artikulieren. Die Crux in einer reformistischen Partei mit aktueller
Regierungsbeteiligung in drei Bundesländern bleibt aber, dass die wohlgemeinten
Worte, wie auch nicht minder wohl gemeinte Änderungswünsche im Widerspruch zu
ihrer politischen Realität stehen.

Wie das Programm
und die Praxis verändert werden sollen, ob und wie dazu mit anderen linken
Strömungen wie der „Antikapitalistischen Linken“ (AKL) zusammengearbeitet wird,
darüber finden wir freilich wenig. Stattdessen soll „Organizing“ helfen, diese
Partei in der Klasse zu verankern und somit ihren parlamentarisch fixierten
Charakter zu verändern. Das langfristige Ziel der Erneuerung wird wie folgt
benannt:

„So könnte aus der LINKEN gleichzeitig Bewegungspartei, wirkungsvolle Opposition und antikapitalistische Gestaltungskraft werden, die durch Reformkämpfe die Macht und das Selbstvertrauen der Vielen vergrößert. Eine politische Kraft, die um Hegemonie in der Gesellschaft kämpft, indem sie ihre Radikalität und Nützlichkeit im Alltag beweist.“ (Ebenda)

Zauberwort

Warum die Partei
trotz zahlreicher Absichterklärungen bislang nicht zu einer „Bewegungspartei“
wurde, was sie daran hindert, bleibt jedoch außen vor. Stattdessen wird das
Zauberwort „Organizing“ ständig beschworen – eine inhaltliche
politisch-strategische Antwort oder Alternative zum praktizierten und
programmatisch kodifizierten Reformismus und Parlamentarismus der Linkspartei
stellt dies aber nicht dar.

Es wird jedoch
suggeriert, dass Programm, Praxis und politische Ausrichtung der Linkspartei
bloß durch aktivistischere Rekrutierung und einen aktiveren Zugang zu
Bewegungen prozesshaft geändert werden könnten. Der Reformismus der Linkspartei
wird nicht als eine politische Strategie und eine Form bürgerlicher
ArbeiterInnenpolitik begriffen, sondern erscheint bloß als Mangel an
„Organizing“, verbindender Netzwerkerei und Aktivismus.

Daher wird die
Frage, mit welchen Forderungen und BündnispartnerInnen (z. B. AktivistInnen von
„Seebrücke“, von antirassistischen Initiativen und Vereinen) gegen den
staatlicher Rassismus der Landesregierungen anzukämpfen wäre, erst gar nicht
gestellt. Trotz mancher direkten Formulierung wie „für offene Grenzen im
Programm“ finden wir wenig darüber, wie in der Praxis Sozialchauvinismus und
Standortpolitik in der Linkspartei angegriffen werden müssen. Kein Wunder, denn
schließlich würde das unvermeidlich die Frage aufwerfen, ob die Linkspartei
überhaupt zur viel beschworenen „Bewegungspartei“ werden kann oder nicht
vielmehr ein politischer Bruch mit dem Reformismus notwendig wäre.

Welcher
Antikapitalismus?

Stattdessen
finden wir linksreformistische oder linkspopulistisches Schlagwörter wie
„sozialistische Demokratie“ oder „populare Klassenpolitik und Bündnisse“ –
weniger Sitzungen, mehr Aktionen, heißt es im Gründungsaufruf zuspitzend. In
dessen längerer Version, welche etwas versteckt auf der Webseite vorhanden ist,
heißt es zur Regierungsbeteiligung:

„Dabei eint uns eine skeptische und kritische Haltung zu linker Regierungsbeteiligung und die Erfahrungen auf Länderebene bestärken uns darin. Wir wissen aber auch, dass wir die Macht übernehmen müssen, um die Welt zu verändern.“ (https://bewegungslinke.org/wp-content/uploads/2014/09/Diskussionsgrundlage.pdf)

In Abgrenzung
zum bürgerlichen Parlamentarismus wäre dann doch die Frage, wie und wodurch
übernehmen „wir“ die Macht? Hat die Bewegungslinke einen revolutionären
Anspruch oder verstecken „wir“ uns hinter Begrifflichkeiten wie Transformation,
Reformkämpfe und Gegenhegemonie? Dieser Verzicht auf Klarheit wäre allenfalls
„klassischer“ Zentrismus, das Schwanken zwischen Reform und Revolution. Statt
ein klares Programm und eine strategische Zielsetzung in die Klasse oder in
„Bewegungen“ hineinzutragen, finden wir ein Potpourri zentristischer und
postmoderner Visionen für die zu führenden antikapitalistischen Kämpfe.

„Ein Projekt,
das Mehrheiten erreichen will, ohne dabei seine Seele zu verleugnen. Ein
bündnisfähiges Projekt solidarischer Gegenhegemonie, tief verankert in den
arbeitenden Klassen.

Solch ein
Projekt ist unser mittelfristiges strategisches Ziel als LINKE. Wir wollen
gemeinsam mit den unteren und mittleren Klassen ein fortschrittliches soziales
und ökologisches Transformationsprojekt entwickeln – ein populares
Unten-Mitte-Bündnis.

Statt dieses
Kapitalismus‘ wollen wir eine Gesellschaft, in der die Ausbeutung des Menschen
durch den Menschen abgeschafft ist; eine Gesellschaft, in der kein Mensch sich
vor einem anderen bücken muss und in der die Sorge um Kinder, Kranke und Alte
genauso viel wert ist wie jede andere Arbeit.

Wir wollen eine
sozialistische Demokratie, in der die BürgerInnen selbst bestimmen, in der ihre
Sichtweisen und Interessen nicht mit Füßen getreten werden. Deshalb müssen
unsere Parlamente in neue Einrichtungen direkter Räte-Demokratie eingebettet
werden. Ein System, in dem die Menschen regieren und die Regierung gehorcht und
folgt.“

(https://bewegungslinke.org/wp-content/uploads/2014/09/2018_Diskussionsgrundlage_Solidarit%C3%A4t-ist-unteilbar_E1.pdf)

Illusion

Hier geht das
politische Potpourri munter weiter. Das „Transformationsprojekt“ soll in ein
System münden, das „unsere“ bürgerlichen Parlamente in eine „neue“
Räte-Demokratie einbettet. Hier ging so mancher Kautsky verloren oder wird von
Noske auf dem Weg zur „Einbettung“ der Räte erschossen. Zumindest waren das die
Lehren der letzten Novemberrevolution. Das Projekt der USPD und des
Kautskyianismus, bürgerliche Demokratie und Rätedemokratie zu kombinieren,
entpuppte sich als Illusion und politisches Verwirrspiel, das scheitern musste,
weil zwei antagonistische Klassen respektive deren (potentielle)
Herrschaftsorgane nicht gleichzeitig herrschen können. Die Räte mussten der
„Demokratie“ weichen. Statt Herrschaft des Proletariats erfolgte die Festigung
der konterrevolutionären Bourgeoismacht.

Daran ändert
auch der Begriff „Gegenhegemonie“ der akademischen Linken herzlich wenig. Hier
werden idealistische Demokratieillusionen – namentlich die Leugnung des
Klassencharakters der bürgerlichen Demokratie – mit Begriffen der
ArbeiterInnendemokratie, der Räteherrschaft vermengt. Das ist nicht
zielführend, sondern politisch gefährlich.

Wessen
Herrschaft?

Entweder
herrscht die ArbeiterInnenklasse und übt ihre Diktatur vermittelt durch die
Räte aus – nämlich zur Unterdrückung von Kapital und Konterrevolution – oder
eben nicht. In der Frage unklar, verschwommen und letztlich irreführend zu
agieren ist vielen angeblichen „AntikapitalistInnen“ in der Linkspartei eigen.
Eine sozialistische, revolutionäre Perspektive und Strategie stellt das jedoch
nicht dar.

Der Zusammenhang
zwischen „Menschen regieren“ und die „Regierung gehorcht und folgt“ bringt auch
vieles durcheinander. Statt mit solchen Allerweltsphrasen aus den Lehrbüchern
der bürgerlichen demokratischen Herrschaft hausieren zu gehen, sollte vielmehr
klar ausgesprochen werden, wessen Macht gebrochen werden muss, damit „Menschen“
eine Regierung ohne die Bourgeoise bilden können. Das populare
„Unten-Mitte“-Bündnis hört sich erst mal nicht nach „Volksfront von unten“,
also eine klassenübergreifende Politik von unten an, ist aber de facto nichts
anderes. Hier muss dann auch klar formuliert werden, was denn unter
„Unten-Mitte“ verstanden wird und welche Politik ein solches Bündnis umsetzen
soll, bzw. was vorgeschlagen wird, um z. B. Mittelschichten für den Kampf der
ArbeiterInnenklasse zu gewinnen. Auch das wird mit neuen akademischen Formeln
wie „populares“ Bündnis umgangen.

Bei den
Wagenknecht-AnhängerInnen wird die „Bewegungslinke“ erst mal parteiintern im
„Verdacht“ stehen, dem Vorstand zu folgen. Und damit liegen die PopulistInnen
nicht einmal falsch.

Strömung für
oder gegen den Vorstand?

Schließlich
praktiziert die „Bewegungslinke“ real den Schulterschluss mit Kipping und
Riexinger, präsentiert sich als deren linke Ratgeberin und eben nicht als
kämpferische Alternative Dafür bräuchte es nämlich ein klares sozialistisches
Programm, nicht allein für die BRD, sondern auch für Europa, damit man der
reformistischen Regierungsrealität auch was entgegensetzen, worum man einen
realen linken Bruch in der Partei organisieren könnte. Aber darum geht es den
InitiatorInnen weniger. Trotz mancher Veränderungswünsche soll hier vor allem
das „eigene“ Bild von einer Linkspartei gezeichnet werden, die nur noch in die
richtige Richtung Bewegung werden müsse.

Wenn die
„Bewegungslinke“ sich nicht gegen diese faktische Unterordnung unter den
Linksreformismus organisiert und mit dem reformistischen Programm der
Linkspartei bricht, wird daraus nur eine weitere zahnlose Strömung, die sich
kämpferisch präsentiert, aber weder an Programm noch Praxis etwas ändert.
Schlimmer noch, sie präsentiert sich als „kritische“ Unterstützung einer
Parteiführung, die letztlich noch immer auf Rot-Rot-Grün auf Bundesebene hofft.