IAA München: Autoindustrie umschalten

Mattis Molde, Neue Internationale 2023, September 2023

Die Internationale Automobilausstellung (IAA) ist nicht mehr das, was sie mal war. Einst war es die Präsentation der neuesten und teuersten Automobile zu Werbe und Verkaufszwecken, ein Ort, an dem Technik- und Autobegeisterte vor allem männlichen Geschlechts ihrer echten Leidenschaft kollektiv frönen konnten. Aber schon die Ausstellung 2021 verzeichnete zeitweise „leere Hallen“ und die Stimmung war „verklemmt“, wie Redakteur:innen von Auto motor und sport (Deutsche Automobilzeitschrift) in einem Interview mit dem VDA (Verband der Automobilindustrie) beklagten.

Die IAA 2023 sieht ein Riesenvolksfest in der Münchner Innenstadt vor, alle dürfen Probe fahren, Autos, E-Bikes, Scooter und sogar überwiegend „kostenfrei“. Angeblich geht es um „Mobility“ und im Werbefilmchen ist auch ganz kurz eine Straßenbahn zu sehen sowie zwei Fußgänger:innen –  auf einem Berggrat wandernd. Wie sind sie dorthin angereist? Sicher mit dem Auto, das aber unsichtbar bleibt.

Ein Filmchen so wie die übliche Autowerbung, in der es meist um viel entlegene Natur geht, gerne steil, mit Schnee oder Sand, die ein kraftvolles Fahrzeug erfordert, gerne auch Familie mit Kindern, die im SUV (Sport Utility Vehicle; Stadtgeländewagen bzw. Geländelimousine) wundervoll geschützt sind, oder –„alternativ“ – junge moderne Individuen, die ihre besondere Individualität mit einem ebenso besonderen Kleinwagen ausleben. In dieser Werbung kommen praktisch nie andere Autos vor, schon gar nicht die Realität verstopfter Innenstädte oder blockierter Autobahnen. Das einzige Auto, das vorkommt, ist das Produkt der werbenden Firma.

Beim IAA-Werbefilmchen muss man sich anstrengen, mal kurz im Hintergrund zwei Rücklichter zu entdecken – Berge und Baby sind länger zu sehen. Die Automobilbranche hat ganz offensichtlich ein Imageproblem.

Es ist nicht so, wie die Autoindustrie gerne tut, dass sie unverdientermaßen schlechtgeredet wird. Nein, sie ist schlecht: hauptverantwortlich für den Klimawandel und für eine Verkehrspolitik, die ineffizient und teuer ist und das größte Hindernis für eine Wende dieser. Ein wahrheitsgetreuer Film über diese Branche müsste Autounfälle und Abholzungen zeigen, Waldbrände und Ölpest. Sie setzt ihre Interessen mit Lobbyarbeit, Drohungen und kriminellen Methoden durch. Sie muss bekämpft werden und die IAA ist ein guter Platz, diesen Kampf zu propagieren.

Der Gegner

Der VDA richtet die IAA aus und besorgt die ganze politische Vertretung des deutschen Autokapitals mit Büros in Berlin, Brüssel und China. Er sorgt für die unglaublichen Subventionen für die Industrie in Form von Geldern für die Transformation (E-Mobilität, Biosprit …), Forschung, Abwrackprämien und E-Auto-Zuschüsse, für Autobahnbau und Aufbau von Ladestruktur und dazu die Unterstützung, die Autowerke von den Bundesländern erhalten. Hinzu kommt Subvention durch Kurzarbeit in einem Umfang, der die Erwerbslosenversicherung schon bis 2022 über 30 Milliarden Euro gekostet hat.

Der VDA sorgt für eine ökologisch unsinnige Klimapolitik der EU, die aber maßgeschneidert für große Oberklassen-Pkw  ist: Beurteilt wird der Flottenverbrauch, das heißt durchschnittliche CO2-Ausstoß aller neuverkauften Fahrzeuge eines Herstellers, berechnet aus dem Spritverbrauch entsprechend den Angaben eben dieses Herstellers. Für E-Autos gibt’s „Supercredits“, diese senken diesen völlig fiktiven Flottendurchschnitt überproportional.

Die Logik dieses Systems, das so offensichtlich die Böcke/Ziegen zu Gärtner:innen macht, bewirkt auch, dass der Kauf jedes Kleinwagens oder E-Mobils dem jeweiligen Hersteller den Verkauf weiterer fetter SUVs erlaubt und so umgekehrt der möglicherweise gute Wille der Käufer:in konterkariert wird.

Die Autoindustrie, die dicke staatliche Subventionen kassiert, zeigt keine, Scham zugleich ein massives Arbeitsplatzvernichtungsprogramm durchzuziehen. Der Personalabbau ist im vollen Gange: Von 850.000 Beschäftigten im Jahr 2019 sind es noch 760.000 im Jahr 2022. Fast 100.000 weniger. Der Geschäftsführer des VDA, Jürgen Mindel, spricht jetzt anlässlich der IAA von „über 600.000 Beschäftigten“ der Autoindustrie.

Dieser Personalabbau spielt sich vor allem in der Autozulieferindustrie ab. Kleinere Unternehmen werden verkauft oder schließen Standorte. Größere Unternehmen wie Opel, MAN, Bosch, Conti und Mahle haben Personal in Tausendergrößenordnung abgebaut und Standorte geschlossen.

Der VDA wäscht seine Hände in Unschuld. „Die Transformation der deutschen Automobilbranche hin zu E-Mobilität kann mehr Arbeitsplätze kosten, als Beschäftigte in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen – und dies schon, ohne die Folgen der überstürzten aktuellen Diskussion um ein neues Klimaschutzgesetz absehen zu können. Bis zum Jahr 2025 sind mindestens 178.000 Beschäftigte betroffen, bis 2030 mindestens 215.000 Arbeitsplätze – und dies schon auf der Basis der bisherigen Klimaschutzgesetze“, ließ er per Pressemitteilung am 5.6.21 wissen. Also: Die Klimagesetze, die gerade den CO2-Ausstoß beim Verkehr mitnichten eingedämmt haben, sind schuld daran, dass schon Hunderttausende ihre Arbeit verloren haben.

Dieser Personalabbau hat überhaupt nichts damit zu tun, dass es den großen Unternehmen der Branche schlechtginge. VW zum Beispiel hat seinen Profit von gut 7 Milliarden Euro im Jahr 2016 auf über 22 Milliarden fast kontinuierlich gesteigert.

Es ist vielmehr so, dass er diese Gewinne generiert. Die Großkonzerne zwingen die Zulieferer, ihre Teileproduktion ins Ausland zu verlagern. Teile für Verbrenner werden nicht weiterentwickelt. Wenn sie auslaufen, erfolgt der Neustart in „Low Cost Countries“. Die Teile für E-Mobility werden schon lange dort gefertigt. Die Klagelieder über die „Deindustrialisierung“ Deutschlands stammen also von den Verursacher:innen derselben.

Als Internationalist:innen geht es uns nicht darum, „Arbeitsplätze in Deutschland“ zu verteidigen. Aber diese Betriebe können auch die Fahrzeuge bauen und die nötigen Technologien entwickeln, die für eine klimagerechte Mobilität nötig sind. Ihre Belegschaften können die Kraft sein, die der Klimabewegung bislang fehlt, um andere Entscheidungen durchzusetzen.

Strategie

Auf diese Kraft der ganzen Arbeiter:innenklasse müssen wir setzen. Die Rezepte der Klimabewegung waren bislang hilflos:

  • Die individuelle Kaufentscheidung beeinflusst nicht, welche Autos gebaut werden, und schon gar nicht, welche Verkehrssysteme zur Verfügung stehen. Der Bau und Betrieb von öffentlichen Alternativen muss politisch durchgesetzt werden gegen die Interessen der Autoindustrie.

  • Staatliche Richtlinien und Vorgaben bei Subventionsvergabe werden die Autokonzerne zu nichts zwingen können, sondern umgekehrt: Die stärkste Fraktion des deutschen Exportkapitals setzt in „ihrem Staat“ ihren Willen durch.

  • Straßen zu blockieren, ist mutig, aber es trifft nicht den eigentlichen Gegner. Der VDA und seine politischen Gehilfen rufen nach Polizei und Staatsanwalt. Die kommen auch und schlagen zu. Abgasbetrug aber bleibt straflos.

Das entscheidende Problem für die Verbindung von Umweltbewegung und Lohnabhängigen stellen jedoch die Führungen der Arbeiter:innenklasse, vor allem die Bürokratie und Apparate in den Gewerkschaften und Großkonzernbetriebsräten dar, die letztlich „ihre“ Autoindustrie über die Interessen der Gesellschaft stellen. Schlagwörter wie Transformation und ökologischer Umbau sind für sie Phrasen, die der Zusammenarbeit mit Kapital und Regierung mehr Glanz verleihen sollen.

Es reicht daher nicht, die Lügen der Autoindustrie offenzulegen und die Schwächen der Umweltbewegung zu kritisieren. Vor allem müssen wir für einen Kurswechsel Richtung Klassenkampf in den Betrieben und Gewerkschaften und der gesamten Arbeiter:innenbewegung kämpfen.

Die Autoindustrie kann nicht ökologisch „transformiert“ werden, ohne die Macht des Kapitals anzugreifen, ja zu brechen. Andernfalls bleibt es bestenfalls bei Stückwerk. Die Enteignung der Autoindustrie – ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle – bildet daher eine Schlüsselforderung. Nur so kann ein planmäßiger Umbau im Interesse der Lohnabhängigen und ökologischer Nachhaltigkeit angegangen werden. Diese Perspektive muss sich auch die Bewegung gegen die IAA zu eigen machen.




Lützi bleibt! Tagebuch von Aktivist:innen

Genoss:innen von Arbeiter:innenmacht und REVOLUTION beteiligen sich an den Aktionen und Demonstrationen gegen die Räumung von Lützerath. Hier ihre Eindrücke vor Ort.

Sonntag, 15.1.23: Wir kehren Lützi nicht den Rücken, wir tragen es nun in die Betriebe

Nach einer Woche gemeinsamen Zusammenlebens, gemeinsamen Kampfes in Lützi und in Keyenberg geht nun eine wichtige Zeit der gemeinsamen Erfahrung für unsere Genoss:innen zu Ende. Wir kehren in unsere Heimatstädte, an unsere Arbeitsplätze, Schulen und Universitäten zurück.

Es ist uns wichtig zu betonen: Wir gehen nicht, weil wir denken, die Auseinandersetzung sei vorbei. Die Genoss:innen sagten heute auf der Pressekonferenz von Lützi Bleibt vollkommen zu Recht, dass, egal ob das Dorf falle oder nicht, wir weiter um jeden Zentimeter Erde und damit gegen weitere Erderwärmung kämpfen würden. Genoss:innen – und das richten wir hier auch ganz explizit an unsere anarchistischen Genoss:innen in Lützerath – wir schätzen euren Mut und euer Engagement. Haltet durch, verzagt nicht!

Es sind unsere eigenen Umstände, die uns zwingen zu gehen. In Gedanken bleiben wir bei euch, jenen, die nach wie vor in und um Lützerath ausharren. Auch ihr seid bei uns, während wir versuchen, den Klimaklassenkampf im Bundesgebiet weiter voranzubringen.

An alle, die sich ihrer Verantwortung bewusst werden, ihre eigene Zukunft in die Hand zu nehmen, und erkennen, dass die kapitalistische Regierung und ihre Freund:innen in Banken und Konzernen es nicht tun werden: Schließt euch den Aktionen am 17. Januar im Bundesgebiet an!

Lasst uns noch einen Schritt weiter gehen, lasst uns gemeinsam unsere Kolleg:innen und ihre Gewerkschaften, unsere Mitschüler:innen und die Klimabewegung für die notwendigen Mittel gewinnen: für Massendemonstrationen und politische Massenstreiks, um die Enteignung von RWE und aller Engeriekonzerne unter Arbeiter:innenkontrolle zu erzwingen.

Unser Ziel ist es, eine ökologische Transformation in Gang zu setzen, die ihren Namen wirklich verdient: ine ökologische Planwirtschaft, für deren Aufbau die Reichen und nicht die Arbeiter:innen und Menschen des globalen Südens zahlen müssen.

Samstag, 14.1.23: Zehntausende gegen RWE!

Heute versammelten sich 35.000 Menschen um Lützerath. Sie wurden in dieser Woche aus Lützi verdrängt, sind aber noch vor Ort, reisten in den letzten Tagen ins Unser Aller Camp nach Keyenberg oder stießen heute aus dem Bundesgebiet und  Ausland zu uns. Jedes Gesicht war willkommen im gemeinsamen Kampf um Lützi.

Die Polizei bezifferte ursprünglich die Zahl auf 8.000 Demonstrant:innen und hat damit so unverschämt gelogen wie über alle anderen Verbrechen an Mensch und Natur, die sie in den letzten Tagen im Namen RWEs beging. Doch weder ihre Lügen und die wütende Hetze der rechten Presse noch Starkwind, strömender Regen und die Abgelegenheit Lützeraths hielten die Bewegung davon ab, ihre zahlenmäßige Stärke zu demonstrieren. Das allein ist ein Achtungserfolg.

Anarchist:innen liefen Schulter an Schulter mit Kommunist:innen. Jung lief neben Alt. Eltern waren mit ihren Kindern gekommen. Großeltern hatten ihren Enkeln Taschengeld mitgegeben, um für deren Zukunft zu kämpfen.

Auch die Slogans nach Klimagerechtigkeit und System Change sind konkreter geworden.

Populäre Slogans vergangener Tage wie „Brecht die Macht der Banken und Konzerne“ wurden erneut von tausenden Stimmen erhoben. Neben sie traten neue wie „Alle Dörfer bleiben, RWE enteignen“. Sie finden ihr Echo in einer breiten Bewegung, nicht nur in den Köpfen einiger weniger. Herbert Reuls Gespenst des Antikapitalismus macht sich breit in der Klimabewegung.

Mit großem Mut und immenser Opferbereitschaft kämpften vorwiegend junge Menschen darum, die Ketten der Cops und ihre Absperrungen zu durchbrechen. Ihr Ziel war, die Gewalt gegenüber den verbliebenen Bewohner:innen Lützis zu beenden.

Sie kämpften aber auch für sich. Das spürte man. Es geht nicht nur um den Kampf für eine manchmal scheinbar ferne Utopie. Es geht darum, die unmittelbar bevorstehende Dystopie zu verhindern. Das gibt der Bewegung eine große moralische und argumentative Kraft.

Dieser Opferwille wurde mit massiver Gewalt durch die Polizei beantwortet. Tausende psychopathischer Kräfte, die ganz eindeutig auf Verletzung und „Zerstörung“ der Demonstrationsteilnehmer:innen eingepeitscht wurden, forderten ihren Tribut. Mindestens eine Person musste per Hubschrauber in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Viele weitere hatten grauenhafte Wunden. Währenddessen feierte die Polizeiführung ihre eigene Gewalt im Welt-TV als „vorbildlichen Einsatz nach Handbuch“.

Wir möchten aber auch zwei Dinge zur Diskussion stellen. Wer Dörfer wie Lützerath in einer Situation wie in der vergangenen Woche verteidigen will, braucht neben Mut, Solidarität und vielen Innovationen der Bewegung zwei weitere Zutaten.

Einerseits eine Massenbewegung, die mehr als nur dazu in der Lage ist, groß zu mobilisieren. Denn das ist uns gelungen. Wir müssen diese Bewegung gleichzeitig in den Gewerkschaften verankern. Und zwar gegen den Widerstand einer von SPD und Grünen kontrollierten Bürokratie, die den Kapitalismus und die Eigentumsrechte der Reichen als Naturgesetz begreifen. Das ist harte Arbeit. Aber wir wissen, dass viele in der Bewegung sich nicht vor solcher scheuen. Es ist eine Frage der Strategie und taktischen Vorgehens.

Zweitens ist es vollkommen legitim, Proteste zu schaffen, an denen alle teilnehmen können, die die großen Ziele der Bewegung teilen. Die Mutter, das Kleinkind, der Großvater und die Jugendliche, die Kranken, die Ängstlichen, die Mutigen. Für sie alle muss Platz sein. Es darf keinen Gewaltfetisch geben. Aber das heißt eben auch, es nicht einfach aus Prinzip abzulehnen, sich gegen die Gewalt der Unterdrücker:innen zu wehren. Sich gegen einen bewaffneten Staat durchzusetzen, der Unrecht tut, ist nie friedlich passiert.

Das ist einfach eine deutsche Ideologie. Im Übrigen auch eine, die in eurozentrischer Manier die Kämpfe des globalen Südens verdreht.

Nicht Gandhis Ideologie brachte die Unabhängigkeit vom Kolonialismus, sondern Massenbewegungen, die Generalstreiks kannten, in denen Kolonialbeamt:innen zunehmend um ihre eigene Haut fürchten mussten und die zum Beispiel in Indien 1946 in Matrosen- und Soldatenaufstände mündeten. Es war gerade die halbe Revolution, die von den Bürgerlichen wie Gandhi ausgebremst wurde, die viele damalige nationale Revolutionen „akzeptabel und friedlich“ für die westliche herrschende Klasse gestaltete, die diese Länder weiter in der Abhängigkeit vom Imperialismus hielt und dementsprechend heute besonders anfällig für den globalen Klimawandel machte.

Von solchen Zuständen sind wir in Deutschland weit entfernt. Aber es würde helfen, wenn die, die in den ersten Reihen stehen, nicht dafür gescholten werden, dass sie sich wehren, wenn der behelmte schwarze Block mit Schusswaffen, Knüppeln, Giftgas und Vollkörperausrüstung sich zwischen sie und eine lebenswerte Zukunft stellt.

Der Tag wird Zehntausenden in Erinnerung bleiben. Als ein Tag der Solidarität, des Mutes und vielleicht auch als ein Tag, aus dem wir gemeinsam für die Zukunft lernen können, um die wir kämpfen.

Freitag, 13.1.23: Können wir Lützerath zurückgewinnen?

Diese Frage stellen sich heute alle, die sich um Lützerath aufhalten oder auf dem Weg hierher sind. Wir sagen: ja, wenn wir uns gut organisieren und entschlossen sind!  Während wir auf den morgigen Tag und die Großdemo hoffen, geht die Polizei brutal in Lützerath vor und versucht nicht nur das Morgen sondern unsere gesamte Zukunft im Namen der Profite von RWE zu zerstören. Einige mutige Aktivist:innen harren aber nach wie vor in Lützi aus, so wie Pinky und Brain, die mit ihrem Tunnel versuchen, den Kapitalismus, immerhin aber den Polizeieinsatz vorübergehend zu untergraben.

In Keyenberg sind mittlerweile viele, viele neue Gesichter und Menschen angekommen, wie auch viele, die aus Lützi geräumt wurden. Dass wir viele sind, gibt uns Hoffnung. Wir nehmen Greta Thunberg beim Wort, die heute aus Lützerath aufrief, sie morgen vor Ort zu sehen! Wir sind froh über die Solidarität in vielen deutschen Städten und aus dem Ausland. Die Besetzung der Grünen Büros ist absolut gerechtfertigt, Habecks Aussage, dass der „Kohlekompromiss“ ein Erfolg sei, ist Heuchelei. Dem Klima ist es egal, ob dank den Grünen Garzweiler II verkleinert wurde oder nicht, wenn Lützi fällt, fallen die 1,5 Grad – Versprechen gebrochen! Diese Leute verraten offenen Auges. Sie wissen das, wir wissen das.

Wer eine lebenswerte Zukunft will, kann nicht auf Habeck, Baerbock und Co. hoffen. Wir müssen die Grünen ablehnen, alle die auf der Welle von FFF in die Grünen eintraten und jetzt enttäuscht sind, sind das mit Recht. Sie sollten die Partei verlassen! Zwar ist es lobenswert, dass Luisa Neubauer und andere versuchen, in den Grünen für ihre Prinzipien zu kämpfen, aber es ist hoffnungslos in einer Partei, die auf bürgerliche Regierungsbeteiligung statt auf Klimaschutz pocht. Solange Luisa Neubauer und Co. weiter in dieser Partei ist, ist auch ihre Sitzblockade und ihr sich von den Cops- wegtragen-lassen letztlich unglaubwürdig und inkonsequent.

Wir brauchen mehr: eine revolutionär-sozialistische Partei, die sich internationalistisch organisiert und die es schafft, die Arbeiter:innen in Deutschland wieder gegen den Hauptfeind zu organisieren: Das deutsche Kapital und den deutschen Staat. Nicht weniger schulden wir Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die am 15. Januar 1919 umgebracht wurden, von der gleichen Klasse, die auch heute unsere Zukunft zerstört!

Donnerstag, 12.1.23: Polizei zerstört und gefährdet Leben im Namen von RWE

Seit Mittwoch morgen ist die Polizei in Lützerath, räumt und zerstört auch nachts. Sie missachtet dabei auch ihre eigenen Sicherheitsvorkehrungen: Es gab Fälle, wo Tripods laut Einschätzung der Kletterercops nur sicher mit Kränen geräumt werden könnten. Andere Polizist:innen fanden, dass “dies viel zu lange dauere” und legten selbst Hand an! Damit RWE schneller räumen und mehr Profite machen können, gehen die Cops für das Kapital auch über Leichen, wir haben den Hambi nicht vergessen!

Auch bei der Rodung neben Bäumen mit Baumhäusern riskieren sie Leben: Bei Starkwind sind nun etliche nicht mehr durch eine erste Reihe Bäume geschützt, die den Wind abfängt. Die jetzt umgestürzten Bäume könnten zusammenbrechen, ganz davon abgesehen, dass bei den Rodungen keine Sicherheitsabstände eingehalten wurden!

Während die rechte Presse von Randalen und Sinnlosigkeit seitens der Klimabewegung spricht, schweigt sie sich darüber aus, wie die Polizei Lützerath zerstört.

Von Keyenberg startete am Morgen eine Demo mit rund 600 Personen in Richtung Lützerath. Es gab von einem Teil der Demonstrant:innen den Versuch, über die Felder in Richtung des Dorfes zu gehen, einige blockierten längere Zeit eine Zufahrtsstraße der Polizei.

Ein Genosse von Revolution wurde dabei aus der angemeldeten Demonstration festgenommen und einer Identitätskontrolle unterzogen, in der er mehr als 3 Stunden in Wind und Regen stehen musste. Grund: Er hatte eine Fahne!

Trotz allem war die Solidarität unter den Aktiviti sehr groß. Es wird sich geholfen und freundlich begegnet, trotz widriger Umstände.

Besonders zynisch übrigens: Während große Teile des geretteten Keyenbergs und umliegender Dörfer RWE gehören und leer stehen, sind Geflüchtete in Notunterkünften und nicht in eigentlich vorhandenem Leerstand untergebracht. RWE enteignen heißt um Garzweiler also auch, Wohnraum zur Verfügung stellen, der von Menschen gebraucht wird!

Jetzt am Abend gehen die Cops in das Camp in Keyenberg und versuchen Personenkontrollen durchzuführen! Wenn Ihr her kommen wollt, passt auf Euch auf! Checkt den Lützi-Ticker!

Wir hoffen vor allem auf Unterstützung am Wochenende, um das Blatt erneut zu wenden!

Lützi bleibt – im Baumhaus und im Tunnel, in Keyenberg im UAC, in der besetzten Geschäftsstelle der Grünen!

Mittwoch, 11.1.23: Es wird ernst

Es wird ernst! Heute hat die Polizei mit der eigentlichen Räumung begonnen. Am Morgen wurde das Dorf gestürmt, über 1000 Cops sind da und versuchen mit RWE Lützerath einzuzäunen. Barrikaden und Strukturen werden geräumt, außerdem die großen Hallen.

Die Presse – an der Spitze WELT, Bild und Co – versucht dabei, den legitimen Protest zu diffamieren und als gewalttätig darzustellen. Die Gewalt geht hier aber eindeutig von den Cops und RWE aus! Schmerzgriffe, Pfeffer, Schubsen, Schlagen und mit Brachialmaschinen Lützi platt machen, was ist das anderes als rohe kapitalistische Gewalt??

Wir lassen uns nicht spalten! Solange aufeinander acht gegeben wird, haben alle Formen des Protestes Platz, ob friedlich oder „anderweitig“, ob in Lützi selbst, im UAC (Unser aller Camp) in Keyenberg oder in deiner Stadt!

Kommt ins „Unser aller Camp“, kommt nach Lützi, kommt am Samstag zur Großdemo gegen Polizei, RWE, die Landesregierung und die Grünen, die das hier mitzuverantworten haben!

Info zu den Aktionen und Protesten: https://luetzerathlebt.info/

Spendenkonto: https://luetzerathlebt.info/spendenkonto/

Dienstag, 10.01.23: Die Polizei provoziert: erfolglos.

Die Polizei hat begonnen, Strukturen im Tagebauvorfeld und auf der Landstraße 277 zu räumen, mit dem Ziel, ihre Zauntrasse zu errichten. Währenddessen befestigen Straßenbaumaschinen die Wege für Räumfahrzeuge.

Aus 14 Bundesländern reisen Polizist:innen an. Die Räumung des Orts wird ab morgen oder übermorgen vermutet. Aktuell ist aber der Zugang nach Lützerath weiterhin physisch offen. Gleichzeitig stoppt und schikaniert die Polizei Reisende mit Trekkingrucksäcken und Zelten bis zu Bahnhöfen in Düsseldorf.

Auch in und um Lützerath kam es zu Provokationen der Polizei, die mit Schubsen und Schlägen versuchte, Sitz- und Stehblockaden einzuschüchtern oder aufzubrechen.

Gerade im Angesicht der breiten öffentlichen Solidarität und der inneren Widersprüche in der schwarz-grünen Landesregierung ist die Taktik von Polizei und Regierung vermutlich, ein Narrativ zu schaffen, in dem wir Besetzer:innen „den ersten Stein“ warfen, um die folgende und bereits jetzt geplante massive Brutalität bei der Räumung Lützeraths zu rechtfertigen. Vorerst ist dieses Kalkül nicht aufgegangen.

Wir betonen an dieser Stelle ausdrücklich, dass die systematische Gewalt von dem Konzern RWE ausgeht, der dutzende von Quadratkilometern Land zerstören und Millionen Tonnen Kohle für seine Profite verfeuern will. Dies versucht die Landesregierung, durch den Einsatz und die Vorbereitung eines millionenschweren und brutalen Polizeieinsatzes durchzusetzen. Widerstand ist legitim und gerechtfertigt.

Montag, 09.01.23: Die Ruhe vor dem Sturm

Die Polizei baut weiter im Tagebauvorfeld ihr Lager auf. Bisher tut sie dies eher vorsichtig. Es gibt vorrangig ein Abtasten der Kräfte und der Situation, keine ausgedehnten Konfrontationen.

Zwei Tripods direkt vor der Polizei konnten so den ganzen Tag gehalten werden. Überall entstehen Barrikaden und Strukturen zur Verhinderung der Räumung. Es gibt etliche Baumhäuser und verschanzte Höfe.

In der lokalen Bevölkerung herrscht viel Unterstützung – ein Umstand, der aktuell kaum in den Medien erwähnt wird.

Ab Mittwoch wird mit dem offiziellen Beginn der Räumung gerechnet. Dies ist natürlich eine Vermutung, kein gesicherter Fakt. Eventuell ist der Zutritt zu Lützerath auch danach noch möglich, wenn auch unter erschwerten und kriminalisierten Bedingungen.

In jedem Fall steht nun aber das zweite Camp in  Keyenberg, das als Rückzugsort und alternativer Ausgangspunkt für Protest dient.

Die Stimmung ist motiviert. In Lützerath haben sich vorwiegend jene Jugendlichen versammelt, die vor vier Jahren mit Fridays for Future begannen, aktiv zu werden. Viele von ihnen haben sich über ihre Erfahrungen und Überlegungen antikapitalistischen Ideen zugewandt.

Sonntag, 08.01.23: Belagerungszustand und Volksfest – Lützerath vor der Räumung

Nach der Ausrufung des Tags X fand heute der letzte Dorfspaziergang nach Lützerath statt. 5.000  – 7.000 Menschen nahmen daran teil.

Die Unterstützung ist sehr breit aufgestellt. So haben auch prominente Kulturschaffende wie Jan Böhmermann und Henning May in den letzten Tagen ihre Solidarität mit dem Widerstand in und um Lützerath erklärt.

Das zeigte sich auch am heutigen Tag. Durch Shuttlebusse herangebracht und von der Küche für Alle versorgt, konnten so viele Leute wie nie zuvor durch Lützerath ziehen.

Während die zentrale Kundgebung stattfand, musste der nahe Kohlebagger stillstehen, da sich zu viele Menschen im Tagebauvorfeld befanden.

Währenddessen wurden im Dorf und auf den Zubringerstraßen zahlreiche Barrikaden errichtet. Nicht nur zahlenmäßig, sondern auch moralisch scheint der Widerstand nach diesem Wochenende so stark zu sein wie nie zuvor.

Die Stimmung im Ort war friedlich und kämpferisch. Neben Jugendlichen in Maleranzügen und Vermummung arbeiteten angereiste Familien gemeinsam am Aufreißen des Pflasters oder dem Ausheben von Gräben, um Räumfahrzeuge zu stoppen.

Der große Andrang drängte auch die Polizei zurück. Am Abend wurde die Lage unübersichtlich.

Der heutige Tag hat uns Kraft und Zuversicht gegeben. Wenn sich die Stimmung, die heute an der Abbruchkante herrschte, auf das Bundesgebiet überträgt, können wir gewinnen und Lützerath bleibt!

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„Nix bliev wie et wor“: Lützerath verteidigen!

Auf geht’s, ab geht’s: Welche Strategie brauchen wir als Klimabewegung in Zeiten von Krieg & Krise?




Nachhaltigkeitsprüfung: Die „Grünen“ vor der Kernschmelze?

Markus Lehner, Infomail 1175, 7. Januar 2022

Stromproduktion aus Atom- und Gaskraftwerken ist ökologisch nachhaltig? Was wie ein Witz klingt, soll tatsächlich Bestandteil einer EU-Verordnung werden. Natürlich, und wie aus der Brüsseler EU-Kommission nicht anders zu erwarten, wird der Sachverhalt, um den es bei der Verordnung geht, so unverständlich wie möglich präsentiert – so dass dann Meister der Beschwichtigung wie Olaf Scholz behaupten können, das Ganze werde „maßlos überschätzt“. Tatsächlich geht es aber um einen Knackpunkt des Umbaus der Energiewirtschaft.

Taxonomie-Verordnung

Die „Taxonomie-Verordnung“ soll einen „Rahmen zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen“ einrichten und ändert auch entsprechende Bilanzvorschriften. Diese Mitte 2020 in Kraft getretene Verordnung definiert nur einen allgemeinen Rahmen für die Vereinheitlichung von nationalen Kriterien zur Kennzeichnung „ökologisch nachhaltiger“ Investitionen. Sie wurde damals mit „qualifizierter Mehrheit“ von Europäischem Rat (Gremium der EU-Staats- und RegierungschefInnen, nicht zu verwechseln mit EU-Ministerrat und Europarat) und Parlament beschlossen – und hat seinerzeit auch kaum Kontroversen hervorgerufen. Allerdings wurde in dieser Verordnung in Artikel 23 der Kommission die „Befugnis für den Erlass delegierter Rechtsakte“ zur Konkretisierung der „technischen“ Bestimmung dessen gegeben, was denn nun konkret nachhaltig im Sinne der verschiedenen, in der Verordnung genannten ökologischen Kriterien ist. Und – Überraschung, Überraschung: Für die dann von der Kommission herausgebrachten Durchführungsbestimmungen gibt es enorme Hürden für eine Ablehnung durch EU-Mitgliedsstaaten oder -Parlament (z. B. mindestens 20 Staaten mit mindestens 65 % der EU-Bevölkerung; beim normalen Gesetzgebungsverfahren kann mit 4 Mitgliedsstaaten mit mindestens 35 % der Bevölkerung eine Sperrminorität erreicht werden).

Und eben in dieser „technischen Regelung“ zur Durchführung der Taxonomie-Verordnung hat die Kommission jetzt – unter vielem anderen – auch Investitionen in Atom- und Gaskraftwerke als „nachhaltig“ eingeordnet. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Vorhabens kann auch für die diversen grünen MinisterInnen nicht überraschend kommen: Angesichts der „Green Deal“-Pläne über die von der EU aufgelegten Investitionsfonds wurde darauf gedrängt, speziell die Nachhaltigkeitskriterien für Klimaschutzziele vorab, noch bis Ende 2021, zu definieren – die restlichen Umweltbereiche sollen dann bis Ende 2022 bearbeitet sein. Schon hier liegt ein beträchtliches, systematisches Problem: An sich wurde die Taxonomie-Verordnung einst auf die Nachhaltigkeitsdefinitionen des Rio-Prozesses ausgelegt, die weit über eine Verengung der Umweltkrise nur auf die Klimakatastrophe hinausgingen.

Bekanntlich ist die Klimakrise nur eine – und nicht einmal die schlimmste – von den 9 planetaren ökologischen Bedrohungen, wie sie etwa die Rockström-Kommission auflistet (Artensterben, Versauerung der Ozeane, Müllprobleme, … ). Diese werden in der EU-Verordnung durchaus auch aufgelistet – und es wird auch festgestellt, dass „nachhaltig“ nicht nur bedeutet, dass eine Technologie bei einem Bereich verträglich ist, sondern sie auch nicht in den anderen Bereichen umweltzerstörerisch sein darf. Artikel 17 der Verordnung stellt ironischerweise in Bezug auf das Kriterium der „erheblichen Beeinträchtigung der Umweltziele“ als negatives für Nachhaltigkeit fest, dass eine nachhaltige Technologie nicht durch „langfristige Abfallbeseitigung eine erhebliche und langfristige Beeinträchtigung der Umwelt verursachen darf“. Mit einem Wort: Atomenergie mit ihrem sehr, sehr langfristigen Müllendlageranforderungen kann auch nach dieser Verordnung eigentlich nie und nimmer nachhaltig sein. Durch den Trick, für die Durchführungsverordnung aber nur alle Artikel und Absätze der Grundverordnung für die Definition heranzuziehen, die etwas mit Klimaschutz zu tun haben, kann man diese Klippe gerade noch umschiffen – unter völliger Aushöhlung des Nachhaltigkeitsbegriffs, der ja gerade eine ganzheitliche Betrachtung von ökologischen Wechselwirkungen beinhaltet. In einem Jahr, wenn dann die anderen Umweltaspekte Berücksichtigung finden, werden die Milliarden aus den EU-Investitionsfonds schon in die „nachhaltige“ Atomindustrie geflossen sein. Statt die sehr viel billigere Stromerzeugung mit Wind- und Solar-Technologien auszubauen, werden die Mittel weiterhin in das Milliardengrab Atomenergie geschüttet.

Atomindustrie – Nachhaltigkeit der besonderen Art

Dabei ist die Atomindustrie in ihrem Gesamtproduktionszyklus von Uranbergbau über -anreicherung, Kraftwerksbetrieb, Stufen von Zwischenlagerung oder „Wiederaufbereitung“ bis zum wahrscheinlich unlösbaren Problem der Endlagerung das gerade Gegenteil von „nachhaltig“. Ökologisches Grundproblem ist natürlich die beim radioaktivem Zerfall entstehende ionisierende Strahlung unterschiedlichster Intensität, die für alle organischen Lebensformen je nach Dosis existenzbedrohlich ist. Die Nutzung schwerer radioaktiver Isotope zur Energiegewinnung (Massendefekt) erfordert eine Anreicherung derselben, wie sie in der Natur z. B. in Gesteinsformationen nie vorkommt. Der dabei in Gang gesetzte Prozess erzeugt nicht nur als End-/Müllprodukt lebensbedrohliches Spaltmaterial oberhalb der Grenzwerte, sondern auch bei allen Zwischenstufen. Gerade die „kurzlebigen“ Spaltprodukte beim Uranzerfall, wie Caesium-137 (Betastrahler, 30 Jahre Halbwertszeit), sind bei Kontamination der Umwelt ab einer Konzentration von 600 Becquerel (Kernzerfall pro Sekunde) nachhaltig gesundheitsgefährdend (laut Strahlenschutzverordnung). Nach dem Unfall in Fukushima 2011 hat die japanische Akademie der Wissenschaften eine Karte der Messwerte zu Cs-137 herausgebracht, nach der ein großer Teil der östlichen Provinzen Japans einen Bodenwert mit Belastungen über 2.500 Bq aufweist. Ähnliche Überschreitungen von Grenzwerten für bestimmte Lebensmittel wurden weitflächig, bis Hawai, festgestellt. Das jetzt übliche Herunterspielen der Fukushimakatastrophe (die vielen Toten seien ja vor allem auf den Tsunami zurückzuführen) verkennt völlig die nachhaltige und großflächige Schädigung der Umwelt – mitsamt daraus resultierender Gesundheitsfolgen für Mensch und Tier. Abgesehen davon sind inzwischen auch Klimafolgen als Konsequenzen radioaktiven Fallouts, z. B. durch die Wirkung auf Mikroorganismen, nachgewiesen.

Der Uranbergbau gehört zu den umweltbelastendsten Arten des Bergbaus überhaupt – auch was seine CO2-Bilanz betrifft. Der Aufschluss des Gesteins, das Uranerze immer nur in kleinen Mengen enthält, erfordert massiven Einsatz chemischer und mechanischer Hilfsmittel, hinterlässt Wüstenlandschaften und Halden voller radioaktiv und chemisch belasteter „Reststoffe“. Dies geht wohl nicht in die Nachhaltigkeitsbilanzen hierzulande ein, da diese Art von Bergbau vor allem in Afrika, Kasachstan oder indigenen Regionen Nordamerikas betrieben wird.

Widerstand gegen Uranabbau

Bei dem Bruch eines Uranabraumbeckens am Rio Puerco, New Mexico, kamen 1979 tausende von native Americans ums Leben – ein Atomunfall, von dem kaum die Rede ist. Es ist folgerichtig, dass derzeit der Abbau der wohl größten Uranvorkommen weltweit am Widerstand von indigenen Bewegungen scheitert. So wurde in Grönland die linkssozialistische „Inuit Ataqatigiit“ gerade deswegen an die Regierung gewählt, da sie das Uranbergwerk Kvanefjeld eines australisch-chinesischen Konsortiums verhindern will. Wie die grönländische Regierung nachwies, würde dieses Bergwerk nicht nur die CO2-Bilanz Grönlands um 45 % erhöhen (und das in einer Region, die gerade im Zentrum des Klimawandels steht), sondern auch eine große Menge radioaktiven Thoriums in die umgebenden Fjorde freisetzen. Dazu kommt, dass der betreffende Bergbaukonzern zu einem ganzen Netz von Konzernen gehört, die Grönland für Öl- und Gasplattformen erschließen wollen – auch dies ist nun alles erstmal gestoppt.

Ganz ähnlich ist auch die autonome Regierung des zu Kanada gehörenden Territoriums Nunavut (6 mal so groß wie Deutschland) vorgegangen. Hier wurde eines der größten Uranbergbauvorhaben des französischen Atomkonzerns Areva gestoppt. Wahrscheinlich werden die „NachhaltigkeitsexpertInnen“ der EU die Inuit noch überzeugen müssen, dass Uranbergbau enorm wichtig für den Klimaschutz ist! Oder die EU-Konzerne sind noch mehr denn je auf das autoritäre Regime in Kasachstan angewiesen, das gerade vom „Erzfreund“ Putin vor Massenprotesten gerettet wird. Denn der Staatskonzern Kazatomprom ist mit „Hilfe“ vieler internationaler InvestorInnen (alles jetzt ökologisch nachhaltig) derzeit für ein Drittel des weltweiten Abbaus von Uranerzen verantwortlich – die wahrhaft nachhaltige Stütze für ein autoritäres und korruptes System, das sich um die Umweltzerstörungen des schon seit den Atomwaffentests schwer mitgenommenen Landes wenig schert. So viel zur Unabhängigkeit der Energieversorgung von Putin & Co. beim Setzen auf Atomstrom!

Nicht viel besser steht es bei den Produktionsanlagen zur Anreicherung des spaltbaren Uran-235 und der anschließenden Herstellung von Brennelementen. Sowohl beim Zentrifugieren von Uranhexafluorid als auch bei der Verschmelzung von Uran(IV)-Oxid mit der Brennelementekeramik entstehen in hohem Maße Treibhausgase, die an die Atmosphäre abgegeben werden. Außerdem beweisen mehrere schwere Störfälle, wie der beim Brennelementewerk Tokaimura 1999 in Japan, dass auch dieser Produktionsschritt Kernspaltungsenergie zur Hochrisikotechnologie macht.

Betrieb und Entsorgung

Dies gilt natürlich umso mehr für den Betrieb der Kraftwerke selbst. Auch wenn die Strahlenbelastung ihrer Umgebung im „Normalbetrieb“ sicherlich in vertretbaren Grenzbereichen liegen mag, so gab und gibt es genug „Störfälle“, bei denen es zu schwerwiegenden Kontaminationen gekommen ist. Dies betrifft nicht nur die Beinahekatastrophen von Harrisburg oder Sellafield – auch bei kleineren Unfällen kam es während der Jahrzehnte des Betriebs zum Austritt von radioaktiven Materialien. Da inzwischen zumindest in Europa die Grenzwerte für zulässige Strahlungsdosen verschärft wurden, ist der Betrieb von Kernkraftwerken mit derart viel Sicherungstechnologie versehen, dass Atomstrom die bei weitem teuerste Art der Energiegewinnung darstellt. Außerdem weiß jede/r IngenieurIn, dass es kein technisches System gibt, das „absolut sicher“ ist, weshalb jeweils immer mit einer Fehlerwahrscheinlichkeit gearbeitet werden muss. Die Annahme eines „größten anzunehmenden Unfalls“ (GAU), der innerhalb beherrschbarer Grenzen angesetzt werden könnte, war daher immer schon eine gewagte Hypothese. Diese wurde durch die Super-GAUs von Tschernobyl und Fukushima eindeutig falsifiziert. Bei beiden sehr gut untersuchten Unfällen traten derart unvorhersehbare Probleme auf, dass man nur im Nachhinein schlauer ist, was Sicherheitsvorkehrungen betrifft. Natürlich ist man inzwischen sehr viel weiter, aber ein neues „Unvorhersehbar“ ist immer möglich – nur dass das bei einem Atomunfall immer mit gewaltigen Konsequenzen für Mensch und Umwelt verbunden ist.

Das größte Nachhaltigkeitsproblem der Atomenergie bildet aber sicherlich das Entsorgungsdilemma. Dies fängt schon mit der Lagerung von abgebrannten Brennelementen in den AKW selber an bzw. bei deren Transport zu den zentralen Zwischenlagern oder Wiederaufbereitungsanlagen. Gerade der „frische“ Atommüll enthält die gefährlichsten, hochradioaktiven Spaltprodukte und muss extrem geschützt werden. Die Umgebung der für den europäischen Brennelementezyklus so zentralen Anlagen von Sellafield und La Hague ist ein reges Zeugnis für dieses Problem. Dort werden Abwasserbelastungen mit Strahlendosen gemessen, die die in den Strahlenschutzverordnungen festgelegten Grenzwerte um das 26- bzw. 7-fache überschreiten. Dazu kommt eine in mehreren Untersuchungen festgestellte erhöhte Strahlenbelastung im Meer im weiten Umkreis um diese Anlagen – dies übrigens auch mit Auswirkungen auf für das Klima wichtige Mikroorganismen im Ozean. Aber auch die Zwischenlager für „abgeklungene“ Brennelemente, wie sie derzeit vor allem in aufgelassenen Bergwerksstollen existieren, bergen enorme Probleme. Bekannt ist etwa das Drama um Asse II, wo 126.000 Fässer radioaktiver und chemischer Abfälle für „Jahrzehnte“ zwischengelagert werden sollten. Aber schon nach wenigen Jahren kam es zu einem „unerklärlichen“ Einsickern von zehntausenden Litern Salzlauge. Der Atommüll muss daher „geborgen“ und in ein anderes Zwischenlager verfrachtet werden: Kostenpunkt 3,35 Milliarden Euro. Angesichts der Kriterien für ein „Endlager“, das mehrere Millionen Jahre stabil beiben müsste, haben bisherige geologische Untersuchungen wenig Erbauliches zu Tage gebracht. Es steht zu befürchten, dass wie bei der Asse Atommüll für Jahrhunderte von Zwischenlager zu Zwischenlager transportiert werden muss – oder eben, wie immer häufiger, einfach nach Afrika abgeschoben wird.

Rechnet man die Gesamtkosten von Atomstrom inklusive Mülllager, Transport-, Wartungskosten, Sicherungsmaßnahmen und der riesigen Anschubsubventionen, so kommen realistische Schätzungen inzwischen auf einen Preis von 37,8 Cent pro Kilowattstunde. Im Vergleich liegen die realen Kosten bei Onshore-Windanlagen bei 8,8 Cent (Forum Ökologisch-Soziale Markwirtschaft). An die VerbraucherInnen direkt werden natürlich andere Strompreise weitergegeben – die Kosten, die für die Stromkonzerne bei Kohle- und Atomstrom vom Staat übernommen werden, werden dann eben über Steuern von StromkundInnen eingetrieben. Damit reduzieren sich die Gestehungskosten für die kWh aus AKWs und Gaskraftwerken enorm und scheinen sogar geringer als die für Strom aus erneuerbaren Energien. Deren Subventionen wurden perverser Weise auch noch über die EEG-Umlage an die Masse der VerbraucherInnen weitergereicht. Der dann möglich gewordene kWh-Preis aus „Strommix“ (der Preis an der Strombörse ergibt sich aus dem teuersten noch verkäuflichen Stromangebot) bringt damit den Stromkonzernen satte Extragewinne.

EU-Subvention für Atom- und Gasstrom

Es ist damit klar, dass die „Nachhaltigkeitsdefinition“ der EU-Durchführungsverordnung genau dafür da ist, dass dieses Subventionsgeschäft für Atom- und Gasstrom weiterhin möglich bleibt. Dies entspricht den Interessen der Konzerne nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Ländern, die jetzt erst aus der Kohleverstromung auszusteigen beginnen. Was damit insbesondere verhindert wird, ist, dass die systematische Benachteiligung von erneuerbaren Energien bei der Preisbestimmung beendet wird. Das Subventionsgeschäft für ökologisch fragwürdige Kraftwerkstechnologien kann munter weitergehen und der Ausbau erneuerbarer Energien für die gesamte EU wird wie schon die letzten Jahrzehnte viel zu langsam vorangehen. Atomenergie mag nicht so schädlich für das Klima sein wie Kohle und Gas, aber zur wesentlichen Reduktion der Treibhausgasemissionen trägt eine solche Politik der Verzögerung des Umbaus der Energiewirtschaft nicht bei.

Grüner Offenbarungseid

Die Partei der Grünen hat alle diese Punkte – von der Nichtnachhaltigkeit der Atomindustrie, der finanziellen Benachteiligung der erneuerbaren Energien, der Notwendigkeit eines Atomausstiegs zur Beschleunigung des Umbaus der Energiewirtschaft etc. – immer als Kernelemente ihres ökologischen Programms vor sich hergetragen. Nunmehr als tragende Säule einer Bundesregierung, in der sie die MinisterInnen u. a. für Umwelt, Klimaschutz/Wirtschaft, Auswärtiges stellt, müsste man daher erwarten, dass sie diesen schmutzigen Deal der EU-Kommission zu gunsten der Stromkonzerne mit aller Macht verhindern wird. Tatsächlich hat Klima- und Wirtschaftsminister Habeck darauf hingewiesen, dass mit dieser Verordnung droht, dass die französische Energiewirtschaft die dieses Jahr anfallenden enormen AKW-Wartungskosten als „Klimaschutzinvestitionen“ verrechnen kann und damit eben die dafür vorgesehenen Milliarden aus dem „Green Deal“ nicht tatsächlich für den Ausbau von erneuerbaren Energien verwendet.

Damit hat er zumindest ausgeplaudert, um welchen Deal es hier tatsächlich geht: Frankreich und Osteuropa können weiter auf Kernenergie setzen, wenn sie schon immer mehr aus der Kohle aussteigen müssen, während Deutschland Erdgas als „Brückentechnologie“ hin zur Wasserstoffverstromung bekommt („Brückentechnologie“ ist eh nur ein Gütesiegel dritter Klasse für Nachhaltigkeit). Mehr als deutlich wird damit, dass Scholz und Macron hier wohl unter Umgehung der Grünen einen „akzeptablen“ Kompromiss gefunden haben, gegen den es unter den europäischen Regierungen wenig Opposition gibt (bisher nur: Österreich, Dänemark, Portugal und Luxemburg). Darauf deuten auch die Beschwichtigungen aus den rechten Teilen der SPD-Fraktion und der FDP hin, die darauf drängen, dass man die Verordnung hinnimmt oder sich enthält. Für die Grünen wäre das ein Offenbarungseid, wo sich dann die Frage stellt, was sie als Öko-Partei in so einer Regierung noch zu suchen hätten.

Es ist notwendig, die Proteste gegen die EU-Taxonomie-Verordnung zu verstärken und die Konsequenzen für das Weiter so in der ökologisch katastrophalen bestehenden Stromwirtschaft in Europa aufzuzeigen. Dabei müssen wir als SozialistInnen aber auch klarmachen, dass eine auf den Markt (der Stromkonzerne) ausgerichtete Politik des Umbaus der Stromwirtschaft gar keine anderen Resultate erwarten lässt. Notwendig wäre vielmehr eine europaweite entschädigungslose Enteignung der Stromkonzerne unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und VerbraucherInnen mit dem Ziel eines europaweiten Plans zum Umbau einer klimagerechten Stromwirtschaft!




Vom Kapitalismus, dem Verkehr und seiner Wende

Leo Drais, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

1. Einleitung

Offensichtlich und allgegenwärtig zeigen sich die Einwirkungen der kapitalistischen Produktionsweise auf Mensch und Natur in der von ihr hervorgebrachten Verkehrs- und Transportweise. Lang gestreckte Asphaltwüsten, die man Autobahnen nennt, ziehen sich durch die halbe Welt, zerschneiden Felder und Wälder. Sie tragen Menschen und Waren in einer scheinbar nie endenden Kolonne von Lkws und Pkws, welche ihrerseits für fast ein Fünftel der Abgase verantwortlich ist, die das Treibhaus Erde mit anheizen (1). Und da der auf gummierten Rädern rollende Tross des motorisierten Individualverkehrs global betrachtet seit Jahrzehnten stets länger und länger wurde und die entlegensten Gebiete der Welt eroberte, drängte er vielerorts jenes stählern besohlte Verkehrsmittel zurück, das einst im Ansturm des Kapitalismus auf die Welt selbige erobert, ja die modernen Großindustrie überhaupt erst ermöglicht hatte, die Eisenbahn.

Währenddessen schwimmen auf den Meeren Ruß ausstoßende Giganten von nie dagewesener Größe. Sie halten wesentlich die globalisierten Just-in-time-Produktionsketten in Gang, deren außerordentliche Empfindlichkeit sich beeindruckend zeigte, als die präzise und knappe Taktung in Handel und Fabriken jäh ins Stocken geriet, weil der Containerriese „Ever Given“ im Kanal von Suez steckenblieb wie ein Sandkorn, das in ein sensibles Getriebe fällt.

Und die Luft, sie war von einem Netz durchzogen, das in seiner Engmaschigkeit eine nie dagewesene Dichte erreicht hatte und weiß von den Flugzeugen in den Himmel gezeichnet war, bis Corona die Höhenflüge der Luftfahrt schließlich auf den Boden der tiefsten Krise in der Geschichte der zivilen Fliegerei herunterholte und der Himmel auf einmal so blau und frei von  Kondensspuren war, wie es manch ein Mensch noch nie gesehen hatte. Derweil, mit der Rückkehr des Reisens ins breite Leben, kehren die Flugmaschinen wieder in die Wolken zurück.

Global und total sind die hier gezeichneten Phänomene. Aber sie erscheinen keineswegs auf der ganzen Welt gleich, genauso wenig, wie alle Länder und Nationalökonomien gleichermaßen ProduzentInnen und KonsumentInnen, ProfiteurInnen und VerliererInnen der heute auftretenden Transportweise sind. Auf die Spitze getriebener Hightech in modernen Fahrzeugen wie Fahrwegen in der imperialistischen – der hochnäsig sogenannten „Ersten Welt“ – steht vielfach der Rückständigkeit fehlender oder kaputter Straßen oder antiquierter Fahrzeuge in der halbkolonialen, abfällig als „Dritte Welt“ bezeichneten, gegenüber.

Lokal zeigen sich genauso die Unterschiede. Während sich zu Hauptverkehrszeiten in Metropolen Transport zumeist zäh und in überwältigender Masse auf den Straßen, in Untergrundbahnen und Bussen, auf Rollern, Fahrrad und zu Fuß vollzieht, wobei sich mancherorts die Durchschnittsgeschwindigkeit des im Blech verpackten Menschen kaum von der eines auf den eigenen Füßen gehenden unterscheidet, finden sich die Weiten ländlicher Gebiete abgehängt und oftmals der Alternativlosigkeit eigener Privatfahrzeuge gegenüber, fernab jeden Gleisanschlusses oder auch nur eines regelmäßig fahrenden Busses. Neben der Wohnungs- zeigt vor allem die Verkehrsfrage alltäglich den Unterschied zwischen Stadt und Land.

Und natürlich vollziehen sich die Klassenunterschiede der Gesellschaft auch in der von ihr produzierten Weise, Wege zurückzulegen. Überbordender Luxus und verschwenderisches Auftreten der Luxus- und Business-Classes, überschwere oder Rennwagen ähnliche Edelkarossen sowie private Yachten im Dienste eines kleinen, superreichen Teils der Menschheit stehen ihrem übergroßen anderen Extrem gegenüber: der Fortbewegung mittels notwendigen Einsatzes des eigenen Körpers oder anderer, geradeso leistbarer Mobilitätsarten.

Die Beschreibung lässt sich lange fortsetzen, für die Einleitung reicht es. Das bisher Genannte sind nur Ausschnitte eines Verkehrssystems, das sich in einer mehrfachen Krise befindet, und – da sich diese zuspitzt – die Frage nach ihrer Lösung aufwerfen, die Verkehrsfrage. Ihr wohnt die Lösung von Ineffizienz und Reibungspunkten inne, aber angesichts der sich vollziehenden Katastrophe des Klimawandels ist es vor allem die Bekämpfung derselben, die das Eintreten für eine ökologische Verkehrswende als Teil der Klimabewegung aufgebracht hat.

Dieser Bewegung ist die Dringlichkeit zur Überwindung der bestehenden Verkehrsweise von einem rationalen oder auch ökologisch nachhaltigen Standpunkt aus klar, wie auch überhaupt einem großen Teil der Gesellschaft. Doch warum stellt sich das offensichtlich Erforderliche nicht ein? Warum kann trotz kleiner lokaler Ausreißer in Richtung einer umfassenden Verkehrswende von ihr global wie auch in den einzelnen Staaten keine Rede sein?

Haben Politik und Wirtschaft die Bedrängnis hausgemachter Zerstörung existentieller Lebensgrundlagen für die Menschheit einfach nicht begriffen? Ist das vielfach versprochene Ziel der maximalen Erderwärmung von 1,5 °C bei dieser nicht existierenden Verkehrswende als Teil der gesamten kapitalistischen Produktion und Konsumtion schon im Grunde verloren? Ist es nicht bekannt, dass das gepriesene und beförderte E-Auto die Umweltkrise nicht löst, sondern verschärft? Warum haben Millionen bei Fridays for Future (FFF), Tausende bei Sand im Getriebe und Hunderte AktivistInnen in den Kronen des Dannenröder Waldes, um bloß mal die Umweltbewegung Deutschlands zu erwähnen, nicht gereicht, um Verkehrsministerien und Industrie das Notwendige gegen die Klimakrise einzubläuen, sie zum „Umdenken“ zu bewegen? Was muss sich in und mit der Umweltbewegung ändern? Was muss passieren? Wer zwingt die Regierung, VW und Co in die Knie? Und was (wer?) kann das Steuer wirklich herumreißen, die Weichen in Richtung einer Verkehrswende stellen, deren Name ihr wirkliches Programm ist? Und was ist überhaupt ihr Programm?

Diese Fragen zu beantworten, heißt, ihnen auf den Grund zu gehen – auf den tiefsten Grund der kapitalistischen Gesellschaft, ihre ökonomische Struktur, und welche Rolle der Verkehr darin spielt.

2. Verkehr und Kapitalismus

Viele, im Prinzip alle Programme bürgerlicher Prägung streben an, den Verkehr zu ändern, ohne die Grundlage anzutasten, auf der er fährt: das Privateigentum an Produktionsmitteln mitsamt dem einhergehenden Zwang zur Mehrwertaneignung und Produktionsausweitung – kurz, den Kapitalismus. Dies verwundert auch nicht. Schließlich ist er nicht nur das Fundament, auf dem der Transport im Kapitalismus stattfindet, sondern eben auch auch die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Seine VordenkerInnen treibt kein Interesse um, daran zu rütteln, selbst wenn ihr Wunsch nach einer nachhaltigen Verkehrswende noch so aufrichtig wäre.

Aber, selbst linkere, reformistische bis hin zu revolutionär verstandene Vorschläge bleiben oft diffus. Antikapitalistisch zwar dem Wort und Empfinden nach, aber doch wenig konkret, wenn es gilt, dem Antikapitalismus einen klaren Weg zu weisen.

Zweierlei ist dafür ursächlich. Einerseits bestrebt eine auf Reformen fokussierte Politik in allen ihren Spielarten – und zu diesen gehört unfreiwillig auch diverser grüner Anarchismus – nicht den finalen Bruch mit der bestehenden Gesellschaft und ihre revolutionäre Überwindung. Sie will es zum einen nicht, weil ihre AkteurInnen doch zu sehr mit Staat und Kapitalismus verwachsen sind und davor zurückschrecken, am eigenen morschen Ast zu sägen. Oder aber manche/r scheut das Aussprechen gewisser Forderungen aus Angst, die abzustoßen, die doch eigentlich für eine fortschrittliche Verkehrspolitik gewonnen werden sollen. Auch wenn manche eigentlich Gefallen an, zum Beispiel, einer ArbeiterInnenkontrolle über die Autoindustrie mit demokratischem Umstellungsplan finden, trauen sie dies aber gleichzeitig den ArbeiterInnen auch nicht wirklich zu und betrachten sie (vielleicht unterbewusst) als passives Objekt.

Andererseits besteht eine verkürzte Verkehrspolitik oft darin, dass sie am mal nahen, mal weiter entfernten Horizont zwar ein schön anzusehendes Ziel verspricht, (weniger Verkehr, kostenloser Nahverkehr, Struktur der kurzen Wege usw.), aber der Weg dahin unklar im fast undurchdringlichen Dickicht aus Ahnungslosigkeit und gewisser Naivität verborgen liegt. Er soll dann mit den mehr oder minder stumpfen Klingen des Parlamentarismus freigeschnitten werden oder es wird versucht, in eifrigem Aktivismus das Gestrüpp zu durchqueren, was bald zum Verlaufen und zur Erschöpfung führt und die Transportwende nicht wirklich näher gerückt hat.

Dieser Mangel an tauglichen Wegen zum Ziel ist direkt verbunden mit einem an korrekten Analysen darüber, dass den bestehenden Erscheinungsformen von Fortbewegung ökonomische Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, die entscheidend das Wirken und die Möglichkeiten von Wirtschaft und bürgerlicher Politik bestimmen und jede wirkliche ökologische Wende in Industrie und bürgerlicher Politik verunmöglichen.

Also, was sind diese Gesetzmäßigkeiten? Wie bestimmt der Kapitalismus unsere Art und Weise der Ortsveränderung? Und welche Rolle spielt Verkehr umgekehrt im Kapitalismus? Betrachten wir dazu mehrere Szenarien, zunächst im Gütertransport, welcher im Gegensatz zum Personenverkehr fast ausschließlich kommerziell durch die Transportindustrien – Reedereien, Logistik-, Fuhrunternehmen usw. – abgewickelt wird. Außerhalb davon findet er fast nur in der unbezahlten Reproduktionsarbeit privat statt, etwa nach dem Einkauf im Supermarkt oder beim Umzug.

2.1. Gütertransport

Bevor Güter, die im kommerziellen Transport fast immer zugleich Waren sind, transportiert werden können, braucht es ein Fahrzeug mit einer entsprechenden Infrastruktur. Dabei genießen Luft- und Schifffahrt den strukturellen Vorteil, ihre Verkehrswege natürlich vorzufinden und weitgehend unentgeltlich zu nutzen. Lediglich an den Anfangs- und Endpunkten der Wege braucht es einen (Flug-)Hafen mitsamt Zuführungen. Den Weg selbst begleiten ansonsten lediglich Satellit, Funk, Überwachungseinrichtungen und Küstenwachen oder FluglotsInnen. Straßen und Schienenwege sowie Pipelines sind demgegenüber in ihrer Gesamtheit vom Menschen zu schaffen.

Nehmen wir die Fahrt eines Containerschiffs als (unvollkommenes) Beispiel. Nun betrachten wir Folgendes nacheinander: das Schiff als Transportmittel, die Besatzung als TransportarbeiterInnen und die Ware, das Transportgut.

Das Containerschiff wurde in der südkoreanischen Daewoo-Werft gebaut. Die dort Arbeitenden schufen den Gebrauchsgegenstand Transportmittel, aber genauso auch seinen Wert – ein Schiff als Ausdruck und Träger der darin versammelten menschlichen Arbeitskraft. Für ihren Einsatz bekamen die WerftarbeiterInnen einen Lohn vom Schiffsbaukonzern, der sich darüber hinaus aber einen Mehrwert aneignete, der als sein Gewinn neben Lohn-, Material- und Maschinenkosten für das Schiff ebenfalls in den Preis mit einging, den die Reederei schließlich dafür zahlte.

Nun haben wir ein fertiges neues Schiff. Darin enthalten sind nicht nur Technik und Schweröl oder Diesel, sondern auch der gesellschaftliche Wert, den die ArbeiterInnen in der Werft geschaffen haben. Was passiert nun mit diesem?

Wir haben ja noch keine Ladung im Schiff. In Taiwan zum Beispiel wird nun ein Container ins Schiff geladen. Die Besatzung sichert ihn und passt während der Überfahrt auf ihn und seinen Inhalt – sagen wir Fernseher – auf. Es wird Transportarbeit geleistet. Und obwohl die Besatzung des Schiffes in der Regel nie den Inhalt, sprich den Fernseher, berührt oder an sich verändert, passiert etwas mit ihm. Er wechselt seinen Ort. Aber nicht nur das. Weil die Ortsveränderung ein notwendiger Übergang von einer Produktionssphäre in die andere (annähernd die Hälfe der Waren, die um den Planeten reisen, sind unfertige Produkte innerhalb von Wertschöpfungskette und  Produktionssphäre) (2) oder aber wie in unserem Fall in die Konsumsphäre ist, wird der Transport auch zum Teil der Produktion selbst, obwohl die Ware selbst außer in ihrer geographischen Lage nicht verändert wird. Der Transport bildet die Verlängerung der Produktion in die Zirkulationssphäre, wofür produktive, Mehrwert schaffende Arbeit im Kapitalismus aufgewendet werden muss.

Übrigens gehört die Ware dem/r ReederIn oder LogistikerIn heute meistens nicht mehr während des Transports, was einen Unterschied zum früheren Handel darstellt, der seine gesellschaftlich notwendige Position aus dem gesellschaftlichen Bedürfnis, Waren zu transportieren, ableitete. Er kaufte die Ware in Asien, brachte sie nach Europa und verkaufte sie weiter. Die schieren Mengen, die kurzen Zeiten und die hohe Sicherheit im Zusammenhang mit Transportrisiken (Versicherung) haben den Besitz der zu transportierenden Waren durch die ReederInnen überflüssig gemacht. Die Reederei braucht das Eigentum am Transportgut nicht mehr zu seiner Absicherung.

Zurück zu unserem Schiff, das nun beladen ist und Kurs auf Europa genommen hat. Indem die Besatzung den Frachter bewegt, wird der Ware Fernseher Wert hinzugefügt. Wo kommt dieser  her? Aus der Transportarbeit und – aus dem Schiff. Der in ihm enthaltene Wert, den es in der Werft erhalten hat, wird durch die Arbeit der Besatzung ein kleines bisschen in die Fernseher übertragen, bis das Containerschiff schließlich an sein wirtschaftliches Ende gekommen ist und seinen Wert vermittels der Transportarbeit auf alle Waren übertragen hat, die es jemals beförderte. Selbiges gilt für den taiwanesischen Lkw, der den Container zum Hafen brachte, die Kräne, die ihn be- und entluden, den Güterwagen, der ihn nach Wien trug, und den Lkw, der den Fernseher ins Geschäft brachte.

Aber bleiben wir beim Schiff. Die Reederei wird dem/r ProduzentIn, Zwischen- oder EndhändlerIn die Überfahrt von Kaohsiung nach Rotterdam, den Transport der Fernseher in Rechnung stellen, diese dann wiederum dem/r EndverbraucherIn. Die Rechnung der Reederei enthält die Lohnkosten für die Besatzung, Hafengebühren, Treibstoffkosten und einen gewissen Prozentsatz, der für das Schiff abbezahlt wird, sowie – den Gewinn, den die Reederei mit dem Transport machen will. Wie schon die Werft aus ihren ArbeiterInnen hat sich auch der/die ReederIn einen Mehrwert aus der Arbeit der Besatzung angeeignet, der zum größten Teil darin investiert wird, noch größere Containerriesen anzuschaffen, um noch günstigere Transporte anbieten zu können, damit in der Konkurrenz auf den Ozeanen mitgehalten werden kann.

Was halten wir bisher fest? Erstens, dass Verkehr in der Form des Gütertransports ein notwendiges Rückgrat der kapitalistischen Produktion darstellt, ja dass die Ortsveränderung selbst ein zwingender Teil davon ist und somit Transportarbeit den Dingen auf Schiff, Zug, Lkw und in Flugzeugen Wert hinzufügt – und dass diese Transportarbeit vermittelst der Mehrwertaneignung, die durch die TransportkapitalistInnen stattfindet, ebenfalls Ausbeutung beinhaltet.

2.2. Personentransport

Betrachten wir nun ein Passagierflugzeug. Gemeinsam mit unserem Containerschiff hat es nicht nur die Fähigkeit zur Ortsveränderung und die Abhängigkeit von gewissen Infrastrukturen, sondern auch, dass es eine riesige Masse menschlicher Arbeit – Wert – repräsentiert und in sich gigantisch viel Kapital gebunden hat. Die gesellschaftlichen Prozesse um Arbeit und Ausbeutung, Lohn und Profit sind in der Daewoo-Werft wie bei Airbus gleich. Auch findet in der Transportarbeit der Flugzeugbesatzung Ausbeutung statt.

Aber was ist mit dem Wert des Flugzeugs? Wird dieser auch auf das, was transportiert wird, die Reisenden, übertragen, findet also Wertbildung statt?

Ja, und zwar unabhängig davon, wer und wofür transportiert wird und ob es sich um  Angehörige der ArbeiterInnenklasse handelt oder nicht. Der Personentransport stellt eine Dienstleistung dar: die Ortsveränderung von Menschen. Ihre Produktion und ihr Konsum finden gleichzeitig statt. Der Wert des Flugzeugs verschwindet mit jedem Personenkilometer ein kleines bisschen in der Dienstleistung Fliegen. Er wird (wenn wir annehmen, dass ausschließlich Menschen befördert werden) nie in transportierten Dingen seinen Ausdruck finden, da der Endkonsum nicht in der Benutzung eines transportierten Dings, einer Ware besteht, sondern in der Ortsveränderung selbst. Hat das Flugzeug all seinen Wert durch Abermillionen zurückgelegter Personenkilometer verloren und wird verschrottet, existiert dieser ehemalige Wert der Flugmaschine bloß noch in der Erinnerung an ein Reiseerlebnis.

Das Gleiche gilt auch für den ArbeiterInnenberufsverkehr, nur dass hier eindeutig der Arbeitslohn die Quelle der Bezahlung ausmacht – wie für den Reise- und Urlaubsverkehr der Lohnabhängigen. Die Transportkosten dafür gehen in ihre Reproduktionskosten ein. Analog zur Güterproduktion (Verlängerung der Produktion in die Zirkulation) lässt sich von der Verlängerung der Arbeitszeit in die Freizeit gegenüber den KapitalistInnen und somit vortrefflich für die Bezahlung des Arbeitsweges argumentieren.

3. Autoindustrie und Kapitalmacht

Ca. 1,3 Milliarden Autos gibt es weltweit, bis 2030 könnten die 2 Milliarden längst erreicht sein (3). Wie kein anderes Gefährt steht es so sehr für die individuelle Mobilität des Menschen. In der Bundesrepublik allerspätestens seit dem sogenannten „Wirtschaftswunder“, welches oft und nicht von ungefähr neben dem Wiederaufbau den VW-Käfer als Symbol trägt. Wohlstand und individuelle Freiheit werden mit dem privaten Kraftfahrzeug verbunden und zelebriert. Und es lässt sich auch nicht von der Hand weisen, dass für Teile der weltweiten ArbeiterInnenklasse der Besitz eines eigenen Autos eine historische Errungenschaft darstellt.

Dabei ist der private Pkw das gesamtgesellschaftlich irrationalste und ineffizienteste Verkehrsmittel. Die meiste Zeit nimmt er Raum ein, ohne ihn zu überwinden, verbringt den absoluten Großteil seiner Existenz im abgestellten Zustand. Auf keinen Bus oder Zug, kein Taxi trifft dies zu, da sie ja nur im bewegten Zustand für das Verkehrsunternehmen Geld verdienen können.

Mit relativ viel Material- und Energieaufwand kann das Auto nur wenig Mensch und Güter  transportieren. Wer sich täglich damit in den städtischen Berufsverkehr wagt, wird auch noch feststellen: Die meisten Autos sind mit einer Person besetzt. Dabei aber, immerhin, braucht sich niemand allein zu fühlen. Man steht als Kollektiv und wohlklimatisiert im Stau, was gut tut, wenn Ungeduld und Wut auf alle anderen aufsteigen.

Besucht man dann eine der klaffenden Lücken in der Natur, wo eine Autobahn durch einen Wald gezogen wird, und erinnert man sich dabei an den verallgemeinerten Gestank der Stadt, der nach Abgas riecht, so stellt sich die Frage:

Warum hat sich eine so destruktive Verkehrsweise im Personenverkehr in einem Großteil der Welt gegenüber dem öffentlichen Verkehr durchsetzen können?

Kehren wir dafür zurück zur ökonomischen Basis der Gesellschaft. An ihr lässt sich beweisen, dass der Siegeszug des Autos keinen Zufall oder bloße Willkür, böse List diverser Regierungen und Konzerne verkörperte, sondern vollkommen der Logik des Kapitalismus folgte. Innerhalb dieser war er mehr oder weniger zwangsläufig, auch wenn das Auto für die Menschheit als Ganzes natürlich keine Alternativlosigkeit darstellt und höchstens 1/8 aller Menschen es sein Eigen nennen kann.

Die moderne Auto-, zu der wir im weiteren Sinne auch die Nutzfahrzeugindustrie zählen wollen, a), der Einfachheit halber und b), weil beide intensiv miteinander verflochten sind – zu VW gehören mit MAN und Scania auch Lkw-Riesen –, ist das Ergebnis und eine der größten industriellen Nutznießerinnen des kapitalistischen Wertgesetzes und nimmt in diversen Nationalökonomien eine führende Stellung ein. Extraprofite, Begünstigung im Ausgleichsprozess nationaler Profitraten und damit erhöhte Mehrwertaneignung gegenüber anderen Sektoren aufgrund hoher organischer Kapitalzusammensetzung und -konzentration (Monopolisierung), daraus folgend Werttransfer in die Hände der Autokapitale (4) – all dies bringt der Autoindustrie enorme Vorteile allein wirtschaftlicher Natur ein, treibt sie aber angesichts der enormen Konkurrenz innerhalb der Branche wie auch generell auch zu immer neuen technischen Revolutionen.

Schauen wir uns das näher an und besuchen eine Autofabrik eines/r der auf dem Weltmarkt führenden HerstellerInnen. Wir treffen auf eine extrem hohe Technisierung und Automatisierung, Schweißrobotik, digitale Steuerung ganzer Fabriknetzwerke, hochpräzise Werkzeugmaschinen, Fließbandmontage; ökonomisch ausgedrückt: eine extreme Konzentration konstanten Kapitals. Das VW-Werk Wolfsburg ist die größte Fabrik der Welt. Bis zu 3 500 Autos verlassen sie täglich. Über 60 000 Menschen arbeiten hier (5). Und es mag verwundern, dass angesichts der mitunter vergleichsweise hohen Löhne  die Ausbeutungsrate teilweise über denen vieler prekär bezahlter Jobs liegt. Doch Ausbeutung misst sich mathematisch nicht an der Höhe des gezahlten Lohnes (variables Kapital), auch wenn  als ArbeiterIn natürlich zuerst darauf geschaut wird. Entscheidend ist der abgegriffene Mehrwert. Dieser dürfte, wenn er auch hinter dem Vorhang von Marktpreisen und Gewinn nur schemenhaft ersichtlich ist, enorm hoch sein. BranchenkennerInnen gehen davon aus, dass bei der Lohnarbeit in Stammwerken weniger als 20 Prozent der Arbeitszeit für den eigenen Lohn aufgewandt wird. Der Rest ist Mehrarbeitszeit für die AutomobilkapitalistInnen um Porsche, Piëch, Quandt und Co.

Gleichzeitig treibt die enorme Konkurrenz zwischen den HauptherstellerInnen zu immer weiteren Produktivitätssteigerungen, Beschleunigung und Technisierung der Produktion an.

Für die Autoindustrie und ihre Produkte hat das eine interessante Konsequenz und sie hängt direkt mit dem SUV-Boom der letzten Jahre zusammen. Bei gleichbleibendem Produkt, aber massiv gesteigerter Produktivität werden zwar kurzzeitig Vorteile gegenüber den KonkurrenzherstellerInnen erzielt (Extraprofit aufgrund modernerer, arbeitssparender Produktionsmethoden). Da die Konkurrenz dies aber bald aufgeholt haben wird, folgt schließlich, dass allgemein weniger Wert und Gewinn in die Ware Automobil eingehen als zuvor, weniger Arbeitskraft nötig ist, ein solches zu bauen. Nur diese kann aber (Mehr-)Wert schaffen. Die Lösung der Automobilindustrie liegt in einer Weiterentwicklung des Produkts hin zu einem Fahrzeug, das als Ware mehr Wert in sich gebunden hat, sprich größer, schwerer, stärker, schneller ist und vor lauter technischem Schnickschnack fast platzt. Der SUV wurde geboren, der dann auch jede Motorenentwicklung, die auf geringeren Verbrauch der Aggregate abzielte, ad absurdum führt.

Im Ganzen dürfte aber dennoch, trotz SUV-Booms und Auslagerung bedeutender Produktionsteile in Billiglohnbereiche (inländisch wie ausländisch) sowie gesteigerter Arbeitsintensität die Profitrate in der Autoindustrie in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesunken sein.

Dem entgegenwirken kann sie nur durch Ausweitung ihrer Produktion und das Erobern neuer Märkte. Und das ist die eigentliche Motivation hinter dem E-Mobilitätshype, wie auch schon die Legende vom sauberen Diesel dazu dienen sollte, als Türöffnerin in gewisse Märkte, nicht zuletzt den der USA, zu dienen.

Die harte Konkurrenz, der Druck der Profitrate führte und führt natürlich zu einem gnadenlosen Preiskampf, Produktions- und Marktpreis können stark voneinander abweichen. Mehr noch verschwinden in diesem Konkurrenzkampf eigenständige HerstellerInnen, werden vernichtet oder gehen in anderen Konzernen auf, die so ihre Macht ausbauen – Kapitalkonzentration, Monopolisierung. Im VW-Konzern sind auf diese Weise die ehemals eigenständigen HerstellerInnen Audi, Porsche, Skoda, Seat, MAN, Scania, Bentley, Lamborghini, Ducati und weitere aufgegangen.

Kommen wir zurück zur Frage, worauf die Autoindustrie ihre gesellschaftliche Stellung gründet. Auf der Hand liegt natürlich eine enorme Wirtschaftsleistung, die sich im BIP der jeweiligen Länder auffällig niederschlägt. Bei VW, dem 2019 weltweit größten Hersteller, stand in jenem Jahr ein Umsatz von 253 Milliarden Euro 17 Milliarden Euro Gewinn gegenüber (6). 2019 betrug das zusammengezogene Bruttowertschöpfungsvolumen der drei deutschen Konzerne VW, BMW und Daimler, die zugleich die drei Spitzenplätze der nach dieser Größe eingestuften deutschen Unternehmen besetzen, 102 Milliarden Euro (7).

Zudem ist mit dem Sektor eine herausstechende Anzahl an Arbeitsplätzen verbunden. Allein direkt in der BRD sind über 800 000 hier beschäftigt, wobei sich noch abertausende Jobs ringsum ansiedeln (ZuliefererInnen auch im weiteren Sinne; so z. B. die deutsche Chemieindustrie) und damit auch das politische Gewicht der Industrie verstärken (8).

Aber das allein erklärt noch nicht die Kapitalmacht dieser Konzerne in den Nationalökonomien Deutschlands, Japans, der USA, Frankreichs, Italiens, Südkoreas und anderer Länder. Als Kapitale mit einer Spitzenposition hinsichtlich hoher organischer Zusammensetzung (Anteil von konstantem gegenüber variablem Kapital) eignen sie sich über die Ausgleichsbewegung, die Tendenz zu einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate, bezogen auf die Gesamtökonomie, vermittelt durch den allgemeinen Warenmarkt einen größeren Teil des Mehrwerts an als Unternehmen mit geringer organischer Zusammensetzung, was sich als selbst verstärkendes Moment weiter fortsetzt.

Die Kapitale mit geringer organischer Zusammensetzung werden so außerdem verschärft dazu getrieben, ihrerseits das konstante Kapital zu erneuern. Die Autoindustrie ist zum wichtigen Zugpferd der Wertschöpfung eines Staates geworden, über die Branche hinaus.

Mehr noch führt die bereits angesprochene Zentralisierung und Monopolisierungstendenz im Automobilsektor VW und Co. in eine Position, in der ein Werttransfer in ihre Hände stattfindet zuungunsten nicht zentralisierter Bereiche der Gesamtökonomie aber auch der Branche selbst. Die Riesen VW und Co, aber auch ihre Zuliefergrößen wie Bosch, Mahle oder Continental profitieren somit direkt von einer großen Anzahl kleinerer bis mittelgroßer Unternehmen, die sich um die Autoindustrie angesiedelt haben, von ihr abhängig sind und unter denen eine große Konkurrenz herrscht (bspw. im Maschinen-, Formen- und Werkzeugbau).

Schließlich hat sich mit der Herausbildung des Imperialismus auch in der Autoindustrie eine Gesellschaftsform des Kapitals durchgesetzt. Aktiengesellschaften mit Streubesitz, Kredite, staatlicher Teilbesitz, Verflechtung mit dem Finanzkapital, all das ermöglicht der Autoindustrie als Ganzer, ihre Vormachtstellung nicht nur in einzelnen Ökonomien, sondern auch auf dem Weltmarkt zu behaupten.

Soweit zur heutigen Situation. Erklärt ist so aber noch nicht ihr historischer Siegeszug, insbesondere, da zu jenem Zeitpunkt, als das Auto auf den Markt trat, in den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern der Welt bereits gut ausgebaute, flächendeckende Eisenbahnsysteme existierten.

Werfen wir deswegen einen Blick zurück.

Dass Kapital relevant überhaupt in diesen oder jenen produktiven Sektor fließt, hat erst mal gewisse technische Vorbedingungen. Im Fall der Autoindustrie war das die Entwicklung des Verbrennungsmotors (Otto- und Dieselmotor als Hubkolbenmotoren), der im Gegensatz zur bis dahin populären Dampfmaschine eine ausreichend kompakte Größe und Leichtigkeit bei ausreichender Kraftentfaltung aufwies, sodass er für den Verbau in Straßenfahrzeugen (zuerst umgebauten Kutschen) infrage kam. Gleichzeitig brauchte es auch massive Fortschritte im Bereich der Erdölförderung und -raffinierung, wobei die Durchsetzung von Diesel- und Benzinkraftstoff so nicht von Anfang an feststand. Ford wollte für seine Automobile ursprünglich Ethanol verwenden. Andere Erfindungen wie die Kautschukvulkanisierung spielen ebenfalls eine Rolle.

Final entscheidend für die Durchsetzung im Personenverkehr und die Stärke der Autoindustrie war und ist aber, dass das Auto im Gegensatz zu Eisenbahn, Tram, Bus und ganz zu schweigen von Schiff und Flugzeug ein Massenkonsumgut sein kann und dadurch massiv anlagesuchendes Kapital anzog – zu einem Zeitpunkt, als der Eisenbahnmarkt und seine Industrie schon weitgehend aufgeteilt waren.

Dass sich Kapital so verhält, es dahin drängt, wo es Profit erwartet, ist gewissermaßen eine allgemein gültige Regel. Elon Musks Tesla, vollgestopft mit spekulativ-fiktivem Anlagekapital mit höherem Börsenwert als Ford, GM und VW zusammen (9), und der E-Autohype geben ein modernes Beispiel dafür ab.

Das Auto erscheint hierbei wie gemacht für die kapitalistische Produktion. Für das Kapital lohnt sich die Massenabsatztauglichkeit und daraus abgeleitet eine Produktionsweise, die sich geradezu anbietet für eine immer weiter getriebene Arbeitsteilung, Automatisierung und fortwährende Produktivitätssteigerungen. Ford führte 1914 die Fließbandfertigung als zentrale Produktionsmaschinerie im Detroiter Autowerk ein und hob die Rationalisierung in der Produktion auf ein neues Niveau. Auch wenn Henry Ford weder der Erfinder noch erste Anwender dieses Verfahrens war, so hat er es doch derartig berühmt gemacht, dass es in Verbindung mit anderen Komponenten seiner Strategie als Fordismus in die Geschichte einging. Das Fertigungsprinzip Fließband findet bis heute bei Pkws, Lkws und Motorrädern Anwendung.

Weder im Flugzeugbau noch bei Eisenbahnen oder Schiffen finden derartige Produktivitätssteigerungen und eine solch verschärfte Jagd danach statt, auch wenn diese Industrien an sich natürlich danach suchen. Aber weder Absatzzahlen noch der Gegenstand der Produktion bieten das in einem Maß wie in der Kraftfahrzeugindustrie an.

Und es ist uns natürlich klar, dass der Vergleich von Auto und Schiff ein wenig an Äpfel und Birnen erinnert. Nichtsdestoweniger gilt: Im verallgemeinerten Konkurrenzkampf aller Kapitale, die sich alle auf dem Markt begegnen und einen Kampf um die Aneignung  gesamtgesellschaftlicher Mehrwertanteile führen, kommt die Kapitalmacht der Autoindustrie voll zum Tragen. In einem einzelnen Auto steckt verglichen mit einer Lokomotive wenig Wert. Aber bezogen auf den schieren Output an Autos werden in der Automobilbranche gigantische Kapitalmengen durchgeschleust, riesige Wertsummen produziert und ebensolche Mehrwertgrößen abgegriffen, die viel größer als in anderen Transportmittelindustrien sind.

Ein Blick auf Wirtschaftsgrößen in Geldform bestätigt das:

  Gewinn 2019 Umsatz 2019
Toyota (Japan, Auto) 16 946 Mrd. US-Dollar (netto) 272 031 Mrd. US-Dollar
VW (Deutschland, Auto) 14 948 Mrd US-Dollar (netto) 282 948 Mrd. US-Dollar
Airbus (EU, Flugzeugbau, inkl. Defence und Aerospace) 7,2 Mrd. US-Dollar (bereinigtes EBIT ohne abgezogene Strafzahlungen usw.); Verlust von 1,525 Mrd. US-Dollar (netto) 78 935 Mrd. US-Dollar
CRRC (China, größter Schienenfahrzeugbauer weltweit) 2 039 Mrd. US-Dollar (netto, 2018) 33 655 Mrd. US-Dollar (2018)
Hyundai Heavy Industries (Südkorea, größter Schiffsbauer weltweit) – 0,2 Mrd. US-Dollar (netto) 21,8 Mrd. US-Dollar

Tabelle 1 (10)

Ein anderes, schwergewichtiges Kapital darf dabei nicht in unserer Betrachtung fehlen. Historisch wuchs das ökonomische Gewicht der Auto- mit dem der erdölfördernden Industrie, beide bedingten sich gegenseitig. Heute wird das meiste geförderte Erdöl im Straßenverkehr verbrannt. Er ist der größte Einzelverbraucher. Allein in den OECD-Staaten liegt der Verbrauchsanteil bei 35 % (11). Global betrachtet ist das Ölfördermaximum (der Peak Oil) dabei noch nicht erreicht, auch wenn es irgendwann eintreten wird und in vielen erdölfördernden Staaten die jährliche Menge rückläufig ist.

Alternative Antriebsarten konnten sich im frühen 20. Jahrhundert nicht durchsetzen, entweder weil die Vormachtstellung von Ölkonzernen im Zusammenhang mit der Autoindustrie schon zu groß war oder die Techniken Nachteile gegenüber dem Verbrenner aufwiesen. In den USA verdrängte Standard Oil gezielt den E-Antrieb, der sich gegen das billige Benzin und dessen größere mögliche Reichweite nicht durchsetzen konnte. Der von Ford eigentlich angestrebte Ethanolkraftstoff für seine Modelle wurde in diesem Zuge ebenfalls durch Benzin ersetzt.

Es lohnt auch, einen statistischen Blick auf die Umsatz- und Gewinnzahlen des Ölsektors zu werfen, einfach um dessen Gewicht besser zu begreifen. Unter den Top Ten der umsatzstärksten Unternehmen der Welt finden sich mit Sinopec, China National Petroleum, Saudi Aramco und Exxon Mobil vier petrochemische Konzerne (2019: Gesamtumsatz 1 407 Mrd. US-Dollar, Gesamtgewinn 136 Mrd. US-Dollar, wovon allein 111 Mrd. US-Dollar auf Saudi Aramco entfallen, das börsennotiert 2 Billionen US-Dollar Unternehmenswert besitzt und zeitweise als wertvollstes Unternehmen der Welt galt (12)).

Naturgemäß hat der fossile Energiesektor mit dem Straßenverkehr als größtem Abnehmer ein Interesse an einer möglichst langen Fortführung der bestehenden Verkehrsweise. Für die Autoindustrie gilt, E-Auto hin oder her (derzeit liegt der Neuzulassungsanteil bei 4,3 % (13)), dass die Industrie als Ganze bis auf Weiteres voranging Verbrenner herstellen wird. Schließlich existieren hinsichtlich der Ladeinfrastruktur, -zeit und Reichweite nach wie vor strukturell große E-Mobilitätsnachteile (völlig davon abgesehen, dass das E-Auto ökologischer Unsinn ist, siehe dazu Kapitel 8.2).

Beide, Ölkonzerne und Straßenfahrzeugindustrie, bilden unterm Strich eine mächtige wirtschaftliche Phalanx der fossilen und irrationalen, gleichzeitig aber enorm kapitalintensiven Fortbewegungsweise, die natürlich auch ihren politischen Ausdruck finden muss.

4. Staat und Verkehrsindustrie

Verkehrspolitik wird auf den ersten Blick zunächst davon geleitet, welche geographische Struktur und Rolle ein Land prägen. Umgekehrt wirkt die Verkehrspolitik aber auch auf diese Faktoren ein. Sie bestimmt und verschärft den Unterschied zwischen Ballungsraum und Land, bindet Regionen besser an oder hängt sie ab.

Kapitalmacht drückt sich politisch aus. Tiefer gehend betrachtet ist der bürgerliche Staat ein ideeller Gesamtkapitalist, in dem sich die Interessen des jeweiligen, an den Nationalstaat gebundenen Kapitals kumulieren, politisch ausdrücken und rechtlich verwirklichen. Ihm liegt die Aufgabe zugrunde, die Verwertungsbedingungen für den Kapitalismus, seine Produktions- und Reproduktionsbedingungen aufrechtzuerhalten und gesamtgesellschaftlich zu entwickeln. Was heißt das? Unter anderem: Etablierung einer Währung, Organisation eines Bildungssystems und – Herstellen und Überwachen einer Transportinfrastruktur.

Staaten und ihre Nationalökonomien befinden sich in einem dialektischen Wechselspiel zueinander. Zudem sind sie Teil eines sich über seine Einzelbestandteile erhebenden Weltmarktes. Wie das alles in die Verkehrspolitik einzelner Länder eingeht, können wir angesichts der globalen Ungleichzeitigkeit und hohen Detailkomplexität daher nur partiell zeigen.

Grundsätzlich lassen sich fünf Faktoren um die Verkehrspolitik eines Staates ausmachen:

  • Stellung des Staates auf dem Weltmarkt (Halbkolonie, Regional- oder imperialistische Macht; vorhandene Rohstoffquellen, Transitposition, internationale Konkurrenz … )
  • Zusammensetzung und Erfordernisse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals des Landes (dieser Faktor bestimmt u. a. wesentlich die Verteilung der Bevölkerung auf seine Fläche  und welches Verkehrsaufkommen die Bevölkerung, insbesondere die ArbeiterInnenklasse braucht, darüber hinaus aber auch Kultur, Freizeit usw.)
  • Rolle der Transportindustrie im jeweiligen Land (in ihrer Gesamtheit: Verkehrswege, Bauindustrie, Fahrzeugbau, Transportkonzerne)
  • Einwirkung gesellschaftlicher Kräfte (Umweltbewegung, Initiativen für und wider Verkehrsprojekte, Gewerkschaften, … ); kommt besonders in bürgerlichen Demokratien zum Tragen
  • Geographie (physische Topographie, natürliche Verkehrswege, Seeanbindung, technischer Aufwand für Verkehrswegebau, … )

Zur weiteren Erläuterung betrachten wir nun im Ansatz die Verkehrspolitik Deutschlands und Chinas als imperialistischer Mächte sowie Pakistans als beispielhaft  halbkolonialem Land.

4.1. Deutschland: Autoland

Die Verkehrspolitik in der Bundesrepublik als imperialistischer Macht, die sich in hohem Maße auf eine Exportwirtschaft begründet, deren vordersten Plätze die drei großen AutoherstellerInnen einnehmen, weist einen dazu passenden extrem hohen Fokus auf den Straßenverkehr aus. Verkehrs- und Wirtschaftsministerium sind wesentliche Handlanger dieser Kapitalmacht und eng mit ihr verbunden.  Tradition hat das. Einst wurde unter der NS-Herrschaft mit den Geldern der verbotenen Gewerkschaften in Wolfsburg das Kraft-durch-Freude-Werk aus dem Boden gestampft, gebaut für den Kraft-durch-Freude-Wagen. Ersteres ist heute das VW-Werk, letzteres wurde schließlich der VW Käfer. Der VW-Konzern selbst gehört derweil zu 12 % dem Bundesland Niedersachsen (14). Staat (ob NS-Staat oder BRD) und Kapital fallen hier anteilig in eins. Der globale Konkurrenzkampf um Mehrwertaneignung und Profite wird direkt unter politischer Beteiligung geführt – ein für das imperialistische Stadium des Kapitalismus typisches Phänomen.

Während seit der Wiedervereinigung rund 6 000 km Bundesstraßen und Autobahnen neu gebaut wurden, verschwanden tausende Kilometer Schienenwege, insbesondere in der Fläche (15). Ironischer Weise ist die Autoindustrie mit ihrer riesenhaften Produktionsmaschine und Exportmenge eine der abhängigen Hauptkundinnen des Schienengüterverkehrs. Zugleich hegt sie für den inländischen Personenverkehr ein Interesse, die Eisenbahn zurückzudrängen.

Dabei besteht die deutsche Industrielandschaft natürlich nicht nur aus VW und Co. Mit Siemens und Airbus (EU-Konzern) existieren sogar zwei internationale Weltmarktspitzen des Eisenbahn- und Flugzeugsektors (die trotzdem in ihrer Kapitalmacht weit hinter die Straßenfahrzeugindustrie zurückfallen; siehe Tabelle 1).

Generell existiert ein sehr hoher Grad an Industrie und kapitalintensiver Wertschöpfung, welche zwingend auf ein funktionierendes Verkehrssystem angewiesen sind, wofür der Staat zu sorgen hat, der dieser Aufgabe nur ungenügend nachkommt. Der Investitionsstau und die Widersprüchlichkeit im bundesrepublikanischen Verkehrswegebau sind symptomatisch für die nicht deckungsgleichen Interessen einzelner Kapitale mit denen des ideellen Gesamtkapitalisten Staat. Dieser muss wesentlich für die Finanzierung von Wegen aufkommen, mittels derer die Maschinerie der privaten Aneignung am Laufen gehalten wird.

Eindrucksvoll bestätigt sich dies in der Just-in-time-Produktion. Einerseits versucht das private Kapital hiermit, den Umfang und die Kosten des konstanten Kapitals zu verschlanken (Abbau von Lagern und Lagerbeständen). Die Externalisierung der Lagerbestände auf die Straßen, Schienen und Wasserwege mitsamt ihrer Verstopfung sind die Folgen, was nun wiederum auf Seiten des Kapitals das Bedürfnis nach mehr Kapazitäten im Verkehrssektor hervorruft. Ergo: Der Staat, obwohl selbst eher bestrebt, die eigenen Kosten gering zu halten, hat für einen Ausbau der Kapazitäten sorgen, vor allem der Straßen, die den übergroßen Teil des Warentransportes tragen. In der Konsequenz ist gesamtgesellschaftlich damit vom Ausgangspunkt der Just-in-time-Produktion übrigens das Gegenteil erreicht worden. Das einzelne Unternehmen konnte sein konstantes Kapital zwar gegenüber dem wertschaffenden, variablen verringern. Gleichzeitig ist aber das Gesamtausmaß an konstantem Kapital durch neue Straßen und Fahrzeuge gestiegen. Das begünstigt die Bauindustrie und – die deutschen Autokonzerne, die unter ihren Dächern auch einige der größten Lkw-HerstellerInnen der Welt beherbergen.

Diese staatliche, chronische Bevorzugung der Straße und Benachteiligung der Schiene schlägt sich im Kontext des europäischen Kapitalismus und seiner inneren Konkurrenz dann ebenfalls in einer widersprüchlichen (und den Straßenverkehr letztlich weiter begünstigenden Entwicklung nieder): Einerseits ist der europäische Imperialismus geneigt, den europäischen Markt zu einen und Handelshürden zu beseitigen, andererseits führt die nationalstaatliche Konkurrenz (die selbst nur die Konkurrenz des Kapitals weiter zuspitzt) immer wieder zum Gegenteil. Während die Schweiz als Transitland ohne große eigene Automobilindustrie seit Jahrzehnten eine Verkehrspolitik betreibt, die den Fokus auf die Gleise setzt, passiert dies in der BRD nicht. Und so fahren, zeitaufwändig und die Produktion bremsend, die Güterzüge auf der Achse Rotterdam – Genua vergleichsweise zügig durch die Schweizer Berge, um dann von Basel bis Wesel permanent im Stau marodierender Infrastruktur und überlasteter Knoten zu stehen.

Zu erwähnen ist noch, dass es bei großen bundesdeutschen Verkehrsprojekten mittlerweile fast Standard ist, dass diese von mehr oder weniger großen Bürgerinitiativen (dafür oder dagegen) und der Umweltbewegung begleitet werden, die zudem über unterschiedliche Möglichkeiten verfügen, in die Planung (Raumordnungs-, Planfeststellungsverfahren, … ) einzugreifen. Als Folge haben sich hiesige Infrastrukturprojekte extrem verlangsamt – ein internationaler Konkurrenznachteil für das deutsche Kapital. Gleichzeitig kann der deutsche Staat durch die Einbeziehung der lokal betroffenen Bevölkerung und von Bewegungen selbige integrieren und Widerstände ins Leere laufen lassen. Großprojekte wie Stuttgart 21, Nordwestlandebahn Frankfurt oder jüngst die A49 zeigten genau das. Gebaut wurde am Ende natürlich trotzdem.

4.2. Imperialistischer Aufsteiger China

Das eigentliche Autoland: Mit der höchsten Neuzulassungsquote ist China der heiß begehrteste und umkämpfteste Markt der Welt (16). Dabei wetteifern nicht nur internationale Größen wie Toyota oder VW, sondern auch eine große Anzahl chinesischer HerstellerInnen wie Geely oder SAIC miteinander, die sonst international wenig zu melden haben. Um letztere zu stärken, hatte der chinesische Staat 2017 eine E-Autoquote beschlossen, die VW und Co unmöglich halten können. So ist der E-Autohype schließlich auch nichts anderes als ein Ausdruck der scharfen Konkurrenz im Automobilbereich (17).

Doch China ist nicht nur Autoweltmeister. Die größten Häfen der Welt, das längste Eisenbahnschnellfahrnetz und der größte Eisenbahnhersteller, der größte Flughafen nach Reisendenaufkommen (hier half Corona, Atlanta zu verdrängen), einige der größten petrochemischen Konzerne – und überhaupt, die größte industrielle Produktion der Welt, die nach einer ausgiebigen Exportinfrastruktur verlangt, prägen die Pekinger Verkehrspolitik.

Chinas Imperialismus wurzelt in der Geschichte als bürokratisch degenerierter ArbeiterInnenstaat und dessen kapitalistischer Restauration durch KP und Staatsapparat selbst (18).  Finanzkapital und Staat sind deutlich enger miteinander verschränkt als in klassisch imperialistischen Ländern. Zugleich herrscht die Regierung Xi Jinpings mit drakonischer Hand.  Gepaart mit den gigantischen, nach wie vor anwachsenden Produktivkräften betreibt der chinesische Staat so insbesondere seit der Globalisierung ein nie da gewesenes, hochsubventioniertes und schnelles Verkehrssystem-Infrastrukturprogramm und versucht, im Einklang mit der Transportindustrie klassische WeltmarktführerInnen auf allen Ebenen herauszufordern. Das Ergebnis ist ein aus ökologischer Sicht widersprüchliches: Einerseits erlebt die Eisenbahn in China eine mit Europa und den USA unvergleichliche Renaissance. Industrie und die große Fläche verlangen danach. 3 Millionen Menschen arbeiteten 2010 im staatlichen Eisenbahnbereich. Die Schnellfahrstrecke Peking – Shanghai ist mit umgerechnet 25 Mrd. Euro nicht nur Chinas größtes Einzelinfrastrukturprojekt gewesen, sie ermöglicht auch, die 1 300 km mit Strom aus Kohleenergie verschlingenden 350 km/h in unter fünf Stunden zu fahren und das billiger als im Flugzeug (19).

Andererseits, wie oben schon erwähnt, durchläuft China einen staatlich massiv beförderten Autoboom. Die Bilder von im Smog verschwindenden Städten sind Symbole schlechthin für Chinas intensiv fossile Energieträger verbrennende Industrie und Transportweise. 2018 emittierte der Gigant 29,7 % der weltweiten Treibhausgasemissionen, auch das – Weltspitze (20).

Was im Inneren entsteht, findet seine Erweiterung im Äußeren. Im imperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt hat China mit der „Neuen Seidenstraße“ ein Transportinfrastrukturprojekt auf den Weg gebracht, das den halben Globus umspannt. Von Peking finanzierte, gebaute (teilweise mit eigens mitgebrachten Arbeitskräften) und betriebene Straßen und Schienen in Afrika, Europa und Asien, Containerzugverbindungen von Europa nach China und zurück, Häfen in Südeuropa und halb Asien, Pipelines von Russland und dem Arabischen Golf ausgehend ins Reich der Mitte – längst hat China damit begonnen, seine Einflussnahme in Asphalt, Beton und Stahl zu bauen. Die Relevanz verkehrstechnischer Erschließung von Regionen für den weltpolitischen Führungsanspruch hat es erkannt. Was für manche Naiven nach einer wohltätigen Förderung der halbkolonialen Welt aussieht, ist nichts anderes als Kapitalexport, geostrategische Erschließung von Märkten und Rohstoffquellen und eine Kampfansage an die globale Konkurrenz.

4.3. Pakistan und die Seidenstraße

Eingebunden in Chinas „Neue Seidenstraße“ ist die Halbkolonie Pakistan. Eine formal-politische Unabhängigkeit ordnet sich einer ökonomischen Überausbeutung und Abhängigkeit unter, die schließlich auch die Verkehrspolitik des Landes entschieden mit dominieren.

Die Gestaltung und der Betrieb zentraler Infrastrukturen erfolgen im Interesse und auf Druck internationaler Kapitale, z. B. als Teil einer internationalen Strategie der Pekinger Regierung, der wichtigsten Schutzmacht Pakistans, zur Eroberung der Welt, oder folgen Diktaten von Instituten wie dem IWF. Auf diese Weise stehen moderne Anlagen in Häfen und neue Straßen – im Dienste fremder Kapitale – krasser Rückständigkeit und massiven Mängeln gegenüber.

Für Pakistan sieht diese Strategie so aus, dass der Persische Golf über die Häfen Gwadar (Chinas eigener Hafen) und Karatschi auf dem Straßen-, Schienen- und Pipelineweg mit China verbunden werden soll, wobei Pakistan zwar an der Nutzung der Wege teilnehmen darf, aber bloß als Nebeneffekt. Bestimmt werden Verkehrsströme vom Indischen Ozean zum jungen Imperialisten China durch die Interessen des Letztgenannten, der zudem die Strom- und Internetversorgung des Landes aufzubauen versprochen hat.

Auch wenn er bisher weit hinter den angestrebten Erwartungen liegt, zeigt der China-Pakistan Economic Corridor (21) doch eindrucksvoll, wie brisant Kapitalexport in Verbindung mit den Wegen globaler Warenströme und geopolitischen Gemengelagen verknüpft sein kann. Denn einerseits liegt ein Motiv zum Abkürzen des Weges zwischen den ostchinesischen Industrieregionen und dem Indischen Ozean natürlich in der potentiellen Zeiteinsparung im Warenverkehr nach Europa. Viel eher dürfte es aber darum gehen, die von Piraterie gespickte Straße von Malakka zu meiden und vor allem jene Gewässer nicht durchfahren zu müssen, wo China in Streitigkeiten mit Japan und den USA verwickelt ist, die in der Vergangenheit schon zu gewetzten Säbeln zwischen den Kriegsflotten führten. Umgekehrt bekäme China über Pakistan einen direkten militärischen Zugang zum Persischen Golf und damit zu jener Region, die Chinas hauptsächliche Erdöllieferantin ist.

Doch damit nicht genug. Das durch Pakistan verlaufende Teilstück der „Neuen Seidenstraße“ verschärft auch den Konflikt zwischen den drei Atommächten Pakistan und China auf der einen und Indien auf der anderen Seite. So soll ein Teil der Handelsrouten doch durch Jammu und Kashmir verlaufen, die Region Kaschmir also, die sowohl Islamabad als auch Neu-Delhi für sich beanspruchen. Andere Routen, die direkt durch Indien führen, erzeugen kaum weniger Reibung. Der Kampf um die Neuaufteilung der Erde, der Druck auf die halbkoloniale Welt und ihre Abhängigkeit von imperialistischen Zentren, das gleichzeitige Mit- und Gegeneinander einzelner Nationen in der globalisierten Welt, die ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung: exemplarisch ist all das auf pakistanischem Boden als Baustein im Seidenstraßenprojekt Chinas ausgedrückt. Es versucht, Kapitalexport, Warenexport und -import sowie die geopolitische Beherrschung des asiatischen Kontinents miteinander zu verbinden.

5. Imperialismus und Weltmarktrückgrat

Auseinandersetzungen um die globalen Transportwege sind natürlich nicht neu, auch wenn die „Neue Seidenstraße“ Pekings Niveau und Umfang der Konkurrenz gegenüber vergangenen Projekten deutlich in den Schatten stellen dürfte, sollte auch nur die Hälfte des Geplanten Wirklichkeit werden. Das Schicksal des Projekts hängt dabei grundsätzlich von der Krisenentwicklung der nächsten Periode ab. Denn: Mehr als durch technische oder geographische Hindernisse werden die Geschwindigkeiten, Wege und Abwicklungen der globalen Handelsströme durch die Bedingungen des Weltmarktes diktiert. Zugespitzte Handelskriege, Zollschranken und Protektionismus, neue Krisenverschärfungen oder Crashes auf den Finanzmärkten können die Transportketten, diese Blutbahnen der Globalisierung, zum plötzlichen und weitgehenden Erliegen bringen.

Schauplatz internationaler Zusammenstöße sind immer wieder Warenwege. Seeblockaden erdrosselten ganze Länder (England gegenüber Deutschland im Ersten Weltkrieg oder, in jüngerer Zeit, die Blockade Venezuelas oder Kubas durch die USA). Kanäle, die Ozeane verbinden und Seewege abkürzen, standen im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen (Suezkrise) oder wurden vom Imperialismus in Beschlag genommen (frühere US-Pachtung des Panamakanals). In Kriegen wie zu Friedenszeiten verfolgen Verkehrsinfrastrukturen immer auch einen, mal stärkeren, mal schwächeren militärischen Zweck. Jedoch das alles ist nur Ausdruck der Tatsache, dass sich der Welthandel und die Konkurrenz durch den globalen Güterverkehr verwirklichen, heute in einem nie dagewesenen Umfang.

Kehren wir daher nochmal zurück zu der Rolle, die der Verkehr in der kapitalistischen Produktion spielt und denken dies auf der Ebene weltumspannender Wertschöpfung weiter.

Der Kapitalkreislauf, die Mehrwertaneignung können nur real werden durch den Warentransport. Er ist ein physisch notwendiger Bestandteil dieser Zirkulation und geht als Teil der Produktionskosten in den Preis der Ware ein, so wie er ihr durch die Transportarbeit Wert hinzufügt. So weit waren wir schon.

Nun war der Kapitalismus aber nie nur auf einzelne Nationalökonomien beschränkt. Kapital hat von Anfang an versucht, die Grenzen der einzelnen Staaten zu überwinden und in die Welt zu drängen, sie zu erobern, wofür im Frühkapitalismus vor allem die Schifffahrt eine zentrale Rolle spielte. Die  koloniale Aufteilung und Ausbeutung der Welt durch west- und mitteleuropäische Mächte wäre ohne sie unmöglich gewesen. Später wurde sie ergänzt um Eisenbahn, Flugzeug, Lkw. Heute stellt im interkontinentalen Gütertransport nach wie vor das Schiff das Rückgrat schlechthin dar.

Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert trat der Kapitalismus in sein höchstes Entwicklungsstadium, den Imperialismus. Dieser bedeutete das Umschlagen von Quantität in Qualität. Der Kapital- erlangte die Oberhand gegenüber dem Warenexport. Zentralisierung und Monopole modifizierten und überhöhten die freie Konkurrenz. Banken und Industrie „verwuchsen“ zum Finanzkapital. Internationale Kapitalverbände bildeten sich, die Welt war fortan unter diese und die von ihnen dominierten Großmächte aufgeteilt. Über die Welt wird wesentlich in den imperialistischen Zentren, wo die größten Konzerne und Finanzhäuser sitzen, entschieden. Damit einher geht eine Tendenz zur „Verewigung“ der Machtverhältnisse. Diese reibt sich jedoch fortwährend daran, dass trotz einer Neigung zur Monopolbildung die kapitalistische Konkurrenz alles andere als überwunden ist, sondern, im Gegenteil, mit besonderer Intensität in Krisen, eine heftige Zuspitzung erfährt.

5.1. Kapitalzentralisierung und nochmal Autoindustrie

Beziehen wir nun die Totalität des Imperialismus auf die Verkehrsindustrie: Kapitalverflechtung und Monopolisierungstendenz führen zu einer empfindlichen Abhängigkeit einiger ImperialistInnen und Regionalmächte von der in ihr ansässigen Transportindustrie.

Dazu zählen natürlich jene Länder mit einer großen Autoindustrie, die mit Ausnahme Südkoreas und Indiens nahezu komplett auf die imperialistische Welt konzentriert ist. HerstellerInnen, die ihren Ursprung in Halbkolonien haben, gehören in der Regel längst Monopolkonzernen an. Letztere weisen in ihrer Besitzstruktur ein engmaschiges Geflecht aus Eigentümerfamilien, Banken, Staaten, Fonds und Vermögensverwaltungen auf.

Es ist aber nicht nur die Autoindustrie, die aus ihrer ökonomischen Position heraus in hohem Maße der Wirtschaft einiger Länder ihren Stempel aufdrückt. Bauindustrie, ReederInnen und LogistikerInnen, FlugzeugbauerInnen und EisenbahnherstellerInnen und vor allem die eng mit dem Sektor verwachsene Energieindustrie weisen allesamt eine hohe Wertschöpfung sowie einen enormen Grad an Zentralisierung und Verflechtung mit Banken und zinstragendem Kapital auf. Sie stehen zu einem guten Teil auf dem absoluten Spitzenplatz im Unternehmensranking einzelner Staaten und bestimmen drastisch über deren Wirtschafts-, Verkehrs- und Außenpolitik, heben somit ihre scharfen Verwertungs- und  Konkurrenzinteressen auf die Ebene der Staatspolitik.

Und trotz herausragender anderer Transportmonopole gilt wieder: Das Auto erobert die Welt. Es ist kein Zufall, dass mit dem Auftreten des Imperialismus sein Siegeszug in der Transportindustrie begann und vor allem die Eisenbahn und den öffentlichen Personen(nah)verkehr zurückdrängte. Denn in den fortgeschrittensten Industrienationen und dort besonders in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, der durch eine massive Zerstörung von Produktivkräften und Kapital den Weg für eine Erholung des Kapitalismus bereitete, brachte der Imperialismus eine Hebung des Lebensstandards und Löhne mit sich, die jahrzehntelang über den durchschnittlichen Reproduktionskosten lagen. Somit stellten (und stellen vielerorts) größer werdende Teile der ArbeiterInnenklasse wie auch des KleinbürgerInnentums einen Massenabsatzmarkt für Pkw dar, wobei das Produkt wie schon erwähnt als industriell gefertigtes Massenkonsumgut eine große Verbilligung erfuhr. (Übrigens: Vor der weiten Verbreitung des eigenen Autos für zumeist männliche Arbeiter in der Zeit von 1945 – 1970 waren günstigere Mopeds, Kleinkraft- oder Motorräder die zunächst für die ArbeiterInnenklasse im westlichen Imperialismus weiter verbreiteten eigenen motorisierten Fahrzeuge. In der halbkolonialen Welt dominieren motorisierte Zweiräder bis heute häufig das Bild.)

Die Hebung des Lohnniveaus und des Lebensstandards der ArbeiterInnenklasse in den westlichen Industriestaaten war und ist nicht nur das Ergebnis von Klassenkämpfen und Verbilligung der Produktion. Die überdurchschnittlichen Löhne über Jahrzehnte hinweg hängen direkt mit dem Imperialismus zusammen, mit den durch ihn realisierten Extraprofiten, die durch Überausbeutung der (halb)kolonialen Welt in einzelnen Industriesektoren erzielt werden. Diese erleichtert damit die Zahlung höherer Löhne in den imperialistischen Kernländern für große Teile der dort ansässigen ArbeiterInnenklasse – vereinfacht gesagt.

Der Rest ist Geschichte: Die Verbilligung des Individualverkehrs, die offensichtlichen Vorteile des Autos hinsichtlich der Flexibilität und eine ideologische Kampagne für die im gummibesohlten Blech verpackte Fortbewegung führten bald zu einer Abkehr von Schienenverkehr und ÖPNV, die auch staatlich massiv befeuert wurde: Rückbau von Gleisen, Ausbau der „autofreundlichen Stadt“, massiver Straßenausbau. Automobilkapitale wirkten dabei nicht nur vermittels des Staates, sondern auch selbst direkt mit. Das zeigte zum Beispiel die Episode um General Motors, Firestone und Standard Oil sowie in deren Hintergrund wirkende schwergewichtige Bankkapitale wie Rockefeller, welche über Jahrzehnte hinweg in US-Großstädten den schienengebundenen Verkehr aufkauften und im Nachgang zerstörten (22).

5.2. Billiger Gütertransport und Globalisierung

Die Jahrzehnte der Globalisierung führten eine schon immer im Kapitalismus angelegte Tendenz fort. Eine sich ausdehnende Sphäre der Akkumulation, der wachsende Haufen an Kapital und dessen Konzentration führen zu einer Steigerung des Verkehrsaufkommens.

Bedingt wird das in erster Linie natürlich durch die kapitalimmanente andauernde Ausdehnung der Produktion selbst: Wo ein größerer Berg an Waren, da braucht‘s auch mehr, um ihn zu bewegen.

Ebenso wenig führt die Kapitalkonzentration zu einer Einsparung von Transportwegen. Im Gegenteil, die zwischen einzelnen Produktionsstätten und zum/r EndverbraucherIn werden im Allgemeinen länger und ebenfalls die Arbeitswege von vielen Lohnabhängigen. Diese pendeln in den Industrienationen mitunter weit über 100 km. Aber noch häufiger folgen die TrägerInnen der Ware Arbeitskraft dem Ruf des Kapitals vom Land in die Stadt. Wie die weltweit größte Migrationsbewegung über die letzten 300 Jahre darstellt, wird die Kluft zwischen den Lebensräumen  größer.

Aber zurück zur Globalisierung, die ja eine Periode der imperialistischen Epoche beschreibt. Eines ihrer hervorstechendsten Merkmale sind die schon mehrfach angesprochenen globalen Warenströme. Sie vermitteln den Stofftransfer zwischen den imperialistischen Mächten untereinander sowie von und zur (halb)kolonialen Welt.

„Made in China, Taiwan, Vietnam, Bangladesh usw.“ sind auf dem Weltmarkt längst Standards. Aber wieso lohnt sich das für das Kapital? Warum wird überhaupt die Produktion für, sagen wir, den europäischen Markt ans andere Ende der Welt verlagert, wo sich dadurch die Transportzeit und scheinbar die Umschlagszeit des Kapitals doch um ein Vielfaches verlängern im Vergleich zur Vorratshaltung in den Montagefabriken, gerade wenn Produktionsabläufe auch noch auf unterschiedliche, weit auseinanderliegende Orte aufgesplittet sind? Das Kapital ist an der Verwertung seines vorgeschossenen Tauschwerts interessiert. Seine Zirkulationszeit und -kosten verringern sich eben durch die Just-in-time-Produktion (geringere Kapitalbindung in Warenform durch verringerte Lagerhaltung). Dies stellt eine Gegentendenz zum Fall der Profitrate dar. Sie wird „bezahlt“ durch prekäre Löhne und Arbeitsbedingungen in der „Dritten Welt“ wie im Logistikgewerbe einerseits, durch Auslagerung der Ersatzteillager auf die Autobahnen und Seewege andererseits. Das Kapital schert sich auch einen Dreck darum, was das für menschliche Nerven und das Klima bedeutet (CO2-Emission, Lärm, Stau). Hauptsache freie Fahrt fürs Monopolkapital.

Je niedriger die Transportkosten sind, desto attraktiver und rentabler wird die Auslagerung von Produktionsketten auf die ganze Welt, ausgehend von der imperialistischen. Tatsächlich sind die Kosten im Güterverkehr in den letzten Jahrzehnten im Durchschnitt immer weiter gesunken. Er bildet das günstige Rückgrat der Globalisierung. Voraussetzung dafür ist nicht nur das Größer, Schneller, Weiter von Schiff, Flugzeug, Lkw und Eisenbahn und deren gewaltige Kapazitäten. Die Externalisierung von Transportkosten in die Gesamtgesellschaft spielt eine ebenso wichtige Rolle.  Verkehrswegebau und somit die Gewinne der Transportindustrie und die billige Logistik für das Gesamtkapital werden beispielsweise massiv staatlich bezuschusst. Nur so kann sich die schon umrissene Just-in-time-Produktion wirklich für das einzelne Kapital lohnen, welches somit die „Lagerstätte“ Transportweg nicht entsprechend zu bezahlen braucht. Außerdem: Schifffahrt und Luftfahrt nutzen ihre Verkehrswege weitgehend unentgeltlich. Ihre Kosten werden zu übergroßen Teilen von der gesamten Menschheit getragen, während der in diesem Sektor anfallende Profit in die Hände der Unternehmen wandert. Bestimmte Fortbewegungsmittel und Verkehrsträger genießen also je nach Land ein unterschiedlich hohes Maß an Privilegien. Als Beispiel erinnern wir daran, dass die Fliegerei in der BRD von der Kerosinsteuer befreit ist.

Der größte externalisierte Kostenfaktor für die Menschheit im 21. Jahrhundert ist und wird in noch viel größerem Ausmaß aber unzweifelhaft der sein, die vom globalen Verkehrsaufkommen mit verursachten Folgen der Klimakatastrophe einzudämmen und zu bewältigen. Bisher hat noch kaum ein Energie-, Auto-, Luftfahrt- oder sonstiges Kapital direkt aus eigener Tasche für Überschwemmungen oder Waldbrände aufkommen müssen. Das muss wohl gegen diese und den Staat durch eine andere Kraft durchgesetzt werden.

6. ArbeiterInnenklasse, Bewusstsein und die „Kultur“ der Fortbewegung

Es wird nun ausschließlich um den Personenverkehr der Gegenwart gehen und um die Frage, was das Verkehrsverhalten der Individuen bestimmt. Außerdem werden wir uns aufgrund der Grenzen dieses Textes auf Mitteleuropa bzw. Deutschland fokussieren.

6.1 Mobilität – reiner Zweck?

Welches Fortbewegungsmittel der einzelne Mensch für sich wählt, wird durch vier Faktoren beeinflusst: den zurückzulegenden Weg und dessen Zweck; die dafür aufzuwendende Zeit; die Verfügbarkeit, worunter auch die finanziellen Mittel fallen; die Kultur.

Lebt ein Mensch auf dem Land oder in der Stadt? Besitzt er ein hohes oder niedriges Einkommen? Treibt ihn die Sozialisierung und verallgemeinerte Konkurrenz in mehr oder minderem Maß zur Jagd nach Statussymbolen und Selbstdarstellung? Vollzieht sich sein Alltag bestimmt durch Arbeit und Reproduktionsarbeit in geraffter Hast oder reichlich entspannter Freizeit? Das Fortbewegungsverhalten, der Konsum von Verkehr ist durch all das beeinflusst, in letzter Instanz also wesentlich bestimmt durch die gesellschaftliche Produktionsweise.

Es ist wichtig, das weiter auszuführen, weil es in der Umweltbewegung, ihrer sozialen wie ideologischen Prägung nach der Kleinbürgerlichkeit gehorchend, populär ist, sich der Verkehrswende nicht nur durch unzulängliche Reformpolitik, sondern auch vom Standpunkt der individuellen Konsumkritik aus anzunähern. An sich ist die Infragestellung von Ressourcen vernutzendem, umweltschädlichem Konsum auch keineswegs abzulehnen – wer auf Pkw oder Kurzstreckenflug verzichten kann, sollte dies tun.

Und natürlich bedingen sich Konsum und Produktion gegenseitig. Aber sind sie wirklich gleichwertig im gegenseitigen Wirken aufeinander? Nein. Es ist die Produktion, die nicht nur dem Verbrauch vorausgeht, sondern vor allem Angebote schafft oder eben nicht. Dass das Kapital aufgrund der riesigen Profite den fossilen motorisierten Individualverkehr hervorgebracht hat, versuchten wir bereits nachzuweisen. In der Folge ist der Straßenverkehr sehr oft für Privatleute schon von vorneherein deutlich günstiger als der öffentliche Nah- und Fernverkehr, dessen höhere Preise für die KonsumentInnen vor allem als politisch so gewollt betrachtet werden müssen. Im Zusammenhang mit der damit einhergehenden persönlichen Flexibilität, viel besseren Anbindungen abseits der großen Städte und der auf den meisten Strecken deutlich kürzeren Fahrzeit liegt es auf der Hand, warum Menschen die Fortbewegung im eigenen Pkw schon allein aus privat-ökonomischen Gründen bevorzugen, sofern letzterer denn leistbar ist.

Mobilität ist in der kapitalistischen Gesellschaftsformation aber weit mehr als eine nüchtern abgewogene Mittel-zum-Zweck-Betrachtung. Mobil sein ist Teil unserer Kultur geworden, ein Status. Dem eigenen Auto wird die Zauberkraft persönlich erreichbarer Freiheit („für freie BürgerInnen“) zugeschrieben in einer ansonsten für die Mehrheit der Menschen unfreien Welt. Wer ein Auto hat, dem steht es frei, wann immer es ihm/r beliebt, egal wohin und wie schnell zu fahren. Wer noch freier sein will – frei von Blechfahrgastzelle und Sicherheitsgurt und frei im Fahrtwind – fährt dann Motorrad. Fahren ist ein Erlebnis. Im Verkehr Zeit zu verbringen, wird zum Hobby.

Und es ist nicht egal, womit gefahren wird. Es muss schon ein Audi, Mercedes oder Porsche sein. Die Produkte der großen Industrie repräsentieren nicht nur den einfachen Gebrauchswert Auto. Nein, sie sind eine Marke, ein auf den/die BesitzerIn des Fahrzeugs abfärbendes und identitätsstiftendes Statussymbol, dem an sich schon die Attribute von billig und primitiv bis teuer und edel anhaften. Aus dem Auto wird ein Dacia oder eben ein Maybach. Sage mir, was du fährst, und ich sage dir, wer du bist.

Dieser Markenfetisch, diese gesellschaftlich vollzogene Überhöhung eines Gebrauchsgegenstandes, besitzt natürlich auch einen realen Bezug zu den Produkten –  dass Autos sich voneinander unterscheiden. Trotzdem ist der zusätzliche Effekt der Marke nicht zu verkennen. Sie geht mit in den Preis des Autos ein, erhöht real den Profit der HerstellerInnen. Deswegen leisten die Autokonzerne es sich, Millionen ihrer Einnahmen nicht in die eigentliche Produktion zu reinvestieren, sondern in Werbung, Sponsoring und extrem kostspieligen Motorsport (Prestige ist der Bourgeoisie ein treuer Begleiter) zu stecken.

Das ist die eine Seite des Markenfetischs. Auf der anderen finden wir den schnellen moralischen Verfall des Gebrauchswerts, der doch eigentlich soviel Ansehen bedeuten kann. Aber, es ist eben der Fluch aller Autos: gestern noch im Rampenlicht der HändlerInnen, morgen schon in die Jahre gekommen. Trotz voller Funktionsfähigkeit wird es ersetzt durch ein neues und glanzvolleres Statussymbol. Die bourgeoise Weise, sich fortzubewegen, bringt eine frivole Dekadenz mit sich, die umso überbordender ausfällt, je größer das Vermögen ist. Die Fortsetzung der Luxuslimousine sind Yacht und Privatjet.

6.2 Reproduktive Freizeit und Zerstreuung

Der beschriebene Kult um das Auto war gutbürgerlichen Ursprungs und von Anfang an männlich geprägt – bis heute. In den namhaften Motorsportkategorien gibt es immer noch kaum Frauen. Lange war der Führerscheinerwerb an die Zustimmung des Ehemanns gebunden. Mit Herausbildung einer ArbeiterInnenaristokratie und der Produktverbilligung wurden der Kauf eigener privater Kfz und überhaupt die Verbürgerlichung großer Teile der ArbeiterInnenklasse in imperialistischen Ländern und reicheren Halbkolonien erst möglich. Das eigene Fahrzeug suggerierte auch dem Proletariat Status, Geschwindigkeit und Scheinfreiheit.

Der Aspekt der Scheinfreiheit und überhaupt der Lebensstandardhebung spielte für den Fordismus eine wichtige Rolle zur Ruhigstellung der ArbeiterInnenklasse. Nach dem Motto: im Betrieb zwar ausgebeutet und unterdrückt, außerhalb aber alle „Freiheit“ des Konsums – des Autofahrens – als Ausgleich. Das Konzept Fords war auch Vorbild für den schon erwähnten  Kraft-durch-Freude- Wagen der NS-Diktatur. Das Auto befriedigt nicht nur Bedürfnisse des Transportkapitals, sondern befriedet in gewisser Weise auch den Klassenkampf. Die Hebung des Lebensniveaus der ArbeiterInnenklasse (im Generellen, das Auto ist natürlich nur ein Ausschnitt) bedeutete nicht nur eine materielle Errungenschaft für diese, sondern auch eine über den Reformismus vermittelte gestärkte ökonomische Grundlage für Passivität im Klassenkampf.

Überhaupt ist es so, dass das Freizeitvergnügen für die ArbeiterInnenklasse den ausgleichenden Gegensatz oder besser gesagt die logische Ergänzung zur Entfremdung und Verdinglichung in der Produktion verkörpert. Der Spaß und das Erleben im Urlaub und am Wochenende machen den mehr oder weniger allgemeinen Verdruss der Arbeit, dieses sich montags schon nach dem Freitag Sehnen, vergessen und reproduzieren die Arbeitskraft nicht zuerst physisch, sondern psychisch. Die täglichen Massenbewegungen der ArbeiterInnenklasse von und zur Arbeit werden ergänzt um die des erschwinglichen Tourismus’.

Kreuzfahrtschiffe übergeben täglich tausende Menschen in die zur Ware gewordene Kultur solcher Städte wie Barcelona oder Venedig, die davon nicht nur profitieren, sondern schon Proteste gegen den Gegenwartstourismus erlebten. Billigflieger machen auch jugendlichen geringer Verdienenden einmal im Jahr eine Woche Malle oder Goldstrand möglich, wo der Alltag unterschiedlicher Grauschattierungen feierlich im Partyrausch vergessen wird. Verlängerte Wochenenden fangen mit kilometerlangen Staus an und enden genauso auf der Fahrbahn der Gegenrichtung, ein Meer aus Blech auf dem Weg zum und vom Strand.

Es ist offensichtlich, dass Verkehr und Massentourismus – von Spaßfahrten und Spritztouren sowieso zu schweigen – miteinander eng verflochten sind. Das destruktive Potential, das sich daraus für die Umwelt ergibt, ist ebenso bekannt, wie es billigend in Kauf genommen wird. Für manche/n liegt es an dieser Stelle natürlich wieder nah, sich mit der bloßen Kritik des Konsums abzugeben. Aber, schon wieder, ist das leider nicht hinreichend. Der Massentourismus ist nicht nur Ergebnis seiner Erschwinglichkeit und seines eigenen Warencharakters. Er tritt auf, weil er wirklich ein Bedürfnis von individualisierten, entfremdeten Menschen nach Zerstreuung und Selbstaufwertung befriedigt, das unmittelbar aus der kapitalistischen Lebensrealität entspringt. Diese sorgt nicht nur für ein entfremdetes und auf Konkurrenz basierendes, sondern auch weitgehend bewusstloses Dasein, das kaum Selbstentfaltung in der Produktionssphäre, im täglichen Schaffen, zulässt. Den Massentourismus einfach nur zu beschränken, wird folglich als Einbuße an individueller (Schein-)Freiheit empfunden (werden). Wir wollen im Programm unten noch darstellen, dass die Lösung auch hierfür nur dort gefunden werden kann, wo die Menschen ihr Leben produzieren.

6.3 Was wird aus der (Auto-)ArbeiterInnenklasse?

Weltweit sind Millionen Menschen in der Kfz-Industrie beschäftigt. Allein hierzulande dürfte bei weit über einer Millionen Menschen ihre Existenz von der Arbeit im Autosektor abhängen, wenn wir bspw. Zulieferbetriebe, Werkstätten und Familienangehörige in unsere Betrachtung einbeziehen.

Sehr vielen der dort Beschäftigten dämmert mindestens, dass die Verkehrsweise, für die sie unter dem Kommando der Automobilkonzerne produzieren, einer zwingenden und dringenden Änderung bedarf. Einigen ist es sehr bewusst. Aber klar, falsch wäre es natürlich auch zu verleugnen, dass es bei einem Teil der IndustriearbeiterInnenschaft ebenfalls eine irrationale Tendenz zur Leugnung der Klimafrage gibt.

Völlig unbenommen davon, wie sich die Erfordernisse des Klimawandels für die einzelnen Beschäftigen darstellen – was so gut wie alle umtreibt, ist die Frage, wie es künftig um den eigenen Job steht, eine begründete Sorge, nicht nur spekulativ, sondern akut und real. 178 000 Stellen stehen allein in den Zentren der deutschen Autoindustrie für die nächsten vier Jahre zur Disposition, viele wurden in den letzten Jahren schon zerstört (23). Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt und andauernden Krise versuchen Kapital und Regierung, mit massiven Investitionen die deutsche Exportwirtschaft für die Zukunft fit zu machen. Im Zusammenhang mit der Klimakrise rückten „grüne Technologien“ in den Fokus der Industrie – als mögliches Vehikel im Rennen um neue Profite. Für die Autoindustrie bedeutet das ideologisch keineswegs die Abkehr vom motorisierten Individualverkehr, sondern eine „ökologische“ Erneuerung der Privatflotte: E-Auto, alternative Antriebe, Carsharing usw. Das hält zwar den Klimawandel nicht auf, soll aber satt Profite bringen, die Konkurrenz ausstechen. Zuerst erfordert der Umbau des Autos nun den der Autofabriken und fällt hier in eins mit der längst real werdenden Industrie 4.0 (Digitale Revolution). Die Erneuerung des konstanten Kapitals und die geringere technische Komplexität des E-Auto-Antriebsstranges sollen eine Verringerung des variablen Kapitals ermöglichen.

Wahrscheinlich bedeutet dies die größte Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse im schwersten Bataillon der deutschen Industrie seit der Agenda 2010. Letztere hat dem deutschen Kapital nicht nur die Möglichkeit verschafft, im Zuge der Krise 2008 die Konkurrenz auszustechen und sich nach vorne zu exportieren, sondern erleichtert nun auch ein Absägen von Arbeitskräften zum Umbau und Auslagern der Automobilproduktion.

Dabei setzen IG Metall und die Sozialdemokratie heute den Kurs fort, der unter „Autokanzler“ Schröder schon den Großangriff der Agenda von Leih- und Zeitarbeit sowie Prekarisierung bedeutete. Sie halten dem Kapital den Rücken frei vor einer Gegenwehr aus der ArbeiterInnenklasse und greifen sie im Namen des Standorts Deutschland selbst an. Die Gewerkschaftsbürokratien ermöglichen in der brutalen Konkurrenz VW, Daimler und BMW und ihren ZuliefererInnen von Bosch bis Continental Wettbewerbsvorteile durch Stillhalten und Mitgestalten von Auslagerungen, Entlassungen und Werksschließungen.

Andererseits trottet die IG Metall im Grunde ohne ein eigenes, taugliches Mobilitätswendekonzept den Konzernen servil hinterher. Sie hofft dabei, dass bei allem industriellen Umbau der nächsten 10 Jahre eine sie stützende Stammbelegschaft übrig bleibt, die sie gegen alle anderen – ausländische Standorte, befristete Kräfte im Inland usw. – ins Feld führen kann. Bei der Umweltbewegung sieht es auch nicht besser aus, was die Beziehung zur ArbeiterInnenklasse angeht. Für die Gewerkschaftsbürokratie existiert eine doppelte Abhängigkeit – einerseits von der (Kern-)Belegschaft in den Fabriken, andererseits von gut bezahlten Posten beim Kapital im Aufsichtsrat. Sie muss die ArbeiterInnenklasse immer wieder verraten, aber für Teile von ihr ab und zu mal ein paar Krümel rausholen (und wenn‘s der vorübergehende Arbeitsplatzerhalt ist). Die Umweltbewegung von Grünen über FFF bis zu Ende Gelände oder Sand im Getriebe verfügt hingegen über so gut wie überhaupt keine (organische) Verbindung zur ArbeiterInnenklasse, was zur Folge hat, dass selbige in ihrer Umweltpolitik – wenn überhaupt – nur eine absolut untergeordnete Rolle spielt.

Während das Konzept der IG Metall den vermeintlichen Schutz von Arbeitsplätzen bei VW und Co vorschiebt, um darüber das umweltzerstörerische Profitspiel vom Individualverkehrskonzept dieser Konzerne fortzusetzen, und  die Beschäftigten ideologisch an diese bindet (ähnlich der IG BCE in Bezug auf RWE-Braunkohle), bleibt es bei der Umweltbewegung auf der Straße oft bei abstrakten Appellen bis hin zu einem ebenso abstrakten Antikapitalismus. Dies führt dazu, dass die (Auto-)ArbeiterInnenklasse die Umweltbewegung zwar vielleicht als an sich wichtig, aber ohne taugliches Zukunftskonzept versteht – womit sie nicht ganz Unrecht hat.

Die gesamte Umweltbewegung auf ihrem derzeitigen Stand verfügt kaum über tragfähige Gesamtmobilitätskonzepte. Bei den Grünen bestehen sie darin, das E-Auto zu subventionieren und die Bahn zu privatisieren und zu zerschlagen (so auf Betreiben der Grünen hin bei der S-Bahn Berlin bereits angestoßen), Herbert Diess (Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG) und die Quandts und Klattens (BMW-GroßaktionärInnen) wird es freuen, Zugreisende werden dadurch nichts gewinnen. In ihrer Realpolitik sind die Grünen sowieso keine Verkehrswendepartei. Sinnbildlich haben sie als Teil der hessischen Landesregierung den besetzten Dannenröder Wald für einen Autobahnbau räumen und roden lassen.

Auf der Straße ist seit 2019 FFF zur zahlenmäßig und in der Außenwirkung dominierenden Kraft der Klimabewegung geworden. Ihr Großteil befindet sich mittlerweile zumindest fühlbar in dem Widerspruch, dass die wesentliche Politik der Bewegung auf Appelle an BerufspolitikerInnen beschränkt ist, von denen immer wieder keine taugliche Klimapolitik kommt. Es fehlt die Einsicht, dass eine  Regierung keine neutrale Vertretung der Allgemeinheit ist, sondern integraler Bestandteil bürgerlicher Herrschaft. Deren wesentliche Aufgabe ist es, den politischen Willen der KapitalistInnen in rechtliche Formen zu gießen und den ökonomischen Wettbewerb zum politisch (und militärisch) zugespitzten Konkurrenzkampf der Staaten zu erheben, in dem jede wirklich nachhaltige Politik an der kapitalistischen Realität zerbricht. Eigene Konzepte bringt FFF kaum. Zwar wird mit Vehemenz die Einhaltung des 1,5 °C-Zieles gefordert, mitunter auch Konkretes wie der zügige Kohleausstieg oder kostenlose Nahverkehr, aber wie und durch wen das Realität werden soll (wenn es die Regierung – auch mit grüner Beteiligung – nicht umsetzt), bleibt völlig offen.

Konfrontiert mit der unmöglichen Nachhaltigkeit im kapitalistischen System hat sich mittlerweile die nichtssagende Abstraktion des „system change not climate change“ etabliert. Von der Klimabewegung der „Mitte“ abgewandt sucht der sich als radikaler und konsequenter verstehende Teil der Umweltbewegung nach Alternativen und Möglichkeiten des Systemwandels. Raus kam dabei bisher in erster Linie ein Wechsel der Aktionsform weg von Schulstreiks und Demonstrationen hin zu Wald- und Grubenbesetzungen und dem sogenannten zivilen Ungehorsam. Diese firmieren oft unter nunmehr offen antikapitalistischem Label und bringen vielen AktivistInnen wenigstens eine relativ ausgereifte Erkenntnis bei, dass die Rettung der Lebensgrundlage der Menschheit (und innerhalb dieser steht die Verkehrswende) nur gegen Staat und Kapital durchsetzbar ist. Allein, hier hört der Gedanke bei vielen gerade vom Anarchismus Beeinflussten auf. Der Antikapitalismus bleibt ein wesentlich abstrakter – ein starkes Gefühl mit viel Entschlossenheit zur Tat vielleicht. Doch leider fehlt somit, wirklich bewusst auf konkrete Ziele hinzusteuern, weil – im Geist ganz verwandt mit der Appellpolitik der freitäglichen Streiks – die entscheidenden Fragen auch in den Kronen der Bäume und Tiefen der Gruben offenbleiben: Wie sieht eine konkrete antikapitalistische Verkehrswende aus und wer setzt sie durch? So radikal und richtig die Aktionen von Sand im Getriebe bis Waldbesetzung sind, ausreichend sind sie bei weitem nicht. Den Klima- zum Klassenkampf zu machen, liegt ihnen fern.

Für die ArbeiterInnenklasse in den Fossilien fördernden Industrien oder solchen, die Erzeugnisse herstellen, die sie verbrennen– sei es in Wolfsburg, Untertürkheim oder Garzweiler –, stellt sich die Umweltbewegung im Groben so dar, dass sie bei ihr politisch kaum berücksichtigt wird. Die Frage, was aus den Jobs in Motorenwerken wird, wird schlicht nicht beantwortet. Sie spielt höchstens eine untergeordnete Rolle, worin sich in bestimmter Weise die kleinbürgerlich-akademische Klassenherkunft von Grünen bis radikalen AktivistInnen ausdrückt. Ihr Verhältnis zur ArbeiterInnenklasse ist nicht einfach nur ignorant, sondern auch paternalistisch.

Und das vereint dann auch alle: die KapitalistInnen und ihre klassischen Parteien, die Gewerkschafts- und Betriebsratsspitzen der IG Metall sowie die SPD- und Linksparteiführungen sowie die Mehrheit der Umweltbewegung mitsamt den Grünen und NGOs von BUND & Co. Sie alle schauen paternalistisch, also bevormundend, auf die ArbeiterInnenklasse als passives Teilelement innerhalb einer „sozialökologischen Transformation“ herab. Die einen wollen ihr eine CO2-Steuer auferlegen. Die anderen verweisen bei der Jobfrage auf E-Auto-Innovationen oder freie Arbeitsplätze im Nahverkehr. Wieder andere drehen sich um und sagen „There are no jobs on a dead planet.“

Was bleibt, ist die vielerorts umgehende Angst davor, morgen den Job los zu sein, und die Sorgen, dass man am Ende für die Kosten der Verkehrswende nicht nur selbst, sondern sogar in erster Linie blecht. Ein Programm, das die ArbeiterInnenklasse in den Mittelpunkt des ökologischen Umbaus stellt, das sie als Subjekt desselben begreift und die Kosten dafür jenen aufbürdet, die seit Jahrzehnten satte Profite mit einer fossilen und kapitalistisch gestalteten Mobilität einfahren, so ein Fahrplan findet sich fast nirgends.

7. Exkurs: Winfried Wolfs tugendhafte Verkehrsreform

Wir unternehmen noch einen kurzen Ausflug zu einem, der vielen deutschsprachigen Linken als Koryphäe der Mobilitätsfrage gilt: Winfried Wolf. Er war Bundestagsabgeordneter der PDS und ihr Verkehrsexperte. Er ist aktiv in Attac und Bürgerbahn statt Börsenbahn und in der Bewegung gegen Stuttgart 21 und hat diverse Bücher rund um Kapitalismus und Verkehr produziert, wobei „Verkehr. Klima. Umwelt.“ zu Recht als empfehlenswertes Standardwerk gilt, welches  einen guten Überblick über die Entwicklungen und destruktiven Absurditäten zu Land, zu Wasser und in der Luft seit der Industrialisierung gibt (24).

Aber, wir wollen an zwei Aspekten Kritik üben: Wolfs unzulänglicher Analyse und seinem noch unzulänglicheren, weil durch und durch reformistischen, Programm.

Wolfs Arbeiten bieten eine gute Einsicht darin, WIE sich Entwicklungen der Verkehrsindustrie (zusammen mit dem Ölsektor) und damit der globalen Mobilität vollziehen. Er stellt dar, wie das Autokapital die Eisenbahnen und den öffentlichen Personenverkehr zurückdrängte und zerstörte, wie die Globalisierung die Zunahme der Warenströme vervielfachte und welche Interessen der hiesigen Autoindustrie sich im E-Auto-Boom ausdrücken.

Gerade bei „Verkehr. Klima. Umwelt.“ hinterlässt Wolf jedoch entscheidende Lücken, denn WARUM sich diese Entwicklung der Mobilität so vollzog wie von ihm nachgezeichnet, bleibt an einem gewissen Punkt unbeantwortet. Während die Rolle von Staat und Kapital für den Aufstieg fossiler Verkehre und Individualmobilität detailliert beleuchtet wird, bleiben die dahinter liegenden Triebkräfte im Dunkeln. Maximal treten sie in einen schemenhaften Halbschatten. Nirgends werden die entscheidenden ökonomischen Motive völlig aufgedeckt. Konkurrenz und Profitjagd schwingen zwar irgendwo mit, Mehrwert und tendenzieller Fall der Durchschnittsprofitrate sowie die Modifizierung des Kapitalismus zum Imperialismus, und warum gerade wegen dieser Faktoren die Automobilproduktion so gut zum Kapitalismus passt und eine globalisierte Welt entstanden ist, werden dagegen nirgends ausführlich dargelegt.

Folglich erscheinen sämtliche Phänomene und Symptomatiken von Fordismus über Massenmotorisierung bis Billigkurzstreckenflüge nicht zuvorderst als Ergebnis integraler Zwänge der kapitalistischen Gesellschaft, sondern irgendwo immer als Wahn und Fetisch. Sein Buch trägt nicht zufällig den Untertitel „Die Globalisierung des Tempowahns“. Und selbst wenn natürlich beim verallgemeinerten Schneller und Weiter Ideologie eine zentrale Rolle spielt: Woher kommt diese dann? Ist sie nicht vielleicht schon direkt eingeschrieben in die Genese des Kapitalismus mit seiner allgegenwärtigen Konkurrenz?

Vorzeitig gestoppt auf dem analytischen Weg zu den tieferen Ursachen der Verkehrsentwicklung, scheint es bei Wolf, als hätte es innerhalb des Kapitalismus immer auch eine alternative Entwicklung geben können, als wären Individualverkehr und Eisenbahnzerstörung zu guten Teilen Willkür und Wahnsinn des Kapitals. Dabei beschreibt Wolf selbst, welche ökonomische Macht, welche Unmengen an Kapital sich in diesem Bereich binden konnten. Warum also hätten der Kapitalismus und seine Staaten Verkehrskonzepte hervorbringen sollen, die vielleicht nachhaltiger, aber weniger profitträchtig sind?

Übrigens übertreibt Wolf die innige, fast schon als verewigt suggerierte stoffliche Bindung des Kapitals an den Sektor Auto und Öl. Seiner Natur nach ist Kapital erst mal flexibel und kann sich im Zuge seiner krisenhaften Zerstörung, des Klimawandels, technischen Entwicklungen und der imperialistischer Neuaufteilung der Welt auch andere Schwerpunkte suchen. Doch es wird immer zur Plünderung der natürlichen Ressourcen tendieren, weil sie in der Regel kostengünstiger sind als ihre Ersetzung durch nachhaltigere Alternativen, die zudem mehr Arbeitsaufwand erfordern mögen und zusätzlich unter Vermeidung von Abfall wieder in den natürlichen Kreislauf eingehen sollen. Kohle, Gas und Öl mögen bei weiterer Erschöpfung ihrer Lagerstätten eines Tages fürs Kapital zu teuer werden. Eine ökologische Alternative muss deshalb noch lange nicht an ihre Stelle treten. Das zeigt das E-Auto, für dessen Herstellung die Schweinerei bei der Lithiumgewinnung in Kauf genommen wird.

Nichtsdestoweniger gilt für heute erstmal weiterhin, dass der Verkehrswende eine starke Kapitalkonzentration auf nicht nachhaltige, fossile Transportarten entgegensteht. Wie geht Wolf programmatisch damit um?

Er setzt seine inkonsequente Analyse fort. Weit entfernt davon, tiefschürfend darzustellen, dass der Kapitalismus unabänderlichen, gebieterischen Gesetzen und Mechanismen unterliegt, landet er ein rein reformistisches Programm und präsentiert eine Aufstellung von „sieben Tugenden einer Verkehrswende“, die er in seiner Schrift zum E-Auto (25) dann zu 12 Punkten weiterentwickelt.

Grundsätzlich sind die in den sieben Tugenden angesprochenen Aspekte erst mal unterstützenswert. Sie umfassen kurz gesagt Verkehrsvermeidung, Förderung nichtmotorisierten Verkehrs, Ausbau des ÖPNV, autofreie Städte, Flächenbahnausbau, Verlagerung von Flugverkehr und Reduktion sowie Verlagerung des Gütertransports. Leider hört das Programm auch schon damit auf und geht über in das Kapitel „Entschleunigung als realistische Utopie (26)“.

Eine sich durchziehende Gegenüberstellung in Wolfs Tugenden stellt die sogenannte „SLOW – FAST“-Perspektive dar, wobei „FAST“ für ein Weiter so in der Verkehrsentwicklung steht und „SLOW“ für ein Moment der Verkehrswende.

Wolf verbindet diese Gegenüberstellung mit einer Kostenrechnung für die Gesamtgesellschaft, wobei er zu dem Schluss kommt, dass eine Verkehrswende („SLOW“) zwar großer Investitionen bedürfe, langfristig die Kosten aber deutlich unter jenen lägen, die bei Weiterführung der „FAST“-Verkehrsweise anfielen. So richtig das bezogen auf die Gesamtgesellschaft oder auch bezüglich der Staatsausgaben eventuell sein mag (erst recht in Anbetracht der Folgekosten klimatischer Veränderungen), so verkennt Wolfs Argumentationsweise doch den entscheidenden Punkt: Es geht im Kapitalismus Unternehmen und dem Staat nicht darum, was der Gesamtgesellschaft (schon gar nicht der Menschheit insgesamt) nützt oder für sie die rationale, richtige Mobilität ausmacht oder ob es am Ende sogar die Chance bietet, mehr Jobs zu schaffen, als vielleicht in der Straßenfahrzeugindustrie verlorengehen. Sondern es dreht sich alles Handeln und Trachten darum, ob es dem eigenen, national verwurzelten Kapital Vorteile bringt. Und da bezogen auf die BRD der schwerste Bolide des Kapitals eben in Gestalt der Autoindustrie die Wirtschaft durchpflügt, handelt auch die bürgerliche Politik dementsprechend so, dass hier die Profite und Rechnungen passen, völlig egal, ob wir demnächst am fossilen Individualpersonen- und Schwerlastverkehr zugrunde gehen. Finanzministerium und BetriebswirtschaftlerInnen denken aufgrund der zeitlich stets unmittelbar wirkenden Konkurrenz zuerst in Quartals- und Jahresabschlüssen, zuletzt an zukünftige Generationen.

Bei Wolf wiederum bleibt die Frage, wer für die Kosten der Verkehrswende aufkommen soll, einigermaßen offen. Die hauptsächlich Steuern zahlende ArbeiterInnenklasse und das KleinbürgerInnentum oder die, die die Erde mit Millionen Autos bewerfen? Zwar sprach er sich auf diversen Vorträgen auch schon mal für die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien aus. In seinen beiden erwähnten Büchern spielt das jedenfalls so gut wie keine Rolle.

Eine weitere Lücke tut sich bei der internationalen Umsetzbarkeit auf. Wolfs Programm ist in erster Linie ein nationales. In vielen Aspekten stößt das erst mal an keine Grenze – der kostenlose, gut ausgebaute öffentliche Nahverkehr trägt seine Regionalität ja schon im Namen und mit dem Rad gehen auch nur die wenigsten auf Weltreise. Entscheidend ist jedoch, wie sich Wolf die Verkehrsreduktion im internationalen, expansiven und globalisierten Güterverkehr vorstellt. Wir haben gezeigt, warum dieser logisch aus der immanenten und fortwährenden, aber kombinierten und ungleichmäßigen Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise folgt, welche Rolle er für die imperialistischen Staaten spielt und wie zentral er ist für die Ausbeutung und Niederhaltung der halbkolonialen Welt. Abstrakt einfach die Verkehrsvermeidung zu fordern, wird sie nicht verwirklichen. Genauso wenig kommt die globale Mobilitätswende, indem man fordert, die fortgeschrittenen Industriestaaten mögen mit gutem Beispiel vorangehen, obwohl sie die größten ProfiteurInnen weltumspannender Just-in-time-Produktionsketten sind!

Schon landen wir wieder bei den grausam bestimmenden ökonomischen Faktoren der imperialistischen Welt, die Wolf im Halbdunkel belässt. Würde er sie beleuchten, fiele das Licht eigentlich schon fast von selbst auf das, was weltweite Verkehrsumstellung und Transportvermeidung bedeuten: nämlich eine weltweite antikapitalistische Umstellung der gesamten Produktion. Die aber braucht ein entsprechend international basiertes Programm.

Hier steckt dann auch der Karren im Dreck des Wünsch-dir-was-Utopismus, was Wolfs „SLOW“-Plädoyer für Entschleunigung und Rückbesinnung auf das Nahe und Lokale angeht. Eine allgemeine Rückbesinnung auf Langsamkeit in einer sich generell beschleunigenden Gesellschaft erreichen zu wollen, ohne letztere grundlegend zu ändern, bedarf entweder des entsprechenden Reichtums oder erinnert an den Versuch, die Vergänglichkeit der Zeit durch Verlangsamung der Uhren aufzuhalten. Denn, obwohl er für Entschleunigung, entspanntes Reisen und Nerven schonenden Verkehr eine Veränderung der Mobilitätsinfrastruktur voraussetzt, erscheint diese bei ihm doch losgelöst von einer Veränderung der Gesellschaftsformation selbst. Letztere aber ist, wie wir schon beschrieben haben, der eigentliche Faktor, der nicht nur das Verkehrswesen seitens staatlicher und privater Wirtschaft entscheidend bestimmt, sondern auch das (un-)bewusste Verkehrsverhalten der Menschen selbst.

Ob „FAST“ oder „SLOW“, ist gesellschaftlich bestimmt: Wie viel Zeit und Geld hat ein Mensch, um von A nach B zu kommen? Was produziert eine Nationalökonomie – und was nicht? Wie sieht die historisch gewachsene Verteilung der Bevölkerung auf Stadt und Land aus? Wie äußern sich gerade der seit dem Aufkommen des Neoliberalismus gestiegene Leistungsdruck und Stress, der Individualismus und die Konkurrenz im täglichen Weg von und zur Arbeit und im Freizeitverkehr?

Alles Fragen, die von der Symptomatik Verkehr als einer Erscheinungsform des Kapitalismus auf letzteren selbst als ursächlich verweisen – und damit eine andere Gesellschaft zu einer wesentlichen Voraussetzung einer globalen, umfassenden Mobilitätswende werden lassen. Eben das spricht er aber nicht aus, der Winfried Wolf.

So vernünftig seine tugendhaften Vorschläge zum Gutteil sind – Vernunft setzt sich nicht durch durchs bloße Aussprechen durch. Das weiß Wolf sicher. Trotzdem lässt er weit offen, wer diese Vernunft gegen eine für die Menschheit irrationale, von den Interessen des durchrationalisierten Privatkapitals beherrschte Verkehrspolitik nur durchsetzen kann. Er schreibt zwar, dass eine Bewegung von unten notwendig sei, aber wer diese ist, bleibt unausgesprochen. Wer führt sie an? Wofür steht sie ein? Wünscht sich Wolf eine Bewegung wie jene gegen Stuttgart 21, die zwar breit und mächtig auftrat, aber aufgrund ihrer kleinbürgerlichen Führung und staatsbürgerlichen Beschränktheit das profitträchtig-irrationale Beerdigen des effizientesten Kopfbahnhofs Deutschlands nicht aufzuhalten vermochte (jedenfalls bisher)? Hätten demgegenüber eine Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse und die Perspektive von politischen Streiks die Bewegung vielleicht hinreichend gestärkt, um Staat und Bahn zu stoppen?

Es bleibt offen. Einzig das Hereinziehen der Bewegung in die Schlichtung bezeichnet Wolf in „Abgrundtief + bodenlos – Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern“ (27) als wirklich großen Fehler –  nicht aber, dass der Kampf nicht in die Stellwerke, Meldestellen und Betriebswerke der Bahn, in die Hallen von Daimler und Co getragen wurde.

Und das überrascht auch nicht, weil Wolfs Einstellung zur ArbeiterInnenklasse am Ende hauptsächlich die gleiche paternalistische ist, die wir schon Gewerkschaftsbürokratien und Umweltbewegung attestierten. In seinen Programmen rechnet er vor, dass eine Verkehrswende mehr Jobs bringe, als in der Autoindustrie vernichtet würden. Er vergleicht die Größe der Automobil- mit der gesamten ArbeiterInnenklasse der BRD. Er verweist auf Tausende offene Stellen im Nahverkehr. Er sieht also die Problemstellung der Verkehrswende für die ArbeiterInnenklasse. Jedoch, er schlägt nicht vor, dass diese sich selbst bemächtigend des Problems annehmen soll und somit zum Subjekt der Verkehrswende werden kann. Angekommen an der Grenze seines Programms, zeigt uns Wolf den Weg in die Realität nicht. Die Antwort auf die Frage „WIE und durch WEN umsetzen“? verbleibt im Dunkel des Wolf‘schen Linksreformismus.

8. Der Fahrplan zur Verkehrswende

8.1. Zielsetzung

So breit der Konsens über die Notwendigkeit einer Verkehrswende, so unterschiedlich ist die Vorstellung, was darunter verstanden wird. Selbst in der Politik der CDU finden sich floskelhafte Versprechungen über die Verkehrsverlagerung auf die Schiene – wobei es dann auch bleibt. Von einer echten Verkehrswende kann hierzulande nicht gesprochen werden. In anderen Ländern sieht es nur geringfügig besser aus, international existiert die Verkehrswende sowieso nicht.

Jetzt ist das Wort schon einige Male gefallen: Was also verstehen wir unter einer wirklichen Verkehrswende?

Sie besteht vereinfacht gesagt im fortschrittlichen Auflösen der akuten Mobilitätskrise – der Verkehrsfrage –  welche wir nochmal kurz zusammenfassen:

  • Verkehr als Teil der Klimakrise: 15 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen werden in diesem Sektor emittiert (in der BRD 21 %). Mehr als die Hälfte des Erdöls wird in Flugzeugen (6 %), Schiffen (4 %) und auf den Straßen (40 %) verbrannt. Die Werte stammen aus Zeiten vor Corona und sind kritisch zu betrachten, da die Art der Stromerzeugung für den Schienenverkehr in den verwendeten Quellen vermutlich unberücksichtigt blieb.
  • Verkehr als Teil weiterer Umweltprobleme: Luftverschmutzung, Oberflächenversiegelung, Lärmemissionen, Abfälle von Fahrzeugen und Fahrwegen (z. B. Reifenabrieb ist erste Quelle des Mikroplastiks in den Meeren).
  • Ausgehend von den beiden Punkten Verkehr als Teil der Energie- und Ressourcenfrage – die Geschwindigkeit einer Verkehrs- wird zentral von jener der Energiewende abhängen.
  • Verkehr als unmittelbare Gefahr: 2018 starben weltweit 1 350 000 Menschen bei Unfällen im Straßenverkehr. Davon ist der überwiegende Teil in armen Ländern und unter Armen zu beklagen. Für Menschen von 5 – 29 Jahren ist der Verkehrstod die wahrscheinlichste Todesursache. Abgesehen davon existiert die Gefahr von Erkrankungen durch Lärm, Stress, Abgase.
  • Verkehr als Teil der Stadt-Land-Frage: Platznot durch städtischen (Individual-)Verkehr auf engstem Raum steht ländlichem Infrastrukturmangel gegenüber. Beides resultiert auf unterschiedliche Weise im Verlust von Lebensqualität (und ohnedies knapper Zeit).
  • Verkehr und Logistik als gesellschaftlich irrationale Konzeption: Warenketten um die ganze Welt, Wettbewerb als Verursacher von überflüssigem Verkehr (Leerfahrten usw.), abgestellte und Raum beanspruchende Massen an Privat-Pkws.
  • Verkehr als Teil der kapitalistischen Verwertungslogik. Krise und Kampf um die Neuaufteilung der Welt: (militärischer) Kampf um Absatzmärkte sowie Ressourcen (Lithium, Öl, Erdgas), Verkehrswegebau den Erfordernissen der imperialistischen Welt entsprechend, einsetzende Deglobalisierung werden mittelfristig die Konkurrenz im Güterverkehrssektor zuspitzen.
  • Relative Zurückdrängung öffentlichen, Bevorzugung des ineffizienten motorisierten Individualverkehrs.
  • Verkehr als Klassen- und Unterdrückungsfrage: Die Möglichkeit, von A nach B zu kommen, im Generellen sowie grenzüberschreitender Verkehr im Speziellen hängen ab von der gesellschaftlichen Stellung und Herkunft. Freiem Reisen für die Reichsten in alle Länder der Welt stehen fehlende sichere und legale Fluchtwege für Millionen Menschen gegenüber. Noch anschaulicher: Weitgehend ungehinderte Warenverkehre auf einem Weltmarkt stehen unfreien Bewegungsmöglichkeiten für Menschen gegenüber.
  • Abschließend: Klassenkampf unmittelbar im Sektor selbst – Ausbeutung der VerkehrsarbeiterInnen, Kampf um Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsplatzerhalt usw.

Ausgehend davon und im Unterschied zu weiten Teilen der bürgerlichen Politik ist die Verkehrswende für uns daher keine vorrangig technologische, sondern zuallererst eine gesellschaftliche Frage. Die aktuelle Nichtexistenz einer Verkehrswende ist Ergebnis der gesellschaftlichen Konstellation. Zwar erkennt die bürgerliche Gesellschaft die Notwendigkeit tiefgreifender Änderungen, allein, sie ist unfähig, sie zu verwirklichen. Ihre Vorstellung von Nachhaltigkeit ist eine, die sich stets ihren eigenen ökonomischen Erfordernissen unterwerfen muss. Was „nachhaltig“ ist und was nicht, was eine Mobilitätswende ist und was nicht, richtet sich für das Kapital an den eigenen Klasseninteressen aus. Daher ist die Verkehrswende für uns ein integraler Teil antikapitalistischer, sozialistischer Politik, die die Frage der Nachhaltigkeit zuerst aus dem Blickwinkel des langfristigen Erhalts der Lebensgrundlagen der Menschheit betrachtet.

Eckpunkte:

  • Herstellen einer Produktions- und damit Verkehrsweise mit ausgeglichenem Mensch-Natur-Verhältnis vermittels einer ökologischen Kreislaufwirtschaft. Während dem/r ProduzentIn im Kapitalismus ab dem Verkauf der Ware naturgemäß egal ist, was mit ihr passiert – ergo auch bei oder nach ihrem Verbrauch – bedeutet eine ökologische Kreislaufwirtschaft eine möglichst große Langlebigkeit von z. B. Fahrzeugen und Nutzbarhaltung der in ihnen versammelten Ressourcen für die Menschheit, ohne die Natur in einem nicht nachhaltigen Maß auszubeuten oder sie als Senke zu vernutzen.
  • Bezogen auf das Verkehrsaufkommen muss der Leitsatz dabei lauten: „So wenig wie möglich, so viel nötig.“ Schon hierbei springt ins Auge, dass der Kapitalismus dazu nicht in der Lage ist, weil sein Kreislauf Geld – Produktion – Produkt – Ware – Geld + Gewinn – gesteigerte Produktion … zur fortwährenden Ausdehnung (des Verkehrsaufkommens) drängt und dessen Logistik insgesamt ineffizient organisiert ist.
  • Eine ökologische Kreislauf- kann weltweit daher nur als Planwirtschaft verwirklicht werden, die schon bei der Produktion von Fahrzeugen und Transportwegen den weiteren Verbleib nach Abnutzung mit einbezieht. Während für den/die KapitalistIn dieser Gedanke in der Konkurrenz tödlich ist, ist es bei einer Planwirtschaft umgekehrt: Nicht auf den Ressourcenkreislauf zu achten, wäre ihr Untergang (auf lange Sicht ist das allerdings auch für den Kapitalismus der Fall).

Andere populäre Konzepte – Postwachstum (Degrowth), Gemeinwohlökonomie etc. – sind schließlich zum Scheitern verurteilt. Sie kennen weder den Weg zu ihrer Verwirklichung, noch brechen sie offen mit dem Kapitalismus, von dem auch keine korrekte Analyse geleistet wird.

  • Eine Planwirtschaft im Interesse der gesamten Menschheit hat wiederum die Aufhebung der kapitalistischen Klassengesellschaft (in der die Profitinteressen des Kapitals über den Bedürfnissen der Gesamtheit der Menschen stehen) zur Voraussetzung. Notwendig hierfür ist der Sturz des bürgerlichen Staates und die Erreichung einer demokratischen Rätemacht der ArbeiterInnenklasse über die Gesellschaft, die z. B. das Verkehrswesen vermittels Enteignung der Transportindustrie und Entwicklung und Kontrolle der Produktion einem demokratischen Plan unterstellen kann.
  • Das aber erfordert, die ArbeiterInnenklasse nicht nur als zentrale Kraft der Mobilitätswende zu begreifen, sondern sie auch zum bewussten Subjekt selbiger zu „erziehen“, was in der Notwenigkeit mündet, revolutionäre ArbeiterInnenparteien und eine neue Internationale aufzubauen, die die Verkehrsfrage als Teil ihres Programms begreifen.

8.2 Verkehrsträgerbetrachtung

Einrahmen sollen diese Eckpunkte ein integrales Mobilitätsübergangsprogramm, ein Wegweiser, der von tagesaktuellen Forderungen aus auf die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft und damit des Verkehrs zeigt.

Dabei ist aus Sicht der Produktivkräfte und der technologischen Ausgestaltung der Verkehrswende die Voraussetzung jene, die der Kapitalismus geschaffen hat, sprich die heute bestehenden Transportwege und -mittel. Schauen wir also auf ihr Potential in einer Verkehrswende.

  • Eigene Körperkraft (v. a. Gehen und Radfahren): die ökologischste Art der Fortbewegung und die mit Abstand meist genutzte, oft sogar schnellste auf der Kurzstrecke.
  • Motorisierter Individualverkehr (v. a. Auto, Moped, Roller, Motorrad): die ineffektivste Art der Fortbewegung, gemessen an der Nutzungshäufigkeit und möglichen Personenkilometern, daneben zumeist fossil angetrieben. Das E-Auto ist demgegenüber aus gleich mehreren Gründen keine generell grüne Alternative. Seine Herstellung erfordert bisher einen Wasser verschlingenden Lithiumabbau (1 t Lithium erfordert 1 900 000 l). Seine Herstellung emittiert die doppelte Menge an Treibhausgasen ggü. Autos mit Verbrennungsmotoren und macht diesen Rückstand gegenüber ihnen bauartgleichen erst nach 8 Jahren wett. Der flächendeckende E-Auto-Rollout verzögert also die Energiewende (28). Weiterhin weisen E-Auto wie Verbrenner den gleichen ineffizienten Nachteil auf, ihr/en Treibstoff/depot als zusätzliches Gewicht mit sich führen zu müssen. Für die Anbindung kleiner Orte an den nächsten öffentlichen Anschluss bleibt dieser Rest an motorisiertem Individualverkehr  (mglw. als Sharingkonzept bzw. durch öffentliche (Ruf-)Taxis) sinnvoll.
  • Landgebundener öffentlicher Verkehr (v. a. Bus, Tram, U-Bahn, Bahn): Verkehrsmittel mit dem Potential, den Kern eines nachhaltigen Verkehrs darzustellen, sowohl im Nah- als auch Fernbereich. Busse (ggf. mit Oberleitung) machen dort Sinn, wo aus Schienenwegen zu wenig Nutzen entspringt oder diese aufgrund der Topographie unmöglich sind. Tramkonzepte können schon ab einigen tausend Menschen im Einzugsgebiet sinnvoll sein. U-Bahn-Konzepte, die ihrerseits vor allem aufgrund der „autofreundlichen Stadt“ einen Hype erfuhren, machen über ihren Erhalt hinaus keinen Sinn wegen Bauaufwands, Evakuierungsschwierigkeiten und der zusätzlichen Wege nach unten und oben.

Im Regional- und vor allem Fernbahnverkehr ist das Potential des Rad-Schiene-Systems noch lange nicht ausgeschöpft: Elektrifizierung, integrale Taktfahrpläne, internationaler komfortabler Nachtzugverkehr, Knoten- und Streckenentflechtung usw. können potentiell zu Land Flugzeug- und Fernautoverkehr ersetzen. Der Hochgeschwindigkeitsbetrieb ist zumindest zu prüfen, da über einer Geschwindigkeit um die 250 km/h Luftwiderstand und daher Energieverbrauch extrem steigen. Allerdings kann zumindest theoretisch auch ein Zug mit 350 km/h vollkommen ökologisch fahren, immer aber bleibt das eine Frage der Energieerzeugung. Das Konzept eines elektrisch getriebenen Fahrzeugs kann freilich nur wirklich umweltschonend sein, wenn die elektrische Energie auf entsprechende, z. B. erneuerbare Art gewonnen wird.

  • Luft- und Schifffahrt: im Personenverkehr zu Überquerung der Seen und Kontinente mehr oder weniger alternativlos, beide sehr energieaufwändig. Fähren machen vielerorts ökologisch möglicherweise mehr Sinn als lange Tunnel und Brücken zur Meeresunter/-überquerung. Bis heute existieren im Grunde keine massentauglichen alternativen, nicht fossile Antriebe für diese Verkehrsträger.
  • Straßengüterverkehr: im Fernverkehr extrem ineffektiv, nur auf die „letzte Meile“ und in der Kurzstrecke ohne großes Aufkommen mit alternativen Antrieben sinnvoll oder für die minimal notwendige Erschließung von abgelegenen Zielen.
  • Schienengüterverkehr: landgebundenes Transportmittel mit dem größten Potential, den Kern künftiger Transportketten zu bilden, sowohl national wie auch kontinental. Im Vergleich zum Lkw bei gleicher Last deutlich weniger Rollwiderstand zwischen Fahrzeug und Fahrweg bei leicht möglicher externer Energieversorgung (Oberleitung).
  • Luftfahrt: nur für absolut dringende und notwendige Güter vernünftig, extrem energieaufwändig.
  • Schifffahrt: sehr energieintensiv. Möglich sind statt Schweröl auch Gasantriebe (auch aus erneuerbaren Quellen, z. B. power-to-gas). Im interkontinentalen Verkehr nach wie vor notwendig, aber mit Änderung der Produktionsweise enorm reduzierbar im Aufkommen.

Soweit zu den Voraussetzungen technikseitig. Zwar haben in den vergangenen Jahrzehnten  immer wieder auch neue technische Entwicklungen Furore gemacht, seien es das autonome Fahren oder beispielsweise die Magnetschwebebahn in den Varianten deutscher Transrapid oder als Elon-Musk-Vakuumröhre Hyperloop. Diese sind aber bisher nie wirklich über das Erprobungsstadium hinausgekommen und bei denen stellt sich auch ganz grundsätzlich die Frage nicht unbedingt der Machbarkeit, aber der Sinnhaftigkeit hinsichtlich des aufwändigen Verkehrswegebaus. Freilich wäre es falsch, sich gegen die Erforschung neuer Verkehrskonzepte zu stellen. Entscheidend muss aber immer die Frage des Gesamtnutzens und -aufwands für die Menschheit als Ganzes sein, was schon in sich trägt, dass es eine demokratische Kontrolle und keine der Konzerne und MilliardärInnen braucht.

Die andere und wichtigste Voraussetzung, die der Kapitalismus für eine Verkehrswende geschaffen hat, sind die Abermillionen ArbeiterInnen einschließlich IngenieurInnen, die weltweit in dem Bereich arbeiten. Sie vereinen auf sich eine riesige Expertise darüber, wie ein schnellstmöglicher Umbau von Logistik und Transport überhaupt geschehen kann. Sie können das treibende Subjekt des Umbruchs darstellen.

8.3 Übergangsprogramm

Betten wir daher endlich die Verkehrswende in die aktuelle Lage einerseits und in eine sozialistische Perspektive andererseits ein! Gleich vorweg: Eine fortschrittliche Verkehrspolitik wird dabei, um der akuten ökologischen Notlage gerecht zu werden, nicht ohne repressive Einschränkungen gegenüber besonders umweltschädlichen Verkehrsweisen auskommen, die manch ein/e Privilegierte/r als Einschränkung ihrer/seiner individuellen (bürgerlichen) Freiheit empfinden wird. Auf der anderen Seite werden sich aber ganz andere, für die Masse der Menschheit ungleich größere Freiheiten ergeben.

  • Für ein ökologisches Notsofortprogramm! Massive Einschränkung des Flugbetriebs, Verbot von Inlandflügen und Flügen unter 3 000 km! Aufbau kontinentaler Fernzug- und Nachtzugnetze! Für den schnellstmöglichen, umfänglichen Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel und baulich getrennter Radwege in der Stadt und auf dem Land! Gleitende Anpassung der Fahrpreise hin zu einem kostenlosen Nah- und Berufsverkehr! Für eine Preisgestaltung, die Bahnreisen gegenüber dem Autoverkehr entscheidend günstiger macht! Einschränkungen und Verbote für bestimmte Fahrzeugklassen (Verbrauchsobergrenzen)! Schnellstmögliche Abkehr vom innerstädtischen Autoverkehr! Weitreichender Stopp der Automobilproduktion und sofortiger Umbau der Fabriken für andere Produkte, einem gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsplan entsprechend! Verbot des Motorsports – er ist das Aushängeschild individueller, fossiler rücksichtsloser Raserei!
  • Für eine Umweltbewegung, die sich zu einer konkret-revolutionären weiterentwickelt und die ArbeiterInnenklasse in den Mittelpunkt einer Mobilitätswende stellt!
  • Für die demokratische (Fein-)Gestaltung und Kontrolle eines solchen Notfallplanes und des Verkehrswegebaus im Generellen durch Komitees der Beschäftigten im Transportbereich sowie AnwohnerInnen, PendlerInnen und Reisende! Für die Finanzierung eines solchen Notprogramms durch eine massive Besteuerung von VW, Shell, Lufthansa und alle die, die jahrzehntelang mit fossiler Mobilität riesige Gewinne getätigt haben!
  • Für die innige Verknüpfung der Energie- mit der Verkehrswende unter ArbeiterInnenkontrolle! Erforschung und Entwicklung von power-to-gas als möglicher Energiequelle alternativer Antriebe wie Speichermedium für Überschussstrom!
  • So oder so steht die ArbeiterInnenklasse nicht zuletzt in den Autokathedralen vor großen Umbrüchen. Aber statt sie als passiven Spielball von Politik und Konzernen zu betrachten, schlagen wir vor: Keine einzige Jobstreichung! Weiterbeschäftigung bei vollem Lohn! Entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung der Autoindustrie unter demokratischer ArbeiterInnenkontrolle! Ein Startpunkt kann schon in den kommenden Kämpfen liegen: Für Streiks und Besetzungen unter Kontrolle der ArbeiterInnen selbst, nicht der Gewerkschaftsbürokratie von IG Metall und Co!
  • Andererseits werden die Beschäftigten im direkten Transportbereich allzu oft gegeneinander ausgespielt: PilotInnen und Bodenpersonale, polnische und deutsche Lkw-FahrerInnen, EVGlerInnen und GDL-Mitglieder … Wir halten dem die Perspektive Neuordnung der Gewerkschaften entlang der Wertschöpfungsketten entgegen im Rahmen eines demokratisch erneuerten und fusionierten DGB (z. B. mit der GDL, die nicht zum DGB gehört)! Für eine internationale TransportarbeiterInnengewerkschaft unter direkter Kontrolle aller Logistik- und Transportbeschäftigten!
  • Für die generelle Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich! Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle! Sämtliche Steigerungen und Entwicklungen der Produktivkraft ermöglichen eine weitere Ausweitung der Freizeit – und schaffen somit die Möglichkeit zur Verkehrsvermeidung!
  • Für die weltweite Restrukturierung von Stadt und Land, von Wohn- und Produktionsstätten und damit der Verkehrsinfrastruktur nach einem globalen Wirtschaftsplan! Aufbau von Infrastruktur, wo ihn der Imperialismus immer verhindert und sabotiert hat! Umbau, wo er eine unökologische Verkehrsweise erschaffen hat: Für die weitgehende Renaturierung von Autobahnen und anderen Asphaltwüsten, sofern sie nicht für anderes sinnvoll genutzt werden können! Für so wenig wie möglich, so viel wie nötig Transport in der Produktion! Weitgehende Trennung von Transportwegen und Wohnorten! Gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung, Land- und Forstwirtschaft, Dienstleistungs- und Freizeitangeboten, Industrie nach einem Clustermodell (Wohnen im Mittelpunkt)! Vernetzung durch ein Verkehrskonzept, das öffentliche Schienenverkehre zum Kern hat!  Für die Vergesellschaftung der Hausarbeit – nicht nur als Teil der Frauenbefreiung, sondern auch als Möglichkeit zur Transportvermeidung unter Ausschaltung vieler sonst privat anfallender Einzelhandelseinkäufe!
  • Für offene Grenzen und einen freien internationalen Verkehr! Für das Recht, überall leben und arbeiten zu dürfen statt unachtsam-bewusstlosen Massentourismus’!

Das Programm ist bewusst grob gehalten. Die jeweilige lokale Ausgestaltung der Verkehrswende ist Aufgabe derer, die dort leben und arbeiten. Jedoch ist sie stets vom globalen Standpunkt, als Teil einer internationalen Perspektive zu betrachten.

Zu guter Letzt wollen wir darauf verweisen, dass eine gewisse Entschleunigung in einem revolutionären Programm einen konkret erreichbaren Fortschritt darstellen kann. Ein Mensch, der die alltägliche Konkurrenz, Bewusstlosigkeit und Erniedrigung des Kapitalismus nicht mehr kennt und im Gegenzug als Teil eines wirklichen, bewussten Kollektivs arbeitet und lebt und dabei auch noch über ein vielfach größeres Maß an Freizeit als heute verfügt, wird den Drang nach Flucht, Schnelligkeit, Zerstreuung und Besitz eines eigenen Fahrzeugs als Scheinfreiheit auf vier Rädern vermutlich kaum noch spüren. Seine Bewegung und sein Raum werden viel eher bewusstes Erleben statt Mühsal oder Ablenkung beinhalten. Voraussetzung dafür bleibt, heute einen konkreten Antikapitalismus zu entwickeln.

Endnoten

(1) Der Anteil des Straßenverkehrs an den globalen Treibhausgasemissionen betrug 2018 18 %. Siehe: Statista, Anteil der Verkehrsträger an den weltweiten CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe im Jahr 2018, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/317683/umfrage/verkehrsttraeger-anteil-co2-emissionen-fossile-brennstoffe/ (abgerufen am 03.12.2021)

(2) Die hier angeführte These, dass ca. die Hälfte aller Gütertransporte aus unfertigen Produkten (sog. Vorleistungsgütern) besteht, ist abgeleitet aus der Welthandelsstatistik. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Handel nicht deckungsgleich mit Transport ist, allerdings bringt der konkrete Handel von Dingen innerhalb der Wertschöpfung zumeist auch eine Ortsveränderung mit sich, weil nur in den wenigsten Fällen unterschiedliche Unternehmen einen Produktionsstandort teilen. Zum Hintergrund siehe: WTO, World Trade Statistical Review 2019, S. 42, https://www.wto.org/english/res_e/statis_e/wts2019_e/wts2019_e.pdf (abgerufen am 03.12.2021)

(3) Carsguide.com.au, How many cars are there in the world?, https://www.carsguide.com.au/car-advice/how-many-cars-are-there-in-the-world-70629 (abgerufen am 03.12.2021)

(4) Zum vertieften Verständnis des Imperialismus siehe: Suchanek, Martin: Marxistische Imperialismustheorie: Bestandsaufnahme und Aktualisierung, in: Revolutionärer Marxismus 53, global red, Berlin 2020, S. 11 – 128

(5) Ingenieur.de, Das sind die 10 größten Fabriken der Welt, https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/rekorde/die-10-groessten-fabriken-der-welt/ (abgerufen am 02.12.2021)

(6) Industrie.de, Volkswagen hat seinen Gewinn deutlich gesteigert, https://industrie.de/arbeitswelt/volkswagen-hat-seinen-gewinn-deutlich-gesteigert/ (abgerufen am 02.12.2021)

(7) Statista, Bruttowertschöpfung der deutschen Automobilindustrie von 2009 bis 2019,

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/290075/umfrage/bruttowertschoepfung-der-deutschen-automobilindustrie/ (abgerufen am 02.12.2021)

8) BMWi, Automobilindustrie: Branchenskizze, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Textsammlungen/Branchenfokus/Industrie/branchenfokus-automobilindustrie.html (abgerufen am 02.12.2021)

(9) Manager Magazin, 1 Kursgewinn von Tesla = 1 Gesamtwert von Daimler, https://www.manager-magazin.de/finanzen/boerse/tesla-aktie-tagesgewinn-uebersteigt-wert-von-daimler-elon-musk-anteil-auf-hoehe-von-toyota-a-59613c34-a222-4e06-8bf1-0bf3d5b66f0a (abgerufen am 03.12.2021)

(10) Für Daten der Tabelle 1 siehe: Macrotrends.net, Toyota Revenue, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/TM/toyota/revenue (abgerufen am 04.12.2021); Macrotrends.net, Toyota Net Income, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/TM/toyota/net-income (abgerufen am 04.12.2021);

Macrotrends.net, Volkswagen Revenue, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/VWAGY/volkswagen-ag/revenue (abgerufen am 04.12.2021);

Macrotrends.net, Volkswagen Net Income, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/VWAGY/volkswagen-ag/net-income (abgerufen am 04.12.2021)

Macrotrends.net, Airbus Revenue; https://www.macrotrends.net/stocks/charts/EADSY/airbus-group/revenue (abgerufen am 04.12.2021)

Flugrevue.de, Airbus macht Milliardenverlust, https://www.flugrevue.de/zivil/strafzahlungen-neubewertungen-und-a400m-abschreibungen-airbus-macht-milliardenverlust/ (abgerufen am 04.12.2021)

Macrotrends.net, Airbus Net Income, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/EADSY/airbus-group/net-income, (abgerufen am 04.12.2021)

Wikipedia.en, CRRC, https://en.wikipedia.org/wiki/CRRC (abgerufen am 04.12.2021)

Wikipedia.en, List of largest companies of South Korea, https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_largest_companies_of_South_Korea#2020_Forbes_list (abgerufen am 04.12.2021)

(11)Statista, Distribution of oil demand in the OECD in 2019 by sector, https://www.statista.com/statistics/307194/top-oil-consuming-sectors-worldwide/ (abgerufen am 04.12.2021)

(12) Wikipedia, Liste der größten Unternehmen der Welt, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_gr%C3%B6%C3%9Ften_Unternehmen_der_Welt (abgerufen am 03.12.2021)

(13) Auto, Motor und Sport, Die weltweit meistverkauften Stromer – Europa führt, https://www.auto-motor-und-sport.de/verkehr/elektroauto-verkaufszahlen-2020-weltweit-europa-top-20/ (abgerufen am 03.12.2021)

(14) Volkswagen AG, Aktionärsstruktur, https://www.volkswagenag.com/de/InvestorRelations/shares/shareholder-structure.html (abgerufen 02.12.2021)

(15) Siehe: BMVI, Statistik, https://www.bmvi.de/DE/Service/Statistik/statistik.html

(16) Statista, Anzahl der Neuzulassungen von Personenkraftwagen in ausgewählten Ländern in den Jahren 2019 und 2020, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181566/umfrage/neuzulassungen-von-personenkraftwagen-nach-laendern/ (abgerufen am 02.12.2021)

(17) Zu umfassenderen politökonomischen Hintergründen des E-Auto-Hype siehe: Wolf, Winfried: Elektro-Pkw als Teil der Krise der aktuelle Mobilität. Oder: Die Notwendigkeit einer umfassenden Verkehrswende, in: isw_REPORT_NR. 112 / 113, isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e V., München 2018

(18) Zur Kritik des chinesischen Imperialismus siehe: Zora, Alex: China als Modell? Das isw München und der chinesische Imperialismus, in: Revolutionärer Marxismus 53, global red, Berlin 2020, S. 246 – 258

(19) Wikipedia, Schnellfahrstrecke Peking–Shanghai, https://de.wikipedia.org/wiki/Schnellfahrstrecke_Peking%E2%80%93Shanghai (abgerufen am 02.12.2021)

(20) CO2online, https://www.co2online.de/klima-schuetzen/klimawandel/co2-ausstoss-der-laender/ (abgerufen am 02.12.2021)

(21) China-Pakistan-Economic-Corridor Authority (CPEC), http://cpec.gov.pk/ (abgerufen am 02.12.2021). Zur Zusammenstellung des als „Großer amerikanischer Straßenskandal“ in die Geschichte eingegangenen Snell-Reports siehe: Wolf, Winfried: Verkehr. Klima. Umwelt. Die Globalisierung des Tempowahns, Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft, Wien 2009, S. 126 ff.

(23) VDA, Arbeitsplatzverlust durch Transformation in Autoindustrie, https://www.vda.de/de/presse/Pressemeldungen/210506-Arbeitsplatzverlust-durch-Transformation-in-Autoindustrie (abgerufen am 02.12.2021)

(24) Wolf, Winfried: Verkehr. Klima. Umwelt. …, a. a. O.

(25) Wolf, Winfried: Elektro-Pkw … , a. a. O.

(26) Wolf, Winfried: Verkehr. Klima. Umwelt. … ., a. a. O.

(27) Siehe: Wolf, Winfried: Abgrundtief + bodenlos – Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern, PapyRossa Verlag, Köln 2017

(28) Zur Kritik des E-Autos als unökologischer Alternative zum Verbrenner siehe: Wolf, Winfried: Elektro-Pkw … , a. a. O.




Social-Media-Imperium: Böhmermann und die Facebook-Enteignung

Leo Drais Infomail 1173, 15. Dezember 2021

Vergangenen Freitag stellte der Satiriker und Moderator Jan Böhmermann in seiner Sendung „ZDF Magazin Royale“ unter dem Titel „Wie Facebook weltweit Demokratien zerstört“ kritisch die Praktiken des Facebook-Konzerns (der sich jetzt Meta nennt) dar. Anschließend rief Böhmermann in einem mehrsprachig gehaltenen Lied dazu auf, Facebook zu enteignen, um dessen Machenschaften ein Ende zu bereiten.

Zuckerbergs Imperium

Böhmermann baute den Sendebeitrag auf internen Papieren auf, die von der ehemaligen Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen vergangenen September geleakt und im Wallstreet Journal veröffentlicht wurden. Der Börsenwert des Unternehmens sackte daraufhin um 5 % ab, die von Gründer und Milliardär Mark Zuckerberg großspurig angekündigte Umbenennung  in „Meta“ kann als Folge davon gelesen werden – der Riesenkonzern versucht es mit Imagepflege.

Die „Facebook-Papers“ beweisen, was eigentlich längst klar ist: Der Gigant aller sozialen Netzwerke, auf dessen Plattformen mittlerweile drei Milliarden Menschen versammelt sind, der nicht nur aus Facebook, sondern auch Instagram und WhatsApp und fast hundert weiteren Diensten besteht, ist nicht nur ein gewaltiger Datensammel- und Vermarktungsapparat (denn auch wenn‘s nichts kostet, so bezahlen wir doch – mit Zugriff auf unsere viralen Leben), sondern er weiß auch um seine politische Rolle, die er zugunsten seiner eigenen Profite nutzt – Überraschung, Überraschung.  Wie bei jedem anderen Konzern sind natürlich auch für Facebook/Meta die eigenen Profite wichtiger als das Wohlergehen der Allgemeinheit.

Trotzdem lohnt es, sich die satirische Aufarbeitung der Papers anzuschauen, zeigt diese doch eindrücklich die Dimensionen von Facebooks Einflussnahme. Besonders sei diese in Ländern des globalen Südens, wo soziale Medien mit ihrem einfachen Zugang auf Grund der verbreiteten Armut eine noch größere Rolle in der Gesellschaft spielen würden als in Europa.

Dabei seien die Algorithmen der Netzwerke entscheidend, denn sie richten darüber, welche Beiträge wem wie oft angezeigt werden. Davon profitieren laut Böhmermann und Haugen vor allem jene Inhalte, die polarisieren (da diese am meisten geklickt würden, profitiere davon wiederum Facebook). Junge Frauen, die gezielt auf Inhalte gelenkt würden, die Essstörungen gefährlich befördern können; Covid-Falschinformationen; Hetzkampagnen gegen Geflüchtete oder ethnische Minderheiten wie der Rohingya in Myanmar – von allem wisse Facebook und ziehe real Gewinn daraus. Ebenso bekannt sei dem Internetgiganten, dass über seinen Messenger-Dienst WhatsApp Menschenhandel stattfinde.

Darüber hinaus spiele es eine entscheidende Rolle, wer gewisse Inhalte teilt: Während wahrscheinlich jeder Normalo-Account sofort gesperrt worden wäre, ließ Zuckerberg den Fußballstar Neymar (dessen Instagram-Profil zu den Top-Accounts mit der größten Reichweite gehört) ungestraft Rache-Pornografie verbreiten.

Enteignen, zerschlagen, verstaatlichen?

Die eigentliche, kleine Überraschung war, dass Böhmermann zum Schluss des Beitrags dazu aufrief, Facebook zu enteignen, zu zerschlagen und zu verstaatlichen. Zwar ist auch das erstmal nicht mehr als ein humoristisch-satirischer Beitrag, trotzdem kommt es nicht jeden Tag vor, dass eine bekannte Person des öffentlichen Lebens im Fernsehen und Internet dazu auffordert, einen riesigen Konzern zu enteignen. Deswegen wollen wir diesen Gedanken einmal ernsthaft weiterspinnen. Einen Konzern wie Facebook zu enteignen und zu verstaatlichen klingt aus sozialistischer Perspektive intuitiv richtig. Aber was ist dann?

Facebook hat seinen Sitz in den USA. Facebook einfach so in die Hände dieses Staates zu legen, wirft sicher neue Probleme auf. Jeder Geheimdienst sabbert und beneidet Facebook um seine riesige Menge gesammelter Daten über Milliarden von Menschen. Ein soziales Netzwerk in die Hände eines bürgerlich-kapitalistischen Staatsapparates wie jenem der USA zu legen, würde bedeuten, Geheimdiensten wie CIA und NSA noch leichteren Zugang zu privaten Daten zu verschaffen. Denn ein Staat ist politisch nie neutral. Er vertritt seine eigenen Interessen und die seiner herrschenden Klasse (zu der auch Zuckerberg und Co. gehören). Allein schon deshalb ist eine Verstaatlichung nicht sehr wahrscheinlich.

Für den US-Imperialismus wäre es mit direktem Zugriff auf soziale Medien beispielsweise noch einfacher, Einfluss in der halbkolonialen Welt zu nehmen, Proteste wie die von Black Lives Matter zu unterdrücken oder – je nach Präsident – den Rechten noch mehr Futter in ihre wütenden Mäuler zu stopfen.

Kontrolle und wer sie hat – das ist entscheidend. Haugen warf Facebook vor, die Demokratie zu zerstören. Demokratie ist aber ebenfalls eine Frage der Kräfteverhältnisse der Klassen – oder wird sich durch Wahlen irgendetwas an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herrschaft von Facebook, Google, Apple, ExxonMobile, BlackRock usw. ändern? Natürlich nicht. Deswegen fordert Böhmermann ja die Verstaatlichung – unter der er sich vermutlich vorstellt, dass damit eine Demokratisierung Facebooks stattfinden kann. Aber, wir verweisen auf den letzten Absatz, ein Staat kann auch nicht demokratischer sein, als seine eigenen und die Interessen der KapitalistInnen es erlauben. Oder haben die USA in der Vergangenheit nicht immer wieder demokratische Bewegungen untergraben? Haben sie in Chile nicht tatkräftig mitgeholfen, den Sozialisten Allende durch die Pinochet-Diktatur zu ersetzen? Stehen sie heute nicht treu an der Seite der brutalen Herrschaft al-Sisis in Ägypten, nachdem sie Mubarak im Arabischen Frühling fallen ließen?

Was also tun?

Es war nie leichter, an Informationen zu kommen, es war aber auch nie leichter, mit ihnen gezielte Manipulation zu betreiben und durch sie Einfluss zu nehmen. Mit der Verstaatlichung alleine ist es deshalb nicht getan, wenn wir verhindern wollen, dass Facebook und Co. weder den Profiten noch der Staatsmacht der USA dient. Es braucht eine direkte demokratische Kontrolle über soziale Medien, es braucht Kontrollkomitees, bestehend aus NutzerInnen und den ArbeiterInnen des Sektors, gepaart mit einer entsprechenden internationalen Zusammensetzung z.B. mit Mitgliedern aus sexistisch und rassistisch unterdrückten Gruppen und auch Jugendlichen. Solche Komitees können gewährleisten, dass menschenverachtende und schlicht falsche Inhalte effizient bekämpft werden.

Der Kampf um die sozialen Medien muss einer sein, der sich in eine internationale, multiethnische ArbeiterInnenbewegung eingliedert. Schon die Enteignung müsste gegen Zuckerberg und US-Regierung erkämpft werden – was leider nicht durch ein satirisches Lied passieren kann, wohl aber, wenn sich die ArbeiterInnenbewegung und die Unterdrückten um ein revolutionäres, antikapitalistisches Programm organisieren und die sozialen Netzwerke anstatt für profitträchtige Werbung, Hetze und menschenverachtende Inhalte für eine wirkliche, sozialistische Vernetzung der Welt einsetzen.




Nein zur Zerschlagung der Bahn – Schiene statt Gewinnmaschine!

Leo Drais, Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe ArbeiterInnenmacht, 16. November 2021

Es gibt unter uns EisenbahnerInnen ziemlich viele, für die das mit den Zügen nicht einfach nur ein Job ist. Wir kennen das Potential, das eine funktionierende Eisenbahn hätte. Wir merken, wie gut das System aus Fahrzeugen, Infrastruktur und uns Beschäftigten ineinandergreifen könnte und welche Möglichkeiten der Schienenverkehr an sich böte.

Wir merken das, weil wir in unserer täglichen Arbeit (oft) das Gegenteil erleben. Störungen, Verspätungen, Ausfälle bekommen nicht nur Reisende und KundInnen nach außen mit, sondern vor allem auch wir. Für uns heißt das: liegengebliebene Züge, Regelwerkswidersprüche, Fremdeinwirkung, Langsamfahrstellen, Rotausleuchtung, PZB-Ausfall, fehlende Bremshundertstel usw. usf. Und wir leiden da mit. Selbst dann noch, wenn längst Zynismus oder Resignation eingesetzt haben. Weil es Stress und einen späteren Feierabend bedeutet, die kaputte Weiche zu bearbeiten oder Umleitungen zu fahren. Und weil wir, die wir auf Loks, in Stellwerken und Betriebszentralen, in Werkstätten und in den Gleisen mit dem Mangelhaften arbeiten müssen, Bahnbetrieb eigentlich können – es liegt zum Wenigsten an uns, dass die Bahn in Deutschland ist, wie sie ist.

DB AG und Staat

Denn an der DB AG und der bundesdeutschen Verkehrspolitik gibt es so gut wie nichts zu feiern. Seit der Bahnreform 1994 ist das Netz verstümmelt, das Land abgehängt, der Service verkümmert, Bahngelände verscherbelt. In Stuttgart und andernorts sind Milliarden für Sinnlosigkeiten verbrannt worden. Zugleich – so die Verkehrswende auf Deutsch – wurden 6 000 km Bundesstraßen und Autobahnen gebaut.

Und natürlich wollen wir nicht vergessen, wie tausende KollegInnen gegangen wurden oder gingen und ewig kein Nachwuchs kam oder um wie viel sich unsere Arbeitsbedingungen verschlechterten.

Nein, an diesem hochverschuldeten Konstrukt DB AG mit einer aufgeblähten Führungsebene, die uns schwer auf den Schultern lastet, gibt es nicht viel zu verteidigen. Sie ist ein eigener Verschiebebahnhof – von Geldern. Regio, Cargo und Fernverkehr zahlen Trassengebühren an den Netzbereich. Steuergelder und Subventionen landen in Auslandsgeschäften. Am Ende findet sich alles in derselben schöngerechneten Bilanz wieder. Die AG trimmte die Eisenbahn – ganz nach dem Willen des Eigners Bund – auf einen Börsenkurs, dem nur die Krise von 2008 zuvorkam. Sie beantwortet die Krise im Gütergeschäft mit dem Abbau von Gleisanschlüssen, das Ausbleiben von Fahrgästen mit Streckenschließungen. Sie versteht unter der Verkehrswende Fahrpreiserhöhungen und, den Fernverkehr 40 Meter tief unter Frankfurt zu vergraben –, als ob ein S21 nicht schon zu viel wäre.

Staat und Verkehrsministerium machten bei diesem Spiel immer freudig mit – wenn mal ausnahmsweise nicht gerade die Autoindustrie hofiert wurde. Die Staatsinvestitionen in die Schiene betragen in der BRD nur etwa ein Fünftel im Vergleich zur Schweiz. Mit Milliarden soll aber das E-Auto vorangebracht werden. Naiv zu glauben, eine Trennung von Netz und Betrieb würde die Bahn verbessern! Das hieße auch zu glauben, dass das nächste Verkehrsministerium keine speichelleckende Lakaiin der Autokonzerne mehr sei.

Zerschlagung und Wettbewerb

Die Monopolkommission – diese personifizierte ideelle Gesamtkapitalistin, die so tut, als ob hinter der jetzt schon bestehenden bunten Eisenbahnlandschaft keine (Staats-)Monopole stünden, sowie Grüne und FDP schlagen aber genau das vor: Trennt die DB, treibt das Messer zwischen Rad und Schiene, zwischen Infrastruktur und Betrieb! Bahnreform 2.0.

Die Motivation der Baerbock- und Lindner-Truppe mag verschieden ausfallen, die konkrete Ausarbeitung ist noch lange nicht klar, aber die zwei groben Ideen scheinen aber durch: Die kostenintensive, aufwendige Infrastruktur mit riesigem Investitionsstau bleibt (vorläufig) in Staatshand. Was draußen fährt, wird noch mehr dem Wettbewerb ausgeliefert.

Übersetzt bedeutet das nicht nur bei der Verkehrswende, weitere Jahre mit stümperhaften Umstrukturierungen zu verbringen und tausende Jobs zu streichen und sie woanders (unter vielleicht schlechteren Bedingungen) hin zu verfrachten, es heißt auch, dass die Qualität auf der Schiene nicht besser wird – eher im Gegenteil. Wettbewerb heißt immer, möglichst günstig zu fahren, um die Konkurrenz zu schlagen, was wiederum sparen heißt … Und wo bietet sich das am besten an, wo sich doch mit dem Zugbetrieb sowieso kaum was verdienen lässt? Bei Mensch und Material! Auch verlagert sich der viel erwähnte DB-Wasserkopf damit nur. Denn jedes einzelne Unternehmen hat seinen eigenen! Im Vergleich zum DB-Riesen vielleicht nur im Modellbahnformat, aber ziehen wir hunderte kleine Chefetagen zusammen, haben wir wieder – einen Riesen, den Fahrgäste und SteuerzahlerInnen finanzieren.

SPD, EVG und GDL

Dass die SPD und die eng mit ihr verbundene EVG (in der der Autor dieses Textes Mitglied ist) die Zerschlagung ablehnen, ist erst mal richtig. Eine Aufspaltung bedeutet, die Belegschaft zu spalten,  unsere Kampfbedingungen zu schwächen, die neoliberale Klinge erneut an unsere Arbeitsbedingungen zu legen!

Aber EVG und SPD stellen sich zugleich auch hinter eine Konzernspitze, die das Trauerspiel Deutsche Eisenbahn seit bald 30 Jahren zu verantworten hat. Und das überrascht ja auch nicht. Die EVG-Führung und ihre VorgängerInnen sind selbst eng mit der AG verwachsen, nicken alles ab und haben überhaupt, was mit der Bahn seit den Neunzigern passiert ist, mitgetragen.

Genauso wenig überrascht, dass die GDL die grün-gelben Pläne unterstützen wird, erhofft sich ihre Führung doch, vom Aufbrechen der DB und damit der EVG zu profitieren. Zugleich sind viele ihrer Mitglieder ebenso gegen die Zerschlagung. Sie sollten einfordern, dass ihre Führung um Claus Weselsky mit der rückschrittlichen, bahnzerstörenden Position bricht und mit allen Bahn-Beschäftigten gegen die Zerschlagung kämpft.

Die Trennung von Netz und Betrieb gehört deshalb abgelehnt, weil sie die DB-Misere vertieft.

Alle, die sich gegen eine Zerschlagung stellen und dabei aber auch kein Deutsche-Bahn-weiter-so wollen, sollten sich weder auf die SPD noch auf Hommel, Borchert und Co. verlassen. Eine rote Linie kann  schließlich auch mal ganz schnell ihre Farbe wechseln. Wir müssen SPD und Linkspartei auffordern, dass sie die DB-Zerschlagung kategorisch ablehnen! Von der GDL fordern wir einen Kurswechsel. Die DGB-Gewerkschaften sollen zu Solidaritätsdemonstrationen und -streiks aufrufen, denn die drohende Zerschlagung der Bahn betrifft alle Lohnabhängigen. EVG sowie Betriebsräte müssen gewerkschafts- und betriebsübergreifende Versammlungen organisieren, auf denen der Angriff diskutiert und unsere Abwehr besprochen wird – inklusive des Streiks gegen die Zerschlagung!

In den kommenden Auseinandersetzungen können wir uns letztlich nur auf uns selbst und unsere Kampfkraft verlassen. Lasst uns daher auf Belegschaftsversammlungen Aktionskomitees wählen, um den Kampf zu organisieren! Nehmen wir unser Schicksal selbst in die Hand!

Anhang: Verkehrswende = EINE Eisenbahn

Wer eine gut funktionierende Bahn will und die Verkehrswende ernst meint, sollte für EINE einzige staatliche Bahn einstehen. Das heißt auch, alle Privatisierungen der letzten drei Jahrzehnte zurückzunehmen und die sogenannten Privatbahnen zu enteignen sowie die Länderbahnen in eine bundesdeutsche zu überführen. Nur so werden Schnittstellen weniger, Kommunikation einfacher und vor allem: die Bahn dem zermürbenden Wettbewerb entzogen.

Statt einer Zerschlagung braucht es einen Investitions- und Ausbauplan für die Schiene – und zwar finanziert durch massive Besteuerung der Konzerne und AktionärInnen, die mit einer klimaschädlichen Verkehrsweise Milliarden Gewinne gemacht haben: Oberleitung statt E-Auto, Flächenbahn statt Flächenautobahn, kostenloser Nahverkehr statt Pkw-Kaufprämien, Daseinsversorgung Schiene statt Gewinnmaschine!

Allein, dass es eine Staatsbahn gibt, ist natürlich kein Garant für einen funktionierende, breit ausgebauten Schienenverkehr mit guten Arbeitsbedingungen – siehe DB und ihre beiden Vorgängerinnen. Die drohende Zerschlagung bietet da auch eine Chance zur Diskussion, nämlich darüber: Wer kontrolliert eigentlich die Bahn und überhaupt die Verkehrswende? DB-Wasserkopf, Autokonzerne und Verkehrsministerium? Oder wäre es vielleicht eine Alternative, dass die Bahnbeschäftigten direkt und demokratisch zusammen mit anderen VerkehrsarbeiterInnen und Fahrgästen in Komitees darüber entscheiden und wachen, wie die Verkehrswende schnellstmöglich vorankommt? Wir brauchen keine Konzernspitze und keinen neuen Andi Scheuer dafür. Wir haben das Fachwissen und die Kenntnis darüber, wie Eisenbahn gut funktionieren kann als Teil eines nachhaltigen, integralen Verkehrssystems.

Klingt erst mal utopisch, aber wir können schon heute anfangen, solch eine Selbstorganisation aufzubauen, indem wir Aktionskomitees wählen, auch den politischen Streik als Kampfmittel diskutieren und verwirklichen! Wir sagen: Uns gibt‘s nicht für Profite, uns gibt‘s fürs Fahren!




Sofortige Aufhebung des Patentschutzes – Corona-Impfstoff für alle!

Katharina Wagner, Infomail 1150, 18. Mai 2021

Wer in den letzten Wochen Nachrichten hörte oder die Zeitung aufschlug, dürfte überrascht gewesen sein. Denn nach wochenlangen Diskussionen über den herrschenden Impfnationalismus forderte plötzlich auch Joe Biden das zumindest vorübergehende Aussetzen des Patentschutzes, um die weltweite Versorgung mit Impfstoffen gegen COVID-19 und damit ein Beherrschen der Corona-Pandemie zu gewährleisten.

Unter Druck von progressiven DemokratInnen und BefürworterInnen des öffentlichen Gesundheitswesens, vor allem wegen der derzeit katastrophalen Zuspitzung der Pandemie in Indien, sah sich der US-Präsident zu einer geänderten Stellungnahme gezwungen. Natürlich nicht ohne zu ergänzen, dass er nach wie vor die bereits verfügbaren Impfstoffe zunächst für die eigene Bevölkerung einsetzen werde.

Weltweite Forderung

Die Forderung nach Aussetzung der Patente wird seitens der WHO und vielen Ländern des globalen Südens seit langem geäußert, um die Produktion von Impfstoffen weltweit ohne Zahlung von Lizenzgebühren zu ermöglichen. Bereits im Oktober 2020 wurde durch Brasilien und Indien ein Antrag an die Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht, der die Aussetzung von mehreren Punkten des TRIPS-Abkommens vorsieht. Dieser wird mittlerweile von über 100 Ländern unterstützt. Hierbei geht es um die Aussetzung bestimmter Aspekte bezüglich des Recht sauf geistiges Eigentum in Bezug auf Vakzine, Heilmittel und medizinische Ausrüstung im Zusammenhang mit COVID-19. Ein solcher Antrag muss aber von den Mitgliedsstaaten einstimmig angenommen werden und scheiterte bisher am Veto der USA und der EU.

Warum die Forderung nach Aufhebung der Patente für Vakzine nicht von der Hand zu weisen ist, zeigen die Zahlen der bisherigen globale Impfstoffverteilung. Afrikanische Staaten, deren Anteil an der Weltbevölkerung rund 16 % der Gesamtbevölkerung ausmacht, wurden bisher nur mit 2 % der verfügbaren Impfstoffmenge beliefert. Dem gegenüber sollen bis zu 70 % der verfügbaren Vakzine an die Industriestaaten gehen. Und dass sich die ärmeren Länder dieser Welt nicht alleine auf das COVAX-Programm der WHO verlassen dürfen, ist nicht erst seit dem starken Anstieg der Infektionszahlen in Indien deutlich geworden, welcher zu drastischen Reduzierungen der für das Programm bestimmten Impfdosen geführt hat. Die dort hergestellten Dosen des AstraZeneca-Impfstoffes werden nun dringend für die eigene Bevölkerung benötigt und fehlen somit außerhalb Indiens.

Die Forderung nach Aussetzung des Patentrechts für Impfstoffe wird sogar von der Bevölkerung der imperialistischen Länder befürwortet. Rund 70 % der Befragten in G7-Staaten sind laut einer Meinungsumfrage für die Aussetzung des Patentrechts, um die globale Pandemie schnellstmöglich zu beenden. Schließlich müsste jedem klar sein, dass die Pandemie nur global überwunden werden kann. Vor allem in Regionen mit geringer Impfquote ist biologisch betrachtet die Wahrscheinlichkeit von weiteren Mutationsvarianten deutlich erhöht, und somit wird auch die Wirksamkeit der Impfstoffe aufs Spiel gesetzt.

Lautstarke Kritik und Erklärungsversuche

Vor allem aus der EU kommt großer Vorbehalt gegen diesen Antrag. Bundeskanzlerin Merkel hat sich bereits mehrmals eindeutig gegen die Aufhebung des Patentschutzes ausgesprochen. Aus Kritikerkreisen ist zudem zu hören, dass nicht der bestehende Patentschutz, sondern vor allem die fehlenden Produktionskapazitäten, Fachkenntnisse und die Beschaffung von Rohstoffen die größten Hindernisse seien.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU bei einer Aufhebung des Patentschutzes vor allem Wettbewerbsvorteile für die Volksrepublik China befürchtet. Denn diese könne im Gegensatz zu vielen halbkolonialen Ländern die dann zugänglichen Informationen viel schneller für eigene Impfstoffproduktionen nutzen.

Im Folgenden wollen wir die Entwände gegen eine Aufhebung des Patentschutzes näher betrachten. Tatsächlich handelt es sich bei der Herstellung von mRNA-Impfstoffen um ein völlig neuartiges Verfahren, und nur wenige Pharma- beziehungsweise Biotechfirmen verfügen derzeit tatsächlich über das notwendige Fachwissen, um diese Impfstoffe in hoher Qualität herzustellen. Dies liegt aber in erster Linie an dem sehr restriktiven Vorgehen der Biotechfirmen BioNTech, Moderna sowie CureVac, welche ihre jeweiligen KooperationspartnerInnen meist nur mit einzelnen Schritten innerhalb des Herstellungs- oder Abfüllungsprozesses beauftragen, um die Produktionsmengen zu erhöhen. Hierbei werden aber lediglich die zwingend erforderlichen Informationen weitergeleitet. Ein vollständiger Wissenstransfer findet nicht statt.

Im Oktober 2020 gab es von der US-amerikanischen Biotechfirma Moderna sogar das Angebot, den Patentschutz für ihr mRNA-Vakzin nicht durchsetzen zu wollen, damals vermutlich hauptsächlich aus Imagegründen, und das geistige Eigentum erst nach Ende der Pandemie lizenzieren zu wollen. Auch die Mainzer Firma BioNTech hat kürzlich angekündigt, ihre Patente kurzfristig aussetzen und bis zum Ende der Pandemie den Patentschutz juristisch nicht durchsetzen zu wollen.

Allerdings wird ein Ende der Pandemie von der WHO festgelegt, und da in zahlreichen Industrieländern schon ein gewaltiger Impffortschritt und niedrige Inzidenzzahlen erzielt werden konnten, könnte dieses „Ende“ vielleicht früher als erwartet verkündet werden, während sich die Pandemie in den halbkolonialen Ländern mit voller Wucht weiter ausbreitet.

Ob die jeweilige Zeitspanne dann ausreichend ist, um in diesen Ländern die erforderlichen Produktionskapazitäten aufbauen und Fachpersonal bereitstellen zu können, bleibt fraglich. Daher ist die Forderung nach Aufhebung des Patentschutzes notwendig, aber nicht ausreichend. Ebenso wichtig ist die Forderung nach einem umfassenden Technologie- und Wissenstransfer sowie nach Bereitstellung von personellen und finanziellen Ressourcen, um die weltweiten Produktionskapazitäten für diese Art von Impfstoff stark auszuweiten.

Allerdings ist dies ohne Zugang zum Wissen und zur Erfahrung der jeweiligen Unternehmen kaum denkbar. Es bräuchte daher staatliche Zwangsmaßnahmen, um einen Transfer dieses Wissens und eine umfassende Kooperation zu erzwingen. Ein weiteres Mittel, welches schon jetzt eingesetzt werden könnte, wäre die Vergabe von Lizenzen an andere, auch internationale Pharmafirmen. Firmen aus Dänemark, Bangladesch sowie Indonesien und Südafrika hatten sich bisher vergeblich bemüht, in die Impfstoffherstellung einzusteigen. Doch bisher wurden selbst diese Schritte unter Berufung auf den Patentschutz vor allem von den USA und der EU blockiert. Die rechtliche Möglichkeit der Zwangslizenzierung wird aufgrund des enormen Drucks seitens der Pharmabranche von den bürgerlichen Regierungen natürlich auch nicht genutzt.

Nicht nur bei der Patentfrage, sondern auf allen Ebenen erweist sich das Profitinteresse der großen Kapitale als entscheidendes Hindernis für eine effektive, international koordinierte Pandemiebekämpfung.

Zahlreiche Initiativen weltweit

Derzeit gibt es international zahlreiche Initiativen von NGOs, Sozial- und Gesundheitsverbänden sowie Gewerkschaften, welche eine Aussetzung des Patentschutzes fordern. Neben der Partei DIE LINKE, welche bereits im Januar diesen Jahres einen entsprechenden Antrag zur Freigabe der Patente im deutschen Bundestag einreichte, stellen sich auch zahlreiche linke Gruppen wie marx21 oder die Interventionistische Linke (IL) eindeutig hinter diese Forderung.

Im Kampf für das weltweite Recht auf Gesundheit und freien Zugang zu Impfstoffen sind transnationale, breite Bündnisse wie bspw. die Bewegung #ZeroCovid unbedingt notwendig. Zwar fehlt diesen losen Bündnissen oft noch ein „politischer Hebel“. Dennoch ist es gelungen, diese Forderung zu verbreitern und somit zumindest einen Ansatzpunkt für einen gemeinsame Kampf zu finden. Um allerdings global einen gerechten Zugang zu Impfstoffen durchzusetzen, reicht allein die Forderung nach einer Aussetzung des Patentrechtes nicht aus, vielmehr muss die weitreichendere Forderung nach vollständiger Enteignung der Pharmakonzerne sowie des gesamten Gesundheitssektors auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Denn es herrscht ja nicht nur eine ungleiche Verteilung von Impfstoffen, sondern auch von Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung, von finanziellen Ressourcen und Produktionskapazitäten insgesamt. Und eines ist im Zuge der Pandemie sehr deutlich geworden: Innerhalb einer kapitalistischen Marktwirtschaft handelt es sich dabei in erster Linie nicht um „öffentliche Güter“, sondern zunächst einmal um Waren, mit denen Profit erwirtschaftet werden kann. Eine weitere, und bereits angesprochene Forderung ist der notwendige Technologietransfer. Dieser kann freilich nicht den einzelnen EigentümerInnen und dem Management überlassen werden. Die Aufhebung von Patenten und der öffentliche Zugang zu Know-how und Forschungsergebnissen muss vielmehr durch die ArbeiterInnenklasse erzwungen und deren Kontrollorgane überwacht werden. Nur so kann ein zügiger Ausbau von Produktionskapazitäten medizinisch notwendiger Güter weltweit und eine Versorgung sichergestellt sowie die Abhängigkeit halbkolonialer Länder von Industriestaaten abgebaut werden.

Perspektive

Wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht unterstützen die oben genannten Forderungen ausdrücklich, allerdings wurde bisher nicht deutlich genug dargestellt, wie die Umsetzung dieser Forderungen praktisch tatsächlich erreicht werden kann. Zwar spricht die IL auch davon, dass der „Druck der Straße“ jetzt notwendig sei und wir nicht müde werden dürfen „gegen die Unternehmensinteressen wie auch gegen die Macht der Herrschenden das Recht auf Gesundheit zu verteidigen und ihre Warenförmigkeit anzugreifen“. Wer dieses „Wir“ aber eigentlich verkörpert, wird leider nicht näher erläutert.

Anders als die IL gehen wir davon aus, dass die Lohnabhängigen zur führenden Kraft in den Bündnissen, bestehend aus Gewerkschaften, NGOs sowie Teilen des KleinbürgerInnentums, werden müssen. Aus unserer Sicht kann dies nur durch einen solidarischen Kampf der gesamten ArbeiterInnenklasse und ihrer jeweiligen Organisationen, allen voran den Gewerkschaften, gelingen – einen Kampf, der nicht nur auf Demonstrationen setzt, sondern auch durch Streiks und betrieblich Aktionen das Gewicht der ArbeiterInnenklasse in die Waagschale wirft.

Ebenso ist eine Vernetzung mit anderen sozialen Kämpfen notwendig. Um die Gewerkschaften stärker in den Kampf für das Recht auf Gesundheitsschutz und eine globale Gesundheitsversorgung einzubeziehen, muss gegen die herrschende Gewerkschaftsbürokratie und die „Sozialpartnerschaft“ vorgegangen werden. Dazu ist der Aufbau einer oppositionellen, klassenkämpferischen Basisbewegung unerlässlich. Auch die Forderung nach Enteignung der Pharmakonzerne und des Gesundheitssektors allein ist nicht ausreichend. Sie müssen nicht nur enteignet, sondern danach unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse gestellt werden. Denn nur so wird es uns gelingen, den dringend benötigten Wissens- und Technologietransfer zu organisieren und den weltweiten Ausbau von Produktionskapazitäten für Impfstoffe, Medikamente und medizinische Ausrüstung massiv voranzutreiben.

Weder die kapitalistische Pharmaindustrie noch bürgerliche Regierungen haben ein wirkliches Interesse daran. Lediglich für die gesamte internationale ArbeiterInnenklasse besteht ein objektives Interesse an einer gerechten Gesundheitsversorgung weltweit. Daher dürfen wir die Bekämpfung dieser Pandemie weder den bürgerlichen Regierungen noch den KapitalistInnen überlassen und treten für folgende Forderungen ein:

  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen statt Wettbewerb um den schnellsten Profit: sofortige Aufhebung des Patentschutzes, welcher nur die Monopolprofite der Konzerne schützt! Bildung einer internationalen Kommission, gewählt aus SpezialistInnen, welche die Forschungsteams in den verschiedenen Bereichen koordiniert!
  • Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und Offenlegung aller Forschungsergebnisse staatlicher wie privater Institute.!Internationale Koordinierung der Impfstoffentwicklung sowie kostenloser Zugang zu sicheren Impfstoffen für alle Menschen weltweit!
  • Aufhebung aller Exportstopps für Vakzine, dringend benötigte Rohstoffe einschließlich Verpackungsmaterial sowie medizinische und technische Ausrüstung, um eine globale Impfstoffproduktion sowie -versorgung sicherzustellen!
  • Massiver Ausbau der globalen Produktionskapazitäten für die Impfstoff- und Arzneimittelherstellung, Technologie- und Wissenstransfer, um weltweit sichere Impfstoffe mit höchster Qualität herstellen zu können, bezahlt durch eine massive Besteuerung derer, die in der Pandemie noch reicher wurden!
  • Entschädigungslose (Wieder-) Verstaatlichung der privatisierten Teile des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, um die Ressourcen zu bündeln und unter demokratische Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen!
  • Für eine frei zugängliche, globale Gesundheitsversorgung, die sich nach den tatsächlichen Bedürfnissen und nicht an Profiten orientiert!



USA: Unterstützt die ArbeiterInnen von Bessemer!

Dave Stockton, Infomail 1142, 16. März 2021

Eine gewerkschaftliche Organisierungskampagne in der Stadt Bessemer, Alabama, (26.680 EinwohnerInnen) hat die Aufmerksamkeit von GewerkschafterInnen und SozialistInnen weltweit auf sich gezogen. Der Grund? ArbeiterInnen, GewerkschaftsorganisatorInnen und GemeindeaktivistInnen haben es dort mit einem wahren Goliath des modernen Kapitalismus aufgenommen: Jeff Bezos‘ Amazon, dem zweitgrößten Einzelhändler, hinter Walmart, in den USA, wo er immer noch 60 % seines Geschäfts macht.

Expansion und Profit

Amazon ist jetzt ein globales Unternehmen, das dank der Covid-19-Pandemie seinen weltweiten Umsatz, den Umfang seiner Belegschaft und seine Gewinne in die Höhe schnellen ließ. Im Jahr 2020 stieg der Umsatz in Deutschland um 9,8 % auf 34,88 Mrd. US-Dollar (31,15 Mrd. Euro), in Großbritannien um 15,2 % auf 29,05 Mrd. US-Dollar (22,76 Mrd. britische Pfund) und in Japan um 12,3 % auf 26,47 Mrd. US-Dollar (2,885 Billionen Yen).

Laut dem Wirtschaftsmagazin Forbes lieferte das Unternehmen im Jahr 2020 ein wahres Rekordergebnis mit einem Anstieg des Jahresumsatzes um 38 % auf 386 Mrd. US-Dollar, ein jährliches Wachstum von über 100 Mrd. US-Dollar, 125 Mrd. US-Dollar Umsatz allein im vierten Quartal. Der Nettogewinn stieg im Vergleich zum Vorjahr um 84 %. Bezos, der Gründer und bis vor kurzem Vorstandsvorsitzender von Amazon, verfügt über ein Privatvermögen von 196 Mrd. US-Dollar. Laut der US-Denkfabrik Institute for Policy Studies haben allein in den ersten sechs Monaten die 643 MilliardärInnen des Landes, darunter Bill Gates und Mark Zuckerberg, einen Vermögenszuwachs von 845 Mrd. US-Dollar verzeichnet, was ihr gemeinsames Vermögen von 2,95 Billionen US-Dollar auf 3,8 Billionen US-Dollar erhöhte.

Um solche enormen Gewinne zu realisieren, hat Amazon zwischen Januar und Oktober letzten Jahres weltweit mehr als 425.000 MitarbeiterInnen eingestellt. Forbes schätzt, dass Amazon jetzt 1,2 Millionen MitarbeiterInnen hat (810.000 in den USA), nicht mitgezählt die halbe Million LieferfahrerInnen, die nicht unmittelbar unter Vertrag des Unternehmens stehen. Die Pandemie war ein Geschenk des Himmels, nicht nur für das exponentielle Wachstum der Onlineverkäufe, sondern auch für die Freisetzung eines riesigen Potenzials an jungen und qualifizierten Arbeitskräften, die von anderen Unternehmen, die von den Schließungen betroffen waren, entlassen wurden.

Lage der Beschäftigten

Dennoch behandelt Bezos seine ArbeiterInnen genauso wie die industriellen Raubritter des neunzehnten Jahrhunderts, Henry Ford, Andrew Carnegie, Rockefeller, mit teuren gewerkschaftsfeindlichen Firmen und AnwältInnen, die gegen Gewerkschaften vorgehen. Die ArbeiterInnen in Bessemer und in allen Amazon-Lagern und Logistik-Zentren haben lange Arbeitstage (zehn Stunden). Überstunden sind obligatorisch, und die Lohnabhängigen werden oft erst Stunden vor ihrem Beginn informiert, und sie enden oft zu unsozialen Zeiten, wenn der öffentliche Nahverkehr nach Hause knapp ist.

Hinzu kommen das schwere Heben, die Beschleunigung und die aggressive Kontrolle der MitarbeiterInnen, um die Zeit für das Mittagessen oder Toilettenpausen zu verkürzen. Krankenhausaufenthalte kommen häufiger als bei anderen Logistikunternehmen vor. Auch sind schon einige wegen fehlender Klimaanlagen ohnmächtig geworden. In der ersten Welle der Pandemie gab es auch einen weit verbreiteten Mangel an persönlicher Schutzausrüstung. Vor allem aber können die ArbeiterInnen aus jedem beliebigen Grund entlassen werden.

Die Löhne liegen mit 15,3 US-Dollar in der Regel über dem Durchschnitt der umliegenden Gebiete, aber unter den Tarifen in Lagerhäusern oder für AuslieferungsfahrerInnen. Infolgedessen fürchten die ArbeiterInnen in diesen Sektoren den Abwärtsdruck auf ihre Löhne durch die Ankunft von Amazon in ihrer Gegend.

Es überrascht nicht, dass Amazon, wie viele große US-Konzerne, sehr gewerkschaftsfeindlich ist – natürlich nicht nur in den USA. In den meisten Ländern gibt es überhaupt keine Organisierung der Beschäftigten. In den USA hat es wiederholt und illegal ArbeiterInnen wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten entlassen, wie Christian Smalls, der eine Arbeitsniederlegung im Lager des Unternehmens in Staten Island, New York, anführte. John Hopkins, ein Arbeiter im Werk des Unternehmens in San Leandro, Kalifornien, wurde entlassen, weil er am 1. Mai Flugblätter der Gewerkschaft über ihre Pläne für den Juneteenth, eine jährliche Feier zur Befreiung der SklavInnen, verteilt hatte. Jeff Bezos forderte seine ArbeiterInnen übrigens auf, diesen Tag zu ignorieren, weil die SklavInnen ja vor 150 Jahren befreit worden wären. Offensichtlich konnten seine LohnsklavInnen nicht einmal für einen Tag befreit werden.

David gegen Goliath

Diesem kapitalistischen Goliath steht ein moderner David gegenüber, nämlich die 2.000 der 5.800 ArbeiterInnen in Amazons BHM1 Auslieferungszentrum in Bessemer. Sie haben bereits Berechtigungskarten für den Gewerkschaftsbeitritt unterschrieben und von der Nationalen Behörde für Arbeitsverhältnisse das Recht auf eine Urabstimmung über die Anerkennung der Gewerkschaft erhalten, die am 30. März endete. Amazon hat alles getan, um diesen Prozess zu behindern, indem es die Beschäftigten zur Teilnahme an gewerkschaftsfeindlichen Versammlungen verpflichtete und versucht hat, die Briefwahl zu verhindern. Das Werk wurde mit gewerkschaftsfeindlichen Plakaten zugekleistert und das Unternehmen hat versucht, GewerkschaftsorganisatorInnen daran zu hindern, mit den Beschäftigten in Bussen zu sprechen, wenn diese zur Arbeit fahren.

Unterstützt werden die gewerkschaftsfreundlichen ArbeiterInnen im Werk von der Gewerkschaft des Einzel-, Großhandels und der Kaufhäuser (RWDSU; 60.000 Mitglieder landesweit im Jahr 2014) und vielen kommunalen AktivistInnen aus Bessemer, aus dem nahegelegenen Birmingham und Freiwilligen aus anderen Städten und Staaten.

Bessemer kann auf eine gute gewerkschaftliche und politische Tradition der ArbeiterInnenbewegung zurückblicken, die auf Stahl-, Eisenerz-, Kohle- und Textilstreiks und die Organisierung in den 1930er Jahren zurückgeht. Die Stadt war auch das Zentrum der kommunistischen Parteiorganisation unter den FarmpächterInnen. In den 1930er Jahren hatte die Partei dort über tausend Mitglieder. Aber dies wurde durch die massiven Schließungen dieser Industrien in den 1980er Jahren weitgehend beendet. Jetzt wird an dieses Vermächtnis wieder angekünpft.

Eine weitere bemerkenswerte Tradition, auf die zurückgeblickt werden kann, ist die Birmingham-Kampagne von Martin Luther King und der BürgerInnenrechtsbewegung im Jahr 1963. Die Belegschaft des Bessemer Auslieferungszentrums besteht zu 85 % aus AfroamerikanerInen, ebenso wie 70 % der BürgerInnen von Bessemer. Die RWDSU hat sich mit der „Black Lives Matter“-Bewegung verbunden. Der Präsident der Gewerkschaft, Stuart Appelbaum, sagte: „Wir sehen diese Kampagne sowohl als BürgerInnenrechtskampf als auch als Arbeitskampf.“

Globale Bedeutung

Es liegt auf der Hand, dass ein Sieg der gewerkschaftlichen Organisierung in Bessemer eine ermutigende Wirkung in den gesamten USA und darüber hinaus auf die Amazon-Beschäftigten in Spanien, Italien, Polen, dem Vereinigten Königreich und Japan zeitigen wird. Letztes Jahr gab es bereits Aktionen wegen der Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen in den europäischen Werken. Die Organisation der Unterstützung durch die Gemeinde in Bessemer wird sich auch ausbreiten und die rassistisch und geschlechtlich Unterdrückten sowie Jugendliche und StudentInnen mit einbeziehen können.

Amazons massiver Einsatz von Hightechsystemen, kombiniert mit seiner gewerkschaftsfeindlichen Politik, könnte in der gesamten sogenannten Gig-Economy (Klein- und Gelegenheitsauftragssektor) kopiert werden. Die ArbeiterInnen werden viel flexiblere und internationale Netzwerke für Solidarität entwickeln müssen. Alte Spaltungen zwischen den Gewerkschaften sowie gewerkschaftliche Rivalitäten und das bürokratische Abwürgen von Initiativen der einfachen ArbeiterInnen haben die Gewerkschaften daran gehindert, mit den Veränderungen in alten und neuen Industrien und Dienstleistungen Schritt zu halten. Wenn dies so weitergeht, könnte es sich als fatal für die neue Bewegung erweisen. Am Ende werden militante Aktionen und die schnelle Unterstützung durch andere ArbeiterInnen und ihre Gemeinschaften die entscheidende Kraft sein, die es den Davids, wie den Bessemer Amazon-ArbeiterInnen, ermöglicht, die Goliaths zu schlagen.

Politische Organisierung und Kampagne

Jenseits der individuellen Kämpfe um gewerkschaftliche Organisierung in den Betrieben und Unternehmen müssen die ArbeiterInnen auf die Arena der Politik schauen, nicht so sehr auf die vergeblichen Versuche, die zweite kapitalistische Partei des Landes, die Demokratische Partei (DP), dazu zu bringen, etwas für sie zu tun, nachdem sie jahrzehntelang die Beiträge der ArbeiterInnen für so gut wie nichts im Gegenzug eingesackt hat. Was für den Kampf um gewerkschaftliche Organisierung gilt, gilt übrigens auch für „Black Lives Matter“ und die Frauenbewegung.

DP-Senator Bernie Sanders und die Kongressabgeordnete Ilhan Omar haben einen Gesetzentwurf für den Kongress entworfen, der die MilliardärInnen dazu bringen würde, eine Steuer von 60 % auf die Zuwächse zu zahlen, die sie während der Pandemie eingestrichen haben. Elementare Steuergerechtigkeit, wie es scheint, denn es wurde berechnet, dass Jeff Bezos jedem/r Amazon-MitarbeiterIn 105.000 US-Dollar geben könnte und immer noch so reich wäre wie vor der Pandemie.

Natürlich werden sich die millionenschweren RepublikanerInnen und DemokratInnen im Kongress das nicht gefallen lassen. Sie haben sich gerade erst geweigert, Bidens Konjunkturpaket zur Anhebung des Mindeststundenlohns von 7,25 US-Dollar auf 15 US-Dollar zuzustimmen.

Das vorgeschlagene Organisationsrechtsschutzgesetz (PRO), das Millionen von Lohnabhängigen die Möglichkeit geben würde, sich gewerkschaftlich zu organisieren , könnte bald das gleiche Schicksal erleiden. Konservative DemokratInnen und RepublikanerInnen planen eine Verschleppungstaktik, um es zu verhindern, obwohl Biden einige Schlüsselelemente des Gesetzes verbal unterstützt.

Die Politik, die US-ArbeiterInnen brauchen, kann nicht von Wahlkampf und Wahlprioritäten ausgehen. Sie muss auf eine politische ArbeiterInnenbewegung orientieren, mit einer Partei, die als Teil ihrer Ziele den Kampf für Gesetze aufnimmt, die den ArbeiterInnen das Recht zugestehen, einer Gewerkschaft beizutreten, die Arbeit„geber“Innen hart bestrafen, wenn sie ArbeiterInnen entlassen, die für bessere Löhne und Bedingungen und gegen rassistische oder sexistische Diskriminierung organisieren oder streiken. Eine wiederbelebte Gewerkschaftsbewegung, die sich mit lokalen Gewerkschaftsräten, Sektionen der schnell wachsenden Demokratischen SozialistInnen Amerikas, den Kämpfe und Communities der Unterdrückten vernetzt, muss sich zum Ziel setzen, in den USA eine ArbeiterInnenpartei mit einem Programm für einen Übergang zum Sozialismus durch eine soziale Revolution aufzubauen.




Profitmacherei mit den Vakzinen: Impfstoffnationalismus bekämpfen!

Katharina Wagner, infomail 1142, 10. März 2021

„Es ist nicht richtig, dass jüngere, gesündere Erwachsene in reichen Ländern vor dem Gesundheitspersonal und älteren Menschen in ärmeren Ländern geimpft werden“.

Mit diesen Worten kritisierte Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im britischen Guardian die derzeitige Situation in Bezug auf den Zugang zu Impfstoffen gegen COVID-19 und bezeichnete sie als katastrophales, moralisches Versagen. Die Monopolisierung von Impfstoffen und die Kontrolle über deren Vergabe durch die großen, reichen Nationen und die Konzerne aus diesen Ländern kennzeichnen wesentlich die Lage bei der Bekämpfung des Virus. Der faktische Ausschluss von Milliarden Menschen von den Vakinzen spiegelt die hierarchische, ausbeuterische imperialistische Weltordnung wider – und setzt sie den gesundheitlichen und sozialen Folgen der Pandemie aus.

Ungleicher Zugang zu Impfstoffen

Dabei hatten mache imperialistische Institutionen wie z. B. die EU noch im Frühjahr 2020 verkündet, dass alle den gleichen, fairen Zugang zu den Impfstoffen erhalten sollten. Doch was kümmert die bürgerliche Politik ihr Geschwätz von gestern?

In der Tat haben sich die reichsten Industriestaaten große Teile des zur Verfügung stehenden Impfstoffes gesichert. Laut Informationen des Duke Global Health Innovation Centers (Stand 25. Januar 2021) übersteigen die Bestellmengen für Impfstoffe, welche sich reichere Länder frühzeitig durch Verträge sichern konnten, die jeweiligen Einwohnerzahlen um ein Vielfaches. So hat sich beispielsweise Kanada neun Impfdosen je EinwohnerIn gesichert, die EU liegt immerhin noch bei knapp vier Impfdosen pro EinwohnerIn. Für die ärmeren, halbkolonialen Länder dieser Welt bleibt nur ein kümmerlicher Rest übrig. Länder der afrikanischen Union oder Lateinamerikas konnten bislang nur Bestellungen in Höhe von je einer Impfdosis für rund die Hälfte ihrer Bevölkerung bestätigen.

Um dem etwas entgegenzusetzen, wurde im April 2020 die Initiative COVID-19 Vaccines Access (COVAX) durch Zusammenarbeit der europäischen Kommission, Frankreich und der WHO gegründet. Sie soll ärmeren Ländern einen faireren Zugang zu Impfstoffen ermöglichen und wird inzwischen von 2/3 aller Länder unterstützt, kauft den Impfstoff aber bei ausschließlich bei westlichen HerstellerInnen. So bekam Ghana mit seinen 30 Mio. EinwohnerInnen als erstes Land dieser Welt Mitte Februar die ersten 600.000 Impfdosen von Oxford-AstraZeneca, als nächstes sollte die Elfenbeinküste Impfdosen über COVAX erhalten (https://www.theguardian.com/society/2021/jan/18/who-just-25-covid-vaccine-doses-administered-in-low-income-countries).

Das Ziel dieser Initiative ist die Bereitstellung von 2 Milliarden Impfdosen bis Ende 2021. Die geförderten Länder sollen damit die Möglichkeit bekommen, langfristig sage und schreibe bis zu 20 % ihrer Bevölkerung zu impfen, bevorzugt ältere Menschen sowie Personal im Gesundheitswesen – natürlich nur unter der Voraussetzung, dass auch genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen. Kleine Erinnerung an dieser Stelle: Um das Virus überhaupt dauerhaft in Schach halten und die Pandemie überwinden zu können, wäre laut Robert Koch-Institut (RKI) eine Impfquote von 70 % erforderlich.

Tatsächlich wurden von den angepeilten 2 Milliarden Dosen bislang nur Verträge über eine Liefermenge von 1,1 Milliarden abgeschlossen, dies entspricht weniger als der Hälfte der Gesamtliefermenge für die USA, Europa und Großbritannien zusammen. Im Vergleich dazu sollen bis Ende 2021 in Deutschland alle BürgerInnen ein Impfangebot erhalten haben.

In den Verhandlungen mit halbkolonialen Ländern wie Argentinien oder Peru drücken Konzerne wie Pfizer außerdem günstige Konditionen durch, wie ein Beitrag „Pfizer – Held und Profiteur der Pandemie“ zeigt. Erstens bestehen sie darauf, dass sie für Folgekosten etwaiger Nebenwirkungen nicht in Haftung genommen werden können. Zweitens fordern sie wie etwa in den Verträgen mit Peru, dass sie für etwaige Zahlungsausfälle durch die Privatisierung von Staatseigentum entschädigt werden. Von Argentinien forderte der Konzern, der auch im Ölgeschäft tätig ist, außerdem, dass Umweltgesetze, die Fracking in den Gletscherregionen des Landes beschränken, aufgehoben werden. Obwohl der Pfizer-Impfstoff ursprünglich auch an der argentinischen Bevölkerung erprobt wurde, bezieht das Land bislang russischen.

So weit die Lage bezüglich der westlichen Mächte. Demgegenüber haben China, Russland und Indien unabhängig von der COVAX-Initiative bereits umfängliche Lieferungen an ärmere Länder gestartet und Millionen Dosen eigener Vakzinen wie „Sputnik V“ (Russland; eigentlich Gam-COVID-Vac) oder Cansino (China) exportiert. Verträge mit gut 80 Ländern laufen seitens Chinas, darunter auch europäischer wie zum Beispiel Ungarn. 53 Länder bekommen nach chinesischen Eigenangaben den Stoff gar als Spende.

Ursachen für Impfnationalismus

Die Ursachen für globalen Impfnationalismus sind vielfältig und liegen zum einen natürlich an der zu geringen Verfügbarkeit derzeitiger Impfstoffe gegen COVID-19. Neben den bereits viel diskutierten mRNA-Impfstoffen von Pfizer/BioNTech sowie Moderna sind weitere wie etwa der vektorbasierte Impfstoff von Oxford-AstraZeneca erhältlich. Derzeit sind 5 in verschiedenen Ländern/Regionen zugelassen, weitere werden in den nächsten Wochen/Monaten folgen. Doch auch wenn durch Kooperationen mit anderen Pharmafirmen Produktionskapazitäten stark ausgebaut werden konnten, reicht die derzeitige Produktionsmenge bei weitem nicht aus, um die erforderliche weltweite Impfquote von 70 % in absehbarer Zeit zu erreichen.

Eine Lösung zur mittelfristigen Vergrößerung der Produktionskapazitäten könnte die Vergabe von Herstellungslizenzen an andere Pharmafirmen sein. Dies wird allerdings sowohl von den bisherigen ImpfstoffproduzentInnen als auch von den jeweiligen Regierungen derzeit mit Verweis auf das Patentrecht abgelehnt, obwohl dies teilweise rein rechtlich sogar erzwingbar wäre. Das harmlos klingende Recht auf „geistiges Eigentum“ verhindert einen umfassenden Austausch von Wissen, welcher genutzt werden könnte, um weltweit zusätzliche Produktionsstätten für die Erzeugung von Impfstoffen aufzubauen und die verschiedenen Vakzinen zu optimieren. Die Kapitalinteressen von AnlegerInnen und InvestorInnen stehen vor gemeinschaftlichen Interessen wie dem Gesundheitsschutz.

Eine weitere, sehr entscheidende Ursache für Impfnationalismus liegt im privatwirtschaftlichen Charakter der ImpfstoffproduzentInen selbst. Reiche Länder, die es sich leisten können, mehr für Impfstoffe zu bezahlen, werden von den privatwirtschaftlichen Produktionsfirmen bei Bestellungen häufig bevorzugt. Israel beispielsweise bot dem Impfstoffproduzenten Pfizer/BioNTech an, im Verhältnis zur EU den doppelten Preis pro Impfdosis zu bezahlen. Ärmere Länder erhalten dagegen häufig nicht einmal die Möglichkeit für Direktbestellungen. So äußerte sich beispielsweise bereits Oxford-AstraZeneca dahingehend, dass eine direkte Belieferung von afrikanischen Staaten seitens des Herstellers derzeit nicht angedacht sei.

Des Weiteren spielen unterschiedliche Zulassungsregularien in den einzelnen Ländern eine nicht unerhebliche Rolle. In vielen Staaten wie beispielsweise Großbritannien können die ImpfstoffherstellerInnen für ihre Produkte eine sogenannte Notfallzulassung beantragen. Diese beinhaltet keinerlei Haftungsverpflichtungen bei später auftretenden Impfschäden und erfordert darüber hinaus weniger Daten, die im Vorfeld den Zulassungsbehörden zur Verfügung gestellt werden müssen. In vielen anderen Ländern oder Regionen ist dies rechtlich jedoch nicht vorgesehen. Diese Tatsache könnte eine wesentliche Rolle gespielt haben, als es Anfang des Jahres in der EU zu erheblichen Lieferengpässen bei Impfstoffen gekommen ist. Oxford-AstraZeneca hatte damals bekannt gegeben, die zugesicherte Liefermenge für die EU um mehr als 50 % reduzieren zu müssen, gleichzeitig aber Impfstoff nach Großbritannien exportiert. Als Folge dessen wurde nun ein Exportverbot für den Impfstoff von Oxford-AstraZeneca durch Italien ausgesprochen, da dieser teilweise dort abgefüllt wird.

Während imperialistische Staaten also in diesem Konkurrenzkampf zu Zwangsmaßnahmen durchaus fähig sind und zugleich vor allem die Profitinteressen „ihrer“ Pharmakonzerne schützen, verfügt die Masse der halbkolonialen Ländern über diese Möglichkeiten nicht.

Die Verteilung der Impfstoffe findet nicht unabhängig von der Weltlage statt. Dies zeigt sich nicht nur an ihrer Aufteilung zwischen imperialistischen und halbkolonialen Ländern. Vor allem das Vorpreschen von Russland, China und Indien muss als Versuch gesehen werden, ihre eigenen Machtansprüche und Einflusssphären in der Welt auszubauen. Umgekehrt verfolgt die Strategie der westlichen Staaten wie Deutschland oder Kanada das Ziel, die eigene Wirtschaft wieder umfänglich laufen lassen und auf dem Weltmarkt Konkurrenzvorteile erlangen zu können, wenn die eigene Bevölkerung durchgeimpft ist.

Impfnationalismus stoppen!

Impfstoffnationalismus konnte bereits im Jahre 2009 bezüglich der Erkrankung H1N1 (besser bekannt als Schweinegrippe) beobachtet werden. Schon damals wurden recht schnell hoch wirksame Impfstoffe entwickelt und der weltweite Vorrat in kurzer Zeit fast vollständig von den reicheren Industriestaaten aufgekauft. Zum Glück wurde das damalige Virus mit der Zeit weniger virulent und aufgrund erhöhter Produktionskapazitäten konnte der Impfstoff schon nach kurzer Zeit in die saisonale Grippeschutzimpfung integriert werden. Bei der jetzigen Pandemie kann davon derzeit aber leider aufgrund zahlreicher neuer Mutationen nicht ausgegangen werden.

Aufgrund globaler Vernetzung der wohlhabenden Volkswirtschaften mit diversen HandelspartnerInnen aus Ländern mit mittlerem oder niedrigem Einkommen drohen wirtschaftliche Folgen auch für reichere Industriestaaten. Bezüglich der nun herrschenden Pandemie warnt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) daher vor Einbußen von rund 7,58 Billionen Euro für die Weltwirtschaft, sollten Länder mit niedrigem Einkommen weiterhin bei der Verteilung von Impfstoffen benachteiligt werden.

Halbkoloniale Länder mit niedrigem Einkommen sind daher neben starken gesundheitlichen Gefahren für die gesamte Bevölkerung auch durch eine Zunahme von extremer Armut bedroht. Bei einer sehr hohen Virusmenge innerhalb einer Gesellschaft erhöht sich zudem die Gefahr für das Auftauchen neuartiger Mutationen, welche teilweise deutlich ansteckender und gefährlicher sein können. Häufig reagiert das Immunsystem auf solche Mutationen nicht wie auf das ursprüngliche Virus, was den Schutz durch bisherige Impfstoffe minimiert.

Impfnationalismus wie wie seine Begleiterscheinung Impfstoffimperialismus sind zwar extrem kurzsichtig, aber auch extrem profitabel für die Konzerne mit faktischer Monopolstellung auf dem Weltmarkt. Solange sie ihr Eigentum, ihre Patente und damit ihre marktbeherrschende Stellung behaupten können, verfügen sie über eine Quelle der Bereicherung, die ihnen über Jahre Milliardenprofite garantiert.

Die Pandemie stellt also in doppelter Hinsicht ein globales Phänomen dar – sowohl, was ihre Bekämpfung im Rahmen von Gesundheitsschutzes und sozialer Sicherheit der Massen als auch, was die Gesellschaftsordnung betrifft, in der Produktion und Handel mit Impfstoffen vor allem zur Bereicherung weniger dienen. Diese Probleme können nur international, als Teil des globalen Klassenkampfes gelöst werden. Daher halten wir folgende Forderungen für notwendig:

  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen statt Wettbewerb um den schnellsten Profit: In rund dreißig Jahren Forschung zu HIV haben wir gesehen, dass einerseits jede Firma versucht, ihre Forschung und Entwicklung geheim zu halten, deshalb wurde viel (auch öffentliches) Geld in parallele Forschung gesteckt. Deshalb muss die Forschung und Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln der Kontrolle von Privatfirmen, einzelnen Ländern oder Blöcken entrissen werden. Die Patente, die nur die Monopolprofite der Konzerne schützen, müssen aufgehoben werden, alle Untersuchungen und Ergebnisse müssen öffentlich im Netz verfügbar sein. Eine internationale Kommission, gewählt aus SpezialistInnen, soll die Forschungsteams in den verschiedenen Bereichen koordinieren.
  • Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und Offenlegung aller Forschungsergebnisse staatlicher wie privater Institute. Internationale Koordinierung der Impfstoffentwicklung sowie kostenloser Zugang zu sicheren Impfstoffen für alle Menschen weltweit.
  • Massiver Ausbau der Produktionskapazitäten für die Impfstoff- und Arzneimittelherstellung, bezahlt durch eine massive Besteuerung derer, die in der Pandemie noch reicher wurden.
  • Entschädigungslose (Wieder-) Verstaatlichung der privatisierten Teile des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, um die Ressourcen zu bündeln und unter demokratische Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen.
  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – die Kosten dafür müssen aus der Besteuerung von großen Vermögen sowie Gewinnen getragen werden.
  • Ausbau des Gesundheitswesens, Ankurbelung der Produktion von Mitteln zur Bekämpfung der Pandemie (Test-Kits, Desinfektionsmittel, Atemschutz, Impfstoffe … ), sachliche Information der Bevölkerung, Einstellung von medizinischem Personal und HelferInnen unter Kontrolle der Gewerkschaften und der Beschäftigten. Massiver Ausbau der Intensivmedizin.

Nur so kann es gelingen, eine weltweite Impfquote von über 70 % schnellstmöglich zu erreichen und die globale Pandemie effektiv zu bekämpfen.




Marxistische Imperialismustheorie: Bestandsaufnahme und Aktualisierung

Martin Suchanek, Revolutionäre Marxismus 53, November 2020

1. Einleitung

Der Begriff Imperialismus ist wieder modern geworden. Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus und der Restauration des Kapitalismus in den ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten [i], mit dem Beginn der Globalisierung und dem scheinbar endgültigen, wenn auch kurzlebigen Triumph der Bourgeoisie schien er in der Öffentlichkeit marginalisiert. Die Möchtegern-ChefideologInnen des Weltkapitalismus schwärmten vom „Ende der Geschichte“ [ii], proklamierten naiv wie seit über einem Jahrhundert nicht mehr den angeblich endgültigen Triumph der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft. Nicht nur die reformistischen Führungen der ArbeiterInnenbewegung passten sich dem Zeitgeist an, sondern auch die „radikale“ Linke stimmte teils zähneknirschend, teils euphorisch in den Kanon ein.

In dieser Periode des scheinbar endgültigen Triumphs des Kapitalismus wirkten auch alle Theorien überholt, die von den inneren Widersprüchen dieser Produktionsweise ausgehen, die darauf pochen, dass dieses System auf der Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse, der Aneignung der Reichtümer der sog. „Dritten Welt“ und der Natur beruht. Die bürgerliche Gesellschaft hätte in den Zeiten der kapitalistischen Globalisierung auch ihre inneren Krisen hinter sich gelassen, so jedenfalls die vorschnelle Hoffnung ihrer ApologetInnen bis hinein ins vormals linke Lager.

Der Sieg des Kapitalismus im Kalten Krieg manifestierte sich notwendigerweise auch als ideologischer. In den 1990er Jahren und am Beginn dieses Jahrhunderts schien also jede Theorie „veraltet“ und „überholt“, die von einer materialistischen Analyse des Kapitalismus als Klassengesellschaft und des Imperialismus als ökonomisch-politischer Ordnung ausging. Ihre Widerlegung bedurfte im journalistischen wie im bürgerlich-wissenschaftlichen Diskurs eigentlich keiner Argumente. Es reichte der Verweis auf die vordergründige „Macht des Faktischen“.

An die Stelle der Klassentheorie traten oft geradezu reaktionäre weltanschauliche und geistige Strömungen wie der Postmodernismus, die bis heute in der akademischen Welt, vor allem in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften eine dominierende Rolle spielen. Auch wenn sich diese Strömungen oftmals als „links“ präsentieren und die Überwindung des angeblich überholten Gegensatzes von bürgerlicher Wissenschaft und marxistischer Theorie proklamieren, stellen sie ideologisch eine Kapitulation dar, eine Regression zum subjektiven Idealismus und Irrationalismus. Die verschiedenen Spielarten des Postmodernismus eint letztlich, dass sie jeden Versuch, die Entwicklungsdynamik einer Gesellschaftsformation, deren innere Triebkräfte, Widersprüche und Gesetzmäßigkeiten zu entschlüsseln, als bloß subjektives „Narrativ“, also bloße gedankliche Konstruktion verwerfen. Allein dieser Anspruch einer objektiven Fundierung linker Politik wird als Form der „Unterwerfung“ der Menschen unter eine „Konstruktion“ und als „Herrschaftsanspruch“ denunziert. Damit verwirft der Postmodernismus zugleich jeden Versuch, die Entwicklungsdynamik von Geschichte und Gesellschaft zu entschlüsseln, die der Menschheit bisher als blinde, außerhalb ihrer Kontrolle liegende Macht entgegentraten. Nichts demonstriert den reaktionären, antiemanzipatorischen Charakter der neumodischen „kritischen“ bürgerlichen Antitheorie deutlicher als ihr vehementes Bestreiten auch nur der Möglichkeit, dass die Menschheit gesellschaftliche Beziehungen und ihr Verhältnis zur Natur bewusst gestalten könnte.

Aus der behaupteten Unmöglichkeit und Verwerflichkeit einer materialistischen Theorie der Gesellschaft folgt die kategorische Ablehnung jeder objektiven Fundierung revolutionärer und notwendigerweise auch jeder proletarischen Klassenpolitik. Wie kritisch sich die IdeologInnen postmoderner Theorie gegenüber den Normen und Sitten der bürgerlichen Gesellschaft, ja gegenüber dieser selbst wähnen mögen, steht doch der Marxismus (oder was sie dafür halten) im Mittelpunkt ihrer Kritik und Polemik. Dies ist kein Zufall. Die bürgerlichen Theorien der Gesellschaft und die Erkenntnistheorie haben längst den Anspruch auf eine rationale, historische Erklärung und Rechtfertigung der Geschichte sowie auf die Ausarbeitung einer wissenschaftlich fundierten, umfassenden Weltanschauung aufgegeben [iii]. Im Gegensatz dazu versucht der Marxismus, nicht nur die Gesellschaft, ihre inneren Widersprüche und damit auch ihre Historizität zu verstehen. Er begründet auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer rationalen, von den Menschen bewusst gestalteten Produktion und Reproduktion der Gesellschaft und des Verhältnisses von Mensch und Natur.

Die marxistische Kapitalismus- und Imperialismustheorie mündet daher notwendigerweise immer in einer Revolutionstheorie, untrennbar verbunden mit der Frage der Subjektbildung und der rationalen Neugestaltung der Gesellschaft auf Basis einer Planwirtschaft.

Wo der Imperialismusbegriff in den neuen postmodernen oder auch in den postkolonialen Theorien auftaucht, ist er seines Bezugs zur marxistischen Kapitalismustheorie, zum Klassenbegriff und auch zur Theorie Lenins und anderer RevolutionärInnen vollständig beraubt [iv].

Neben diesen direkt reaktionären Auffassungen brachte die Globalisierungsperiode jedoch auch Konzeptionen hervor, die bestimmte Aspekte der Entwicklung des globalen Kapitalismus hervorhoben und oft genug auch einseitig überbetonten. Dazu gehören zum Beispiel Werke wie Negris und Hardts „Empire“ [v] und dessen Behauptung, dass der Gegensatz von Empire und Multitude den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital abgelöst habe, dass an die Stelle des Imperialismus ersteres getreten sei[vi]. Die häufigen und heftigen Kriegszüge und Interventionen der Großmächte seit dem Beginn des Jahrtausends ließen die eklektische Theorie, die ihrerseits zahlreiche Anleihen beim Postmodernismus gemacht hatte, zunehmend empirisch fragwürdig erscheinen. Etliche ihrer Gedanken wirken jedoch bis heute nach. Einerseits schwingt die Konzeption der Multitude weiter in der postautonomen Theorie und Politik fort, andererseits knüpfen z. B. Postkapitalismustheorien wie jene von Paul Mason mehr oder minder offen an Hardt und Negri an – so z. B. mit der Vorstellung, dass der Mehrwert „unmessbar“ werde und aufgrund der enorm gestiegenen Arbeitsproduktivität verschwinde.

Schon im ersten Jahrzehnt der Globalisierungsperiode wurde dieser ideologische Schein mehr und mehr durch die reale Entwicklung desavouiert. Die historische Krise der Weltwirtschaft und der Globalisierung trat für alle, die sich noch einen Funken klaren Verstandes bewahrt hatten, spätestens seit 2008 immer deutlicher zutage. Ihre krisenhafte Eruption hatte sich schon lange davor vorbereitet.

Eine Folge dieser realen Entwicklung bestand und besteht darin, dass die Begriffe Kapitalismus und Imperialismus wieder ins öffentliche Bewusstsein rückten. Allein das weist schon darauf hin, dass der Mainstream der bürgerlichen Wissenschaft über kein begriffliches Instrumentarium verfügt, auch nur einigermaßen tief unter die Oberfläche der Erscheinungsformen des realen Wirtschaftslebens, des Weltmarktes und des darauf aufbauenden globalen politischen Systems zu dringen und die realen Bewegungsgesetze dieser Ordnung, ihre innere Dynamik zu fassen. Nicht nur der Neoliberalismus, alle anderen mehr oder weniger obskuren bürgerlichen sozialwissenschaftlichen Theorien des letzten halben Jahrhunderts haben sich bis auf die Knochen blamiert. Das offenbart – nebenbei bemerkt –, dass die bürgerliche Gesellschaftswissenschaft in der imperialistischen Epoche im Wesentlichen stagnierte oder regredierte, zu einer ideologischen Magd einer historisch überfälligen, reaktionär gewordenen imperialistischen Bourgeoisie verkam.

Die Krise manifestiert sich  nicht nur als eine ökonomische und politische. Sie begann auch, die Köpfe durchzurütteln. Begriffe wie Kapitalismus haben nun Konjunktur, insbesondere im linken Diskurs. Kaum eine Neuerscheinung auf dem Markt der Ideen, die nicht auch wieder vom Imperialismus spricht. Autoren wie David Harvey bemühen sich um den „neuen“ Imperialismus [vii]. In einer seiner letzten Arbeiten, „Konkurrenz für’s Empire“ [viii] , rekurriert Elmar Altvater, jahrzehntelang Ideengeber des akademischen Marxismus, auf den Imperialismusbegriff, dessen Bedeutung er und die Berliner Weltmarktschule lange relativiert hatten. Auch Joachim Bischoff, der den Lenin’schen Imperialismusbegriff eigentlich verwirft, kommt in seinem Buch „Die Herrschaft der Finanzmärkte“ nicht umhin, das Vordringen des Finanzkapitals zu konstatieren, auch wenn er dies für eine atypische Entwicklung des Kapitalismus hält [ix]. Die Zeitschrift Prokla widmet mehrere Schwerpunkte der Imperialismustheorie und neueren Entwicklungen [x]. Die indischen AutorInnen Patnaik [xi] versuchen eine alternative Fundierung der Imperialismustheorie. Bei zentristischen, also zwischen Reformismus und revolutionärem Marxismus schwankenden Strömungen und TheoretikerInnen finden wir eine Hinwendung und verstärkte Rezeption der Imperialismustheorie, auch wenn sie zentrale Erkenntnisse der Lenin’schen Theorie ablehnen, insbesondere die Konzeption der ArbeiterInnenaristokratie.

In diesem Artikel können wir die verschiedenen Ansätze keiner detaillierten Kritik unterziehen, das wird weiteren Arbeiten vorbehalten sein. An dieser Stelle geht es uns vielmehr darum aufzuzeigen, dass der zunehmende Rekurs auf den Begriff Imperialismus – einschließlich der Debatten zu seiner theoretischen Fundierung – die Realität einer globalen Krise ausdrückt.

Deren umfassender Charakter drängt geradezu zur Bezugnahme auf eine Theorie, die die Totalität der internationalen Entwicklung, ja, auch des Mensch-Natur-Verhältnisses zu fassen vermag. Die Hinwendung oder wenigstens Reflexion auf die Marx’sche Kapitalismuskritik und auf die Imperialismustheorie stellt daher keine zufällige Entwicklung dar, sondern liegt schlichtweg daran, dass diese überhaupt das Problem auf eine umfassende Art zu erklären versuchen. Eine der wenigen linksbürgerlichen ökonomischen Theorien, auf die daher in Krisenperioden auch verstärkt rekurriert wird, stellt  der Keynesianismus dar, gerade weil er die Krisenhaftigkeit der Marktwirtschaft anerkennt und nach einer makroökonomischen und gesamtgesellschaftlichen, wenn auch bürgerlichen Antkrisenpolitik sucht.

Nur die Marx’sche Analyse des Kapitals und seiner Bewegungsgesetze ermöglicht jedoch ein tiefgehendes und radikales Verständnis der aktuellen Krise, ihrer Erscheinungsformen wie ihrer tieferen Ursachen. Eine materialistische Theorie muss versuchen, den Begriff des Imperialismus, die Besonderheiten dieser Epoche sowie einzelne Entwicklungsstadien oder Perioden innerhalb dieser Formation aus den Begriffen der Marx’schen Kapitalanalyse herzuleiten und zu erklären.

Diesen Anspruch versuchten so unterschiedliche AutorInnen wie Lenin, Luxemburg, Hilferding, Bucharin, Trotzki – um nur einige zentrale zu nennen – einzulösen. Im folgenden Text werden wir sie einer kurzen kritischen Würdigung unterziehen. Im Zentrum des Interesses steht jedoch die Theorie Lenins, weil sie die Gesamtheit des Imperialismus am besten zu fassen vermag. Ihr entscheidender Vorzug besteht gerade darin, dass Lenin den Imperialismus nicht bloß als ökonomisches und schon gar nicht als rein politisches Phänomen verstand, sondern als politisch-ökonomische Totalität, als Entwicklungsstadium einer Gesellschaftsformation.

Die Stärke seiner Theorie besteht, wie wir sehen werden, darüber hinaus darin, dass er den Imperialismus als globales Verhältnis begriff, also von der Realität eines Weltmarktzusammenhangs und einer darauf basierenden Weltordnung, eines globalen Systems, ausging. Dies bildet im Übrigen auch eine Schnittstelle zu der Theorie der permanenten Revolution Leo Trotzkis, gewissermaßen das Alter Ego von Lenins Theorie.

Eine an Lenin und Trotzki anknüpfende Imperialismustheorie erlaubt bei aller Kritik im Einzelnen, die gegenwärtige Periode im Rahmen der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu verstehen. Nur die darauf basierenden programmatischen und politischen Schlussfolgerungen und die darin verkörperte Methode, wie sie von Marx und Engels grundgelegt und später im Kampf der internationalistischen Linken der Zweiten Internationale, vom Bolschewismus, von der Dritten Internationale unter Lenin und Trotzki, dem Kampf der ILO und der frühen Vierten Internationale entwickelt wurden, liefern eine Grundlage für die politische Bewaffnung, das unverzichtbare Werkzeug der Führung der kommenden Revolution, einer neuen, Fünften Internationale, deren Aufbau die große Aufgabe unserer Zeit ist.

Wenn wir von der historischen Bestätigung des Marxismus sprechen, so heißt das natürlich nicht, dass wir es mit einer Sammlung überhistorischer Wahrheiten, einer abgeschlossenen Wissenschaft zu tun hätten, die nur wie ein Tableau über aktuelle Ereignisse gestülpt werden müsse, um dann das „richtige“ Ergebnis zu erhalten. Wie wir weiter unten zeigen werden, war die Lenin’sche Imperialismustheorie allen anderen Theorien auch in der II. und III. Internationale aufgrund ihres Epochenbegriffs zwar qualitativ überlegen, keineswegs jedoch frei von eigenen begrifflichen Schwächen. Noch weniger konnte sie natürlich alle weiteren Entwicklungen einfach „vorwegnehmen“.

Dass die Imperialismustheorie seit den 1920er Jahren trotz einiger Versuche wenig weiterentwickelt wurde, dass wir bis heute – und sei es auch noch so „kritisch“ – auf die AutorInnen des Beginns des 20. Jahrhunderts mehr als auf andere rekurrieren, bedarf einer Erklärung. Die Degeneration der ArbeiterInnenbewegung, die Verbürgerlichung der Sozialdemokratie, die Bürokratisierung der Sowjetunion und das Verkommen dieses „Marxismus“ zu einer Herrschaftsideologie der Staatsbürokratie und ihrer Gefolgsleute in Ost und West stellen dafür eine zentrale Ursache dar. Die revolutionäre Minderheit der ArbeiterInnenbewegung, die sich in den 1930er Jahren und 1940er Jahren um den Aufbau einer neuen, revolutionären Vierten Internationale und die Verteidigung des kommunistischen Programms formierte, blieb marginalisiert und versackte selbst in Opportunismus und/oder SektiererInnentum.

Dies hatte unvermeidlich auch theoretische Konsequenzen. Die Weiterentwicklung der Lenin’schen Theorie blieb auf der Strecke. Sie wurde wie z. B. in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus vereinseitigt, entstellt und zur Begründung klassenübergreifender Bündnisse wie der antimonopolistischen Demokratie missbraucht. Andere AutorInnen wie z. B. Mandel in seiner Theorie des „Spätkapitalismus“ knüpften zwar an Lenins Theorie an, aber ihr Versuch, die Entwicklung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären, enthielt wichtige Revisionen des Marxismus (z. B. eine eklektische Krisentheorie oder Zugeständnisse an die Theorie der langen Wellen) und oft genug ein eklektisches Nebeneinander. Nichtsdestotrotz bilden Arbeiten wie jene von Mandel einen Referenzpunkt bis heute, weil er sich als einer der wenigen überhaupt die Aufgabe stellte, eine umfassende Theorie der Entwicklung des Kapitalismus bis in die 1980er und 1990er Jahre auszuarbeiten.

Zweifellos lassen sich auch in den Arbeiten anderer AutorInnen wichtige Elemente finden, an denen es anzuknüpfen gilt. Besonders hervorgehoben seien an dieser Stelle nur Henryk Grossmann [xii], Paul Mattick [xiii] und Roman Rosdolsky [xiv].

Insgesamt zeichnet die Entwicklung der marxistischen Theorie nach 1945 jedoch aus, dass Imperialismus- und Krisentheorie weitgehend voneinander getrennte Wege gehen, dass viele, die an der Marx’schen Krisentheorie festhalten, keinen Bezug zur Imperialismustheorie herstellten oder herstellen wollten. Umgekehrt verwerfen zahlreiche nach 1945 entwickelte Imperialismustheorien die von Marx entwickelten grundlegenden Gesetzmäßigkeiten, die die Krisen im Kapitalismus erklären, insbesondere das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate.

Schließlich mutierte die Imperialismustheorie bei etlichen „marxistischen“ und linksradikalen Strömungen und Gruppierungen von einer Theorie der Analyse der konkreten Situation zu einer rein formellen Selbstvergewisserung, als ob die wesentliche Leistung einer revolutionären Theorie einzig darin bestünde, den „Charakter“ einer bestimmten Entwicklungsphase zu bestimmen. Wir wollen das Problem im folgenden Absatz verdeutlichen.

So ist es zweifellos richtig, „die Globalisierung“ als einen Abschnitt der imperialistischen Epoche zu charakterisieren, in dem die Wesensmerkmale des Imperialismus hervortreten. Ich habe damit aber noch gar nichts ausgesagt, was diese Periode von anderen, in ihrer Erscheinungsform sehr verschiedenen Abschnitten der Epoche unterscheidet. Ich habe daher auch gar nichts ausgesagt darüber, welche Formen des Klassenkampfes, welche politischen und sozialen Fragen im Vordergrund stehen, geschweige denn über die spezifische Entwicklungsdynamik innerhalb der Periode, das Zusammenwirken von Politik und Ökonomie, von Basis und Überbau, über die konkrete Verlaufsform der Zuspitzung der Widersprüche. Vor allem habe ich damit gar nichts ausgesagt über die Programmatik, über Strategie und Taktik. Das Ganze wird vielmehr zu einer mehr oder weniger dürren und sterilen „allgemeinen Wahrheit“ – die auch äußerst begrenzt ist, weil sie über die konkrete Lage keine konkrete Aussage zu treffen vermag, weil sie eben nicht hilft, eine konkrete Situation genauer zu verstehen und somit zielgerichteter zu handeln. Eine solche Herangehensweise verurteilt also nicht nur zu Sterilität gegenüber der aktuellen Periode oder Situation. Sie macht letztlich auch den Epochenbegriff oder den Begriff des Imperialismus (oder, wenn dieselbe Herangehensweise verwendet wird, auch jenen des Kapitalismus) zu einer schalen Angelegenheit. Dies insbesondere, weil so auch nicht geklärt wird, warum sich der Imperialismus als historische Epoche in so unterschiedlichen Formen präsentieren kann, welche Faktoren nicht nur die Entwicklung innerhalb einer Periode bestimmen, sondern auch, welche ihre krisenhaften Übergänge determinieren.

Wir haben uns mit diesem Punkt so lange aufgehalten, weil die Bestimmung des Verhältnisses von Epoche zu längeren und kürzeren Perioden der Entwicklung, zu den zyklischen Bewegungen der Kapitalakkumulation einen zentralen Problempunkt bildete, um den die Debatten über die Imperialismus- und Krisentheorie nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Zusammenbruch und Degeneration der Vierten Internationale kreisten.

2. Kapitalismus als historische Gesellschaftsformation

Wie alle MarxistInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte auch Lenin, den Imperialismusbegriff aus den Kategorien der Marx’schen Kapital- und Gesellschaftstheorie herzuleiten. Die Überlegenheit seiner Auffassung lässt sich nur schwer verstehen, wenn wir nicht auf letztere eingehen. So wird auch verständlich, worin eigentlich die Schwächen konkurrierender Theorien z. B. jener Hilferdings, Luxemburgs oder Bucharins liegen. Bevor wir uns mit den Konzeptionen des linken Flügels der II. Internationale und der frühen III. Internationale beschäftigen, müssen wir jedoch auf für unsere Darlegung wesentliche Besonderheiten und Schlussfolgerungen der Marx’schen Theorie zu sprechen kommen.

Im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ (1859) gibt Marx einen kurzen und bekanntgewordenen Abriss über das Verhältnis von ökonomischer Basis einer Gesellschaft zu ihrem politischen, ideologischen, geistigen, staatlichen etc. Überbau.

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. (…)

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. (…)

Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ [xv]

Für unsere weitere Betrachtung der Imperialismustheorie entscheidend ist, dass Marx eine historische Gesellschaftsformation als Einheit von ökonomischer Basis und dem entsprechenden politischen und ideologischen, ideellen usw. Überbau betrachtet.

Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bestimmen die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, ganz so wie die feudalen die Feudalgesellschaft oder die Kaufsklaverei die Antike. Marx verweist darauf, dass die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse die ökonomische Basis der Gesellschaft bildet. So existieren z. B. im Kapitalismus neben den kapitalistischen noch weitere Formen. Je mehr die dominante Produktionsweise expandiert, jeden Winkel der Erde erreicht, jede chinesische Mauer überwindet, den Weltmarkt weiterentwickelt, je mehr die Unterordnung der Lohnarbeit unter das Kapital voranschreitet, werden andere Produktionsverhältnisse entweder aufgelöst und zerstört oder mehr und mehr der kapitalistischen untergeordnet, dieser funktional einverleibt. Hinsichtlich bestimmter Produktionsformen lassen sich beide Phänomene beobachten, z. B. beim Kleineigentum an Produktionsmitteln und damit der Reproduktion des KleinbürgerInnentums als auch bei der privaten Hausarbeit.

In bestimmten Phasen der Entwicklung entstehen sogar Formen vorhergehender Ausbeutungsverhältnisse neu. So war z. B. die Sklaverei in den Amerikas ein Resultat und Mittel der kapitalistischen Durchdringung und Expansion, wobei sich diese grundlegend von der antiken unterscheidet, weil sie immer schon auf den kapitalistischen Weltmarkt bezogen war, ja ein entscheidendes Mittel zu dessen Herstellung. Daher bezeichnet Marx den/die SklavInnen ausbeutende/n PlantagenbesitzerIn auch zu Recht als KapitalistIn. „Daß wir jetzt die Plantagenbesitzer in Amerika nicht nur Kapitalisten nennen, sondern daß sie es sind, beruht darauf, daß sie als Anomalien innerhalb eines auf der freien Arbeit beruhenden Weltmarkts existieren.“ [xvi] Ebenso entstehen feudale Formen der Ausbeutung in Indien erst als direkte Folge des Kolonialismus und der Integration in das britische Welt- und Handelsimperium.

Schließlich bildet die private Hausarbeit der LohnarbeiterInnen eine, dem Kapitalverhältnis untergeordnete und von diesem bestimmte Produktionsweise, die zwar Ähnlichkeiten mit der Subsistenzproduktion aufweist, sich von dieser jedoch grundlegend unterscheidet. Sie ist nämlich – ähnlich der Sklaverei in den Amerikas – fest in die Welt der Warenproduktion und des Warentausches eingebunden, weil die LohnarbeiterInnen ihre Lebensmittel, ihre Wohnung … als Waren kaufen und dazu ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.

Für Marx bedeutet die ökonomische Struktur also keineswegs die Existenz nur einer Produktionsweise. Entscheidend ist vielmehr, dass in den jeweiligen historischen Gesellschaftsformationen eine bestimmte Produktionsweise die gesamte ökonomische Struktur der Gesellschaft bestimmt. Große historische Umbrüche stellen auch dieses Verhältnis in Frage. So entwickelt sich die kapitalistische Produktionsweise schon in der Übergangsepoche der Neuzeit und drängt die feudale immer mehr zurück. Politisch entspricht dem der Absolutismus als Übergangsregime. Die bürgerliche Revolution kann sich also auf die Herausbildung wesentlicher Elemente einer ihr entsprechenden Produktionsweise schon vor ihrem Sieg stützen, die ökonomische Vorherrschaft der Bourgeoise beginnt sich bereits mehr und mehr zu entwickeln, bevor sie die politische endgültig erringt.

Für die proletarische Revolution ist das unmöglich, weil sich keine sozialistische Produktionsweise im Kapitalismus entwickelt, ja nicht entwickeln kann. Wohl aber bilden sich die Voraussetzungen für eine bewusste, rationale, globale Planung. Um dies zu erreichen, muss aber das Proletariat zuerst die politische Macht erobern.

Darum ist auch die Kapitalismustheorie, die Analyse des antagonistischen Charakters der Produktionsweise für Marx und Engels so eng mit der Revolutionstheorie verflochten. Für sie besteht der ganze Zweck der Kritik der politischen Ökonomie schließlich darin, die Bedingungen, die Notwendigkeit und das Programm der proletarischen Machtergreifung wissenschaftlich zu unterfüttern.

Wenn wir – wie alle MarxistInnen – von Imperialismus sprechen, so meinen wir eine bestimmten Epoche der kapitalistischen Entwicklung, genauer der Entwicklung der kapitalistischen oder bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Der Imperialismus wird bestimmt als Epoche des Übergangs und Niedergangs des Kapitalismus und zwar in einem spezifischen Sinn. Die Produktionsverhältnisse sind zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte, der Entwicklung der Gesellschaft geworden. Der Kapitalismus hat aufgehört, eine fortschrittliche Produktionsweise zu sein und zwar in den beiden Bestimmungen:

1. Die Zerstörung vorkapitalistischer Produktionsweisen und sich darauf erhebender politischer Formen ist im globalen Maßstab vollzogen. Wo sie fortbestehen, existieren sie entweder weiter als in den Weltmarkt eingebettete, funktionale Formen oder als Marginalien.

2. Die Bildung der zentralen Voraussetzungen für eine globale, bewusst gelenkte Produktionsweise – große Industrie und ArbeiterInnenklasse – ist auf globaler Ebene erfolgt.

Keineswegs darf diese Bestimmung damit verwechselt werden, dass in der imperialistischen Epoche die Produktivkräfte dauerhaft stagnieren würden oder überhaupt dauerhaft stagnierten könnten. Diese, oft katastrophistisch konnotierten Interpretationen finden sich teilweise im Stalinismus der Dritten Periode, teilweise im zentristischen Nachkriegstrotzkismus. Sie gehen davon aus, dass die Stagnation der Produktivkräfte Voraussetzung für den revolutionären Charakter einer bestimmten Epoche oder Geschichtsperiode wäre.

Geht man nämlich einmal davon aus, dass die Möglichkeit der proletarischen Revolution von der Stagnation der Produktivkräfte abhängt, so muss diese geradezu ständig „bewiesen“ werden, will man nicht gegen den eigenen revolutionären Willen zum Utopismus abgleiten. Dann muss – was jeder revolutionären Theorie schlecht zu Gesicht steht – die reale Entwicklung umgedeutet werden. Die gigantische Entwicklung der Produktivkräfte seit 1945 wird geleugnet und zur „Entwicklung“ von „Destruktivkräften“ umbenannt. Dass damit nichts gewonnen ist, liegt auf der Hand.

Methodisch betrachtet wurde ein dialektisches Widerspruchsverhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf die Betrachtung einer Seite reduziert. Für die kapitalistische Produktionsweise ist es jedoch gerade kennzeichnend, dass sie die Produktivkräfte ständig, wenn auch auf Kosten von ArbeiterInnen und Natur (insofern natürlich destruktiv!) umwälzen muss. Die Umwälzung erfolgt notwendig krisenhaft, gelingt, historisch betrachtet, immer schwieriger und geht daher tendenziell mit immer größeren gesellschaftlichen Konflikten einher.

Der Begriff der Gesellschaftsformation inkludiert darüber hinaus neben den Produktionsverhältnissen auch den gesamten Überbau – und somit auch das Verhältnis zwischen allen Klassen, sowie die staatlichen und internationalen Verhältnisse.

Gesellschaftsformation und Staat

Marx und Engels verwiesen in ihren Untersuchungen und Analysen von Staats- und Herrschaftsformen, Ideologien usw. immer wieder darauf, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der verschiedenen Nationalökonomien, deren historisch bedingte Unterschiede, ihre verschiedenartige Integration in den Weltmarktzusammenhang usw. eine enorme Formenvielfalt und Kombinationen des staatlichen, ideellen, institutionellen und gesellschaftlichen Überbaus hervorbringen.

So entfaltete sich die kapitalistische Produktionsweise über einen langwierigen und blutigen Prozess des Klassenkampfes bekanntlich zuerst in England. Die epochemachende, weltgeschichtliche Umwälzung vollzieht sich jedoch im ökonomisch eigentlich rückständigeren Frankreich – ein früheres Beispiel für das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung. Andererseits bildet Deutschland, das Land der gescheiterten Revolutionen, ein Musterbeispiel für die Umwälzung der Produktionsweise durch eine Klassenallianz von aufstrebendem Großkapital und Aristokratie. Bonapartismus und Verpreußung bilden die entsprechende staatliche und ideologische Überbauform. Der US-amerikanische Kapitalismus hingegen brauchte weder feudale Überreste hinwegzufegen, noch bedurfte es eines Kompromisses mit tradierten herrschenden Klassen und Herrschaftsformen. Die bürgerliche Gesellschaft entwickelte sich ohne Rücksichtnahme auf diese, zugleich jedoch auf Basis von Sklaverei, Vertreibung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung.

Unbeschadet dieser enormen Unterschiede des gesellschaftlichen Lebens, der Öffentlichkeit wie der gesamten ideologischen Sphäre können, wie Marx und Engels immer wieder hervorheben, diese berechtigterweise als bürgerliche Staaten und Gesellschaften charakterisiert und begriffen werden, weil sie auf derselben ökonomischen Grundlage, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhen.

„Und nun gar der wüste Mißbrauch, den das Programm mit den Worten ‚heutiger Staat’, ‚heutige Gesellschaft’ treibt, und den noch wüsteren Mißverstand, den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet!

Die ‚heutige Gesellschaft’ ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern existiert, mehr oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weniger durch die besondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der ‚heutige Staat’ wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein andrer im preußisch-deutschen Reich als in der Schweiz, ein andrer in England als in den Vereinigten Staaten. ‚Der heutige Staat’ ist also eine Fiktion.

Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von ‚heutigem Staatswesen’ sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist.“ [xvii]

Die Institutionen des Überbaus dienen nicht nur der gewaltsamen wie auch ideologischen, über bürgerliche Medien, Wissenschaft und Öffentlichkeit vermittelte Sicherung der Herrschaft des Kapitals. Der Staat muss auch als Garant der Reproduktion des Kapitalverhältnisses, als Sachwalter des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, als ideeller Gesamtkapitalist fungieren.

Um diese Rolle erfüllen zu können, muss er als über den Klassen und einzelnen Kapitalfraktionen stehend erscheinen, als Sachwalter des gesellschaftlich Allgemeinen. Schon bei Betrachtung der Oberflächenerscheinungen der Gesellschaft – z. B. empirisch der Resultate staatlicher Entscheidungen, Gesetze und auch des konkreten Handelns von Gerichten, Behörden, Polizei und anderen ehrwürdigen Institutionen – wird rasch klar, dass  die Ideologie der Gleichheit, die die kapitalistische Warenproduktion notwendigerweise erzeugt und reproduziert und als deren Sachwalter der Staat erscheint, mit der Reproduktion und Verstärkung der reellen Ungleichheit einhergeht, wenn auch in einer durchaus elastischen Form.

Das liegt einerseits an den Kämpfen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten, die progressive Reformen und eine Ausdehnung demokratischer Rechte erzwingen können, freilich ohne dass dabei die klassenspezifische Substanz des Staatsapparates berührt wird. Nicht zuletzt durch diesen Druck erweist sich der bürgerliche Staat als  überaus wandlungs- und anpassungsfähig, wenn es darum geht, solche erzwungenen Reformen in das Gesamtsystems zu integrieren und seine Herrschaftsform zu modifizieren. Fast alle bedeutenden gesetzlichen und sozialen Reformen gingen aus sozialen und politischen Konflikten hervor, einschließlich von revolutionären Kämpfen oder BürgerInnenkriegen. Rosa Luxemburg bringt diese Dialektik von Reform und Revolution als eine der Ersten auf den Punkt, wenn sie die gesetzliche Reform als Nebenprodukt, als Resultat des revolutionären Klassenkampfes bestimmt. [xviii]

Die Tatsache, dass solche Reformen durchsetzbar sind, verweist nicht nur darauf, dass der Kampf um Verbesserungen ein notwendiges, wenn auch beschränktes Moment des Klassenkampfes darstellt. Diese Form der Veränderung bildet – ganz ähnlich wie der erfolgreiche gewerkschaftliche Kampf um Verbesserungen – zugleich auch eine Wurzel von Illusionen in die Reformierbarkeit des Gesamtsystems. Die relativ elastische demokratische Herrschaftsform des Kapitals erweist sich als Mittel zur Integration vor allem der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums, aber auch der ArbeiterInnenklasse oder jedenfalls ihrer privilegierteren Schichten ins politische und institutionelle System. Wie Marx und Engels immer wieder verdeutlichen, ändert das jedoch nichts am Klassencharakter des Staates. Auch die demokratischste Republik bleibt eine Form der demokratisch verhüllten Diktatur des Kapitals.

Gerade dass in der demokratischen Republik Unterschiede des Besitzes und des Reichtums offiziell keine Ungleichheit ausmachen sollen und LohnarbeiterInnen und KapitalbesitzerInnen als gleich erscheinen, erweitert die Möglichkeiten zur Integration von Ausgebeuteten und Unterdrückten. So wie das Lohnarbeitsverhältnis selbst eine gewisse „Elastizität“ aufweist, so fließt in die Ausgestaltung des bürgerlichen Staates immer auch ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis ein, das seinerseits auch die Vorstellung von dessen scheinbarer Klassenneutralität verstärkt. Damit hängt außerdem zusammen, dass der Staat selbst die allgemeinen Reproduktionsbedingungen des Gesamtkapitals sichern muss, und zwar auch gegen widerstreitende Teile der herrschenden Klasse. Weil sich die Hauptklassen der Gesellschaft aus freien, formell gleichen Individuen, aus WarenbesitzerInnen zusammensetzen, deren Mitglieder selbst in einem Konkurrenzverhältnis stehen (wenn auch in einem für die Klasse der KapitalistInnen und der LohnarbeiterInnen jeweils spezifischen), so muss der Staat notwendigerweise als scheinbar über den Klassen erscheinen.

Ideeller Gesamtkapitalist

Damit der Staat als ideeller Gesamtkapitalist agieren kann, muss er bis zu einem gewissen Grad auch unterschieden sein von der KapitalistInnenklasse oder selbst von deren dominierenden Fraktionen. Mandel führt dies in der Einleitung zu Trotzkis „Schriften über Deutschland“ [xix] recht plastisch anhand der Politik des New Deal aus:

„Die artikulierte Mehrheit der amerikanischen Großbürger schrie Zeter und Mordio über Roosevelts ,New Deal’; sogar Trumans ‚Fair Deal’ wurde mit nicht wenig Geschrei über ‚schleichenden Sozialismus’ beantwortet. Aber kein objektiver Beobachter der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft der letzten 35 Jahre könnte heute bestreiten, daß sich in dieser Epoche die Akkumulation des Kapitals erweitert und nicht eingeschränkt hat; daß die amerikanischen Großkonzerne unvergleichbar reicher und mächtiger geworden sind, als sie in den zwanziger Jahren waren; daß die Bereitschaft anderer Gesellschaftsklassen – hauptsächlich der Industriearbeiterschaft – die Herrschaft dieser Konzerne unmittelbar gesellschaftlich und politisch in Frage zu stellen, geringer geworden ist, als sie während und sofort nach der großen Wirtschaftskrise war.“ [xx]

Ob der New Deal dem Interesse des US-amerikanischen Gesamtkapitals entspricht, zeigt sich nicht daran, ob alle oder selbst die Mehrheit der Konzerne diesem von Beginn an zustimmt. Im Gegenteil. Da das Kapital als konkurrierende Einzelkapitale in Erscheinung treten muss, erfordert die Herausbildung eines Gesamtinteresses der Klasse einen politischen, staatlichen Vermittlungsprozess, der notfalls auch gegen die unmittelbaren Einzelinteressen durchgesetzt werden muss.

Internationaler Charakter

Abschließend müssen wir beim Marx’schen Begriff der bürgerlichen Gesellschaftsformation darauf eingehen, dass diese (auch im Unterschied zu vorhergehenden) immer schon als globale betrachtet und gedacht werden muss. Dieser Gedanke wird bereits im Kommunistischen Manifest betont, wo Marx und Engels darauf verweisen, dass eine Besonderheit des Kapitalismus und dessen historisch fortschrittliche Mission gerade darin bestehen, dass sich die Bourgeoisie im Unterschied zu vorhergehenden herrschenden Klassen revolutionär gegenüber vorkapitalistischen Produktionsweisen verhält. Es gehört zum Wesen des Kapitals, diese zurückzudrängen, zu zerstören. Es drängt zur globalen Expansion, nistet sich ein, überwindet chinesische Mauern.

„Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.“ [xxi]

In den Grundrissen legt Marx dar, dass der Weltmarkt im Begriff des Kapitals eingeschrieben ist, von diesem vorausgesetzt und geschaffen wird. „Wie das Kapital daher einerseits die Tendenz hat, stets mehr Surplusarbeit zu schaffen, so die ergänzende, mehr Austauschpunkte zu schaffen; d. h. hier vom Standpunkt des absoluten Mehrwerts oder Surplusarbeit aus, mehr Surplusarbeit als Ergänzung zu sich selbst hervorzurufen, au fond (im Grunde) die auf dem Kapital basierte Produktion oder die ihm entsprechende Produktionsweise zu propagieren. Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben.“ [xxii]

Die Tendenz zur Schaffung des Weltmarktes, das „propagandistische“ Wirken des Kapitals prägt seine Entwicklung von Beginn an. Die koloniale Expansion, die „Entdeckung“ Lateinamerikas und von dessen Reichtümern verleiht der Ausbreitung des Kapitalismus in England einen mächtigen Impuls, der durch die bloß innere Akkumulation viel langsamer und langwieriger erfolgt wäre. Im Unterkapitel „Genesis des industriellen Kapitalisten“, Teil der Abhandlung über die sog. ursprüngliche Akkumulation im Ersten Band des „Kapital“, verweist Marx darauf, dass sich die Genesis der/s industriellen KapitalistIn in einem engen Zusammenhang mit dem Weltmarkt vollzog:

„Die Genesis des industriellen Kapitalisten ging nicht in derselben allmählichen Weise vor wie die des Pächters. Zweifelsohne verwandelten sich manche kleine Zunftmeister und noch mehr selbständige kleine Handwerker oder auch Lohnarbeiter in kleine Kapitalisten und durch allmählich ausgedehntere Exploitation von Lohnarbeit und entsprechende Akkumulation in Kapitalisten sans phrase (schlechthin). In der Kindheitsperiode der kapitalistischen Produktion ging’s vielfach zu wie in der Kindheitsperiode des mittelaltrigen Städtewesens, wo die Frage, wer von den entlaufnen Leibeignen soll Meister sein und wer Diener, großenteils durch das frühere oder spätere Datum ihrer Flucht entschieden wurde. Indes entsprach der Schneckengang dieser Methode in keiner Weise den Handelsbedürfnissen des neuen Weltmarkts, welchen die großen Entdeckungen Ende des 15. Jahrhunderts geschaffen hatten.“ [xxiii]

Vielmehr erlaubt die koloniale Plünderung, also die Herausbildung eines Weltmarktes – vermittelt über die Entwicklung des Wucher- und Handelskapitals – eine extreme Beschleunigung der Akkumulation der Industrie, die Schaffung der eigentlichen kapitalistischen Produktionsweise in jenen Ländern wie England, wo die feudalen Verhältnisse auf dem Land bereits aufgelöst oder jedenfalls in Auflösung begriffen waren, eine disponible Klasse doppelt freier LohnarbeiterInnen zur Verfügung stand. Marx bringt die Verhältnisse sarkastisch auf den Punkt:

„Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz. Er wird eröffnet durch den Abfall der Niederlande von Spanien, nimmt Riesenumfang an in Englands Antijakobinerkrieg, spielt noch fort in den Opiumkriegen gegen China usw.

Die verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun, mehr oder minder in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“ [xxiv]

Die Schaffung einer universellen, die Partikularität vorhergehender Produktionsweisen überwindenden, auf den Weltmarkt bezogenen Produktionsweise stellt für Marx und Engels einen historischen Fortschritt dar – trotz des von ihnen geschilderten, notwendigerweise extrem brutalen und gewalttätigen Prozesses in Bezug auf die Herausbildung der ArbeiterInnenklasse und der kolonialen Ausbeutung. Der Kern des geschichtlichen Fortschritts besteht für Marx nämlich nicht in der Schaffung einer kapitalistischen Ökonomie und der bürgerlichen Gesellschaft als solcher, sondern darin, dass dies eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung einer zukünftigen universellen Entwicklung der Menschen ist. [xxv]

Die Frage der Expansion des Kapitalverhältnisses und des Weltmarkts inkludiert daher auch in einem anderen Sinn ein grundlegend historisches Moment. Sobald es sich gemäß seiner eigenen technischen Grundlage – der großen Industrie – durchgesetzt hat und der Weltmarkt etabliert ist, hört die Bourgeoisie auf, eine fortschrittliche Klasse zu sein. Die Welt ist unter die großen Kapitale und Mächte aufgeteilt, die ihrerseits auch den Eintritt und die Form der Weltmarktintegration der sog. Dritten Welt bestimmen.

Alle marxistischen Imperialismustheorien beziehen sich im Grunde auf ein solches, historisches Stadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation, mögen ihre Erklärungsansätze auch sehr verschieden sein. Auch eine Aktualisierung und Weiterentwicklung der Lenin’schen Imperialismustheorie muss vom internationalen Charakter des Kapitalismus ausgehen – oder sie ist im Voraus zum Scheitern verurteilt.

Obiges Zitat enthält schließlich auch die zentralen Elemente der Marx’schen Revolutionstheorie und den historisch-spezifischen Charakter der proletarischen Revolution. Die bürgerliche Gesellschaft bildet den Abschluss der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“, die kapitalistische die letzte antagonistische Form des Produktionsprozesses. Damit ist auch die zentrale Rolle der klassenbewussten Organisierung des Proletariats grundgelegt – die Formierung der revolutionären Partei.

3. Kapitalbegriff, Krisentheorie und Imperialismus

Marx’ politischer Ökonomie geht es u. a. darum, die Notwendigkeit der Verschärfung der inneren Widersprüche des Kapitalismus darzulegen, die Notwendigkeit der Krise, der Lösung, Aufhebung dieser inneren Widersprüche der Gesellschaftsformation.

Dem Kapitalbegriff von Marx ist daher die Möglichkeit und Notwendigkeit der Krise immanent, nichts von außen Hineingetragenes. Vielmehr legt er nicht nur die Unvermeidbarkeit der Krisen, sondern auch die in der widersprüchlichen Kapitalbewegung angelegten Tendenzen zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise dar.

Im ersten Band leitet er die historischen Entwicklungstendenzen des Kapitals her:

„Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ [xxvi]

In diesem Zitat wird schon deutlich, dass das Kapital selbst die eigentliche Schranke der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ist.

„Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen.

Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinen Zwecken anwenden muß und die auf die unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.“ [xxvii]

In diesen wie in vielen anderen Passagen von Marx und Engels zeigt sich, dass die Marx’sche Theorie im Kern eine Krisentheorie darstellt. Die Produktionsweise strebt auf das Eklatieren ihrer inneren Widersprüche zu. Entscheidend ist dabei, dass die Entwicklung der Produktivkräfte an einem bestimmten Punkt selbst zu einer Schranke für die weitere Verwertung des Kapitals wird, dass sie, wie es Marx in den Grundrissen ausdrückt, „die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen.“ [xxviii]

Der tendenzielle Fall der Profitrate führt dazu, dass ab einem bestimmten Punkt der Stachel der Akkumulation erlahmt, die Verwertung des neu geschaffenen Profits nicht mehr profitabel erscheint für das Gesamtkapital – Stagnation und Krise sind die Folge, deren einziger Ausweg in der Vernichtung überschüssigen Kapitals besteht. Dies zeigt für Marx zugleich die historischen Grenzen, die Überholtheit der kapitalistischen Produktionsweise selbst an und die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Produktion der Kontrolle der Bourgeoisie zu entreißen und in bewusster Form zu gestalten.

„In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital, nicht durch ihm äußere Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung, ist die schlagendste Form, worin ihm advice (Rat) gegeben wird, to be gone and to give room to a higher stage of social production (abzutreten und einem höheren Stadium der gesellschaftlichen Produktion Raum zu geben).“ [xxix]

In diesem Sinne vertritt Marx durchaus eine Zusammenbruchstheorie oder kann man von einer Tendenz zum Zusammenbruch sprechen, die immer wieder historische Krisen nicht nur der Akkumulation, sondern der gesamten Gesellschaftsformation hervorbringt. In seiner Arbeit „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ würdigt Roman Rosdolsky nicht nur zu Recht die Verdienste von Luxemburg und Grossmann bei der Verteidigung der Marx’schen Theorie und verweist auf die Ursachen der Angriffe auf die „Zusammenbruchstheorie“: „Die Behauptung, Marx hätte keine ‚Zusammenbruchstheorie’ aufgestellt, ist wohl vor allem auf die revisionistische Auslegung des Marxschen ökonomischen Systems vor und nach dem ersten Weltkrieg zurückzuführen.“ [xxx]

Zweifellos wurde die „Kritik“ an der sog. Zusammenbruchstheorie auch dadurch gerechtfertigt, dass ihren VertreterInnen unterstellt wurde, dass sie nicht nur von einer Krisentendenz ausgegangen seien, sondern auch deren Unüberwindbarkeit oder eine unvermeidliche Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus unterstellen würden.

Im marxistischen Verständnis bedeuten solche Krisen oder Krisenperioden jedoch keinesfalls, dass es einen rein ökonomisch fixierbaren Endpunkt des Kapitalismus gibt oder auch nur geben könne. Ein Zusammenbruch stellt immer eine zeitlich begrenzte Phase dar, die auf verschiedenen Wegen möglich ist. Erstens durch eine massive Kapitalvernichtung und eine Neuordnung der Verhältnisse durch die herrschende Klasse – und sei es durch den Gebrauch barbarischer Mittel wie Krieg, Eroberung, diktatorische oder gar faschistische Herrschaft. Zweitens die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft durch eine sozialistische Weltrevolution, also die fortschrittliche Aufhebung der inneren Widersprüche, wie sie Marx skizziert. Drittens kann eine historische Krise mit der Vernichtung der Hauptklassen der Gesellschaft und deren Regression in die Barbarei (oder im Extremfall der Vernichtung der Menschheit oder ihrer natürlichen Lebensgrundlagen) enden. Allein das verweist auf die entscheidende Bedeutung des subjektiven Faktors, der Entwicklung von revolutionärer Organisation und des Klassenbewusstseins für eine gesellschaftliche Umwälzung.

Daher kann sich eine revolutionäre Theorie der Gesellschaft niemals nur auf die Enthüllung der inneren Bewegungsgesetze der Kapitalismus beschränken, sondern sie muss die Notwendigkeit ihrer Verschärfung und der schließlichen revolutionären Aufhebung dieser Widersprüche ins Zentrum rücken. Jede marxistische Imperialismustheorie ist daher notwendig eine Theorie über die Niedergangsepoche des Kapitalismus, der Verschärfung seiner inneren Widersprüche.

Alle Imperialismustheorien, die revolutionären und marxistischen Anspruch erheben, müssen daher an der von Marx im Kapital entwickelten inneren Krisenhaftigkeit des Kapitalismus festhalten. Alle AutorInnen der klassischen Imperialismustheorie der II. und III. Internationale erheben diesen Anspruch, verteidigen ihn und versuchen, ihn zur Geltung zu bringen. Aber alle offenbaren auch bedeutende Schwächen, wenn es darum geht, diesen Anspruch einzulösen. So vermag z. B. keine der klassischen Imperialismustheorien, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zu integrieren, geschweige denn seinen zentralen Charakter für die Marx’sche Krisentheorie aufzunehmen. Im Folgenden wollen wir auch daher noch einmal einige zentrale Momente des Kapitalbegriffs darstellen, die auch Ansatzpunkte für ein Verständnis des Imperialismus bilden.

Zentrale Momente des Kapitalbegriffs

Erstens ist im Marx’schen Kapitalbegriff, wie wir gesehen haben, immer schon inkludiert, dass der Kapitalismus seinem Wesen nach eine internationale, auf den Weltmarkt bezogene Produktionsweise darstellt. In der Schaffung des Weltmarktes, dem Niederreißen vorhergehender Produktionsweisen, der Verwandlung aller Nationen in bürgerliche besteht schließlich eine der unbestritten progressiven Leistungen der kapitalistischen Produktionsweise und die weltgeschichtlich revolutionäre Rolle der Bourgeoisie in der Früh- und Blütezeit des Kapitalismus.

Zweitens verhält sich das Kapital, anders als vorhergehende Produktionsweisen, zur technischen Grundlage der Produktion und zu den Produktivkräften revolutionär, wälzt diese im Hunger auf die Aneignung von Mehrwert ständig um. Marx zeigt, dass sich dieser Mechanismus aus dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, aus der Begrenztheit der Möglichkeiten zur Steigerung der absoluten Mehrwertrate und der Notwendigkeit der Steigerung des relativen Mehrwerts ergibt. Daraus folgt notwendigerweise auch immer, dass die ArbeiterInnenklasse selbst beständig „umgewälzt“ wird und permanenter Veränderung unterliegt. Der Klassenkampf, der Kampf um die Höhe des Mehrwerts bildet ein integrales Element des Kapitalbegriffs selbst und nichts von außen, „exogen“ Hineingetragenes.

Die ständige Erhöhung der Produktivität der Arbeit drückt sich in einer fortschreitenden höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals und einer Tendenz zum Fallen der Profitrate aus – selbst ein Ausdruck der historischen Tendenzen der Akkumulation.

Drittens – und als ein Resultat davon – führt die Entwicklung des Kapitalismus zu einer ständigen größeren Anhäufung des Kapitals, zu seiner fortschreitenden Zentralisation und Konzentration. Ein/e KapitalistIn schlägt die/den andere/n tot. Die Konkurrenz ist die Form, in der sich die inneren Gesetzmäßigkeiten des Kapitals manifestieren müssen.

Viertens entdeckt Marx die Bedeutung des industriellen Zyklus für die ständige Umwälzung und Erneuerung der technischen Grundlage der Produktion, als Basis einer neuen, erweiterten Grundlage der Akkumulation, einer dynamischen Form der Reproduktion der Widersprüche im Kapitalismus. Das „Bett“ der Dynamik des industriellen Zyklus bildet die Reproduktionsdauer der Masse des fixen Kapitals, die auch eine durchschnittliche Länge des Zyklus von 7 bis 10 Jahren konstituiert.

Das Marx’sche Verständnis des industriellen Zyklus enthält ein wichtiges Spezifikum, das es von bürgerlichen Theorien unterscheidet. Die verschiedenen Momente des Zyklus kulminieren in der Krise, dem „Ende eines Zyklus und Ausgangspunkt eines neuen“ [xxxi], dem bestimmenden Moment des Zyklus. In ihr zeigt sich die Einheit der in den anderen Phasen des Zyklus gegeneinander verselbstständigten Elemente. In ihr konzentrieren sich die Widersprüche der Kapitalbewegung und kommen eruptiv zum Ausbruch.

Fünftens muss das Kapital zur „Lösung“ seiner inneren Widersprüche, zum Entgegenwirken gegen den Fall der Profitrate, zur Aufrechterhaltung der Akkumulationsdynamik und zur weiteren Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion im Kapitalismus Rechnung tragen. Es muss selbst mehr und mehr zu gesellschaftlichen Formen – Formen, die das Kapital auf dem Boden des Kapitalismus negieren – zurückgreifen: Aktienkapital, Kredit, Verstaatlichung.

Dahinter manifestiert sich nichts anderes als der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise: gesellschaftliche Produktion bei fortgesetzter privater Aneignung. Oben genannte Formen „gesellschaftlichen Kapitals“ lösen diesen Widerspruch nicht, sondern treiben ihn vielmehr auf die Spitze. Sie rufen nach ihrer Überwindung durch die proletarische Revolution.

Marx und Engels arbeiten nicht nur in der Analyse des Kapitals, sondern auch in den konkreten Betrachtungen der Entwicklung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern heraus, dass die innere Entwicklung des Kapitals wie auch die Politik der herrschenden Klasse mehr und mehr zu solchen „Übergangsformen“ führen, dass sich eine Veränderung der Entwicklungsrichtung des Kapitalismus selbst abzeichnet. Scharfsinnig beobachten sie deren Ausprägungen im 19. Jahrhundert.

Für Marx und Engels stellen die Ausdehnung des Aktienkapitals und andere gesellschaftliche Formen des Kapitals, seine weitere Konzentration und Zentralisation sowie die Entstehung des Finanzkapitals Zeichen dieser Entwicklung dar, um Schranken für die Entwicklung der Produktivkräfte zu überwinden. Sie sind nicht nur Ausdruck dafür, dass das Kapital auf Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeiten trifft, sondern bilden zugleich Austragungsformen dieses Widerspruchs. Sie verweisen darauf, dass die Bourgeoisie selbst mehr und mehr auf den Staat und solche gesellschaftlichen Formen des Kapitals zurückgreifen muss, die dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion indirekt Rechnung tragen. In der imperialistischen Epoche schlagen sie in ihrer Gesamtheit in ihr Gegenteil um. Das Finanzkapital wird selbst zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte und der Gesellschaft.

Sechstens sind das Finanzkapital und seine immer ausufernder werdende Bedeutung genauso wenig ein „Abirren“ der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte wie Finanzkrisen zufällige Spekulationsverirrungen darstellen, die mit den sonstigen Krisentendenzen nicht verbunden wären. Vielmehr stellt das zinstragende Kapital die höchste Stufe der Entwicklung der Wertform der Arbeitsprodukte dar: Der Titel auf verwertbares Eigentum selbst wird zum Grund der Aneignung von Mehrwert, unbeschadet des unmittelbaren Kommandos über den zugrundeliegenden Produktionsprozess. Die Verwandlung von Geld in mehr Geld (G – G‘), die Bewegungsform des zinstragenden Kapitals, drückt in praktischer Weise die widerspruchsvolle Schrankenlosigkeit der Kapitalverwertungsbewegung aus, die sich von ihren materiellen Bedingungen in realen, produktiven Kapitalverwertungsbedingungen zu lösen versucht. Mit der notwendigen Dopplung von Kapital in Geldkapital und Unternehmensführung wird ein bestimmter Teil der Kapitalistenklasse, trotz seiner besonderen Verwertungsinteressen als Finanzkapital, gleichzeitig in gesellschaftlicher Form zum Vertreter der Verwertungsinteressen des Gesamtkapitals:

„Es kommt hinzu, daß mit Entwicklung der großen Industrie das Geldkapital mehr und mehr (…) nicht vom einzelnen Kapitalisten vertreten wird, (…) sondern als konzentrierte, organisierte Masse auftritt, die ganz anders als die reelle Produktion unter die Kontrolle der das gesellschaftliche Kapital vertretenden Bankiers gestellt ist“. [xxxii]

In der imperialistischen Epoche erscheinen die Finanzkapitale wie riesige „Planungsagenturen“, die auf Basis der Renditeziele ihrer AnlegerInnen mit ihrem Buchgeld riesige Industrie- und Handelsunternehmen auf- und abbauen, umstrukturieren, neu zusammensetzen etc. Selbst wenn die realen Verwertungsbedingungen es nicht mehr hergeben, können mit Hilfe ihrer Kreditmacht noch lange Renditen simuliert werden, im Versprechen auf sagenhafte zukünftige Profite. Auf diese Weise kann das Finanzkapital die industriellen Zyklen und Krisenperioden überlagernde Finanzmarktzyklen initiieren, die den zugrundeliegenden Krisentendenzen zeitweise entgegenwirken. Damit wird die Finanzkrise (Kreditklemme, Geldkrise, Banken- und Firmenzusammenbrüche in großem Umfang,…) zum notwendigen Moment der Krisen- und Zusammenbruchstendenz im Imperialismus. Mit der Finanzkrise wandelt sich der Finanzmarktzyklus von einer entgegenwirkenden, zu einer verstärkenden Tendenz der Kapitalverwertungsprobleme. Im Allgemeinen kündigen daher Finanzkrisen einen Periodenwechsel an (auch wenn dies nicht unmittelbar erfolgen muss).

Siebtens entwickeln sich mit dem Weltmarkt auch Weltmarktzyklen und -krisen. Ihre Bedeutung kann schwerlich überschätzt werden. „Die Weltmarktkrisen müssen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie gefaßt werden.“ [xxxiii]

Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, des internationalen Handels und des Kapitalverkehrs nimmt auch das Gewicht der Weltmarktbewegungen für die industriellen Zyklen der jeweiligen Nationalökonomien zu, die selbst integrale Bestandteile des Weltmarktes bilden. Dieser stellt dabei nicht bloß eine Summe nationaler Märkte und Ökonomien dar, sondern bildet eine seine Teile bestimmende Realität. Wie sehr die nationalen industriellen Zyklen synchronisiert werden und einen einheitlichen Weltmarktzyklus bilden, stellt einen widersprüchlichen Prozess dar, weil das Kapital zwar einerseits zur Überwindung nationaler Barrieren drängt, andererseits die Kapitalbildung jedoch immer auf einen Nationalstaat bezogen ist. Mit der Entwicklung des Imperialismus verstetigt sich zudem die von den Metropolen und dort gebildetem Großkapital dominierte, hierarchische Ordnung der internationalen Ökonomie – ein Widerspruchsverhältnis, das auf Basis des Kapitalismus nicht überwunden werden kann, sondern vielmehr selbst Ausdruck der zunehmenden globalen Vergesellschaftung (internationale Produktionsketten, Ausweitung des Handels, des Austausches zwischen den Nationen, …) des Kapitals einerseits und seiner privaten Aneignung und damit einhergehender bornierter Zwecksetzung andererseits ist.

Achtens geht die Entwicklung der Akkumulation des Kapitals immer mit der Unterminierung und tendenziellen Zerstörung der beiden Quellen des gesellschaftlichen Eigentums einher – der lebendigen Arbeit und der natürlichen Lebensgrundlagen der Gattung Mensch. Dem Kapitalismus ist die Tendenz zur Verelendung der ausgebeuteten Klasse der Lohnabhängigen immanent. Ohne ökonomischen Kampf und den politischen Kampf um gesetzliche Schranken der Ausbeutung könnte die ArbeiterInnenklasse auf Dauer nicht einmal den Preis der Ware Arbeitskraft und somit ihre eigene Reproduktion sichern. Doch nicht nur sie ist einer ständigen Tendenz zur Zerstörung ihrer eigenen Lebensbedingungen unterworfen.

Der Kapitalismus untergräbt notwendigerweise auch die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit selbst – und zwar nicht erst seit der, spätestens in den 1970er Jahren immer offenkundiger gewordenen, Drohung einer ökologischen Katastrophe. Marx weist diesen immanenten, zerstörerischen Charakter der Produktionsweise schon im Kapital nach. [xxxiv] Er verweist aber auch schon darauf, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht nur die Klasse hervorbringt, die die zunehmend gesellschaftliche Produktion rational organisieren kann, sondern auch die Voraussetzungen für eine vernünftige Ausgestaltung des Mensch-Natur-Verhältnisses schafft – die Entwicklung der großen Industrie und der Naturwissenschaft. Doch so wie die Produktivkräfte der Menschheit letztlich von den Schranken der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse befreit werden müssen, so kann auch nur auf Grundlage einer bewusst gesellschaftlichen Planung ein rationales Verhältnis der Menschheit im Umgang mit ihren natürlichen Lebensgrundlagen etabliert werden.

Neuntens ist die gesamte Kapitalismustheorie von Marx untrennbar mit seiner Revolutionstheorie verbunden. Die Analyse des Kapitals und seiner inneren Bewegung zeigt die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution. Zu ihr drängt die kapitalistische Entwicklung selbst, weil der Sozialismus die einzige Lösungsform ist, in der die gesellschaftliche Entwicklung, die der Kapitalismus mit sich gebracht hat, überhaupt rational gebändigt und auf eine höhere Stufe gehoben werden kann.

In ihrer Analyse des Kapitals und der bürgerlichen Gesellschaft weisen Marx und Engels zugleich die spezifischen Elemente der proletarischen, der sozialistischen Umwälzung nach. Bekanntlich sind die vorherrschenden Gedanken – auch der beherrschten Klassen – in jeder geschichtlichen Formation jene der Herrschenden.

Im Kapitalismus werden diese auf besondere Weise geprägt. Die Wertform bringt auch eigene Formen der Ideologie hervor, objektive ideologische Gedankenformen. Die Lohnform, die Vorstellung vom „gerechten Lohn“ etc. prägen das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse unwillkürlich. In ihr verschwindet scheinbar die Mehrarbeit, der Mehrwert. Es erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht nur die notwendige, sondern die ganze Arbeit bezahlen. Auf solchen Formen – selbst Resultat der formalen rechtlichen Gleichheit des/r ArbeiterIn und KapitalistIn als WarenbesitzerInnen – baut eine ganze weitere Kette von Ideologien, Fetischformen auf. So z. B. den Staats- und Demokratiefetisch, also den Schein, dass „die Demokratie“, der „Staat“, „die Menschenrechte“ keine Herrschaftsformen oder Ideologien einer bestimmten Klasse wären, sondern über diesen stünden.

Während die Bourgeoisie als „Mittelklasse“ der feudalen Gesellschaft ihre Produktionsweise schon in deren Poren hervorbringt, in der Periode der absoluten Monarchie, sich in einer geschichtlichen Übergangsepoche im Bund mit dem Monarchen mehr und mehr herausbildet und mit dieser Entwicklung ihre spezifische Produktionsweise entfaltet, während der Adel mehr und mehr in Abhängigkeit und eine miserable Lage gerät, kann die ArbeiterInnenklasse „ihre“ zukünftige Produktionsweise nicht im Rahmen des Kapitalismus etablieren. Entwickelt, vorbereitet werden „nur“ die Produktivkräfte, die Technik, Verkehrsformen und vor allem nicht zuletzt die gesellschaftliche Gesamtarbeit selbst, die reale Lenkung der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft durch die ArbeiterInnenklasse selbst.

Im Kapitalismus – und in der imperialistischen Epoche wird das sozusagen auf die Spitze getrieben – geht diese Entwicklung einher mit immer stärkerer Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, immer manifester werdender Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit. Diese Hülle, dieses Hemmnis der gesellschaftlichen Entwicklung kann nur durch die bewusste revolutionäre Aktion der Klasse gesprengt werden.

Anders herum, die Frage des Bewusstseins hat eine qualitative andere Bedeutung in der proletarischen Revolution als in der bürgerlichen. Natürlich bildeten auch die revolutionären VertreterInnen der Bourgeoisie (oft sozial gesehen radikale Angehörige des KleinbürgerInnentums) gegen den Feudaladel und seine AnhängerInnen revolutionäre Organisationen (Clubs, Parteien, Vereinigungen usw.) und brachten radikale, bürgerlich-revolutionäre Ideologien hervor, indem sie an Reformation und Aufklärung anknüpften. Aber sie konnten sich der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie kämpften, keinesfalls voll bewusst werden, ja, sie bedurften, wie Marx in „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“[xxxv] anmerkt, einer gewissen (Selbst-)Täuschung, um die weltgeschichtliche Umwälzung überhaupt durchführen zu können, die zum Sieg des Kapitals führte.

Sie mussten sich diese notwendigerweise ideologisch verkleistern, weil die gesellschaftlichen Bedingungen und ihr eigenes gesellschaftliches Sein dafür noch zu unreif waren – was natürlich auch auf die mehr oder minder utopischen oder radikalen, über die bürgerlichen Kräfte hinausgehenden Ideologien und gesellschaftlichen Visionen der Unterklassen, der Verbündeten der Bourgeoisie zutrifft. Die weltgeschichtliche Selbsttäuschung, der Heroismus der bürgerlichen Revolutionen, ihr Bezug auf imaginierte oder stilisierte Idole der Vergangenheit – seien es das Alte Testament in der Englischen oder die römische Republik in der Französischen Revolution – waren notwendig, damit die Volksmasse, die plebejischen Schichten der Bevölkerung überhaupt mobilisiert werden konnten. Mit der Konsolidierung der bürgerlichen Verhältnisse und der notwendigen Enttäuschung darüber, dass sie sich nicht als Befreiung der Menschheit, sondern als Herrschaft des Kapitals entpuppten, verschwand regelmäßig das Pathos.

Die proletarische Revolution bedarf solcher Verkleisterungen nicht mehr, ja, sie sind für sie schädlich, blenden sie doch nur die eigene Klasse und ihre besten KämpferInnen.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ [xxxvi]

Die ArbeiterInnenklasse kann sich nur befreien, wenn sie selbst die gesamte Gesellschaft von einem mehr oder weniger blinden, scheinbar automatischen, sich als wirtschaftlicher „Sachzwang“ manifestierenden Reproduktionszusammenhang befreit, das Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur bewusst und vernünftig reguliert. Zum Sozialismus und erst recht zum Kommunismus kann das Proletariat nur bewusst kommen, nur indem es sich als Klasse für sich konstituiert, sein eigenes Verschwinden als besondere Klasse vorbereitet und bewusst herbeiführt.

Diese Umgestaltung kann nur durchgeführt werden, wenn sich das Proletariat aller zentralen Produktionsmittel der Gesellschaft bemächtigt, die Staatsmacht ergreift und seine eigene Herrschaft ausübt. Nur so kann es den kapitalistischen Produktionsprozess umstrukturieren und zugleich konterrevolutionären Umstürzen vorbeugen.

Daraus ergibt sich aber auch, dass es eine ganze Periode der proletarischen Herrschaft, der Umwälzung zu einer sozialistischen Gesellschaft braucht, der Diktatur des Proletariats, in der „alte“ und „neue“, sich erst entwickelnde, Gesellschaftsformation im Überlebenskampf stehen, in der der Entscheidungskampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus ausgefochten wird.

Wie aber kann nun das Proletariat als Klasse, dessen Dasein zwar tagtäglich zum Kampf mit dem Kapital zwingt und zum Sozialismus drängt, dessen Bewusstsein jedoch „spontan“ bürgerlich ist, zu einer revolutionären Klasse werden, von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich?

Indem seine bewusstesten Elemente, also die TrägerInnen des Gesamtinteresses der Klasse, zu einer politischen Kampforganisation verschmelzen. Eine solche Partei muss auf einem wissenschaftlich fundierten Programm basieren. Sie muss den anderen Parteien der ArbeiterInnenklasse die Einsicht in die historischen Ziele, den allgemeinen Werdegang usw. der Bewegung voraushaben. Sie selbst stellt die Verbindung von revolutionärer Theorie und Avantgarde dar. Die Partei ist das Vermittelnde in der Bewegung der Klasse von einer Klasse an sich zu einer für sich. Ohne revolutionäre Partei kann diese Verbindung nicht geschaffen werden und ist damit auch die Herausbildung einer in der ArbeiterInnenklasse wirkenden und verwurzelten Trägerin von Klassenbewusstsein, einer bewussten Vertreterin von revolutionärer Strategie, Taktik, Programmatik unmöglich. Ohne Herausbildung dieses bewussten Elements bleibt freilich auch die proletarische Revolution und die Transformation zum Sozialismus eine Utopie, eine Unmöglichkeit.

Schließlich geht Marx’ Revolutionstheorie – wie schon seine Kapitalanalyse – immer vom internationalen Charakter des Klassenkampfes aus. Die zukünftige sozialistische (und kommunistische) Gesellschaft kann nur international sein, oder sie ist nicht. Daher geht es vom Bund der Kommunisten, über die Erste Internationale bis zur Zweiten Internationale nie um die Formierung bloß nationaler Parteien, sondern immer um den Aufbau einer Internationale der ArbeiterInnenklasse.

4. Lenins Imperialismustheorie und die Bedeutung seines Begriffs der Epoche

Grundsätzlich liegt Lenins Imperialismustheorie das Marx’sche Kapitalismus- und Revolutionsverständnis zugrunde. Die Politik des Bolschewismus, der Kampf der internationalistischen Linken in der Zweiten Internationale, die revolutionären GegnerInnen der Burgfriedenspolitik und vor allem die frühe Dritte Internationale versuchen bewusst, an einen „unverfälschten“, vom Schematismus der Zweiten Internationalen befreiten Marxismus anzuknüpfen und diesen in einer neuen weltgeschichtlichen Lage herauszuarbeiten und weiterzuentwickeln.

Lenins Theorie kann also nicht isoliert von der geistigen Situation der damaligen internationalen ArbeiterInnenbewegung verstanden werden. Sein Werk kennzeichnet grundsätzlich ein Ringen um marxistische Prinzipien und Theorie, das selbst in Wechselwirkung zu den Arbeiten anderer MarxistInnen der Zweiten Internationale steht, ja, von diesen auch inspiriert ist. So  hebt er selbst an etlichen Stellen, durchaus mit Recht, Hilferding und seine Arbeit „Das Finanzkapital“ [xxxvii] als inhaltlichen Bezugspunkt hervor.

Schon Rosa Luxemburg hatte gefordert: „Daß die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet und mit ihnen in Einklang gebracht werden muß“. [xxxviii] Doch so groß Luxemburgs Verdienste in der Verteidigung der marxistischen Theorie und Positionen in vielen Fragen – nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie – sind, muss festgehalten werden, dass ihre Imperialismustheorie grundlegende methodische Schwächen aufweist und ihrer eigenen Zielsetzung, die „ökonomischen Wurzeln (…) aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation“ herzuleiten, gerade nicht erfüllt.

Darauf haben u. a. Roman Rosdolsky in „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ und Henryk Grossmann in „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ [xxxix] hingewiesen. Grossmann fasst seine Kritik wie folgt zusammen:

„Nicht aus den immanenten Gesetzen der Kapitalakkumulation, aus einer bestimmten Höhe derselben, leitet sie die Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus ab, sondern aus der transzendenten Tatsache des Fehlens nichtkapitalistischer Länder. War für Marx die Problematik des Kapitalismus mit dem Produktionsprozeß verknüpft, so verlegt Rosa Luxemburg die für die Existenz des Kapitalismus entscheidenden Probleme aus der Produktionssphäre in die Zirkulationssphäre.“ [xl]

Hilferdings „Finanzkapital“ kommt das Verdienst zu, überhaupt den Begriff geprägt, die Formveränderungen des Kapitals und die Entstehung des Finanzkapitals ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt zu haben. Aber seine falsche Geldtheorie, die mit der Marx’schen Werttheorie bricht und unvereinbar ist, führt auch zu eine Blindheit gegenüber den sich weiter verselbstständigenden Formen des fiktiven Kapitals, zu einer Unterschätzung der Bedeutung der Börsen und Aktienmärkte. Nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale treten auch die offen reformistischen und harmonistischen politischen Schlussfolgerungen zutage, die als theoretische Schwächen schon in seinem Werk angelegt sind.

Die Grundfehler, die sich exemplarisch bei Hilferding und Luxemburg zeigen, hängen mit zwei Faktoren zusammen. Erstens einer falschen Erschließung und Interpretation des Marx’schen Kapitals bzw. zentraler Kategorien; bei Hilferding die Geldtheorie (und damit auch eine Revision der Werttheorie); bei Luxemburg auch ihre Kritik am Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, ein falsches Verständnis der Reproduktionsschemata und die Ablehnung der Marx’schen Geldtheorie. Diese Fehler stehen in Verbindung mit einem ungenügenden Verständnis der Bedeutung der Abstraktionsebenen in der Methode des „Kapital“, wenn sie z. B. die Reproduktionsschemata des Zweitens Bandes als „leblose“ Darstellung missversteht, weil sie von der Existenz eines Dritten, also anderer Klassen absähen. In Wirklichkeit verkennt Luxemburg, dass es Marx bei den Reproduktionsschemata nicht um einer Darstellung der geschichtlichen Realität, sondern um einen Aspekt in der Entfaltung des Kapitals im Allgemeinen geht.

Für unseren Zusammenhang jedoch noch gewichtiger ist aber der Umstand, dass Hilferding und Luxemburg – sowie der Großteil der nachleninschen Imperialismus- und KrisentheoretikerInnen – keinen umfassenden Begriff der Epoche entwickeln.

Bei Lenins Theorie handelt es sich zweifellos um die reifste und entwickeltste Imperialismustheorie, gerade weil sein Begriff des Imperialismus auf die Totalität der Gesellschaftsformation zielt.

In seiner Broschüre „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß“ [xli] wie auch in zahlreichen anderen Arbeiten entwickelt er den Begriff des Imperialismus aus der inneren Entwicklungslogik des Kapitals. Bekanntlich arbeitet Lenin in seinem Buch Merkmale dieser neuen Formation des Kapitalismus heraus – Konzentration der Produktion und Monopol, neue Rolle der Banken, Finanzkapital (Verschmelzen von Industrie und zinstragendem Kapital), Kapitalexport, Aufteilung der Welt unter die Kapitalistenverbände und Aufteilung der Welt unter die Großmächte.

Der Begriff des Finanzkapitals und des Monopols stehen dabei im Zentrum von Lenins ökonomischer Bestimmung des Imperialismus.

„Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.“ [xlii]

Oder an anderer Stelle: „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde.“ [xliii]

Lenin erklärt diese Entwicklung im Anschluss an Marx und Engels aus der zunehmenden Zentralisation und Konzentration des industriellen Kapitals und der Ausdehnung „gesellschaftlicher Formen“ des Kapitals (Banken, Kredit, …). So Marx z. B. in den Grundrissen dazu:

„Solange das Kapital schwach ist, sucht es selbst noch nach den Krücken vergangner oder mit seinem Erscheinen vergehnder Produktionsweisen. Sobald es sich stark fühlt, wirft es die Krücken weg und bewegt sich seinen eigenen Gesetzen gemäß. Sobald es anfängt, sich selbst als Schranke der Entwicklung zu fühlen und gewußt zu werden, nimmt es zu Formen Zuflucht, die, indem sie die Herrschaft des Kapitals zu vollenden scheinen, durch Züglung der freien Konkurrenz zugleich die Ankündiger seiner Auflösung und der Auflösung der auf ihm beruhenden Produktionsweise sind.“ [xliv]

Marx und Engels erkennen, dass mit der Entwicklung des Kapitalismus die „freie Konkurrenz“ selbst ihr gegenläufige innere Tendenzen – eine Tendenz zum Monopol – hervorbringt. Allerdings – und darauf werden wir im nächsten Abschnitt näher eingehen müssen – inkludiert der Monopolbegriff bei Lenin eine problematische und theoretisch unklare Seite, wenn er im Anschluss an Hilferding von einer Ablösung der Konkurrenz durch das Monopol spricht.

So richtig Lenin die Tendenz zur Monopolbildung erkennt, so enthält der Begriff des „monopolistischen Stadiums“ ein grundlegendes Problem, als sein Verhältnis zur Konkurrenz als regulierendem Zwangsgesetz, das den einzelnen Kapitalen die Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation aufzwingt, unausgearbeitet und unklar bleibt. Bei TheoretikerInnen wie Hilferding, Bucharin oder später im Stalinismus zeigen sich diese Probleme nur zu klar, da in diesem Verständnis des Imperialismus andere Gesetzmäßigkeiten das Verhältnis der Kapitale zueinander regulieren als in der „freien Konkurrenz“. Wird dies einmal als dauerhaft gegeben unterstellt oder anerkannt, hängen auch die Marx’sche Krisentheorie und insbesondere das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate in der Luft.

Wie wir weiter unten zeigen werden, bedarf die Lenin’sche Theorie an dieser Stelle einer begrifflichen und theoretischen Korrektur, um die Imperialismustheorie auf dem Boden der Marx’schen Krisentheorie ausformulieren zu können.

Hier nur soviel: Monopol und Finanzkapital wirken ähnlich wie andere „gesellschaftliche Formen“ des Kapitals Krisen entgegen, indem diese zeitweilig die Ausgleichsbewegung der Profitrate modifizieren.

Die privaten Kapitale, die eine monopolistische Stellung als Einzelkapital oder als eine Gruppe dominierender Unternehmen eines Wirtschaftszweiges erzielen, können diese Position zeitweilig nutzen, um sich auf Kosten anderer Kapitalgruppen, der imperialisierten Länder und der Gesellschaft einen höheren Anteil am Gesamtmehrwert anzueignen.

Dieser Monopolprofit geht also zeitweilig nicht in die Ausgleichsbewegung der Profitrate ein und erlaubt so, das Abladen von eigenen Krisen auf imperialisierte Länder, die ArbeiterInnenklasse und schwächere, nicht monopolistische Kapitale, deren Profitraten im Durchschnitt sinken.

Imperialismus als politisch-ökonomische Totalität

Der Imperialismus stellt – wie wir sehen werden, auch für Lenins Theorie – jedoch keineswegs nur ein rein ökonomisches Verhältnis, sondern eine historische Stufe dar, wo der Kapitalismus den Weltmarkt nicht nur geschaffen, sondern auch alle Länder, Regionen, Gebiete in diesen eingegliedert hat. Vorgefundene vorkapitalistische Produktionsweisen wurden zerstört oder der kapitalistischen untergeordnet. Die Aufteilung der Welt unter die großen Mächte und Kapitale ist abgeschlossen und kann, innerhalb gewisser Grenzen, nur durch einen Weltbrand, Krieg, Revolutionen, Konterrevolutionen verändert werden.

Zugleich sind zugeteilte Gebiete, Länder – ob nun Kolonien oder Halbkolonien – fest in diese Ordnung eingebunden. Eine „nachholende“, die fortgeschrittenen Länder einholende Entwicklung ist, von außergewöhnlichen, einzelnen Ausnahmen abgesehen, unmöglich geworden. Im Gegenteil: Die Entwicklung des Weltmarktes und der internationalen Arbeitsteilung verfestigt die von den Zentren der Kapitalakkumulation abhängige Entwicklung dieser Länder. Dass sich China als imperialistische Weltmacht etablieren konnte, hängt ironischer Weise auch eng damit zusammen, dass es für eine ganze Periode als bürokratische Planwirtschaft und degenerierter ArbeiterInnenstaat nicht von der Weltmarktkonkurrenz bestimmt war.

Grundsätzlich sind jedoch die Länder der sog. Dritten Welt in der Epoche des Finanzkapitals zur halbkolonialen oder kolonialen Einbindung in ein Weltsystem verdammt, das ihnen einen untergeordneten Platz auf dem Weltmarkt zuweist, diesen über die Institutionen des Finanzkapitals reproduziert und verfestigt und durch die diplomatische und militärische Macht der imperialistischen Staaten absichert. Nur durch die Verbindung der demokratischen (antiimperialistischen) Revolution mit der proletarischen können diese Länder befreit werden. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution[xlv] bringt diese Entwicklung auf den Punkt. Auch aus diesem Grund stellte sie eine, an den Grundtendenzen der imperialistischen Epoche anknüpfende revolutionäre Konzeption dar, das Alter Ego von Lenins Imperialismus- und Revolutionstheorie.

Der Begriff des Finanzkapitals inkludiert auch korrekterweise, dass eine bestimmte, die fortgeschrittenste Kapitalfraktion, die Gesellschaft, einschließlich anderer Kapitalgruppen, beherrscht. Diese Herrschaft prägt und verändert auch die gesamte Klassenformierung und den gesellschaftlichen Überbau.

Daher ist Imperialismus nicht bloß eine bestimmte reaktionäre, aggressive Politik, sondern die Politik des Finanzkapitals. Eine nichtimperialistische Politik der Weltmächte ist unmöglich.

Die Unterordnung der gesamten Welt unter ein imperialistisches System und die Vorherrschaft des Finanzkapitals und Monopols bedeuten auch notwendig eine enorme Zunahme von Fäulnis, Parasitismus. Zweifellos haben diese Charakterisierungen oft auch eine missverständliche Seite, weil sie – durchaus entgegen Lenins eigenen Anmerkungen – dazu verleiten, die imperialistische Epoche als eine Jahrzehnte andauernde ökonomische Stagnations- oder Niedergangsphase zu betrachten. Wenn wir diesen Irrtum einmal geklärt haben, erweisen sich Lenins Verweise, insbesondere auf den Parasitismus als durchaus zutreffend. Der Imperialismus steigert erstens eine Tendenz, die die kapitalistische Entwicklung auch schon im 19. Jahrhundert kannte, nämlich das Auseinandertreten von Eigentum und Leitung des kapitalistischen Betriebes. Ein Teil der KapitalistInnenklasse (und ihr angelagerter kleinerer Schichten von AnlegerInnen) wird faktisch zu einer Gruppe von Menschen, die den geschaffenen Reichtum in Form der Revenue einstreifen und die operativen Geschäfte des Managements, die Überwachung der Produktion, deren Kontrolle usw. anderen Teilen der KapitalistInnenklasse oder den lohnabhängigen Mittelschichten überlassen. Die Bourgeoisie wird ökonomisch eigentlich längst überflüssig, wie schon Marx und Engels bemerken. Das verändert aber auch die Klassenstruktur des globalen Kapitalismus, sowohl in den Zentren als auch in den von den imperialistischen Staaten beherrschten Ländern, ob diese nun als Kolonien oder Halbkolonien existieren.

Lenins selbst gibt nicht nur eine knappe ökonomische Definition und Darlegung der grundlegenden Merkmale des Imperialismus. Er geht mit gutem Grund weiter:

„Wir werden später sehen, wie der Imperialismus anders definiert werden kann und muß, wenn man nicht nur die grundlegenden rein ökonomischen Begriffe (auf die sich die angeführte Definition beschränkt) im Auge hat, sondern auch den historischen Platz dieses Stadiums des Kapitalismus in bezug auf den Kapitalismus überhaupt oder das Verhältnis zwischen dem Imperialismus und den zwei Grundrichtungen innerhalb der Arbeiterbewegung. Es sei gleich bemerkt, dass der Imperialismus, in diesem Sinne aufgefasst, zweifellos ein besonderes Entwicklungsstadium des Kapitalismus darstellt.“ [xlvi]

Dieser Abschnitt über die historische Stellung des Imperialismus bildet in seinem Buch keinen „Anhang“, keinen willkürlichen Zusatz, sondern einen essenziellen Bestandteil seiner Konzeption. Für Lenin bedeutet Imperialismus „Übergangskapitalismus“. Immer wieder verwendet er auch den Terminus „sterbender Kapitalismus“ – eine Bezeichnung, die hinsichtlich der historischen Einordnung des Imperialismus und erst recht angesichts der revolutionären Lage treffend ist, die der Erste Weltkrieg schuf und die mit der Russischen Revolution einen ersten Höhepunkt fand. Auch wenn sie in der Folge  dahingehend falsch interpretiert wurde, dass der Kapitalismus „automatisch“ abtreten oder „absterben“ müsse/werde oder dass die Tendenz um Absterben bzw. Übergang in jeder Entwicklungsphase der imperialistischen Epoche gleich ausgeprägt wäre. Im weltgeschichtlichen Sinn stellt sie jedoch eine Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus dar, daher eine von Kriegen und Revolutionen (und somit auch von Konterrevolutionen).

Lenins Epochenbegriff bezieht sich hier nicht nur auf die Ökonomie, sondern auf die Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Hier liegt die eigentliche, entscheidende Stärke seine Konzeption. Imperialismus wird nicht nur allgemein als Epochenbruch verstanden, sondern in seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension (Klassenstruktur, Politik, Kultur etc.) erfasst.

Imperialistische Kette

Lenins Imperialismustheorie, insbesondere in ihren politischen Schlussfolgerungen, hatte erwiesenermaßen eine ausreichende Tiefe, um daraus richtige, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen.

Bei aller Kritik an ihr (siehe dazu weiter unten) gibt es in seiner Theorie einen damit zusammenhängenden Aspekt, der diesen Ansatz von allen anderen klassischen Imperialismustheorien positiv unterscheidet und zu politisch bedeutsamen Konsequenzen führt: Das ist der Gedanke der „imperialistischen Kette“. Während vor und im 1. Weltkrieg bei den TheoretikerInnen der Linken der 2. Internationale gewissermaßen „der Weltkapitalismus“ die Analyseebene war, sozusagen der Kapitalismus als sozioökonomische Struktur auf Weltebene gesehen wurde, führt Lenin die Differenzierung der „imperialistischen Kette“ ein (ein Gedanke, der ihm – dies nur nebenbei – auch seine einzigartige Position zur „nationalen Frage“ ermöglicht).

Der Begriff der imperialistischen Kette beinhaltet, dass die einzelnen Glieder nicht einfach als Nationalökonomien innerhalb eines globalen Weltkapitalismus begriffen werden, sondern als Staaten. D. h., es geht nicht nur um ökonomische, sondern auch um politische und militärische Faktoren, ja um die Gesamtheit der Klassenbeziehungen eines Landes. Revolutionen fänden nicht zunächst in den Ländern statt, die am weitesten entwickelt sind, sondern die imperialistische Kette bricht am schwächsten Glied. Dieser Gedanke stellt einen grundlegenden Bruch mit dem ökonomistischen Marxismusverständnis der II. Internationale dar.

Der Kapitalismus bilde auf globaler Ebene keine einheitliche Struktur. Er stelle eine Verbindung verschiedener Ebenen nationalstaatlicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen dar, wobei die „Kette“ als kapitalistische Kette reproduziert werden müsse. Die ökonomische Stärke bilde nur einen Faktor für den Handlungsspielraum eines imperialen Staates. Es ist jedoch die Gesamtheit der Klassenbeziehungen eines Staates, die diesen Handlungsspielraum determiniert (wobei diese wiederum durch internationale Konstellationen beeinflusst wird).

Veränderungen der Klassenstruktur

Die ökonomischen Merkmale – Monopol, Finanzkapital –, auf deren Boden der Imperialismus basiert, gehen nicht nur mit einem „Weltsystem“ einher. Sie führen natürlich auch zu einer grundlegenden Umwälzung der inneren Beziehungen jeder Nation, jedes Staates, der imperialistischen wie der vom Imperialismus beherrschten Länder.

Herrschaft des Finanzkapitals wäre undenkbar ohne eine massive Ausdehnung des repressiven Staatsapparates in allen imperialistischen Ländern, des Militarismus, der Überwachung, Durchdringung der Gesellschaft. Wie die Erfahrung zeigt, sind diese Entwicklungen durchaus auch mit der Ausdehnung formaler Demokratie und der Ausweitung demokratischer Rechte (Wahlrecht, formale Gleichheit etc.) vereinbar.

Damit geht eine viel engere Verquickung politischer und ökonomischer Macht einher als in der vorimperialistischen Epoche. Die Lenkung aller wesentlichen Geschäfte wird über Kanäle, „Netze“ von Abhängigkeitsverhältnissen mitbestimmt, die alle Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft umspannen.

Das Finanzkapital strebt, so Lenin, nach „Herrschaft“, nicht nach „Freiheit“. D. h., der Widerspruch zwischen demokratischen Forderungen und deren reaktionären Einschränkungen nimmt in der Epoche des Finanzkapitals zu. Generell geht der Imperialismus mit der Einschränkung der Demokratie einher, er ist „Reaktion auf ganzer Linie“. Auch wächst die Bedeutung reaktionärer Ideologien wie Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus in der imperialistischen Epoche.

Das führt zu einer Transformation des bürgerlichen Staates zur Formierung eines imperialistischen Staates/Staatapparats. Das sichert zugleich, dass die Vertiefung und viel stärkere Durchdringung der Gesellschaft durch den Staat einhergehen mit der Ausdehnung der formalen parlamentarischen Demokratie in bestimmten Perioden der Entwicklung, insbesondere in den imperialistischen Staaten.

Die Ursache dafür liegt neben der Entwicklung des imperialistischen Staatsapparates auch in der Auswirkung des Imperialismus auf die Klassenformierung der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang können wir eine weitere Stärke von Lenins Imperialismustheorie festhalten: Mit der theoretischen Herausarbeitung der Entstehung und Existenz einer privilegierten Schicht der ArbeiterInnenklasse, der „ArbeiterInnenaristokratie“ in den imperialistischen Ländern gelingt es ihm, eine materialistische, klassenanalytisch fundierte Erklärung für den Opportunismus in der ArbeiterInnenbewegung und die Existenz einer ArbeiterInnenbürokratie zu geben.

Schon Engels beobachtete die Entstehung einer solch privilegierten Schicht im Britannien der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und bemerkte, dass sie eine soziale Basis des Opportunismus und bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik bilde. Er führt diese Entwicklung auf das Welthandelsmonopol des britischen Kapitalismus und dessen industrielle Überlegenheit zurück. Mit deren Niedergang verknüpft er die Erwartung, dass die sozialen Grundlagen für eine ArbeiterInnenaristokratie erodieren und damit auch der Opportunismus zurückgedrängt würde.

Entgegen seiner Prognose verallgemeinerte sich diese Entwicklung jedoch in allen imperialistischen Ländern. Selbst in den Halbkolonien entwickeln sich mehr oder weniger große Schichten der ArbeiterInnenaristokratie. Deren Entstehung (und das Wachstum bestimmter Teile der lohnabhängigen Mittelschichten) bedeutet in den imperialistischen Ländern auch eine wichtige Verbreiterung der sozialen Basis des Imperialismus. Zu Recht charakterisiert Lenin die ArbeiterInnenaristokratie als eine „soziale Hauptstütze“ des Imperialismus, deren Existenzquelle wesentlich die Extraprofite aus der kolonialen Ausbeutung bilden.

„Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der „Arbeiteraristokratie“, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie.“ [xlvii]

Die Etablierung und Reproduktion einer relativ stabilen ArbeiterInnenaristokratie wird in der imperialistischen Epoche zu einem Kennzeichen aller wichtigen kapitalistischen Länder. Erst auf dieser Grundlage kann sich eine ArbeiterInnenbürokratie auf politischer und gewerkschaftlicher Ebene festigen und über Jahrzehnte halten. Die Gewerkschaften wie die gesamte reformistische ArbeiterInnenbewegung werden durch die institutionelle Regulation des Lohnarbeitsverhältnisses (Tarifsystem, Betriebsräte, …) und dessen Verlängerung auf politischer Ebene (Reformen, Systeme der Inkorporation) eingebunden. Diese Institutionalisierung des Klassenverhältnisses geht mit einer Entpolitisierung und Formalisierung einher, die die bürokratische Kontrolle einer solcherart verknöcherten ArbeiterInnenbewegung befördert und verstärkt.

Hinzu kommt die Tendenz zur Inkorporation der Gewerkschaften und reformistischen ArbeiterInnenbewegung in den bürgerlichen Staat – insbesondere seit dem New Deal und mit Entwicklung der Nachkriegsordnung. Wie Trotzki in seinen Arbeiten über die Gewerkschaften nachgewiesen hat, war diese Tendenz auch in der tiefen Krise der 1920er und 1930er Jahre manifest. Kurz rekapituliert, Lenins Imperialismustheorie hatte erwiesenermaßen eine ausreichende Tiefe, um daraus richtige, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen.

5. Lenins Imperialismustheorie und ihr Alter Ego – Trotzkis Theorie der permanenten Revolution

Der Beginn der imperialistischen Epoche läutet eine wichtige Transformation der internationalen sozialistischen Bewegung ein, die Entstehung vergleichsweise stabiler bürgerlicher Agenturen in der ArbeiterInnenklasse, die nicht nur eine spontane Tendenz zum bürgerlichen Bewusstsein in der Klasse zum Ausdruck bringen, sondern auch eine soziale Basis im imperialistischen System haben, einer ArbeiterInnenaristokratie (sowie die Ausweitung lohnabhängiger Mittelschichten) v. a. in den imperialistischen Ländern,  später auch in den Halbkolonien.

Zugleich war es auch eine Periode, in der das theoretische, programmatische und taktische Rüstzeug der ArbeiterInnenbewegung, wie es in der vorimperialistischen Epoche entwickelt und kodifiziert wurde, einem geschichtlichen Test unterzogen wurde.

Es waren große historische Ereignisse – darunter die erste Russische Revolution, der imperialistische Krieg –, die zur Zuspitzung der politischen Kämpfe in der Zweiten Internationale und ihren Parteien führten und zu einer Weiterentwicklung und zunehmend zu einer systematischen Abrechnung mit den inneren Schwächen der Zweiten Internationale zwangen.

Zweifellos haben nicht nur Lenin und Trotzki Anteil an den theoretischen und programmatischen Fortschritten dieser Periode. Aber sie stehen für zwei miteinander verbundene bahnbrechende Fortentwicklungen der marxistischen Theorie.

Trotzkis „Theorie der permanenten Revolution“, die zuerst anhand der Russischen Revolution 1905 entwickelt und später im Zuge des Kampfes gegen die stalinistische Degeneration und in deren Gefolge anhand der Erfahrungen der chinesischen Revolution weiterentwickelt und verallgemeinert wurde, gilt es hier besonders hervorzuheben.

In seiner Analyse der Russischen Revolution knüpft Trotzki (wie viele andere russische Revolutionäre) an Marx’ und Engels’ Charakterisierung der Rolle der Bourgeoisie in der 1848er Revolution und folgenden an. Die KapitalistenInnenklasse hätte die Revolution verraten, weil sie die sich entwickelnde ArbeiterInnenklasse und deren Bestrebungen, die Revolution „zu weit“ zu treiben, schon mehr fürchtete als die Reaktion der alten Feudalklassen, zumal sie auch erkannt hatte, dass letztere zwar das politische Regime, keineswegs aber die Produktionsverhältnisse, also die Gesellschaftsordnung selbst zurückzudrehen vermochte.

Diese Unfähigkeit der russischen Bourgeoisie, die demokratische Revolution zu führen und ein ihr gemäßes politisches Regime gegen den Zarismus zu erkämpfen, erkannten auch Lenin und die Bolschewiki. Doch der entscheidende Schritt Trotzkis bestand darin, dass er erkannte, dass die Forderungen der Demokratie nur durch die Herrschaft der ArbeiterInnenklasse, nur durch das Weitertreiben der demokratischen Revolution zur sozialistischen erfüllt werden konnten – und dass umgekehrt, die ArbeiterInnenklasse diese Aufgabe nur lösen kann, wenn sie selbst an die sozialistische Umgestaltung der Produktion geht und die Russische Revolution untrennbar mit der sozialistischen Revolution im Westen verbindet.

Diese Konzeption wurde von der Geschichte spektakulär bestätigt. Anders als von den StalinistInnen und teilweise auch den SozialdemokratInnen später behauptet, stellte sie überhaupt keinen Bruch mit der Marx’schen Theorie dar. Im Gegenteil, schon im Kommunistischen Manifest oder vor allem in der Märzansprache an den Bund der Kommunisten vom März 1850 findet sich die Vorstellung der permanenten Revolution:

„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“ [xlviii]

In den Briefen an Sassulitsch [xlix] entwickelt Marx in einer genialen Skizze den Gedanken der Verbindung der Russischen Revolution mit der des Westens – ein Beleg unter vielen, der zeigt, wie fremd Marx und Engels das Schema einer „Etappentheorie“ war, die in der „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale Einzug gehalten hatte und zum politischen Credo des Stalinismus geworden war.

Die Fassung der Theorie der permanenten Revolution, die Trotzki im Laufe der Revolution 1905 entwickelt und in  „Ergebnisse und Perspektiven“ [l] darlegt, bricht entschieden mit der Vorstellung, dass die Russische Revolution nur einen bürgerlichen Charakter annehmen könne. Im Vorwort zur Neuauflage der Schrift 1919 fasst er den Standpunkt der Theorie der permanenten Revolution knapp zusammen:

„Der Standpunkt, den der Autor damals einnahm, kann in schematischer Weise folgendermaßen formuliert werden: Gemäß ihren nächsten Aufgaben beginnt die Revolution als bürgerliche, bringt dann aber sehr bald mächtige Klassengegensätze zur Entfaltung und gelangt nur zum Sieg, wenn sie die Macht der einzigen Klasse überträgt, die fähig ist, an die Spitze der unterdrückten Massen zu treten – dem Proletariat. Einmal an der Macht, will und kann sich das Proletariat nicht auf den Rahmen eines bürgerlich-demokratischen Programms beschränken. Es kann die Revolution nur dann zu Ende führen, wenn die russische Revolution in eine Revolution des europäischen Proletariats übergeht. Dann wird das bürgerlich-demokratische Programm der Revolution zugleich mit seinem nationalen Rahmen überwunden werden, und die zeitweilige politische Herrschaft der russischen Arbeiterklasse wird sich zu einer dauernden sozialistischen Diktatur weiterentwickeln. Wenn sich aber Europa nicht vom Fleck rührt, dann wird die bürgerliche Konterrevolution die Regierung der werktätigen Massen in Rußland nicht dulden und das Land weit zurückwerfen – weit hinter die demokratische Republik der Arbeiter und Bauern. An die Macht gekommen, darf sich das Proletariat daher nicht auf den Rahmen der bürgerlichen Demokratie beschränken, sondern muß die Taktik der permanenten Revolution entfalten, d. h. die Grenzen zwischen dem Minimal- und dem Maximalprogramm der Sozialdemokratie aufheben, zu immer tiefgreifenderen sozialen Reformen übergehen und einen direkten und unmittelbaren Rückhalt in der Revolution des europäischen Westens suchen. Diese Position soll die jetzt wieder herausgegebene Arbeit, die 1904 – 1906 geschrieben wurde, entwickeln und begründen.“ [li]

In diesem Vorwort verweist Trotzki zugleich auf eine objektivistische Schwäche seiner Position und der Schriften aus den Jahren 1904 – 1906, nämlich die Vorstellung, dass alle Flügel der russischen Sozialdemokratie – Bolschewiki wie Menschewiki – unter dem Druck der Revolution „gezwungen“ wären, eine ArbeiterInnenregierung zu bilden, die bürgerliche Revolution permanent zu machen und in eine sozialistische Richtung zu treiben. Er schreibt:

„Der Autor hat anderthalb Jahrzehnte den Standpunkt der permanenten Revolution verteidigt, er erlag aber bei der Einschätzung der miteinander kämpfenden Fraktionen der Sozialdemokratie einem Irrtum. Da sie damals beide von den Perspektiven einer bürgerlichen Revolution ausgingen, nahm der Autor an, daß die Meinungsverschiedenheiten nicht so tief wären, als daß sie eine Spaltung rechtfertigten. Zur gleichen Zeit hoffte er darauf, daß der weitere Gang der Ereignisse einerseits die Kraftlosigkeit und Ohnmacht der russischen bürgerlichen Demokratie, andererseits die Tatsache, daß es für das Proletariat objektiv unmöglich sei, sich im Rahmen eines demokratischen Programms an der Macht zu halten, allen deutlich zeigen und so den Meinungsverschiedenheiten der Fraktionen den Boden entziehen würde.“ [lii]

Spätestens 1917, mit dem Übergang zum Bolschewismus bricht Trotzki mit diesem versöhnlerischen Verständnis der Partei und der objektivistischen Vorstellung, die durchaus den spontaneistischen Schwächen Luxemburgs ähnelte, dass die Macht der Ereignisse auch die OpportunistInnen wider Willen und Bewusstheit zum revolutionären Handeln zwingen würde.

Für unseren Zusammenhang – also das Verständnis der Bedeutung des Imperialismusbegriffes – noch wichtiger ist, dass Trotzki in den 1920er Jahren die Verallgemeinerung der Theorie mit dem Verständnis der Epoche knüpft.

Den kolonialen und halbkolonialen Ländern ist keine „aufholende“, die fortgeschritteneren Länder nachahmende Entwicklung mehr möglich, weil das kapitalistische Weltsystem bereits etabliert und unter einer Reihe imperialistischer Großmächte aufgeteilt ist. Die demokratische Revolution kann daher in den halbkolonialen Ländern nur unter Führung der ArbeiterInnenklasse im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft durchgeführt, also nur durch das Hinüberwachsen zur sozialistischen Revolution durchgeführt werden.

„In bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, daß die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.“ [liii]

Auch wenn das Proletariat daher in den „rückständigeren“ Ländern leichter an die Macht kommen mag, so kann die Umwälzung zum Sozialismus im nationalen Rahmen nicht geleistet werden. Diese Möglichkeit hängt vielmehr von Beginn an von der internationalen Entwicklung entscheidend ab.

Schließlich verweist Trotzki immer wieder darauf, dass von einer endgültigen sozialistischen Umwälzung überhaupt nur im internationalen Rahmen gesprochen werden kann. Ein „nationaler Aufbau“, der „Sozialismus in einem Land“ ist nirgendwo möglich, selbst im fortgeschrittensten kapitalistischen Land der Welt nicht.

„Der Abschluß einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, daß die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluß nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planenten.“ [liv]

Trotzkis Theorie der permanenten Revolution stellt für die Entwicklung des revolutionären Marxismus einen Meilenstein des 20. Jahrhunderts dar. Für die theoretische und programmatische Fortentwicklung des Kommunismus steht sie auf einer Stufe mit Lenins Imperialismustheorie oder mit der Marx’schen Analyse des 18. Brumaire des Louis Bonaparte und später der Commune [lv].

Dass Lenin selbst zur Theorie der permanenten Revolution überging, die er vor dem Ersten Weltkrieg scharf bekämpft hatte (wenn auch keineswegs in der „Schärfe“, wie die StalinistInnen gern darstellen), bedarf aber einer Erklärung. Sicherlich mag Trotzkis Übergang zum bolschewistischen Parteiverständnis dabei geholfen haben, erklärt dies aber nicht.

Wichtiger ist vielmehr erstens, dass Lenins Verständnis der Russischen Revolution und der Losung der „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen“ immer eine eingeständige Klassenpolitik des Proletariats inkludierte. Hierin liegt übrigens ein substantieller Unterschied zur Verwendung dieses Terminus durch den Stalinismus, bei dem diese Formel zu einer der Unterordnung der ArbeiterInnenklasse unter die nationale Bourgeoisie führt. Insofern hatte sie einen, wie Trotzki richtig bemerkt, „algebraischen“ Charakter, was zur Folge hatte, dass jede zukünftige Revolution eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft, des Inhalts dieser Klassenpolitik und des Klassencharakters der Regierungsform, die die Revolution hervorbringen sollte, erfordern würde. In den Aprilthesen hatte sich Lenin anhand der Erfahrungen der Russischen Revolution diesem Problem gestellt – und war, wie Kamenew und andere rechte Bolschewiki zu dieser Zeit richtig bemerkten, zur Position Trotzkis übergangen, ein Übergang, ohne den der Sieg des Proletariats in der Oktoberrevolution, ja, die Oktoberrevolution selbst unmöglich gewesen wäre.[lvi]

Diese Wende hatte sich jedoch schon länger vorbereitet, nämlich in der Analyse des imperialistischen Krieges, der Entwicklung der Politik des revolutionären Defätismus und der politischen Schlussfolgerung, dass die Aufgabe des Proletariats im Kriege darin bestünde, den imperialistischen Krieg zu einem „Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie“ umzuwandeln und zur Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse zu nutzen. Darin zeigt sich im Grunde schon ein Übergang zur Theorie der permanenten Revolution. Es ist kein Zufall, dass Lenin die politischen und programmatischen Konsequenzen, überhaupt die revolutionäre Politik im Krieg gründlicher und klarer als jede/r andere MarxistIn seiner Zeit ausarbeitete.

Ein Verdienst dieser Arbeit bestand gerade darin, dass Lenin in der Kritik des „imperialistischen Ökonomismus“[lvii] das Verhältnis von demokratischen (insbesondere des Rechts auf nationale Selbstbestimmung) und ökonomischen Forderungen im Kampf für die sozialistische Revolution präzise darlegte.

Lenin geht im Anschluss an seine Imperialismustheorie, und auch hier im Grunde in einer Parallele zur Theorie der permanenten Revolution, davon aus, dass die imperialistische Epoche generell eine der Einschränkung demokratischer Rechte bedeutet, dass die Entrechtung unterdrückter Nationen und Nationalitäten verschärft wird usw. Daraus folgert er, dass die demokratischen Fragen einen überaus explosiven Charakter erhalten werden, dass sich daher das Proletariat, will es die nichtproletarischen Massen in den Kolonien und Halbkolonien gewinnen, als Verbündeter auf die Seite der Unterdrückten stellen und um die politische Führung im Kampf um die demokratischen Aufgaben kämpfen müsse.

Andersherum: Lenin zeigt, dass in der imperialistischen Epoche eine systematische Verknüpfung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution mit dem sozialistischen Kampf möglich ist. Er verweist dabei schon gelegentlich darauf, dass ebenso eine systematische Verknüpfung der ökonomischen Tagesaufgaben mit dem Kampf um die sozialistische Revolution notwendig ist.

6. Der programmatisch-methodische Durchbruch der Kommunistischen Internationale und des Übergangsprogramms

Diese beiden theoretischen Errungenschaften, untrennbar mit Lenin und Trotzki verknüpft, sind freilich nicht einfach nur das Werk zweier großer Theoretiker und Revolutionäre. Sie bilden vielmehr Teil einer kollektiven Anstrengung und lebendigen Debatte, gründlichen Forschung und scharfer Polemik, die die Entwicklung der Linken in der Zweiten Internationale und die Frühphase der Kommunistischen Internationale prägte.

In der Zweiten Internationale war – auch bei den Linken – das programmatische Verständnis vom Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie geprägt. Diese klassische Fassung eines Minimal-/Maximalprogramms stand als Blaupause für die Programme vieler sozialdemokratischer, formell marxistischer Parteien, darunter auch der österreichischen, der Parteien auf dem Balkan oder der russischen.

Es wäre eine ahistorische Verkürzung, das Erfurter Programm mit den reformistischen Programmen unserer Epoche nur textlich zu vergleichen. Gerade der von Kautsky verfasste und von Engels begrüßte einleitende Teil stellt einen großen Fortschritt gegenüber dem Gothaer Programm dar und verortet den Grundsatzteil auf den Boden des Marxismus. Der Minimalteil war schon 1891 von Engels heftig kritisiert worden wegen seines opportunistischen Charakters.[lviii]

Die Trennung von Minimal- und Maximalprogramm stellte außerdem nicht einfach eine politische und theoretische Abweichung dar, sondern spiegelte den Charakter einer ganzen Entwicklungsphase, vor allem nach der Niederschlagung der Pariser Commune, wider, einer relativ stetigen Entwicklung, die auch einer ebensolchen Entwicklung der Politik von Partei und Gewerkschaften entsprach.

„Der Begriff der revolutionären Strategie hat sich erst in den Nachkriegsjahren durchgesetzt, ursprünglich zweifellos unter dem Einfluß der militärischen Terminologie. Aber er hat sich keineswegs zufällig durchgesetzt. Vor dem Krieg sprachen wir nur von der Taktik der proletarischen Partei, und dieser Begriff entsprach genau genug den damals herrschenden gewerkschaftlichen und parlamentarischen Methoden, die nicht über den Rahmen alltäglicher Anforderungen und Aufgaben hinausgingen. Die Taktik bezieht sich auf ein System von Maßnahmen, die auf eine besondere, naheliegende Aufgabe oder oder auf ein besonderes Feld des Klassenkampfes bezogen sind. Die revolutionäre Strategie hingegen umfaßt ein kombiniertes System von Aktionen, die in ihrer Kombination und Konsequenz darauf abzielen, das Proletariat zur Eroberung der Macht zu führen.“ [lix]

Doch mit dem Beginn der imperialistischen Epoche werden die Grenzen des sozialdemokratischen Programms deutlicher, die innerparteilichen Gegensätze in der sozialistischen Bewegung verschärften sich. Der rechte Flügel schritt praktisch zur Tat bis hin zum Ministerialismus in Frankreich, verfocht dies organisatorisch, z. B. im Ruf nach der Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Partei und in jeder Zurückweisung verpflichtender – als zu radikal begriffener –, Fragen, wie sich z. B. in der Generalstreikdebatte oder auch bei den Kongressen der II. Internationale zeigte. Interessanterweise versuchten zuerst TheoretikerInnen des rechten Flügels der opportunistischen Praxis höhere Weihen zu verleihen und eine Revision des Marxismus vorzunehmen. Beispielhaft dafür steht der theoretische Angriff Bernsteins auf die revolutionäre Theorie.

Schon diese Tatsache ist bezeichnend, weil sie die veränderte, zunehmend rein ökonomisch reduzierte Arbeit der Gewerkschaften und die parlamentarische, reformistische Ausrichtung vieler Parteien widerspiegelt. Noch mehr zeigt sich eine wachsende Differenz zwischen dem formell marxistischen (zentristischen) Zentrum der Zweiten Internationale und der internationalen Linken, die die zuerst um Fragen der Parteitaktik hervorbrechenden Differenzen als Grundsatzfragen zu begreifen beginnt und einen entschlosseneren Kampf gegen die Rechten fordert.

Die historischen Errungenschaften dieser Kämpfe – oft mit dem Namen Luxemburgs verbunden – bestehen darin, die marxistische Orthodoxie auf theoretischer Ebene (z. B. in Sozialreform oder Revolution) zu verteidigen und zur Entwicklung der revolutionären Taktik der ArbeiterInnenbewegung neue Anstöße zu geben. Die Linke greift in ihren Polemiken und Aktivitäten nicht zufällig Themen auf, die auch heute oft den Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen gemäßigtem und radikalem Flügel der ArbeiterInnenbewegung bilden – Fragen der Unterdrückung der Frauen und der Jugend; die Kolonialfragen und Fragen der Migration; Militarismus und Kriegsfrage; Verhältnis von Kampfmethoden zu Reform und Revolution (siehe Generalstreikdebatte).

Aber ihre Kritik bewegt sich selbst noch wesentlich auf der Ebene des Minimal-/Maximalprogramms, sprich auf der der grundsätzlichen Revision des Marxismus durch die Rechten, oder auf der Ebene der Taktik. Die Frage der Strategie, ja, den Begriff der Strategie im Unterschied zur Taktik kennt die Zweite Internationale nicht.

In den Revolutionen 1917/1918 wird die Notwendigkeit des Bruchs mit den alten Programmen der sozialdemokratischen Parteien offensichtlich (wie die Neugründung Kommunistischer Parteien). Das trifft nicht nur auf Russland und die Bolschewiki zu. Es zeigt sich auch in Deutschland.

Auf dem Gründungsparteitag der KPD bezieht sich Luxemburg direkt auf die Notwendigkeit, das Erfurter Programm, das Minimal-/Maximalprogramm hinter sich zu lassen. In der Programmrede auf dem Gründungspartei der KPD erklärt sie zum Programm:

„Es befindet sich im bewußten Gegensatz zu dem Standpunkt, auf dem das Erfurter Programm bisher steht, im bewußten Gegensatz zu der Trennung der unmittelbaren, sogenannten Minimalforderungen für den politischen und wirtschaftlichen Kampf von dem sozialistischen Endziel als einem Maximalprogramm. Im bewußten Gegensatz dazu liquidieren wir die Resultate der letzten 70 Jahre der Entwicklung und namentlich das unmittelbare Ergebnis des Weltkrieges, indem wir sagen: Für uns gibt es jetzt kein Minimal- und kein Maximalprogramm; eines und dasselbe ist der Sozialismus; das ist das Minimum, das wir heutzutage durchzusetzen haben.“ [lx]

Ihre Lösung ist freilich ungenügend, zum Teil problematisch: Das Maximalprogramm sei nun das Minimalprogramm, das Minimalprogramm gleich der Diktatur des Proletariats. Diese Aussage mag für eine revolutionäre Lage angehen, insbesondere, wenn man bedenkt, dass sich Luxemburg sehr wohl der Notwendigkeit bewusst war, dass die neu gegründete KPD Tages- und Übergangslosungen brauchte, um die Revolution zu vertiefen, und Taktiken entwickeln musste, um überhaupt erst in der Avantgarde der Klasse, geschweige denn in der Masse des Proletariats Fuß zu fassen.

Bei Luxemburgs Formulierung erhebt sich jedoch auch die Frage, wie sich das Verhältnis von Minimal- und Maximalteil gestaltet, sollte die ArbeiterInnenklasse den revolutionären Ansturm nicht zur Machtergreifung nutzen können, sollte die herrschende Klasse neues Selbstvertrauen gewinnen und die Lage zeitweilig stabilisieren können. Musste dann das alte Minimal-/Maximalprogramm doch wieder herhalten? Oder sollte die revolutionäre Lage künstlich durch die permanente Offensive der revolutionären Minderheit wiederhergestellt werden, wie es die Ultralinken vorschlugen?

Genau auf diese Frage gibt die Kommunistische Internationale auf ihren ersten vier Kongressen (v. a. auf dem zweiten, dritten und vierten) eine Antwort – die Entwicklung der Übergangsforderungen, genauer: der Methode des Übergangsprogramms. Auch wenn die KI letztlich nie ein solches Programm annahm, so hat sie auf den ersten vier Kongressen einen historischen Beitrag dazu geleistet. Ihre Debatten, Thesen und Resolution sind bis heute eine unerlässliche Schule der kommunistischen Strategie und Debatte. Die ersten vier Kongresse waren auch eine wichtige Quelle für die Bestimmung nicht nur des Charakters der Epoche, sondern auch konjunktureller Entwicklungen des Klassenkampfes.

„Revolutionäre Politik ist ohne revolutionäre Theorie undenkbar. Hier wenigstens müssen wir nicht von vorn anzufangen. Wir stehen auf dem von Marx und Lenin geschaffenen Fundament. Die ersten Kongresse der Kommunistischen Internationale haben uns ein unschätzbares programmatisches Erbe hinterlassen. Die Charakterisierung der gegenwärtigen Epoche als der Epoche des Imperialismus, d. h. einer Epoche des kapitalistischen Niedergangs; das Wesen des gegenwärtigen Reformismus und die Methoden zu seiner Bekämpfung; die Beziehung von Demokratie und proletarischer Diktatur; die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution; die Beziehungen zwischen Proletariat und Kleinbürgertum, insbesondere zwischen Proletariat und Bauernschaft (die Agrarfrage); die nationale Frage und der Befreiungskampf der Kolonialvölker; die Arbeit in den Gewerkschaften; die Einheitsfront-Politik; das Verhältnis zum Parlamentarismus usw. – all diese Fragen sind von den ersten vier Kongressen in bisher unübertroffener Weise prinzipiell geklärt worden.“ [lxi]

Natürlich bildete auch die beste Debatte keine Garantin gegen Fehler. Das Ausbleiben der Weltrevolution und Niederlagen hatten natürlich schon vor der Degeneration der Russischen Revolution und der Komintern zu Bürokratisierungstendenzen geführt, die ihrerseits durch politische Fehler und daraus folgende Niederlagen verschlimmert wurden.

Ohne Zweifel war das Versäumnis, die revolutionäre Situation im Sommer 1923 in Deutschland überhaupt als solche wahrzunehmen, ein Kardinalfehler nicht nur der KPD, sondern auch der gesamten Komintern. Die Niederlage des deutschen Oktober warf das Proletariat in ganz Europa weit zurück und stabilisierte die bürgerliche Herrschaft (gemeinsam mit der Wirksamkeit des Dawes-Plans).

Die „Analyse“ der Niederlage durch die KPD und die Komintern signalisieren freilich auch einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der KI, auch ihrer Analyse. In  „Die neue Etappe“ [lxii] aus dem Jahr 1921 nimmt Trotzki auf dem dritten Weltkongress eine genaue, konkrete Analyse der Weltlage und der Frage revolutionärer Strategie und Taktik vor. Er begnügt sich nicht damit, den Charakter der imperialistischen Epoche als solchen nachzuweisen, sondern zeigt, warum ein dauerhaftes „kapitalistisches Gleichgewicht“ nicht wiederhergestellt werden konnte (einschließlich der hypothetischen Betrachtung, auf welcher Grundlage das im Verlauf von zwei bis drei Jahrzehnten  möglich wäre). Er zeigt, warum „die Weltsituation und die Perspektiven“ einen „tiefen revolutionären Charakter“ tragen. Zugleich stellt er aber in Rechnung, dass das „Gleichgewicht“ des Kapitalismus „sehr elastisch“ ist und „große Widerstandskraft“ besitzt, auch wenn die Lage, wie er selbst wiederholt betont, nach wie vor „äußerst revolutionär ist“.

Schließlich weist er – und das ist in gewisser Weise das Thema des KI-Kongress – darauf hin, dass die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse und Fehler der revolutionären ArbeiterInnenbewegung auch die Herrschaft der Bourgeoisie gefestigt hätten, ihr Selbstvertrauen, ihren Apparat, die konterrevolutionäre Rolle der ArbeiterInnenbürokratie stärkten. Statt einer ultralinken, abenteuerlichen Politik wäre daher eine Politik der Eroberung der Massen notwendig. Trotzki verweist dabei darauf, dass es keine mechanische Ableitung aus ökonomischen Krisenphänomenen zu ihrer politischen Ausformung gibt, dass daher die taktischen Aufgaben der revolutionären Parteien nicht mechanisch aus dem Charakter einer Epoche oder der „fundamentalen“ Betrachtung der Widersprüche, die zu einer weiteren Auflösung relativer Stabilität (oder überhaupt zu deren Verhinderung) führen, „abgeleitet“ und deduziert werden können. Die Sphären der Politik und des Verhältnisses zwischen den Klassen sind sehr viel vermittelter und wirken auch ihrerseits auf die Möglichkeit (oder Nicht-Möglichkeit) der herrschenden Klasse ein, das Gesamtsystem weiter zu stabilisieren.

Ganz anders verhält sich die Dritte Internationale nach dem 4. Weltkongress. Angeführt von Sinowjew setzt eine impressionistische und sterile Politik ein.

Nach ganz offensichtlichen und schweren Niederlagen wie im Oktober 1923 in Deutschland hieß es auf dem 5. Kominternkongress dazu lapidar: „Die Fehler in der Einschätzung des Tempos der Ereignisse [was für Fehler? L. T.], begangen im Oktober 1923, haben der Partei viele Schwierigkeiten gebracht. Dies ist trotz allem nur eine Episode. Die grundlegende Einschätzung bleibt bestehen.“ [lxiii]

Statt die Ursachen der Niederlage zu analysieren und eine entsprechende Neuausrichtung der deutschen Sektion zu beschließen, wurde die falsche Politik der Komintern als „im Prinzip richtig“ fortgeschrieben und nur die verantwortlichen „Umsetzer“ in Deutschland – die damalige Parteiführung um Heinrich Brandler – als „Parteirechte“ abgesetzt. Hier zeigte sich die Komintern-Führung bereits als typisch bürokratische Maschinerie, der die Selbstbeweihräucherung wichtiger ist als eine wirklich revolutionäre Führung.

Auch wenn der 5. Kongress noch eine Reihe richtiger Positionen gegen prinzipienlose Blockpolitik, falsch verstandene Einheitsfrontpolitik und andere rechte Abweichungen beschloss, so gab er auf die entscheidenden Fragen der internationalen Politik keine Antworten: auf die der neuen strategischen Orientierung nach dem Ende der revolutionären Nachkriegsperiode in Europa wie auch auf die immer drückender werdende von Bürokratisierung der Sowjetunion und ihrer weiteren ökonomischen Entwicklung angesichts des Ausbleibens der Revolution im Westen. Wie Trotzki es formulierte, wurde auf dem Kongress „jede Mücke eingehend beschaut und die Kamele glatt“ übersehen. [lxiv]

Der fünfte Kongress begann außerdem auch mit einer Abkehr von der Methode der Übergangsforderungen – beispielsweise in der falschen Identifizierung von ArbeiterInnenregierung und Diktatur des Proletariats. Die Ultralinken in der KI (in der KPD z. B.) nutzten die Gelegenheit, Übergangsforderungen wie jene nach ArbeiterInnenkontrolle überhaupt als „reformistisch“ und „sozialdemokratisch“ zu denunzieren.

Diesen Kurs setzte die stalinisierte Komintern mit Siebenmeilenschritten fort. Mit der Proklamation einer neuen, „Dritten Periode“, die eine Vertiefung der kapitalistischen Krise proklamierte, wurde der Grundstein für eine ultralinke Wendung vollzogen. Das Programm der Komintern, entworfen von Bucharin und angenommen auf dem 6. Kongress, ersetzte die konkrete Analyse vollends durch eine Sammlung allgemeiner Wahrheiten und eine Kanonisierung der „richtigen Linie“, der ihr Verfasser kurz darauf selbst zum Opfer fiel.

Die Stalinparteien führten in der „Dritten Periode“ den Kampf gegen jede Form von Übergangsforderungen – ein historisches Erbe, das jeder Form von Stalinismus bis heute anhaftet. Unwillkürlich bereitete der Stalinismus wie auf vielen anderen Ebenen die Rückkehr zur Theorie und Programmatik der Sozialdemokratie – in diesem Fall zum Minimal-/Maximalprogramm vor. Auch die „Krisentheorie“ wurde unter Stalin zu einer Rechtfertigungsideologie.

Nur Trotzki und die Vierte Internationale verteidigten die Methode der frühen Komintern und kodifizierten sie im Übergangsprogramm von 1938, dessen Methode bis heute Grundlage für das Herangehen von RevolutionärInnen an die Fragen des Programm ist.

7. Partei als Kampforganisation, Internationale als internationaler Kampfverband

Ebenso wie die Frage des Charakters des Programms und der politischen Praxis der ArbeiterInnenbewegung stellt die imperialistische Epoche die vorherrschende Parteiform der Zweiten Internationale auf den Prüfstand der Geschichte.

Die Klassenkämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Debatten in der russischen Sozialdemokratie und insbesondere das Scheitern der Zweiten Internationale im Krieg verdeutlichten die Notwendigkeit einer Partei und Internationale „neuen Typs“.

Es waren revolutionäre Kampforganisationen, die auf einer gemeinsamen, wissenschaftlich fundierten Programmatik, gemeinsamer Disziplin, einer aktiven, klassenbewussten Mitgliedschaft und verantwortlichen Führung, auf einem durch die Prinzipien des demokratischen Zentralismus regulierten Parteileben beruhten.

Anders als für bürgerliche oder reformistische Parteien war und ist das Programm für KommunistInnen keine Sammlung von Wünschen oder beliebigen Zielen. Es stellt eine Anleitung zum Handeln dar, ist eine Grundlage, die die Partei nicht nur ideell verbindet, sondern auch für die Aktion, zum Kampf ausrichtet und ihren Weg weist, überprüfbar und auch korrigierbar macht.

Anders als die Zweite Internationale, die letztlich eine Föderation nationaler Parteien darstellte, bildete die Dritte bis zu ihrer stalinistischen Degeneration eine Internationale, der nationale Sektionen angegliedert und ihrer revolutionären Disziplin untergeordnet waren – ein Prinzip, auf dem auch die revolutionäre, frühe Vierte Internationale basierte.

Die Bestimmung der Partei als Kampforganisation stellt das zentrale und unverzichtbare Instrument dar, die Klasse zum Sturz des Kapitalismus zu führen. Das schließt notwendigerweise nicht nur den Kampf gegen die unmittelbaren VertreterInnen und Parteien der herrschenden Klasse ein, sondern auch gegen ihre AgentInnen in der ArbeiterInnenklasse – Sozialdemokratie, Stalinismus und Gewerkschaftsbürokratie.

Im Unterschied zu frühen OpponentInnen des Marxismus in der ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts, die keine feste soziale Basis in der Gesellschaft hatten oder oft den Standpunkt historisch überholter Klassen vertraten, besitzt die ArbeiterInnenbürokratie im imperialistischen System eine strukturelle, soziale Basis – die Absonderung der ArbeiterInnenaristokratie als privilegierte Schicht der Klasse –, die erst mit dem Untergang des Imperialismus selbst verschwinden wird, und auch das nicht mit einem Schlag, sondern nur während einer längeren oder kürzeren Übergangsperiode.

Umgekehrt bedeutet das aber, dass eine revolutionäre Avantgardepartei und Internationale in der imperialistischen Epoche umso unverzichtbarer sind: Ein Zurückweisen der leninistischen Partei und Führung als Voraussetzung jeder erfolgreichen, genuin proletarischen Revolution ist daher nicht nur mit dem marxistischen Revolutionsverständnis, sondern auch mit einem revolutionären Verständnis der imperialistischen Epoche unvereinbar.

8. Schwächen der Theorie Lenins

Nach der Darstellung von zentralen Errungenschaften der Lenin’schen Imperialismustheorie und ihres damit einhergehenden programmatischen Erbes, das bis heute eine unverzichtbare Grundlage jeder revolutionären Politik darstellt, müssen wir jedoch auch auf Schwächen seiner Theorie eingehen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden diese vom revolutionären wie vom akademischen Marxismus zwar immer wieder thematisiert, ohne jedoch zu einer befriedigenden Lösung, also zu einer Erweiterung und Reformulierung der Imperialismustheorie geführt zu haben. Im Gegenteil, viele KritikerInnen Lenins, die durchaus zu Recht auf die fehlende Integration der Marx’schen Krisentheorie, des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und auf Schwächen des Monopolbegriffs hinwiesen, kippten selbst das Kind mit dem Bade aus. Erstens identifizierten sie oft fälschlich die Theorie Hilferdings mit der Lenins, zweitens verwarfen sie auch gleich jede Imperialismustheorie – damit auch den Antiimperialismus.

Um die Schwierigkeiten von Lenin zu begreifen, seine Imperialismustheorie konsequent auf den Boden der Marx’schen Kapitalanalyse zu stellen, müssen wir diese im Kontext der theoretischen Entwicklung und Diskussion der 2. Internationale und der verschiedenen theoretischen Erklärungen sehen.

In seiner Broschüre definiert Lenin den Imperialismus ökonomisch als das monopolistische Stadium des Kapitalismus. „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist.“ [lxv]

Oder ausführlicher:

„Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, daß daraus das Monopol entstand und entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten. Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung.“ [lxvi]

Lenin leitet hier die Entstehung des Imperialismus und neuer, vorherrschender Kapitalformen im wesentlichen aus dem Zentralisations- und Konzentrationsprozess des Kapitals ab, der eine neue, qualitative Stufe der Vorherrschaft großer Kapitalgruppen in den Zentren eingenommen hätte. Lenin führt dies auch recht plastisch anhand der wichtigsten Großmächte seiner Zeit – insbesondere anhand der Entwicklung des deutschen Imperialismus aus. Er verweist in seiner Kritik am Utopismus der kleinbürgerlichen Antitrustbewegung in den USA darauf, wie hoffnungslos unmöglich und reaktionär die Rückkehr einer romantisierten Marktwirtschaft, kleiner, scheinbar unabhängiger ProduzentInnen geworden sei. Hoffnungslos und unmöglich, weil die höhere Konzentration und Zentralisation des Kapitals eine höhere Entwicklung der Produktivität und Technik, einen gesellschaftlich höher stehenden Stand der Produktion und Verteilung darstellt. Reaktionär wäre die Zerschlagung der Großunternehmen oder Monopole, weil sie einen Rückschritt bedeuten würde, da mit ihrer Zerschlagung auch ein integrierter, wenn auch für die bornierten Zwecke des Kapitals zurechtgestutzter, planmäßig abgestimmter, Arbeitsprozess zerstückelt würde.

Der rasche Konzentrations- und Zentralisationsprozess und darüber die Verwandlung der Konkurrenz in Monopole, besonders, aber nicht nur, im Bank- und Kreditwesen stellen zweifellos historische Entwicklungstendenzen und empirisch nachvollziehbare Fakten dar.

Problematisch erweist sich jedoch die Gegenüberstellung von Konkurrenz und Monopol. Wenn wir das Monopol oder  Trusts, Kartelle und anderen Organisationsformen der Monopole betrachten, so zeigt sich ein ungelöstes Spannungsverhältnis bei Lenin. Die „freie Konkurrenz“ wird einerseits als Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt bestimmt. Andererseits wird mit dem Monopol nicht nur eine bestimmte Kapitalgruppe gebildet, sondern eine, in deren innerem Bereich die Konkurrenz weitgehend verschwunden und aufgehoben sei, selbst wenn es sich beim Monopol um mehrere Kapitale handle. Das Monopol tritt nicht einfach neben die Konkurrenz, sondern anstelle der Konkurrenz, was das Verhältnis der dominierenden Kapitalgruppen in einer Nationalökonomie zueinander betrifft.

Zweifellos liegt eine gewisse Stärke von Lenin darin, dass er diese Tendenz wie im obigen Zitat auch relativiert und darauf verweist. „Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte.“

Um welche Widersprüche, welche Reibungen und Konflikte es sich dabei handelt, bleibt jedoch unklar. Bei diesen Formulierungen zeigt sich aber auch der Einfluss von Hilferdings „Das Finanzkapital“ aus dem Jahr 1910, wo dem Verhältnis von Finanzkapital und freier Konkurrenz sowie dem von Finanzkapital und Krisen zwei Abschnitte gewidmet sind.

Hilferding verweist zwar an einigen Stellen auf die Bedeutung der Marx’schen Krisentheorie und des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, zugleich stellt er zum Verhältnis von Kartellierung und Konkurrenz Folgendes fest:

„Die Kartelle bewirken, daß die Konkurrenz innerhalb eines Produktionszweiges aufhört oder, besser gesagt, latent wird, daß die preissenkenden Wirkungen der Konkurrenz innerhalb dieser Sphäre nicht zur Geltung kommen; sie bewirken zweitens, daß die Konkurrenz der kartellierten Sphären auf Grund einer höheren Profitrate vor sich geht gegenüber den nichtkartellierten Industrien. Aber sie können nichts ändern an der Konkurrenz der Kapitalien um die Anlagesphären, an den Wirkungen der Akkumulation auf die Preisgestaltung und deshalb die Entstehung von Disproportionalitätsverhältnissen nicht verhindern.“ [lxvii]

Für Hilferding kann zwar die Kartellierung oder Monopolisierung einzelner Branchen die Konkurrenz nicht ausschalten. Entscheidend ist jedoch, dass – anders als bei Marx – die Ausgleichsbewegung der Profitraten zwischen den Branchen, genauer zwischen kartellierten und nichtkartellierten Sektoren nicht stattfindet. Diese bilden vielmehr beständig, der Tendenz nach zunehmend, unterschiedliche Profitraten heraus. Das Kartell kann sich der Ausgleichsbewegung einer einheitlichen Profitrate des Gesamtkapitals nicht nur entziehen, es breitet seine Sphäre beständig aus, vergrößert also den Bereich, in dem die Konkurrenz außer Kraft gesetzt ist. Damit kann die Ausgleichsbewegung zur gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate logischerweise nicht die Bewegungen des nationalen Gesamtkapitals regulieren. Sie wirkt allenfalls im nichtkartellierten Sektor. Dasselbe gilt für das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Hilferdings Verweise darauf, die sich im „Finanzkapital“ durchaus finden, wirken als Fremdkörper.

Anders als in den 1920er Jahren wird die Bildung eines Generalkartells, das die gesamte kapitalistische Ökonomie planmäßig regulieren könne und solle, von Hilferding 1910 noch als „soziale und politische Unmöglichkeit“ verworfen, auch wenn es rein ökonomisch möglich wäre. Die Ursachen für die Krise des Kapitalismus bilden freilich nicht die Überakkumulation von Kapital und der tendenzielle Fall der Profitrate, sondern die Disproportionen zwischen den verschiedenen Branchen, die aus dem anarchischen Charakter der Produktion erwüchsen und sich im Imperialismus aufgrund des Gegensatzes von kartellierten und nichtkartellierten Sektoren massiv steigerten.

Lenin übernahm Hilferdings „Finanzkapital“ keineswegs kritiklos, sondern er polemisierte durchaus heftig gegen bedeutende theoretische Schwächen, so z. B. gegen dessen falsche Geldtheorie und die damit verbundene Unterschätzung von Finanz- und Bankenkrisen in der imperialistischen Epoche. Zugleich schimmert jedoch auch bei Lenins Konzeptualisierung der Konkurrenzfrage Hilferding durch. Die Konkurrenz, Reibungen und Widersprüche erwachsen wesentlich aus den nichtmonopolisierten Sphären und ihrem Verhältnis zu den monopolisierten. Daher findet sich auch bei ihm keine Behandlung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, daher auch keine Integration der Marx’schen Krisentheorie in seinem Werk.

Sicherlich hängt das damit zusammen, dass der zentrale Zwecke seiner Imperialismustheorie darin bestand, eine politische und theoretische Orientierung zu geben und eine revolutionäre Programmatik (Defaitismus, internationale Strategie, Programm für die Russische Revolution, zur nationalen Frage, …) herzuleiten und nicht 1916 „nebenbei“ sämtliche Fragen zu beantworten, die MarxistInnen in den letzten mehr als 100 Jahren umtrieben. Dass seine Theorie nicht primär an Fragen orientiert war, die sich im Laufe der Entwicklung als problematisch erwiesen, kann ihm daher, wenn überhaupt, nur sehr bedingt angekreidet werden.

Dennoch müssen wir nach diesen Ausführungen zu einem Kernpunkt der Schwäche kommen, der erklärt, warum die Integration von Krisen- und Imperialismustheorie bis heute solche Probleme bereitet. Lenins Konzeptualisierung des Verhältnisses von Monopol und Konkurrenz bleibt hinter einem wesentlichen Moment des Marx’schen Kapitalbegriffs zurück. Lenin gelingt es nicht, die Erscheinungsformen der Kapitalbewegung auf der Grundlage der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Produktion und Reproduktion zu begründen.

Bei den Marx´schen Ausführungen (im „Kapital“) ist zu unterscheiden zwischen den allgemeinen Bestimmungen bzw. abstrakten Bewegungsgesetzen des Kapitals und den realen historischen Formen, in denen sie sich darstellen.

Im Band 3 des „Kapital“ geht es eben nicht um eine konkrete Phase der „freien Konkurrenz“ des Kapitalismus, sondern die „freie Konkurrenz“ ist hier eine Abstraktion. Marx will aufzeigen, wie die Bewegungsgesetze des Kapitals sich dem Einzelkapital aufzwingen. Es ist die Form, in der sich das Einzelkapital verwertet und auf das Gesamtkapital bezieht.

Marx abstrahiert hier von allem, was die Herausbildung einer Durchschnittsprofitrate in der Realität behindert (in der Wirklichkeit setzt sich die Durchschnittsprofitrate immer nur tendenziell durch).

Marx betont, dass sich die dem Kapitalismus inhärenten Eigenschaften über die „Zwangsgesetze“ der Konkurrenz durchsetzten. In den Grundrissen formuliert das Marx so: „Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innre Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innre Tendenz als äußerliche Notwendigkeit.) (Kapital existiert und kann nur existieren als viele Kapitalien, und seine Selbstbestimmung erscheint daher als Wechselwirkung derselben aufeinander.)“ [lxviii]

Dadurch, dass die Einzelkapitale über die Konkurrenz und die Bildung einer Durchschnittsprofitrate die Ausbeutung „vergesellschaften“, zu einem nationalen Gesamtkapital werden, werden sie zu einer Macht, die der ArbeiterInnenklasse entgegentritt.

Natürlich ändern sich historisch die Formen, in denen die Einzelkapitale versuchen, (mindestens) einen Durchschnittsprofit abzuwerfen. Aber: „Das Monopol ist nur eine Form dieses Versuchs, ist eine Erscheinungsform der Konkurrenz und ist außer durch die Konkurrenz auch nicht zu erklären. Die Aussage, das Monopol löse die ,freie Konkurrenz’ ab … impliziert, daß die ,freie Konkurrenz’ nicht eine logische Abstraktion, sondern eine tatsächliche historische Phase der Kapitalentwicklung ist, daß also Marx im 3. Band nicht die allgemeinen Bestimmungen des Kapitals als Kapital entwickelt habe, sondern eine Phase des Kapitalismus real analysiert habe … “ [lxix]

Als Folge dieser Verwechslung der Analyseebenen steht dann bei Lenin das Monopol außerhalb und/oder neben der „freien Konkurrenz“. „Man stellt in seiner Schrift durchgängig fest, daß Lenin das Verhältnis der Konkurrenz der vielen Kapitale und der Monopole nur auf der Ebene der realen Beziehungen der Einzelkapitale zueinander analysiert.“[lxx]

Es müssen zwei Ebenen unterschieden werden: a) die bei Marx abstrakt entfalteten, dem Kapitalbegriff inhärenten Bestimmungen und b) die Durchsetzung kapitalistischer Bewegungsgesetze auf der konkreten Ebene. Aus der auch von Marx vermerkten Tendenz des Kapitals zur Konzentration und Zentralisation kann nicht unmittelbar die Existenz von Monopolen abgeleitet werden, um dann auf dieser Grundlage sämtliche (oder zumindest die wesentlichen) Bewegungsformen der Kapitalakkumulation zu begreifen. Die ökonomische Basis für die Analyse des Imperialismus kann (zumindest) nicht im Konzentrationsprozess allein liegen, sondern in der Entfaltung aller Widersprüche, die im Kapital angelegt sind.

9. Kapitalbegriff und Epochenwechsel

An dieser Stelle müssen wir jedoch auch auf einen fundamentalen methodischen Schwachpunkt vieler Lenin-KritikerInnen eingehen. Ihre durchaus wichtigen Kritikpunkte gebrechen freilich an einer Schwäche – sie schütten das Kind mit dem Bade aus und verwerfen mit ihrer Kritik an Schwächen des Monopolbegriffes und der Fassung des Finanzkapitals bei Hilferding und Lenin, sofern er Hilferding übernimmt, auch die Imperialismustheorie als solche. Allenfalls taucht der Begriff in einer letztlich kautskyanischen Fassung auf, also als expansive, militärisch vorgetragene Eroberungspolitik.

Die methodische Schwäche dieser AutorInnen liegt in einer letztlich rein begriffslogischen Bestimmung der Kategorien der Kapitalanalyse. Sie verfehlen dabei jedoch gerade das Spezifische an der Marx’schen Gesellschaftstheorie und seines Bruchs mit dem Hegel’schen Systemgedanken.

Im Buch „Die ontologischen Grundprinzipien von Marx“ [lxxi], Teil der „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“, beschäftigt sich Lukács sehr ausführlich mit dem Verhältnis von logischer und historischer Analyse des Kapitals oder generell der Gesellschaft und ihre Entwicklung. Er verweist darauf, dass die einfache Gegenüberstellung von „logischer“ oder „historischer“ Herleitung z. B. des Kapitalbegriffs zu einer ungewollten Wiederkehr des Systemgedankens Hegels führt, sei es in Form einer letztlich idealistischen Illusionen, dass verschiedenste Formen der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Staat etc.) einfach nur aus den Kategorien des Kapitals „abgeleitet“ werden müssten, oder sei es in Form eines Geschichtsobjektivismus, demzufolge wie z. B. in der stalinistischen Geschichtsphilosophie und der Etappentheorie alle Länder und alle Regionen dieselben Gesellschaftsformationen in der „richtigen“ Reihenfolge zu durchlaufen hätten.

Das Entscheidende an Marx’ neuer, revolutionärer Methode besteht gerade in der Überwindung des Gegensatzes:

„Nicht umsonst hat Marx im ‚Kapital’ den Wert als erste Kategorie, als primäres ‚Element’ untersucht. Besonders durch  die Art, wie dieser hier in seiner Genesis erscheint: Diese Genesis zeigt einerseits abstrakt, auf ein entscheidendes Moment reduziert, den allgemeinsten Abriß einer Geschichte der gesamten ökonomischen Wirklichkeit, andererseits erweist die Auswahl sogleich ihre Fruchtbarkeit, indem diese Kategorien selbst, zusammen mit den Verhältnissen und Beziehungen, die aus ihrer Existenz notwendig folgen, das Wichtigste an der Struktur des gesellschaftlichen Seins, die Gesellschaftlichkeit der Produktion zentral erhellen. Die Genesis des Werts, die Marx hier gibt, beleuchtet sofort die Doppelheit seiner Methode: Diese Genesis selbst ist weder eine logische Deduktion aus dem Begriff des Werts noch eine induktive Beschreibung der einzelnen historischen Etappen seiner Entfaltung, bis er seine reine gesellschaftlichen Gestalt erhält, sondern eine eigenartige, neuartige Synthese, die die historische Ontologie des gesellschaftlichen Seins mit dem theoretischen Aufdecken seiner konkret und real wirksamen Gesetzlichkeiten theoretisch-organisch vereint.“ [lxxii]

Marx selbst reflektiert diese Zusammenhänge immer wieder in den methodischen Überlegungen zu den Grundrissen oder im Kapital. Entscheidend für unsere Diskussion der Imperialismustheorie erweist sich, dass auch der Kapitalbegriff von Marx notwendigerweise ein historisches Moment, ein Entwicklungsmoment enthält. Wenn Marx die geschichtlichen Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation im ersten Band des Kapitals zusammenfasst: „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ [lxxiii]

Marx’ und Engels’ häufige Hinweise darauf, dass das Kapital in seinem Entwicklungsprozess mehr und mehr  gesellschaftliche Formen (Aktienkapital, Rolle von Banken und Börse, Staatsintervention, … ) annehme, verbinden sie korrekterweise damit, dass sich darin unbewusst und auf Basis des Privateigentums der zunehmende gesellschaftliche Charakter der Produktion artikuliert. Die von Hilferding und Lenin konstatierten Monopolisierungstendenzen und die Herausbildung eines Finanzkapitals, also die enge Verbindung oder gar Verschmelzung von Banken- und Industriekapital sind selbst ein Teil dieser Tendenz zur Vergesellschaftung. Insofern kommt beiden das Verdienst zu, eine reale Veränderung der Kapitalbewegung mit dem Epochenwechsel in Verbindung zu bringen.

Der Monopolbegriff enthält jedoch entscheidende Schwächen, wie wir gesehen haben, als das Verhältnis von Monopol und Konkurrenz falsch bestimmt wird, als wären sie auf derselben Ebene der Abstraktion angesiedelt – übrigens ein ähnlicher Fehler wie die Ansiedelung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und der entgegenwirkenden Ursachen auf derselben.

Vielmehr setzen die entgegenwirkenden Ursachen das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate logisch und geschichtlich voraus. Sie heben es nicht auf oder setzen es auch nicht zeitweilig „außer Kraft“, als ob einmal jene geschichtliche Tendenz und einmal die andere dominieren würde, sie sind vielmehr Modifikationen einer grundlegenden Gesetzmäßigkeit und zugleich auch Formen, über die sich diese Gesetzmäßigkeit durchsetzt. Dasselbe kann von der Konkurrenz im Verhältnis zum Monopol gesagt werden, was Lenin in gewisser Weise auch andeutet und weit mehr als  Hilferding u. a. betont, aber begrifflich nicht zu fassen kriegt.

Die begriffliche Schwäche hat aber nicht nur Auswirkungen auf den Monopolbegriff, Hilferdings „kartellierte Sphäre“, sondern auch auf den des Finanzkapitals. Die wachsende Bedeutung des zinstragenden Kapitals und seiner Institutionen diskutierten bekanntlich schon Marx und Engels. Diese Entwicklung konstatiert Lenins sicher zu Recht:

„Die Trennung des Kapitaleigentums von Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht’ besitzen.“ [lxxiv]

Lenins Begriff des Finanzkapitals enthält jedoch zwei wichtige Probleme. Einerseits schwebt ihm die spezifische Organisationsform des Verhältnisses von Industrie und Geldkapital nicht nur als Beispiel zur Veranschaulichung dieser Tendenz vor, sondern geradezu als Muster einer globalen Entwicklungstendenz. Die extrem enge Verbindung von Industrie und Banken im Deutschen Reich, die im Ersten Weltkrieg noch massiv verstärkt wurde, stellte jedoch eine Besonderheit des deutschen Imperialismus dar, während sie insbesondere in den USA immer andere, losere Formen annahm. Erst recht trifft das auf die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu.

Sicherlich ist Lenins Vorstellung einer Verallgemeinerung des Verhältnisses von industriellem und Geldkapital nach dem Modell des deutschen Imperialismus historisch nachvollziehbar. Angesichts der real viel stärkeren Integration von staatlichem Kommando und verschiedenen Kapitalgruppen im imperialistischen Weltkrieg drängte sie sich geradezu auf. Angesichts der historischen Entwicklung bedarf dies jedoch einer Korrektur. Sein Begriff des Finanzkapitals ist zu konkret auf spezifische historische Formen fokussiert.

Damit verbunden ist ein weiteres Problem, das das innere Verhältnis des Finanzkapitals betrifft. Die Konkurrenz erscheint bei Hilferding und Lenin im Wesentlichen außerhalb des monopolisierten oder kartellierten Sektors zu bestehen, d. h. auch außerhalb des Finanzkapitals. Die darin zusammengefassten Einzelkapitale erscheinen faktisch tendenziell als ein vereintes Kapital, jedenfalls als eines, dessen Binnenbeziehungen nicht durch die Konkurrenz vermittelt werden. Betrachten wir die Entwicklung des Finanzkapitals in der gesamten imperialistischen Epoche, erweist sich diese Vorstellung als unhaltbar. Selbst in ihren Frühphasen ist sie fragwürdig, auch wenn eine solche Entwicklungstendenz gerade im Ersten Weltkrieg durchaus plausibel gewesen sein mag.

Im Rückblick, also angesichts einer ein ganzes Jahrhundert  umfassenden weiteren Entwicklung, erweist sich Lenins Fassung des Begriffs des Finanzkapitals als zu wenig abstrakt, und wir müssen ihn allgemeiner bestimmen.

Korrekt ist zweifellos (a) die Tendenz zur engeren Verbindung von Industrie und Finanzsektor und (b) die Dominanz des Geldkapitals bzw. des zinstragenden Kapitals. Die Dominanz des Letzteren ergibt sich daraus, dass es an keine stoffliche Basis gebunden ist, dass es rascher und freier von einer Anlagesphäre zur anderen geleitet werden kann. Zweitens bedarf jede große industrielle Unternehmung enormer zusätzlicher Aufwendungen für Investitionen über den im eigenen Betrieb erwirtschafteten Akkumulationsfonds hinaus, die über Aktienmärkte, Anlagefonds, Unternehmensanleihen, Kredite etc. gefunden werden müssen.

Marx selbst beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Kredits auf das industrielle Kapital, insbesondere im Kapitel „Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion“ und konstatiert dabei bedeutende Phänomene, die auf die Entstehung eines Finanzkapitals im Sinne Lenins durchaus hinweisen. Neben der Vermittlung der Ausgleichsbewegung der Profitrate, der Beschleunigung der Zirkulation und der Verringerung der Zirkulationskosten verweist er mit der Bildung des Aktienkapitals – wenn man so will, einer Form von Finanzkapital – auf folgende Auswirkungen:

„1. Ungeheure Ausdehnung der Stufenleiter der Produktion und Unternehmungen, die für Einzelkapitale unmöglich waren. Solche Unternehmungen zugleich, die früher Regierungsunternehmungen waren, werden gesellschaftliche.

2. Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht und eine gesellschaftliche Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitskräften voraussetzt, erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.

3. Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremdes Kapitals, und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten. Selbst wenn die Dividenden, die sie beziehn, den Zins und Unternehmergewinn, d. h. den Totalprofit einschließen (denn das Gehalt des Dirigenten ist, oder soll sein, bloßer Arbeitslohn einer gewissen Art geschickter Arbeit, deren Preis im Arbeitsmarkt reguliert wird, wie der jeder andren Arbeit), so wird dieser Totalprofit nur noch bezogen in der Form des Zinses, d. h. als bloße Vergütung des Kapitaleigentums, das nun ganz so von der Funktion im wirklichen Reproduktionsprozeß getrennt wird wie diese Funktion, in der Person des Dirigenten, vom Kapitaleigentum. Der Profit stellt sich so dar (nicht mehr nur der eine Teil desselben, der Zins, der seine Rechtfertigung aus dem Profit des Borgers zieht) als bloße Aneignung fremder Mehrarbeit, entspringend aus der Verwandlung der Produktionsmittel in Kapital, d. h. aus ihrer Entfremdung gegenüber den wirklichen Produzenten, aus ihrem Gegensatz als fremdes Eigentum gegenüber allen wirklich in der Produktion tätigen Individuen, vom Dirigenten bis herab zum letzten Taglöhner. In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum, also auch die Arbeit gänzlich getrennt vom Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit.“ [lxxv]

Darüber hinaus verweist er auch darauf, dass diese bestimmten Formen des zinstragenden Kapitals zeitweilig dazu führen können, dass diese Gesellschaftsunternehmungen von der Ausgleichsbewegung der Profitrate ausgenommen werden können [lxxvi] und auch auf die Tendenz zur Monopolbildung.

Allerdings bleibt die Bewegung, diese Tendenz zur Aufhebung des Kapitalismus auf Basis des Kapitalismus, in inneren Widersprüchen befangen:

„Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie (anscheinend, offensichtlich; d. Red.) als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus. Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.“ [lxxvii]

Und weiter: „In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die Form der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken; statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlicher und als Privatreichtum zu überwinden, bildet sie ihn nur in neuer Gestalt aus.“ [lxxviii]

Daraus erklärt sich auch, warum die Bewegungen des zinstragenden Kapitals, zumal wenn wir den Kredit nicht nur auf das industrielle, sondern auf Kapitaleigentum selbst, auf Kapital als Ware beziehen, dass sich – ähnlich wie das Monopol – das zinstragende Kapital von den Schranken der Ausgleichsbewegung der Durchschnittsprofitrate zu „befreien“ versucht, was die Form von Spekulation, Finanzblasen, abgeleiteten Geschäften, Glücksritterei annimmt. In jedem Fall geht diese mit einer Zunahme des Parasitismus einher, weil eine ganze Schicht von VermögensbesitzerInnen geschaffen wird, die keine Rolle für die eigentliche Produktion spielt, wohl aber eben, weil sie Kommando über das gesellschaftliche Gesamtkapital immer wesentlicher mit ausübt, sich daran bereichert.

Letztlich bleibt aber auch das Finanzkapital an die Ausgleichsbewegung der gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate und die Mehrwertproduktion gebunden – so sehr es sich auch über längere Zeitabschnitte davon zu befreien scheint (oder den AnlegerInnen ein solche Befreiung mit ständig steigenden Renditeversprechen verheißt). Daher bleibt letztlich auch das Verhältnis der verschiedenen Seiten des Finanzkapitals – von industriellem und zinstragendem, der verschiedenen Profitabilitätserwartungen auch der Großkapitale – über die Konkurrenz vermittelt.

Eine solche Korrektur des Begriffs des Finanzkapitals erscheint uns notwendig, weil er so für die gesamte Epoche nutzbar gemacht werden kann und weil er so gerade der Phase nach 1945 weitaus mehr entspricht.

10. Vereinseitigungen der Theorie und ihre Folgen

Wir haben gesehen, dass im Monopolbegriff von Hilferding, aber auch von Lenin bereits ein grundlegendes Problem angelegt ist – die Frage der Bestimmung des Verhältnisses von Konkurrenz und Monopol.

Bei Hilferding kommt dies schon im „Finanzkapital“ zum Ausdruck, wenn er die theoretische Möglichkeit eines organisierten, regulierten Kapitalismus ins Auge fasst. Hinzu kommt, dass er – unter anderem auch eine Folge seiner falschen Geldtheorie, die dieses wesentlich als Zirkulationsmittel auffasst und die Wertbestimmung des Geldes in die Zirkulation verlagert – die Ungleichgewichte (Disproportionen) in den Tauschbeziehungen als eigentliche Krisenursache im Kapitalismus betrachtet. Es ist daher in seinem Sinne nur folgerichtig, dass, je stärker monopolisiert eine Ökonomie, je mehr sie über Kartelle oder staatliche Intervention reguliert und staatskapitalistisch geplant wird, die Krisen in den Hintergrund treten –  jedenfalls bei einer richtigen staatlichen Lenkung.

„Mit der Entwicklung des Bankwesens, mit der immer enger werdenden Verflechtung der Beziehungen zwischen Bank und Industrie verstärkt sich die Tendenz, einerseits die Konkurrenz der Banken untereinander immer mehr auszuschalten, anderseits alles Kapital in der Form von Geldkapital zu konzentrieren und es erst durch die Vermittlung der Banken den Produktiven zur Verfügung zu stellen. In letzter Instanz würde diese Tendenz dazu führen, daß eine Bank oder eine Bankengruppe die Verfügung über das gesamte Geldkapital erhielte. Eine solche ‚Zentralbank’ würde damit die Kontrolle über die ganze gesellschaftliche Produktion ausüben.“ [lxxix]

Von hier ist es nicht mehr weit zum „Generalkartell“, das bei Hilferding die kapitalistische Ökonomie umfasst:

„Es entsteht aber die Frage, wo die Grenze der Kartellierung eigentlich gegeben ist. Und diese Frage muß dahin beantwortet werden, daß es eine absolute Grenze für die Kartellierung nicht gibt. Vielmehr ist eine Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung vorhanden. Die unabhängigen Industrien geraten, wie wir gesehen haben, immer mehr in Abhängigkeit von kartellierten, um schließlich von ihnen annektiert zu werden. Als Resultat des Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische Produktion wird bewußt geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt. Dann wird die Preisfestsetzung rein nominell und bedeutet nur mehr die Verteilung des Gesamtprodukts auf die Kartellmagnaten einerseits, auf die Masse aller anderen Gesellschaftsmitglieder anderseits. Der Preis ist dann nicht Resultat einer sachlichen Beziehung, die die Menschen eingegangen sind, sondern eine bloß rechnungsmäßige Art der Zuteilung von Sachen durch Personen an Personen. Das Geld spielt dann keine Rolle. Es kann völlig verschwinden, da es sich ja um Zuteilung von Sachen handelt und nicht um Zuteilung von Werten. Mit der Anarchie der Produktion schwindet der sachliche Schein, schwindet die Wertgegenständlichkeit der Ware, schwindet also das Geld. Das Kartell verteilt das Produkt. Die sachlichen Produktionselemente sind wiederproduziert worden und werden zu neuer Produktion verwendet. Von dem Neuprodukt wird ein Teil auf die Arbeiterklasse und die Intellektuellen verteilt, der andere fällt dem Kartell zu beliebiger Verwendung zu. Es ist die bewußt geregelte Gesellschaft in antagonistischer Form. Aber dieser Antagonismus ist Antagonismus der Verteilung. Die Verteilung selbst ist bewußt geregelt und damit die Notwendigkeit des Geldes vorüber. Das Finanzkapital in seiner Vollendung ist losgelöst von dem Nährboden, auf dem es entstanden. Die Zirkulation des Geldes ist unnötig geworden, der rastlose Umlauf des Geldes hat sein Ziel erreicht, die geregelte Gesellschaft, und das Perpetuum mobile der Zirkulation findet seine Ruh’.“ [lxxx]

Im „Finanzkapital“ betrachtet Hilferding das Generalkartell jedoch noch als bloß theoretische Möglichkeit, weil es nur aus enormen Klassenkämpfen und Erschütterungen der Gesellschaft entstehen könne. Die reformistischen und harmonistischen Schlussfolgerungen liegen jedoch schon in der „Hypothese“ klar auf der Hand. Mit seinem Übergang  vom marxistischen Zentrum der II. Internationale zum offenen Reformismus und Sozialpatriotismus geht Hilferding auch in seinen politischen Schlussfolgerungen nach rechts. Das „Generalkartell“ soll, mit ihm als sozialdemokratischem Finanzminister, als „organisierter Kapitalismus“ Wirklichkeit werden.

Auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927 präsentierte Hilferding seine Theorie und stellte fest, dass wir „zu einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft kommen, also von der Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten Wirtschaft. (…) Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip der planmäßigen Produktion.“ [lxxxi]

Hier zeigt sich, welche fatalen Schlussfolgerungen in der Theorie Hilferdings angelegt sind. Natürlich sind es nicht einfach seine Schwächen, die dazu führen. Der Übergang der Sozialdemokratie ins bürgerliche Lager bildet die Triebkraft, die Hilferding nach rechts treibt und damit das Generalkartell von einer theoretischen Möglichkeit in eine Form des „organisierten Kapitalismus“ zur theoretischen Rechtfertigung bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik verwandelt.

Natürlich wird nicht jede/r ReformistIn, der/die einen falschen oder unzureichenden Begriff von Monopol, Finanzkapital und ihrem Verhältnis zu den allgemeinen Gesetzen des Kapitalismus hat. Aber unabhängig vom Willen Einzelner enthalten die Theorien und Begrifflichkeiten immer eine Eigenlogik, deren innere Probleme früher oder später als politische Fehler, im schlimmsten Fall als Revisionismus zum Vorschein treten.

Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die Hilferding’sche falsche Konzeption von Krisen, Geldtheorie und der geschichtlichen Tendenzen des Finanzkapital zu reformistischen Schlussfolgerungen führte, ja führen musste.

Lenin war sich dieser Tatsache durchaus bewusst – und zwar nicht nur, weil sich Hilferding als Sozialpazifist im Weltkrieg erwies und, ähnlich Kautsky, die Rolle eines Versöhnlers gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie spielte, in deren Schoß er schließlich zurückkehrte. Lenin bemerkt und kritisiert in den Exzerpten zum „Finanzkapital“ [lxxxii] wie in seinen Schriften Hilferdings idealistische philosophische Anschauungen (seinen „Machismus“), die Vorstellung, dass Geld ohne Wert in die Zirkulation eingehe, seine harmonistische Vorstellung, dass die zunehmende Konzentration und Zentralisation von Banken die Krise abschwäche. Lenin notiert in den Exzerpten auch, dass „von den einzelnen Kartellen eine Aufhebung der Krisen erwarten“ einer „Einsichtslosigkeit“ [lxxxiii] auf Seiten Hilferdings gleichkomme.

Im Unterschied zu Letzterem geht Lenin auch nicht von einer Beseitigung der Konkurrenz und der Krisen aus – er betrachtet die zunehmende Tendenz zum Monopol durchaus auch als etwas, das gegenläufige Tendenzen mit hervorbringt. Aber wie wir gesehen haben, greift hier Lenins Kritik gegenüber Hilferding zu kurz. Seine ausgewogenere, offenere und dialektischere Position unterscheidet sich daher jedoch durchaus grundsätzlich vom Reformismus als Kernelement der Hilferding’schen Auffassung.

Doch gerade dessen Fehler wirken bis heute nach. Einerseits greifen sehr viele reformistische Konzeptionen auf eine falsche Krisentheorie, sei es eine Disproportionalitätstheorie oder eine Unterkonsumtionstheorie zurück. Letztere Auffassung findet sich bei Kautsky (und auch bei Rosa Luxemburg). Die Krisen werden nicht aus der Akkumulation des Kapitals, also seiner inneren Bewegung hergeleitet, sondern aus der Zirkulationssphäre oder dem beschränkten Konsum, sodass es naheliegt, dass sie mithilfe staatlicher Regulierung und Intervention beseitigt, durch Umverteilung gelöst werden können. Während die Sozialdemokratie (und die von ihr dominierten Gewerkschaften) nach dem Ersten Weltkrieg die Theorie des „organisierten Kapitalismus“ in eine bürgerlich-harmonistische Politik einbetteten und nach 1945 mit bürgerlichen Theorien wie dem Keynesianismus kombinierten, griffen einige kommunistische TheoretikerInnen, vor allem Bucharin, die Hilferding’sche Vorstellung einer Ausschaltung der Konkurrenz im Rahmen einer Nationalökonomie auf und radikalisierten sie gewissermaßen, wenn auch zuerst mit ultralinken und keineswegs mit harmonischen Vorstellungen der Weltwirtschaft.

Für Bucharin entwickelt sich, wie er in „Imperialismus und Weltwirtschaft“ [lxxxiv] darlegt, die nationale kapitalistische Ökonomie zu einem einzigen staatskapitalistischen Trust. Auch wenn das noch nicht ganz vollzogen sein mag.

„Das Finanzkapital schlägt das gesamte Land in eiserne Fesseln. Die „Volkswirtschaft“ verwandelt sich in einen einzigen gewaltigen kombinierten Trust, dessen Teilhaber die Finanzgruppen und der Staat sind. Solche Bildungen nennen wir staatskapitalistische Trusts. Es ist natürlich unmöglich, ihre Struktur mit der Struktur eines Trusts im engeren Sinne des Wortes zu identifizieren; dieser ist eine mehr zentralisierte und weniger anarchische Organisation. Aber bis zu einem gewissen Grade und besonders im Vergleich zu der vorhergehenden Phase des Kapitalismus haben die wirtschaftlich entwickelten Staaten sich in einem bedeutenden Grade bereits dem Punkt genähert, wo man sie als eine Art von trustähnlichen Organisationen oder, wie wir sie genannt haben, als staatskapitalistische Trusts betrachten kann. Deshalb kann man jetzt von einer Konzentration des Kapitals in staatskapitalistischen Trusts als den Bestandteilen eines viel bedeutenderen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Feldes, der Weltwirtschaft, sprechen.“ [lxxxv]

Anders als bei Hilferding hebt diese Entwicklung jedoch die Konkurrenz nicht auf, sie beseitigt sie nur im Rahmen des nationalen gesellschaftlichen Gesamtkapitals, um sie umso heftiger und in Permanenz auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitik zum Ausbruch kommen zu lassen.

„Der Kapitalismus hat versucht, seine eigene Anarchie dadurch zu überwinden, daß er ihr die eiserne Fessel der staatlichen Organisation anlegte. Indem er aber die Konkurrenz innerhalb des Staates aufhob, ließ er alle Teufel im internationalen Kampf los.“ [lxxxvi]

Oder an anderer Stelle: „Die Konkurrenz erreicht die höchste und letzte denkbare Entwicklungsstufe: die Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts auf dem Weltmarkt. In den Grenzen der ,nationalen’ Wirtschaften wird sie auf ein Minimum reduziert, aber nur, um in gewaltigem, in keiner der vorhergehenden Epochen möglichen Umfange aufs neue zu entbrennen.“ [lxxxvii]

Diese enge Verschmelzung von Staat und Kapital bedeutet aber auch, dass die Konkurrenz eine andere Form annimmt:

„Hier feiert die Konkurrenz ihre wildesten Orgien, und zugleich mit ihr verwandelt sich der Prozeß der Zentralisation des Kapitals und erreicht eine höhere Phase. Die Aufsaugung kleiner Kapitale, die Aufsaugung schwacher Trusts, ja sogar die Aufsaugung großer Trusts tritt in den Hintergrund und erscheint als ein Kinderspiel gegenüber der Aufsaugung ganzer Länder, die gewaltsam von ihren wirtschaftlichen Mittelpunkten losgerissen und in das wirtschaftliche System der siegreichen ,Nation’ einbezogen werden. Die imperialistische Annexion ist somit ein Sonderfall der allgemeinen kapitalistischen Tendenz zur Zentralisation des Kapitals, zu seiner Zentralisation in dem maximalen Umfang, der der Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts entspricht.“ [lxxxviii]

Der Begriff der kapitalistischen Konkurrenz bezieht sich hier nicht darauf, wie die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals im Allgemeinen den Einzelkapitalien aufgezwungen werden können, sondern wird eigentlich zu einer politischen Kategorie. Es stehen sich Staatenkapitale als Konkurrenten gegenüber, die mit allen Mitteln um die Vorherrschaft auf der Welt kämpfen. Krieg wird, wie Bucharin weiter ausführt, zum Mittel das Anschlusses eines Trusts an einen anderen (z. B. Eroberung Belgiens durch Deutschland) oder eines Agrargebietes an einen Trust (Eroberung Ägyptens durch Britannien).

Bucharins Fehler besteht nicht darin, dass er auf die zentrale Bedeutung bestimmter Eroberungen von Kolonien und Krieg im Rahmen des imperialistischen Systems und der Verfolgung von Interessen nationaler Kapitalgruppen hinweist. Im Gegenteil, angesichts des Flächenbrands des imperialistischen Weltkrieges rückt diese Form der Verfolgung des Kapitalinteresses wie auch die Zentralisierung der Ökonomien im Krieg in den Mittelpunkt des Interesses.

Bucharin begeht hier aber den Fehler, die kapitalistische Konkurrenz als ökonomische Kategorie mit den Aktionen des bürgerlichen Staates, des konzentrierten Gesamtkapitalisten zu identifizieren. Die Tendenz zur staatlichen Zwangsregulierung (und damit auch zum Monopol) während des Krieges interpretiert Bucharin fälschlicherweise als lineare geschichtliche. Die Krise wird für ihn permanent, weil der ständige Kampf um die Neuaufteilung der Welt ständig zur brutalsten Austragungsform, zu Eroberung, Plünderung, Krieg drängt.

Die konzeptionelle Nähe zu Hilferding ist bei den theoretischen Grundvorstellungen (Generalkartelle und Staatstrust) offenkundig, die Schlussfolgerungen sind jedoch entgegengesetzt.

Jedoch problematisch und politisch falsch sind  die Schlussfolgerungen von Bucharin auch. Seine „linksradikale“ Weiterführung von Hilferding kennt im Grunde keine Stabilisierung mehr. Wenn, dann sei diese  nur vorübergehend, nebensächlich angesichts der Permanenz der „Krise“, der ständig sich verschärfenden innerimperialistischen Widersprüche, die eigentlich keine Atempause für die herrschende Klasse erlauben.

In der „Ökonomik der Transformationssperiode“ [lxxxix] radikalisiert er dieses Ansicht noch:

„Die kapitalistische ,Volkswirtschaft’ ist aus einem irrationalen System zu einer rationalen Organisation geworden, aus einer subjektlosen zu einem wirtschaftenden Subjekt. Diese Umwandlung ist durch das Wachstum des Finanzkapitalismus und die Verschmelzung der wirtschaftlichen und politischen Organisation der Bourgeoisie gegeben. Zugleich aber wurde weder die Anarchie der kapitalistischen Produktion überhaupt, noch die Konkurrenz der kapitalistischen Warenproduzenten aufgehoben. Diese Erscheinungen sind nicht nur geblieben, sondern haben sich vertieft, indem sie sich im Rahmen der Weltwirtschaft reproduzieren.” [xc]

Der Kapitalismus sei insgesamt in eine Phase der „negativen erweiterten Reproduktion“ getreten, also eines permanenten Niedergangs, einer Dauerkrise:

„Wir sahen bereits deutlich, daß der Zerfallsprozeß mit absoluter Unvermeidlichkeit einsetzt, nachdem die erweiterte negative Reproduktion den gesellschaftlichen Mehrwert (m) verschluckt hat … Die konkrete Sachlage in der Wirtschaft Europas in den Jahren 1918 – 1920 zeigt deutlich, daß diese Verfallsperiode bereits eingetreten ist und daß Anzeichen für eine Auferstehung des alten Systems der Produktionsverhältnisse fehlen. Umgekehrt. Alle konkreten Tatsachen weisen darauf hin, daß die Elemente des Zerfalls und der revolutionären Auflösung der Verbindungen mit jedem Monat fortschreiten.” [xci]

Und daraus folgt die Schlussfolgerung:

„Aber jetzt dürfen wir behaupten, daß eine Wiederherstellung des alten kapitalistischen Systems unmöglich ist … Die Menschheit steht also vor dem Dilemma: entweder ,Untergang’ der Kultur oder Kommunismus, nichts Drittes ist möglich.[xcii]

Diese theoretische Konzeption führte Bucharin und andere zu mehreren, potentiell fatalen politischen Schlussfolgerungen. Erstens einer sektiererischen Haltung zu demokratischen Fragen (siehe z. B. die nationale Frage) und Teilforderungen. Zweitens machte es ihn zu einem Befürworter einer voluntaristischen Offensive, bei der das konkrete Kräfteverhältnis eine nachrangige Rolle spielte. Hier lässt sich der innere Zusammenhang zwischen einer ultralinken Lesart der Endkrise und „negativen erweiterten Reproduktion“ mit seiner Ablehnung des Friedens von Brest-Litowsk und seiner Befürwortung eines revolutionären Krieges leicht erkennen. Diese politischen Differenzen zwangen Lenin schließlich auch, selbst die Vereinseitigungen der Bucharin’schen Theorie kritisch in den Blick zu nehmen. So kritisiert er in der Diskussion um ein neues Parteiprogramm die Tendenz, den Imperialismus als mehr als eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus zu sehen:

„Der Imperialismus gestaltet in Wirklichkeit den Kapitalismus nicht von Grund aus um, und er kann es auch nicht. Der Imperialismus kompliziert und verschärft die Widersprüche des Kapitalismus, er ‚verknotet’ die Monopole mit der freien Konkurrenz, aber den Austausch, den Markt, die Konkurrenz, die Krisen usw. beseitigen kann der Imperialismus nicht. ( … ) Nicht reine Monopole, sondern Monopole neben dem Austausch, dem Markt, der Konkurrenz, den Krisen – das ist überhaupt die wesentlichste Eigenart des Imperialismus.

Darum ist es theoretisch falsch, die Analyse des Austauschs, der Warenproduktion, der Krisen usw. überhaupt zu streichen und sie durch die Analyse des Imperialismus als eines Ganzen zu ‚ersetzen’. Denn ein solches Ganzes gibt es nicht. Es gibt einen Übergang von der Konkurrenz zum Monopol, und daher wird ein Programm, das die allgemeine Analyse des Austauschs, der Warenproduktion, der Krisen usw. beibehält und eine Charakteristik der heranwachsenden Monopole hinzufügt, viel richtiger sein, die Wirklichkeit viel exakter wiedergeben. Gerade diese Verkoppelung der einander widersprechenden ‚Prinzipien’ – Konkurrenz und Monopol – ist für den Imperialismus wesentlich, gerade sie bereitet den Zusammenbruch, d. h. die sozialistische Revolution vor.“ [xciii]

In den Diskussionen um den VIII. Parteitag der KPR(B) im Jahr 1919 wendet sich Lenin explizit gegen Bucharins Vorstellungen und deren Untauglichkeit für eine Neufassung des Programms:

„Theoretisch begreift das Gen. Bucharin vollkommen, und er sagt, das Programm müsse konkret sein. Aber etwas begreifen ist eins, es tatsächlich durchführen ist etwas anderes. Das Konkretsein des Gen. Bucharin – das ist eine büchergelehrte Darlegung des Finanzkapitalismus. In der Wirklichkeit beobachten wir verschiedenartige Erscheinungen. In jedem landwirtschaftlichen Gouvernement beobachten wir neben der monopolisierten Industrie freie Konkurrenz. Nirgendwo in der Welt hat der Monopolkapitalismus ohne freie Konkurrenz in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen existiert und wird er je existieren. Ein solches System aufstellen heißt ein vom Leben losgelöstes, ein falsches System aufstellen. (…) Auf dem Standpunkt stehen, es gäbe einen einheitlichen Imperialismus ohne den alten Kapitalismus, heißt das Gewünschte für die Wirklichkeit nehmen.“ [xciv]

Lenins Bemerkungen verweisen auf zwei wichtige Aspekte. Erstens wendet er sich gegen die „leblose“ Vorstellung, dass das Monopol und Finanzkapital die Konkurrenz stetig mehr und mehr verdrängen oder gar ersetzen und die Gesetze des „alten Kapitalismus“ aufheben würden, auch wenn er selbst keine korrekte begriffliche Bestimmung von Konkurrenz und Monopolkapital leistet. Gerade Lenins Insistieren auf der „konkreten Analyse der konkreten Situation“ wappnet gegen den Versuch, komplexe historische Verhältnisse in starre Schemata zu pressen.

Zweitens verweist Lenin in obigen Passagen und seinen längeren Ausführungen darauf, dass Schematismus leicht dazu führt, sich anstelle eines konkreten Aktionsprogramms für eine bestimmte Situation oder Phase des Klassenkampfes mit Generalisierungen, allgemeinen Erwägungen zu begnügen und in einen abstrakten Maximalismus und Pseudoradikalismus abzugleiten.

Unglücklicherweise knüpfte jedoch die Kommunistische Internationale nach Lenins Tod wesentlich an die Methode Bucharins an – das betrifft sowohl den von Sinowjew inspirierten V. Weltkongress als auch Bucharins Programmentwurf für den VI.

Einerseits wurden die programmatischen Errungenschaften der ersten vier Weltkongresse, also die gesamte Methode der Übergangsforderungen, mehr und mehr über Bord geworfen und entweder durch opportunistische (Anglo-Russisches Gewerkschaftskomitee, Chinesische Revolution) oder durch ultralinke Fehler („Dritte Periode“, Ablehnung der Einheitsfrontpolitik, Sozialfaschismustheorie) ersetzt. Vor allem aber verabschiedete sich die Komintern vom Internationalismus und ersetzte diesen durch die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land, einer reaktionären Rechtfertigungsideologie der sich mehr und mehr verfestigenden Herrschaft der Bürokratie in der Sowjetunion unter Stalin.

Die schematische Fassung des Monopolkapitals durch Hilferding und dann auch durch Bucharin ging jedoch in mehrfacher Hinsicht in die theoretische Begründung der Politik der kommunistischen Parteien nach der Wende zur Volksfrontpolitik ein.

Insbesondere die Theorie des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ wurde zur Leitideologie von Parteien wie der DKP oder KPÖ. Diese Konzeption knüpfte an Vorstellungen von Hilferding und Bucharin an, namentlich, dass die großen Kapitalgruppen und der Staat miteinander verschmolzen wären und die gesamte Wirtschaft und sozialen Verhältnisse dominieren würden. Dies würde das Monopolkapital und die von ihm dominierten politischen Institutionen in einen Gegensatz zu allen anderen Teilen der Gesellschaft, ArbeiterInnenklasse, KleinbürgerInnentum bis hin zum „nichtmonopolistischen“ Kapital, bringen. Gegen die Herrschaft des Monopols bräuchte es ein Bündnis all dieser Klassen, die gemeinsam eine „antimonopolistische Demokratie“ errichten sollten, die ihrerseits irgendwann auf wundersame Weise zur Diktatur des Proletariats führen würde, ganz so, wie die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung irgendwann in den friedlichen Übergang zum Sozialismus münden sollte.

Im Grunde war und ist die „antimonopolistische Demokratie“ nur eine Neuauflage reformistischer Politik und der Volksfrontpolitik, die über ein Bündnis mit einem „fortschrittlichen“, in diesem Fall dem „nichtmonopolistischen“, also eigentlich ökonomisch rückständigsten, Teil des Kapitals realisiert werden sollte. Auch wenn es nie zu einer solchen Regierung kam – am ehesten wurden noch Regierungsbeteiligungen westlicher KPen an sozialdemokratischen Regierungen in diesem Sinn interpretiert –, so waren die Wirkungen dieser Strategie auf die ArbeiterInnenklasse dieselben wie bei jeder reformistischen. Um „antimonopolistische“ Bündnisse überhaupt herstellen zu können, mussten selbstverständlich auch die Interessen des „nichtmonopolistischen“ Kapitals berücksichtig werden, im Klartext also die der ArbeiterInnenklasse mit jenen dieser Kapitalfraktion in Einklang gebracht, also letztlich untergeordnet werden.

Anders jedoch als die Theorie Bucharins – von Lenin ganz zu schweigen – bildete in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der internationale Klassenkampf allenfalls eine Nebenrolle. Das „antimonopolistische“ Bündnis war immer als eines in einem Nationalstaat gedacht. Dies drückte sich auch in den Programmen der eigentlich reformistischen „Kommunistischen Parteien“ der Nachkriegsperiode aus, die einen „britischen“, „italienischen“ usw. Weg zum Sozialismus versprachen. Die KPÖ nannte ihr Programm gar „Sozialismus in rot-weiß-roten Farben“. Rückblickend erscheint das fast schon wie eine unfreiwillige Selbstparodie. Nichtsdestotrotz sollten die verheerenden Auswirkungen dieser Theorien, zu deren Rechtfertigung reihenweise Leninzitate herangezogen und oft genug auch entstellt wurden, nicht unterschätzt werden. Die sogenannte „Stamokaptheorie“ und ähnliche Vorstellungen über den zeitgenössischen Imperialismus prägten die Politik der westlichen Kommunistischen Parteien und etlicher linker AktivistInnen für ganze Generationen – und banden sie letztlich an eine reformistische Theorie und Praxis.

Die Kritik dieser Theorie bildete daher eine wichtige Aufgabe von RevolutionärInnen, genauso wie jeder Rückbezug darauf, jede Rehabilitierung dieser Konzeption bekämpft werden muss.

Dies erfordert freilich nicht nur Kritik, sondern auch eine ständige Aktualisierung der Imperialismustheorie selbst.

11. Wertgesetz auf dem Weltmarkt

11.1 Wertbildung und gesellschaftliches Gesamtkapital

Die Diskussionen über die Modifikation des Wertgesetzes und dessen generelle Wirkungsweise auf dem Weltmarkt, die in der deutschsprachigen Linken Anfang der 1970er Jahre geführt wurden, versuchten, einige dieser Probleme und offene Stellen der Lenin’schen Theorie und ihre Entstellungen zu überwinden. Bei allen Schwächen, die eine Reihe dieser Beiträge auch hatte – insbesondere die mit einer rein begriffslogischen Betrachtung der Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und der damit einhergehenden Verwerfung des Imperialismus- und Epochenbegriffs –, warfen sie wichtige Fragen auf, die jede Imperialismustheorie auch zu beantworten hat.

Schließlich hatten sich die Erscheinungsformen des Imperialismus seit dem Tod Lenins und seit der frühen Kommunistischen Internationale nach dem 2. Weltkrieg fundamental verändert, und dies bedurfte daher einer theoretischen Erklärung und Begründung. Die Frage der werttheoretischen Fundierung der internationalen Beziehungen oder generell des Imperialismus drängte sich geradezu auf. Wie eigentlich das Wertgesetz auf dem Weltmarkt wirkt, wie es modifiziert wird, wie Extraprofit aus den halbkolonialen Ländern gezogen werden kann usw. usf. musste notwendigerweise beantwortet werden. Mit dem Zusammenbruch der großen Kolonialreiche und der folgenden Entkolonialisierung, also dem Übergang zur halbkolonialen Form der imperialistischen Durchdringung und Ausbeutung der sog. Dritten Welt, musste notwendigerweise auch die Frage der Wirkung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt eine größere Bedeutung einnehmen als in der Ära des Kolonialsystems.

Die Behandlung dieser Fragestellung schließt notwendigerweise eine Betrachtung der Wertbestimmung selbst ein, die wir auch an den Beginn der folgenden Ausführungen stellen werden. Hier liegt zweifellos ein Verdienst verschiedener AutorInnen dieser Strömung, die sich um Zeitschriften wie „Probleme des Klassenkampfes“ gruppierte. [xcv] Die folgende Darstellung verdankt diesen Beiträgen wichtige Anregungen, insbesondere Wolfgang Schoellers „Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals“ [xcvi].

Um die Modifikationen des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt genauer darstellen zu können, müssen wir kurz wesentliche Momente der Wertbestimmung im Rahmen einer Nationalökonomie, genauer die Herstellung eines nationalen Gesamtkapitals betrachten.

a) Wertbestimmung der Ware

Wenn wir der Marx’schen Theorie folgen, so bereitet die Wertbestimmung einer Ware zunächst keine weiteren Schwierigkeiten. „Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen.“[xcvii]

Der Wert einer Ware wird durch die Menge der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit bestimmt, die dem vorherrschenden Entwicklungsgrad einer Ökonomie zu einem bestimmten Zeitpunkt entspricht. Dies kann, ja wird mit dem Fortschritt der Produktionsbedingungen wechseln, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt kann sie als gegeben betrachtet werden. Den Durchschnitt darf man außerdem auch nicht einfach als „statistisches Mittel“ ansehen, sondern als vorherrschende Produktionsbedingung.

In einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft – also einer, deren Produktion auf der großen Industrie beruht – erfolgte die Reduktion der verschiedenen Arbeiten auf den jeweiligen gesellschaftlichen Durchschnitt, vermittelt durch die Zirkulation der Waren und des Kapitals.

In diesem Zusammenhang erhalten auch ergänzende Bemerkungen von Marx, die sich auf die Realisierung des Werts beziehen und Gebrauchsquanten der Arbeit in die Wertbestimmung einfließen lassen, ihre Bedeutung:

„Wie es Bedingung für die Waren, daß sie zu ihrem Wert verkauft werden, daß nur die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in ihnen enthalten, so für eine ganze Produktionssphäre des Kapitals, daß von der Gesamtarbeitszeit der Gesellschaft nur der notwendige Teil auf diese besondre Sphäre verwandt sei, nur die Arbeitszeit, die zur Befriedigung des gesellschaftlichen Bedürfnisses (demand) erheischt. Wenn mehr, so mag zwar jede einzelne Ware nur die notwendige Arbeitszeit enthalten; die Summe enthält mehr als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, ganz wie die einzelne Ware zwar Gebrauchswert hat, die Summe aber, unter den gegebnen Voraussetzungen, einen Teil ihres Gebrauchswerts verliert.“ [xcviii]

Diese ergänzende und untergeordnete Bestimmung bildet einen notwendigen Bestandteil jeder Gesellschaft, die auf Warenproduktion basiert, da sich immer erst im Nachhinein, also im Kauf/Verkauf der Waren herausstellt, ob eine bestimmte Arbeit auch wirklich einen Gebrauchswert für andere darstellt, also KäuferIn findet. Findet sie diese nicht, wird das Resultat der Arbeit entwertet, bleibt als nutzlose Ware liegen, wird vernichtet. Gesamtgesellschaftlich erzwingt dies eine Anpassung der Produktion und der Verteilung der Arbeit auf die verschiedenen Branchen. Insofern stellt dieser zweite Aspekt der Wertbestimmung eine Form dar, die gesellschaftliche Durchschnittsarbeit immer wieder neu zu bestimmen.

b) Extramehrwert

Die Steigerung der Produktivität der Ware reduziert den Wert der Ware. Im selben Zeitraum werden zwar mehr Waren, also auch mehr Gebrauchswerte geschaffen, es wird aber kein zusätzlicher Wert gebildet, weil keine zusätzliche Arbeitsmenge verbraucht wird.

Der/die einzelne KapitalistIn jedoch, der/die zu überdurchschnittlichen gesellschaftlichen Bedingungen produziert, also in der Regel über höhere organische Zusammensetzung seines Kapitals verfügt, was zumeist einer fortgeschritteneren technischen Ausstattung entspricht, kann gegenüber der Konkurrenz, die zu durchschnittlichen Bedingungen schafft, einen Extramehrwert erzielen. Diesen eignet sich der/die produktivere KapitalistIn einer Branche an, indem er/sie seine/ihre Waren entweder über ihren individuellen Kosten verkaufen kann und damit mehr Mehrwert aneignet. Oder er/sie kann die Waren zum Wert verkaufen und damit die Konkurrenz unterbieten, da der Wert seiner Waren unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegt. Diese wird dann ihrerseits gezwungen, entweder unter Wert zu verkaufen oder den Verlust von Marktanteilen zu riskieren. In jedem Fall wird sie versuchen müssen, den Produktivitätsvorsprung des/r fortgeschritteneren WarenproduzentIn einzuholen.

Höhere Intensität der Arbeit bedeutet, dass z. B. durch Verdichtung der Arbeit in derselben Zeit mehr Arbeit verausgabt wird. Das heißt, es werden/wird nicht nur mehr Gebrauchswerte, also Warenquanta, geschaffen, sondern auch größerer Wert. Auch das Kapital, das eine höhere Intensität der Arbeit einsetzt als der Durchschnitt, kann sich Extramehrwert aneignen.

Es findet in diesen Fällen jedoch kein Werttransfer statt, sondern das Einzelkapital nutzt zeitweilig günstigere Bedingungen, die solange bestehen, wie es über den gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen produzieren kann.

Schoeller beschreibt das als „ungleichen Tausch von Arbeitsquanta“: „Die ‚Substanz’ des Extramehrwerts beruht nicht auf einer Umverteilung von Werten innerhalb einer Branche, sondern darauf, daß das produktivste Kapital pro aufgewendeter Menge Arbeitszeit ein vergleichsweise umfangreicheres Mehrprodukt erhält und sich somit durch einen ungleichen Tausch von Arbeitsquanta in der Zirkulation mehr Ansprüche auf fremde produzierte Warenwerte aneignen kann, als dieses selbst in die Zirkulation gegeben hat.“ [xcix]

c) Marktwert und Marktpreis

Die Veränderungen der Produktivität sowohl innerhalb einer Branche wie zwischen den Branchen werden über die Bewegungen des Marktpreises um den Marktwert vermittelt. Nehmen wir z. B. eine Branche mit Unternehmen verschiedener Produktionsbedingungen an. Bei relativ ausgeglichen Verhältnissen bestimmen die Unternehmen mittlerer Produktionsbedingungen den Marktwert, um den die Preise bei kurzzeitigen Schwankungen von Angebot und Nachfrage oszillieren.

Bei anhaltenden Ungleichgewichten zwischen Angebot und Nachfrage jedoch kann es auch zu einer Verschiebung des Marktwertes kommen. Wenn z. B. die Unternehmen mit mittleren und überdurchschnittlichen Produktionsbedingungen die Bedürfnisse der (zahlungsfähigen) Nachfrage nicht mehr bedienen können, kann der Marktwert von Unternehmen mit den schlechtesten Produktionsbedingungen bestimmt werden. Auch dies kann eine Quelle von Extramehrwert sein, wie oben beschrieben, indem Unternehmen mit höheren oder durchschnittlichen Produktionsbedingungen ihre Waren unter Wert verkaufen können.

Ein weiterer Aspekt tritt hier hinzu, der jedoch von den TheoretikerInnen der „Ableitungsschule“ wenig behandelt wird, nämlich dass Zentralisations- und Monopolisierungstendenzen des Kapitals eine solche Situation auch verlängern können, wie natürlich das große Kapital generell auf Verstetigung solcher Bedingungen drängt. Dies kann durchaus unterschiedlich behauptet werden, einerseits durch Anhalten von gesellschaftlicher Entwicklung (z. B. indem wie etwa im Energiesektor Innovation zurückgehalten wird, um auf fossilen Energieträgern basierende Produktion weiterzuführen), andererseits auch durch die Jagd nach Extramehrwert (indem die marktbeherrschenden Konzerne Innovationen monopolisieren, ihre Konkurrenz faktisch von diesen ausschließen und ihnen überhaupt erst keinen Marktzugang ermöglichen. Solche Fälle, wo faktisch Monopolpreise durchgesetzt werden, finden wir im heutigen Kapitalismus zuhauf, z. B. im Energiesektor, wo wenige Konzerne, die die Märkte unter sich aufgeteilt haben, durchsetzen, dass der „Übergang“ zu anderen Energieträgern von der Gesellschaft subventioniert wird und Preise für die KonsumentInnen entstehen, die einen Monopolprofit für faktisch jede/n ProduzentIn garantieren.

d) Durchschnittsprofit, Werttransfer

Die gesamtgesellschaftliche Verteilung der Waren wird über die Durchschnittsprofitrate und die Transformation der Werte zu Produktionspreisen vermittelt. Das Kapital mit einer höheren organischen Zusammensetzung eignet sich über die Ausgleichsbewegung der Profitrate und die Herstellung einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate einen größeren Teil des Mehrwerts an. Es findet also ein Werttransfer statt innerhalb der KapitalistInnenklasse selbst.

Die Ausgleichsbewegung der Profitrate konstituiert auch einen Druck zur Angleichung der Produktionsbedingungen innerhalb verschiedener Branchen sowie die Tendenz zum Fluss von Kapital in neue Anlagesphären.

Sie zwingt die Kapitale mit geringerer organischer Zusammensetzung zur Erneuerung des konstanten Kapitals, um ihren Konkurrenznachteil auszugleichen. Schließlich konstituiert sich mit der Ausgleichsbewegung der Profitrate auch ein gemeinsames Interesse der KapitalistInnenklasse hinsichtlich der Steigerung der Ausbeutungsrate. Wie auch immer der Gesamtprofit zwischen verschiedenen Branchen und Formen des Kapitals, ob als industrieller Gewinn, Handelsprofit oder Zins, verteilt sein mag: Die Masse, die verteilt werden kann, steigt natürlich mit der Masse der Mehrarbeit, die sich das Gesamtkapital aneignet.

e) Zentralisation, Monopolisierungstendenzen und Finanzkapital

Unter den einzelnen konkurrierenden Kapitalen versuchen jene, die eine marktbeherrschende Stellung erlangt haben, die z. B. Kartelle, Trusts, Monopole oder Oligopole in einer oder mehreren Branchen bilden, ihre Stellung zu verewigen. Dies  liegt schon in der Logik der Zentralisation des Kapitals.

In der Diskussion um die Bewegung der Profitrate führt Marx auch eine Reihe von Faktoren an, die dem Fall der Profitrate entgegenwirken. Einige betreffen direkt die Erhöhung der Mehrwertrate, andere die Herausbildung von gesellschaftlichen Formen des Kapitals (Aktiengesellschaft, Kredit), schließlich die Ausdehnung der Operationen des Kapitals auf dem Weltmarkt (Waren- und Kapitalverkehr; Reduktion des Wertes der Ware Arbeitskraft infolge des Imports günstigerer Waren).

Die Entwicklung von gesellschaftlichen Formen des Kapitals inkludiert zugleich auch eine Tendenz, die Bewegung der Profitrate zu modifizieren. Nicht zuletzt vermittelt das Finanzkapital (in Form des Kredits, in Form der Verbindung der großen industriellen oder auch kommerziellen Kapitale mit Banken und Finanzinstitutionen) die Neuinvestitionen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

Daraus entstehende Zentralisation und Monopolisierungstendenzen führen daher immer wieder dazu, die Ausgleichsbewegung der Profitrate zu modifizieren oder einschränken zu können. Durch die Sicherung von Monopolprofiten können sich die stärker zentralisierten, dominierenden Sektoren der Industrie der Ausgleichsbewegung der Profitrate zeitweilig entziehen. Es findet ein Werttransfer vom nichtmonopolisierten Sektor zum zentralisierteren statt.

Diese Bewegung darf jedoch nicht als eine lineare Entwicklung hin zu einem Staatskapitalismus missverstanden werden. Das Monopol stellt nicht „die“ Form des vergesellschafteten Kapitals dar, sondern nur eine von ihnen. So war z. B. die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg  in den imperialistischen Zentren in der Regel von der Konkurrenz verschiedener Großkapitale auf den nationalen Märkten geprägt, und zwar sowohl in der Phase des „langen Booms“ als auch im Neoliberalismus. Staatlich monopolisierte Sektoren, die privatkapitalistisch lange als unrentabel galten (z. B. Infrastruktur, Eisenbahnen, Gesundheitssektor, Bildungswesen) wurden privatisiert und zur Quelle privater Akkumulation. Ein ähnlicher Prozess kann bei der Privatisierung ehemaliger staatlicher Monopole (z. B. Post, Telekommunikation) beobachtet werden, die sich zu riesigen privatwirtschaftlichen Konzernen (teilweise auch zu privaten Monopolen) transformierten.

Die Zentralisationstendenz freilich ist am größten im Bereich des zinstragenden Kapitals, wo sie zugleich, die imperialistische Epoche in ihrer Gesamtheit betrachtet, mit großen Formveränderungen einhergeht. Damit verändert sich die relative Bedeutung von Banken, Börse, Fonds, Versicherungen in den verschiedenen Entwicklungsphasen.

Gemeinsam ist der Herausbildung des Finanzkapitals jedoch, dass das zinstragende Kapital, wie auch immer das Verhältnis zum industriellen Kapital sei, letzteres dominiert, weil ersteres die Akkumulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals vermittelt. Mit der wachsenden Mindestgröße an Kapital, die für industrielle Unternehmungen erforderlich ist, um überhaupt am Markt agieren zu können, kann dieses Startkapital nur über Kapitalmärkte aufgebracht werden, muss also  über das Finanzkapital laufen.

Seine dominierende Rolle hängt ferner damit zusammen, dass  es die abstrakteste Form des Kapitals darstellt, dass seine Bewegung die Form G – G’ annimmt, in der jeder Bezug zur Mehrwertproduktion als Basis dieser Bewegung ausgelöscht scheint. Mit seiner eigenen Entwicklung nimmt diese Bewegung immer bizarrere, abgeleitetere Formen an. Das Kapital versucht, sich gewissermaßen von den Schranken seiner Expansion loszureißen, die mit der Produktion und Realisierung des Mehrwerts unvermeidbar einhergehen, z. B. durch die Fixierung des Kapitals in Produktionsmittel und Arbeitskraft während der Produktion oder in Warenform beim kommerziellen Kapital.

Die Reduktion der Lagerhaltung, Just-in-Time-Produktion, Verringerung der Umschlagszeit sind Mittel, nicht nur den Wert des konstanten Kapitals zu reduzieren, sondern auch die Bindung des Kapitals an die Produktion möglichst zu verringern. Wie gering diese Transaktionszeit und Kosten auch werden mögen, wie sehr die Produktion auch „verschlankt“ werden mag, letztlich kann sie nie eine zeitliche Fixierung des konstanten Kapitals gänzlich überwinden. Im Gegenteil, alle diese Versuche gehen oft auch mit einer Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und des im Kapitalstock gebundenen Teils des Gesamtkapitals einher. So sehr das Finanzkapital auch versucht, sich von diesen Fixierungen freizumachen, letztlich kann es dieser Bindung nicht entfliehen.

Als herrschendes Kapital weist das Finanzkapital die stärksten Tendenzen zur Monopolisierung, zur Verewigung seiner beherrschenden Stellung auf und verfügt dazu auch über enorme Hebel. Umgekehrt ist seine Bewegung, sind seine Investitionsentscheidungen selbst an Profitabilitätserwartungen orientiert und damit über die Konkurrenz vermittelt. Wo sie selbst bestimmte Operationen für Nationalökonomien vornehmen (z. B. Schulden in der sog. Dritten Welt finanzieren oder auf monopolisierten Märkten wie dem Wohnungsmarkt agieren), können sie natürlich auch reinste Formen von Parasitismus und Plünderung annehmen.

Mit der Entwicklung des Außenhandels und der zentralen Bedeutung des Kapitalexports vervielfacht sich die Macht des Finanzkapitals.

f) Begriff des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und der allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion

Bevor wir jedoch auf die globalen Verhältnisse eingehen, müssen wir uns noch mit einer Kategorie beschäftigen, die für das Verständnis des Imperialismus von zentraler Bedeutung ist: dem Begriff des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

In jeder imperialistischen Ökonomie entwickelt sich ein gesellschaftliches Gesamtkapital, das die allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion sichert. Diesem kommt eine eigenständige Realität zu.

Marx zeigt in den drei Bänden des Kapitals in verschiedenen Schritten, wie das Kapital selbst solche allgemeinen Durchschnittsbedingungen der Reproduktion erzeugt, die den einzelnen Kapitalien aufgezwungen werden, bzw. über welche Mechanismen eine solche Ausgleichung erfolgt (z. B. bei der Diskussion von Metamorphosen des Kapitals im 2. Band, bei den Reproduktionsschemata, bei der Diskussion um Profit, Profitrate, Zins, …).

Den „Durchschnittsbedingungen“ kommt eine Realität zu, die nicht bloß eine Addition einzelner Kapitale darstellt oder deren Ausgleichung. Das gesellschaftliche Gesamtkapital erstreckt sich auf mehr als die Summe der Einzelkapitale. Es schließt vielmehr auch die Sicherung allgemeiner Reproduktionsbedingungen ein.

Dazu gehören allgemeine gesellschaftliche Produktivkräfte, ob diese nun privat oder staatlich geleistet werden wie z. B. Kommunikation, Infrastruktur, Verkehr, Wissenschaft. In diesen Bereich fallen auch die Sicherung der Geldstabilität, die Festlegung einer allgemeinen Zinsrate oder die Währungspolitik. Ein weiteres, für die Kapitalakkumulation wesentliches, Moment besteht in der Sicherung eines bestimmten Niveaus der Reproduktion der Arbeitskraft, so dass genügend hinreichend ausgebildete Arbeitskräfte für die Erfordernisse des Kapitals und die Institutionen zur Sicherung der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion produziert und reproduziert werden.

Hier tritt der Staat als ideeller Gesamtkapitalist auf den Plan, eben nicht bloß als passiver Garant des Privateigentums, sondern als Verfechter des Interesses des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, nicht bloß einzelner Kapitale oder einiger Kapitalgruppen. Der Staat des Kapitals ist zwar über verschiedene Institutionen staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Art (Stiftungen, Unternehmerverbände, Parteien, Medien) mit dem Kapital verbunden. Er muss aber zugleich bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den konkurrierenden Einzelkapitalen bleiben, um seine Rolle als Vermittler des Gesamtinteresses der herrschenden Klasse überhaupt nach innen wie nach außen erfüllen zu können.

Um die Bedeutung der Konstituierung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals zu verstehen, wollen wir daher noch einmal schematisch seine wesentlichen Leistungen für die Sicherung und Reproduktion des Kapitalverhältnisses anführen:

  • Ausgleichsbewegung zu ideellem Durchschnitt, Werttransfer zwischen Branchen, damit überhaupt erst Ausgleichung der   Profitrate möglich ist
  • Etablierung eines durchschnittlichen Grades der Intensität und Produktivität der Arbeit
  • Etablierung einer nationalen Währung, Sicherung des Geldwerts
  • Sicherung der allgemeinen Produktions- und Reproduktionsbedingungen des Kapitals
  • Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Vermittlung des Gesamtinteresses des Kapitals.

Die Herausbildung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals kennzeichnet die Entwicklung praktisch aller imperialistischer Staaten. Wie wir sehen werden, ist sie jedoch wesentlich verschieden, wenn wir die von imperialistischen Mächten beherrschte Welt, – sei sie kolonial oder halbkolonial verfasst – betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir auf die Modifikation des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt eingehen und dieses kurz umreißen. Anders als in der Nationalökonomie existiert kein „Weltstaat“, keine Weltwährung, die unabhängig von den nationalen Währungen wäre, und auch keine Ausgleichsbewegung der Profitraten.

11.2 Weltmarkt und kapitalistisches System

Der Weltmarkt ist für Marx und Engels, wie wir schon gesehen haben, im Begriff des Kapitals eingeschlossen. Wir dürfen daher die Betrachtung des Weltmarktes, auch wenn wir oben den Rahmen eines nationalen Gesamtkapitals skizziert haben, nicht so auffassen, als würden Wert, Preis, Produktion, Profitrate, Akkumulation usw. „zuerst“ auf nationaler Basis entstehen und bestimmt werden und erst ab einem bestimmten Entwicklungsstadium auf den Weltmarkt „expandieren“.

Dieser stellt vielmehr von Beginn an eine Realität dar, in deren Rahmen sich das Kapital bewegt und entwickelt. Der Weltmarkt ist also etwas von Beginn an Gesetztes, Vorhandenes – zugleich entwickelt er sich aber auch. Die Entdeckung der Amerikas, der sog. Dreieckhandel zwischen Afrika, den Amerikas und Europa, v. a. Britanniens, belegen, wie eng die Entwicklung des Kapitalismus mit dem Weltmarkt verbunden ist.

Dessen Realität und damit auch jene eines globalen Austauschs zeigen sich zudem auch an der Bestimmung der Bedürfnisse einer Gesellschaft und der verschiedenen Klassen, die notwendigerweise von der vorherrschenden, entwickeltsten kapitalistischen Ökonomie bestimmt werden.

Schließlich verändert sich auch die Bedeutung des Weltmarktes für die nationale Kapitalentwicklung mit Entwicklung und Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsweise. So erweist sich beispielsweise im 19. Jahrhundert, dass Schutzzölle und eine Abschottung des nationalen Marktes eine nachholende und aufholende industrielle Entwicklung v. a. Deutschlands und der USA, später auch Japans, ermöglichten.

Auch die Hauptformen der Bewegung am Weltmarkt ändern sich mit der Entwicklung der Produktionsweise, wie die von Hilferding, Lenin und anderen konstatierte zunehmende und zentrale Bedeutung des Kapitalexports, im Verhältnis zum Warenexport, in der imperialistischen Epoche veranschaulichen.

Nun aber zur Frage der Modifikationen des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt. Im ersten Band des „Kapital“ verweist Marx selbst darauf  bei der Diskussion der nationalen Verschiedenheit der Arbeitslöhne und richtet die Aufmerksamkeit auf die  Frage von Intensität und Produktivität der nationalen Durchschnittsarbeiten auf dem Weltmarkt:

„In jedem Lande gilt eine gewisse mittlere Intensität der Arbeit, unter welcher die Arbeit bei Produktion einer Ware mehr als die gesellschaftlich notwendige Zeit verbraucht, und daher nicht als Arbeit von normaler Qualität zählt. Nur ein über den nationalen Durchschnitt sich erhebender Intensitätsgrad ändert, in einem gegebnen Lande, das Maß des Werts durch die bloße Dauer der Arbeitszeit. Anders auf dem Weltmarkt, dessen integrierende Teile die einzelnen Länder sind. Die mittlere Intensität der Arbeit wechselt von Land zu Land; sie ist hier größer, dort kleiner. Diese nationalen Durchschnitte bilden also eine Stufenleiter, deren Maßeinheit die Durchschnittseinheit der universellen Arbeit ist. Verglichen mit der weniger intensiven, produziert also die intensivere nationale Arbeit in gleicher Zeit mehr Wert, der sich in mehr Geld ausdrückt.

Noch mehr aber wird das Wertgesetz in seiner internationalen Anwendung dadurch modifiziert, daß auf dem Weltmarkt die produktivere nationale Arbeit ebenfalls als intensivere zählt, sooft die produktivere Nation nicht durch die Konkurrenz gezwungen wird, den Verkaufspreis ihrer Ware auf ihren Wert zu senken.

Im Maß, wie in einem Lande die kapitalistische Produktion entwickelt ist, im selben Maß erheben sich dort auch die nationale Intensität und Produktivität der Arbeit über das internationale Niveau. Die verschiedenen Warenquanta derselben Art, die in verschiedenen Ländern in gleicher Arbeitszeit produziert werden, haben also ungleiche internationale Werte, die sich in verschiedenen Preisen ausdrücken, d. h. in je nach den internationalen Werten verschiednen Geldsummen. Der relative Wert des Geldes wird also kleiner sein bei der Nation mit entwickelterer kapitalistischer Produktionsweise als bei der mit wenig entwickelter. Folgt also, daß der nominelle Arbeitslohn, das Äquivalent der Arbeitskraft ausgedrückt in Geld, ebenfalls höher sein wird bei der ersten Nation als bei der zweiten; was keineswegs besagt, daß dies auch für den wirklichen Lohn gilt, d. h. für die dem Arbeiter zur Verfügung gestellten Lebensmittel.“[c]

Diese Passage nimmt eine bedeutende Stellung in den gesamten Debatten  um die Modifikation des Wertgesetzes ein, weil hier jedenfalls eine entscheidende Form,  nämlich wie Ungleichheit zwischen verschiedenen Nationalökonomien unterschiedlicher Entwicklungsstufen auf dem Weltmarkt reproduziert und verstärkt wird, in den Blick genommen wird.

Wenn wir von einer Wertbildung im nationalen Rahmen und deren Erscheinen auf dem Weltmarkt ausgehen, so wirft Marx hier zuerst die Frage auf, wie unterschiedliche, im nationalen Rahmen gebildete Durchschnittsarbeit auf dem Weltmarkt auftritt. Höhere Intensität der Arbeit wie auch höhere Produktivität werden auf eine Stufenleiter der „universellen Arbeit“ bezogen.

Dies hat zur Folge, dass die Waren aus den Ländern mit unterschiedlicher Durchschnittsintensität und höherer Produktivität auf dem Weltmarkt verschieden „gewichtet“ sind, sich also in mehr oder weniger Geld darstellen. Die Waren jener aus der entwickelteren kapitalistischen Nation werden also billiger sein und daher auf dem Weltmarkt einen Vorteil genießen, solange die andere Nation nicht an dieses Niveau anschließen kann. Dies bedeutet, dass zwar kein Werttransfer von einem Kapital/Land in das andere analog zum Werttransfer bei der Ausgleichsbewegung der Profitrate stattfindet, wohl aber kann das Land mit höherer Durchschnittsproduktivität einen Extramehrwert erzielen, analog zum Wertbildungsprozess auf dem nationalen Markt.

Im Rahmen einer nationalen Ökonomie kann sich ein Kapital den Extramehrwert in der Regel nur vorübergehend aneignen. Anders im System der universellen Arbeit. Natürlich kann auch dort immer wieder eine Angleichung in bestimmten Entwicklungsphasen stattfinden und bis zu einem gewissen – aber auch nur bis zu einem gewissen – Grad können die weniger entwickelten Ökonomien dem Nachteil durch Abwertungen der nationalen Währung entgegenwirken. Aber generell zeichnet die Weltwirtschaft auf Grund der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Nationalökonomien und aufgrund der internationalen Arbeitsteilung, in die „abhängige Länder“ verspätet und immer schon auf den Weltmarkt bezogen eintreten, eine viel größere Festigkeit dieser Ungleichheit. Sie wird im imperialistischen System nicht rasch überwunden, sondern auf Dauer gestellt und bildet daher eine bedeutende Form der Aneignung von in den Halbkolonien geschaffenem Reichtum durch die (Gesamt-)Kapitale der imperialistischen Metropolen.

Auf internationaler Ebene findet – wie wir an anderer Stelle gezeigt haben und im Gegensatz zu den theoretischen Grundnahmen verschiedener Theorie des ungleichen Tauschs – keine Ausgleichung der Profitraten zu einer internationalen Durchschnittsprofitrate statt. Diese findet auch in der imperialistischen Epoche im nationalstaatlichen Rahmen statt. Umgekehrt dürfen wir uns aber die Entwicklung des Weltmarktes, die Entstehung internationaler Wertschöpfungsketten usw. nicht so verstellen, dass das Verhältnis zwischen nationalen Ökonomien und der Weltwirtschaft hinsichtlich der Bildung von Profitraten ein konstantes, unveränderliches wäre.

Der Nationalstaat stellt nicht nur einen Garanten des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und einen Rahmen zur Bildung nationaler Profitraten dar, er bildet auch eine Schranke für die Internationalisierungstendenzen des Kapitals, einen inneren Widerspruch. Mit seiner eigenen Entwicklung versucht das Kapital immer wieder,  die Enge des Nationalstaates zu überwinden, was sich z. B. in der Ausdehnung des Weltmarktes und der Entstehung globaler Produktionsketten zeigt bis hin zur Herausbildung regelrechter Weltmarktbranchen. In diesen Branchen können wir durchaus eine Tendenz zur Herausbildung internationaler Produktionspreise und zu einer Ausgleichung von Profitraten auf Branchenebene beobachten, die jedoch immer prekär bleibt, weil  es keine globale Ausgleichung zu einer Durchschnittsprofitrate gibt oder geben kann.

Wo sich solche Tendenzen zur Ausgleichung einer branchenübergreifenden internationalen Profitrate herausbilden, entwickeln sich logischerweise auch Formen des Werttransfers auf globaler Ebene, ähnlich jener im nationalen Rahmen. Aber diese werden nicht nur durch andere Formen des Weltmarktes (Währungsbewegungen etc.) durchkreuzt, sondern bleiben im Rahmen des kapitalistischen Gesamtsystems letztlich partiell, weil es zu einer Angleichung der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der nationalen Gesamtkapitale nicht kommt und auch  nicht kommen kann.

Entscheidend für unsere Betrachtung ist daher, dass wir diese Tendenzen als Widerspruch fassen müssen, der im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie nicht aufgelöst werden kann, sondern nur im Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Bisher haben wir die Fragen des Tausches von Waren auf dem Weltmarkt behandelt. Marx verweist auf einige andere, folgenreiche Wirkungen des Welthandels auf die nationalen Profitraten und Akkumulationsbewegungen, die in der imperialistischen Epoche eine wichtige Rolle spielen.

Im dritten Band des „Kapital“ geht er direkt auf den Außenhandel ein, wo er diesen unter den „entgegenwirkenden“ Ursachen zum Fall der Profitrate behandelt.

„Soweit der auswärtige Handel teils die Elemente des konstanten Kapitals, teils die notwendigen Lebensmittel, worin das variable Kapital sich umsetzt, verwohlfeilert, wirkt er steigernd auf die Profitrate, indem er die Rate des Mehrwerts hebt und den Wert des konstanten Kapitals senkt. Er wirkt überhaupt in diesem Sinn, indem er erlaubt, die Stufenleiter der Produktion zu erweitern. Damit beschleunigt er einerseits die Akkumulation, andrerseits aber auch das Sinken des variablen Kapitals gegen das konstante und damit den Fall der Profitrate. Ebenso ist die Ausdehnung des auswärtigen Handels, obgleich in der Kindheit der kapitalistischen Produktionsweise deren Basis, in ihrem Fortschritt, durch die innere Notwendigkeit dieser Produktionsweise, durch ihr Bedürfnis nach stets ausgedehnterm Markt, ihr eignes Produkt geworden. Es zeigt sich hier wieder dieselbe Zwieschlächtigkeit der Wirkung.“ [ci]

Der Import billigerer Lebensmittel und Konsumgüter für die ArbeiterInnenklasse führt zur Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft und damit, bei sonst gleichbleibenden Bedingungen, zur Erhöhung des relativen Mehrwerts und der Profitrate. Diese Faktoren haben bis heute enorme Bedeutung, weil sie ein Stück weit die Senkungen der Löhne, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, Ausweitung von Billiglohnsektoren im Zuge neoliberaler Angriffe abfedern und zugleich eine Erhöhung der Ausbeutungsrate erlauben. Der Aufstieg Chinas und anderer asiatischer Ökonomien als industrieller Produktionsstandort von Konsumgütern spielte für die Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft v. a. in den USA in den letzten Jahrzehnten eine wesentliche Rolle.

Zweitens erfüllt der Außenhandel auch eine Funktion hinsichtlich der Akkumulationsbedingungen des nationalen Gesamtkapitals. Der akkumulierte Mehrwert kann so zur Erweiterung der Produktion für den Weltmarkt oder in anderen Ländern investiert werden und Anlage suchen, die das Kapital sonst auf dem begrenzten nationalen Markt nicht mehr finden kann. Kapitalexport stellt in diesem Zusammenhang einen Weg dar, auf die Überakkumulation im imperialistischen Zentrum zu reagieren und überschüssiges Kapital im Ausland zu investieren.

Drittens findet das Kapital aus den fortgeschrittenen (imperialistischen) Ländern aufgrund der höheren Produktivität der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit gegenüber jenem aus Kolonien und Halbkolonien Konkurrenzvorteile vor und kann sich so einen Extramehrwert aneignen (siehe oben).

Viertens erlaubt die geringere organische Zusammensetzung des Kapitals in der Halbkolonie dem investierten Kapital mit höherer organischer Zusammensetzung aus dem imperialistischen Land, einen höheren Extraprofit/Wertanteil aus der Ausgleichung der Durchschnittsprofitrate in der Halbkolonie zu ziehen. Es findet hier ein Werttransfer innerhalb der KapitalistInnenklasse (wie bei jeder Ausgleichsbewegung der Profitrate), und zwar von den halbkolonialen zu den imperialistischen Unternehmen statt. Dieser bildet nicht nur eine wesentliche Quelle von Extraprofiten, sondern erklärt auch, warum im halbkolonialen System die Sicherung der Freiheit des Kapitaltransfers eine so große Rolle spielt, sowohl hinsichtlich der Abschaffung aller Investitionsbeschränkungen des imperialistischen Kapitals als auch zur Sicherung der Repatriierung der Profite. (Gleichzeitig unterliegt der Zugang der imperialistischen Märkte für halbkoloniale ProduzentInnen und InvestorInnen in der Regel viel größeren Beschränkungen.)

Die Dauerhaftigkeit und Reproduktion ungleicher Verhältnisse auf dem Weltmarkt wären jedoch vollkommen unerklärlich, wenn wir nicht die Frage des Währungs-, des Finanzsystems und sein Verhältnis zum Staatensystem betrachten würden. Dem einzelnen Nationalstaat ist es durchaus möglich, das nationale Kapital gegenüber ungünstigeren Bedingungen auf dem Weltmarkt zu schützen. Aber diese Fähigkeit ist beschränkt, wie die Geschichte zeigt, und hängt letztlich von der wirtschaftlichen Stärke des jeweiligen Landes ab.

Im Rahmen der Nationalökonomie wird Geld von der Zentralbank emittiert. Der Staat tritt als dessen Garant auf. Auf dem Weltmarkt existiert kein Weltstaat oder auch nicht irgendeine Staatengemeinschaft als Garant der allgemeinen Verhältnisse der Kapitalreproduktion.

Im Weltgeld, so Marx, kommt das Geld eigentlich zu sich, hier wird seine Daseinsweise seinem Begriff adäquat, weil es direkt als Verkörperung abstrakter Arbeit fungiert (während bestimmte Geldfunktionen immer nur auf eine nationale Währung bezogen sind oder sein können). Aber das Weltgeld braucht, wenn es keinen Weltstaat gibt, einen Garanten. Auch wenn Gold und Silber weiter als Geldware fungieren, so monopolisiert in einem entwickelten kapitalistischen System entweder eine Währung den internationalen Zahlungsverkehr und vor allem das Kredit- und Schuldensystem, oder es besteht Konkurrenz zwischen den Leitwährungen der dominierenden Großmächte. So fungierte in der Phase der britischen Weltmarktdominanz im 19. Jahrhundert das Pfund Sterling als Weltwährung. Selbst im Niedergang versuchte der britische Imperialismus, weiter an der Goldparität und der Dominanz des Pfunds in der Weltmarktkonkurrenz gegenüber den USA festzuhalten.

Nach 1945 setzte sich der US-Dollar als Leitwährung durch. Mit dem Aufstieg Deutschlands und Japans, der Bildung der EU und vor allem mit der Etablierung Chinas als imperialistischer Macht wurde natürlich auch die Vorherrschaft der USA auf diesem Gebiet unterminiert, ein Prozess, der im Grunde schon seit den 1970er Jahren mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems vor sich geht. Dieses legte einen festen Wechselkurs zwischen der Ankerwährung Dollar und den Währungen der Teilnehmerländer zugrunde und verpflichtete die US-Notenbank zum Umtausch von Dollar aus deren Zentralbanken zu einem festen Kurs in Gold (flexibler Goldstandard). Dennoch fungiert der Dollar bis heute als die entscheidende internationale Währung, in der die Mehrheit aller Finanztransaktionen notiert wird, in der Börsengeschäfte abgewickelt werden, in der Schulden auf den internationalen Kreditmärkten aufgenommen und bedient werden müssen. Der Dollar stellt bis heute faktisch Weltgeld dar, auch wenn er mit dem Euro und dem Aufstieg Chinas unter Druck geraten ist. Der als Weltgeld fungierenden Leitwährung treten also allenfalls die Währungen imperialistischer KonkurrentInnen als annähernd gleichwertig hinzu.

Die Frage, welches Geld sich als Weltgeld durchsetzt, ist somit Ausdruck des Stellenwertes eines nationalen Gesamtkapitals im Verhältnis zu den anderen. In bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung vermögen einzelne Staaten aufgrund ihrer weltmarktbeherrschenden Stellung, die auf überlegener Produktion beruht und von militärischer und politischer Vormacht begleitet wird, als „Demiurgen“ (Hervorbringer, Schöpfer) des Weltmarktes zu fungieren.

Das Monopol auf Weltgeld macht zwischen den nationalen Währungen einen enormen Unterschied aus. Es bringt die unterschiedliche Stellung der verschiedenen Staaten in der weltweiten Arbeitsteilung und in der geopolitischen Ordnung nicht nur zum Ausdruck, sondern reproduziert und verfestigt sie zugleich.

Im Kolonialsystem waren Geld und Geldfunktionen in der Regel ohnedies vom jeweiligen Mutterland bestimmt, da keine politisch-staatliche Unabhängigkeit der Kolonie existierte. Im halbkolonialen System der imperialistischen Herrschaft monopolisieren die imperialistischen Mächte das Weltwährungssystem, bestimmen das Weltgeld. Die Währungen der imperialistischen Mächte, die nicht als Demiurgen des Weltmarktes fungieren, gelten als relativ stabil tauschbare Währungen zur Leitwährung. Ein großer Teil des Warenverkehrs wird über die zentrale Leitwährung oder andere imperialistische Währungen vermittelt. Noch viel wichtiger ist freilich, dass die Währungen der imperialistischen Staaten, besonders der Leitwährung, auch gehortet werden, z. B. als Schatzpapiere. Währungen halbkolonialer Länder üben  diese und andere Geldfunktion außerhalb ihres Landes faktisch nicht aus.

Kapitalverkehr, Anlagen, Börsen, Staatsschulden usw. werden also faktisch ausschließlich in Dollar oder einer anderen harten Währung notiert (Euro, Pfund, Renminbi/Yúan, Yen). Das bedeutet aber auch, dass die halbkolonialen, ökonomisch schwächeren Länder im Voraus zu den Bedingungen und in Währungen der imperialistischen Zentren  ihre Geld- und Kapitalgeschäfte abwickeln müssen.

Um am internationalen Kapitalmarkt agieren zu können, muss das halbkoloniale Land über Weltgeld oder eine leicht gegen dieses tauschbare Währung verfügen. Nur so kann es Investitionen anziehen, Güter importieren oder Schulden bedienen und aufnehmen. Je mehr ein halbkoloniales Land von den Finanzmärkten abhängig wird, desto drückender auch die Abhängigkeit von deren Institutionen (IWF, Weltbank) und den Bedingungen, die diese diktieren.

Schon die Bezugspunkte zu Marx hinsichtlich der Modifikation des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt verweisen darauf, dass unterschiedliche Intensität und Produktivität nicht bloß als unterschiedliche Produktivität oder Intensität eines Einzelkapitals, sondern eines gesellschaftlichen Durchschnitts begriffen werden müssen. Dies reflektiert schon die unterschiedliche Entwicklung des Kapitalstocks, der Produktivkräfte, der Stellung in der internationalen Arbeitsteilung.

Offenkundig war es für – im Vergleich zu Großbritannien – später gekommene Nationen auf dem Weltmarkt (z. B. Frankreich, Deutschland, USA, Japan) unter bestimmten Bedingungen möglich, im 19. Jahrhundert eine Ökonomie zu entwickeln, die mit der fortgeschrittensten kapitalistischen gleichzog.

Dies verweist darauf, dass es durchaus eine Wirkung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt zur Ausgleichung der Produktions- und Verkaufsbedingungen gibt, d. h., es gibt auch eine Angleichung verschiedener „nationalen Werte“ auf dem Weltmarkt. Wichtig ist hier aber zu betonen, dass diese keineswegs nur spontan, sondern unter kräftiger Zuhilfenahme des Staates erfolgt, insgesamt mit dem Ziel, im Rahmen der Weltmarktkonkurrenz ein wettbewerbsfähiges nationales Gesamtkapital zu schaffen. Ab einem bestimmten Punkt schlug das in ein Zurückbleiben der ursprünglich führenden Macht (Britannien) um. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch im Verhältnis USA-Europa-Japan ab den späten 1960er Jahren beobachten, als sich letztere zu Weltmachtkonkurrenten entwickelten.

Heute versucht sich China als Konkurrent zu etablieren, was unter anderem auch bedeutet, dass die KP-geführte Regierung sich als Sachwalterin „ihres“ gesellschaftlichen Gesamtkapitals (nicht „nur“ als Geburtshelferin weltmarktfähiger Einzelkapitale und Monopole) zu erweisen versucht.

Wenn wir aber auf die dauerhafte, systematische Unterordnung von kolonialen und halbkolonialen Ländern und deren Ausbeutung eingehen und diese erklären wollen, so kann das nicht einfach durch eine modellhafte „Ableitung“ von internationalen Marktbeziehungen erfolgen.

Die Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt – nehmen wir z. B. die Kredit- und Geldgeschäfte – reproduziert und verschärft die Unterschiede zwischen den imperialistischen und den vom Imperialismus beherrschten Ländern.

Die Ursache dafür kann freilich nicht einfach auf dem Weltmarkt gefunden werden. Wir müssen uns vielmehr vor Augen halten, dass die kolonialen und später die halbkolonialen Länder unter Bedingungen in den Weltmarkt gezogen wurden und werden, die ihnen einen Platz im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung unter den Bedingungen zuweisen, die von den entwickelten Kapitalen der Metropolen geschaffen wurden und in diesem System reproduziert werden. Anders als in den „entwickelten“, imperialistischen Ländern gestaltet sich die Konstituierung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals von Beginn an prekär.

Daher wollen wir uns noch einmal seine wesentlichen Funktionen vor Augen halten:

  • Ausgleichsbewegung zu ideellem Durchschnitt, Werttransfer zwischen Branchen, damit überhaupt erst Ausgleichung der Profitrate möglich ist
  • Etablierung eines durchschnittlichen Grades der Produktivität und Intensität der Arbeit
  • Etablierung einer nationalen Währung, Sicherung des Geldwerts
  • Sicherung der allgemeinen Produktions- und produktionsbedingungen des Kapitals
  • Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Vermittlung des Gesamtinteresses des Kapitals.

Betrachten wir die halbkolonialen Staaten hinsichtlich der Erfüllung dieser Funktionen, so zeigt sich rasch, dass sie diese nur eingeschränkt, wenn überhaupt, einhalten können.

Die Etablierung einer durchschnittlichen nationalen Intensität der Arbeit findet oft nicht oder nur sehr beschränkt statt (z. B. in Indien). Extreme Ungleichzeitigkeit der Entwicklung kennzeichnet die halbkoloniale Ökonomie und sie wird über Jahrzehnte oft genug reproduziert.

Das betrifft daher auch den Werttransfer zwischen den Branchen, also die Ausgleichsbewegung der Profitrate. Die halbkolonialen Ökonomien sind – gerade in ihren kapitalistisch entwickelteren Teilen – in der Regel auf den Weltmarkt bezogen. Das Gesetzt der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung begegnet uns in den halbkolonialen Ländern in besonders drastischer Form auf Schritt und Tritt.

Die geschichtlichen Voraussetzungen der Arbeitsteilung, die selbst Folge des Kolonialismus und Imperialismus sind und zugleich von ihm reproduziert werden, bedeuten daher die Etablierung einer ungleichen internationalen Arbeitsteilung, die die innere Struktur, wie sie von der tradierten Abhängigkeit herrührt, aufgreift, reproduziert und festigt.

In den halbkolonialen Ländern drückt sich das in der Reproduktion einer einseitigen Kapitalentwicklung, die von den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals im imperialistischen Land bestimmt wird, aus. Daher begegnen uns in Ländern wie Indien moderne, auf den Weltmarkt bezogene Hightechindustrien neben extremer Rückständigkeit, sei es in den städtischen Armutsvierteln, bei der Wanderarbeit oder auf dem Land.

Die Industrialisierung und Entwicklung der Ökonomie war in der Regel auf Exporte bestimmter Branchen (Rohstoffe, Nahrungsmittel), später auch bestimmte selektive Produktion von Zwischenprodukten, bezogen. Für diese Sparten äußert sich die extreme Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in der Kombination besonders ausbeuterischer, rückständiger Formen (Kontraktarbeit, … ) mit der Produktion für den Weltmarkt.

Wir haben es bei der Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt daher einerseits mit einer widersprüchlichen Tendenz zur Angleichung der Nationalökonomien (beobachtbar insbesondere im Verhältnis zwischen imperialistischen Staaten) und andererseits mit der Reproduktion einer internationalen Hierarchie der Kolonien und Halbkolonien zu tun.

Deren Quelle muss auch in der Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals gesucht werden, genauer: in der Blockade von dessen Herausbildung in der Halbkolonie.

Das halbkoloniale Ausbeutungsregime des Finanzkapitals bildet somit  die eigentlich angemessene Form der abhängigen Akkumulation der „Dritten Welt“  unter der Dominanz einer entwickelten imperialistischen Weltwirtschaft.

12. Epoche, Periode, Zyklus, Metazyklen, Klassenkampfperiode

Weiter oben haben wir die imperialistische Epoche grundsätzlich als ein bestimmtes Entwicklungsstadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation, als Übergangskapitalismus oder sterbenden Kapitalismus charakterisiert.

Die zyklische industrielle Krise besteht zweifellos nicht nur in der vorimperialistischen, sondern auch in der imperialistischen  Epoche. Aber der industrielle Zyklus wird modifiziert durch die Vorherrschaft des Finanzkapitals.

Erstens dahingehend, dass die Zyklen in der Regel einen flacheren Verlauf annehmen, weil a) der monopolistische Charakter des Finanzkapitals die Perioden für Ersatzinvestitionen des fixen Kapitals dehnt, b) das Monopolkapital zeitweilig nicht in die Ausgleichsbewegung der Profitrate eingeht und daher in seinem Investitionsrhythmus von den Bewegungen des industriellen Zyklus teilweise freigespielt ist. Dies wird noch durch den parasitären Charakter des Monopols und seine Tendenz zur Stagnation verstärkt.

Zweitens führt die Krise dazu, dass die Monopolisierungstendenzen, die Dominanz des Finanzkapitals weiter verstärkt werden (Aufkäufe, Abwälzung der Krisenkosten auf nichtmonopolistische Kapitale etc.). D. h., jeder neue industrielle Zyklus findet nicht nur einfach auf mehr oder minder neuer technischer Basis, auf Grundlage einer neuen Zusammensetzung des Gesamtkapitals, sondern auch auf Grundlage eines im Vergleich zum vorherigen Zyklus und im Verhältnis zu anderen Kapitalen gestärkten Finanzkapitals statt.

Neben den einzelnen industriellen Zyklen lassen sich auch Reihen von ihnen mit ähnlicher Akkumulationsdynamik konstatieren. Ihre gemeinsame Basis findet sich – wie jene des einzelnen industriellen Zyklus – in der vorhergegangenen Krise, sprich: ob diese die Bedingungen für eine expansive Akkumulationsdynamik herstellen konnte oder nicht, also in letzterem Fall zu einer stagnativen oder gar depressiven Entwicklungsdynamik geführt hat.

Die Frage ist jedoch, was eine bestimmte Dynamik, die verschiedene Zyklen umfasst, in Gang setzt. Im Folgenden nennen wir diese Reihen von Konjunkturzyklen Akkumulationsperioden. Im Anschluss an Trotzkis „Kurve der kapitalistischen Entwicklung“ unterscheiden wir zwischen solchen mit expansivem, stagnativem und depressivem Charakter.

Perioden mit stagnativem oder gar depressivem Charakter sind immer durch eine, ihrer Krisenhaftigkeit ökonomisch zugrundeliegenden strukturellen Überakkumulation von Kapital geprägt. Die industriellen Zyklen in den Stagnationsperioden tendieren außerdem  dazu, „flacher“ auszufallen, da aufgrund geringer Profitraten und -erwartungen relativ geringe Kapitalmengen in den industriellen, Mehrwert schaffenden Sektor fließen und damit auch in die Neuausstattung des fixen Kapitals.

Auch die vorherrschende Form der Mehrwertaneignung ändert sich – nämlich von der relativen Mehrwertproduktion, die in expansiven Perioden vorherrscht, zur Produktion absoluten Mehrwerts – eine logische Folge der geringeren Erneuerungs- und Erweiterungsinvestitionen, der „Flucht“ in spekulatives Kapital.

Die Ausweitung des Kreditsystems im Zeitalter des Finanzkapitals ermöglicht es speziell den imperialistischen Zentren, die Wirkungsweise von industriellen Zyklen und längerfristigen Krisentendenzen eine gewisse Zeit aufzuhalten. Diese Behinderung der bereinigenden Wirkungen der kapitalistischen Krise führt umgekehrt dazu, dass der folgende Kriseneinbruch umso heftiger und einschneidender wird. Auf diese Weise überlagert den normalen Krisenzyklus ein scheinbar eigenständiger Finanzmarktzyklus, der in der imperialistischen Epoche zum wesentlichen Bestimmungsmoment von Akkumulationsperioden wird. Der Finanzmarktzyklus ist wesentlich bestimmt durch die Organisierungsformen des Finanzkapitals, der Steuerungsmechanismen des Produktivkapitals, seiner Verbindungen zu staatlichen Strukturen sowohl im ökonomischen als auch im politischen Sinn etc. Vor allem aber ist er bestimmt durch die Formen internationaler Kapitalströme, ob in Direktinvestitionen, Kredite, Beteiligungen, Geldmarktbewegungen etc. Gerade in Bezug auf internationale Kapitalströme sind in der imperialistischen Epoche klare Auf- und Abwärtsbewegungen von großem Ausmaß festzustellen, die jeweils mit dem Wechsel wesentlicher AkteurInnen bzw. Institutionen verbunden sind: z. B. Goldstandard und Vorherrschaft von Staatskredit in der „klassischen“ imperialistischen Periode; institutionelle Kredite (Privatbanken unter Schirmherrschaft des IWF), Bretton-Woods-System und System direkt beherrschter Tochterunternehmen in der Zeit des „langen Booms“; fondsgestütztes Investmentbanking, Dollar als Weltwährung und durch den Finanzmarkt organisiertes Unternehmensbeteiligungssystem in der „Globalisierungs“periode. Diese unterschiedlichen Strukturen des Finanzkapitals bedingen unterschiedliche Krisendynamiken am Ende des Finanzmarktzyklus, die sich auch unterschiedlich auf die Krisentendenz der Akkumulationsperiode als Ganze auswirken. Finanzmarktkrisen können auch eingedämmt werden oder nur den Auftakt einer sich entwickelnden Krisenphase der Periode bilden, so z. B. die Börsenkräche 1907 und 1986 (mitsamt der Krise des US-Hypothekenbanksystems) oder die Asienkrise der 1990er Jahre und die folgende Internetblase.

Die Ausgangsbasis für diese Akkumulationsperioden wird jedoch nicht einfach durch die ökonomische Entwicklung der Kapitalbewegung bestimmt, sondern durch Klassenkämpfe zwischen Lohnarbeit und Kapital, geopolitische Verschiebungen, imperialistische Konkurrenz und Kriege, Revolutionen und Konterrevolutionen. In der Tat bildet die Herstellung einer bestimmten Weltordnung die Basis (resp. der Zusammenbruch einer vorhergehenden aufgrund politischer Ereignisse – z. B. Erster Weltkrieg, Zusammenbruch des Weltmarktzusammenhangs etc.), auf der sich längerfristige, mehrere Zyklen umfassende Akkumulationsperioden überhaupt bilden können.

Kurzum, wenn wir von geschichtlichen Perioden im Rahmen der imperialistischen Entwicklung sprechen, können diese nicht einfach durch Referenz auf eine Folge von industriellen Zyklen  ökonomisch bestimmt werden. Die Akkumulationsperioden bilden vielmehr die ökonomische Basis für geschichtliche Perioden im Rahmen der imperialistischen Epoche.

Um den Gesamtcharakter geschichtlicher Perioden zu bestimmen, müssen wesentlich auch andere Fragen des Verhältnisses zwischen den imperialistischen Mächten und zwischen den Klassen einfließen. Während Akkumulationsperioden (oder metazyklische Perioden) ökonomische Kategorien darstellen, bezieht sich der Begriff der historischen Periode – ebenso wie jener der Epoche selbst – auf die Gesamtheit der Entwicklung der Gesellschaftsformation.

Ihr Beginn oder Ende können, müssen aber keinesfalls, mit dem Beginn ökonomischer Zyklen zusammenfallen. Ja, in der Regel werden sie das nicht tun. Vielmehr sind für den Beginn (oder das Ende) einer Periode einschneidende weltpolitische Ereignisse konstitutiv, die eine grundlegende Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und den imperialistischen Mächten markieren.

Die Akkumulationsdynamik einer bestimmten historischen Periode (und auch andere Faktoren wie die historisch spezifische Form der Kapitalbildung, das innerimperialistische Verhältnis usw.) führt notwendig dazu, dass bestimmte Merkmale und Wesenszüge der Epoche stärker oder weniger stark in den Vordergrund treten. So ist z. B. in der Periode des „langen Booms“ – selbst eine außergewöhnliche Periode – die Tendenz zum Niedergang und zur Stagnation vergleichsweise gering ausgeprägt. Das hat ja auch viele RevisionistInnen zur Annahme geführt, dass es gar keine imperialistische Epoche mehr gäbe.

In der ersten Phase der Globalisierungsperiode wiederum erscheint die innerimperialistische Konkurrenz eliminiert. Dies wird noch durch die Formierung gigantischer Konzerne verstärkt, deren Terrain der Weltmarkt ist, und die, so die „moderne“ revisionistische Argumentation, zur Bildung eines „transnationalen Kapitals“ geführt hätten, das nicht mehr mit bestimmten imperialistischen Staaten verbunden wäre, dass es nur noch „globalen Norden“ und „globalen Süden“ gäbe, dass der „Imperialismus“ einer neuen Form des Ultraimperialismus gewichen sei.

In diesen längeren historischen Perioden sind kürzere „Klassenkampfperioden“ inkludiert. In der kommunistischen Literatur werden diese auch öfter als „Situationen“ oder „Lagen“ bezeichnet. Wir haben dafür gelegentlich den Begriff „Phasen“ verwendet.

Die Klassenkampfperioden werden durch politische Ereignisse von globaler Bedeutung bestimmt, sowohl was ihren Beginn als auch ihr Ende betrifft. Das sind politische Phasen, die in der Regel nur wenige Jahre umfassen.

Die Bestimmung dieser kurzen Klassenkampfperioden ist umgekehrt erstens sehr wichtig, weil sie grundlegende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik des revolutionären Proletariats in einer bestimmten Periode mit sich bringen. Zweitens sind insbesondere Perioden von revolutionärem oder vorrevolutionärem Charakter von größter Wichtigkeit, weil sich in ihnen der allgemeine Charakter der Epoche sowie der historischen Periode konzentriert ausdrückt.

Auch wenn die Dauer der Klassenkampfperioden relativ kurz ist – einige Jahre, vielleicht bis zu einem Jahrzehnt umfassend –, so können wir generell davon ausgehen, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Klassenkampfperioden umso rascher vonstattengeht, je instabiler und revolutionärer der Charakter der historischen Periode ist, deren Bestandteil sie  verkörpert. Der vergleichsweise rasche Wechsel zwischen revolutionären und konterrevolutionären Klassenkampfperioden, jenen relativer Stabilität mit jenen größerer revolutionärer (und konterrevolutionärer) Erschütterungen, konstituiert ein Wesensmerkmal von historischen Perioden der sozialen Revolution,  revolutionären Perioden wie, in klassischer Form, jener von 1914 – 1948.

Es macht außerdem Sinn, zwischen Klassenkampfperiode und -situation zu unterscheiden, auch wenn dies keineswegs einfach und immer trennscharf ist. Das ist kein Zufall. Erstens handelt es sich in beiden Fällen um politische Kategorien. Zweitens tendieren diese in revolutionären historischen Perioden (z. B. in der Zwischenkriegszeit) dazu zusammenzufallen. Das ist  durch den Charakter der historischen Periode, den raschen Wechsel der Weltlage usw. bedingt.

In anderen historischen Perioden macht es einen offenkundigen Sinn, zwischen der Klassenkampfperiode und einer Situation zu unterscheiden (wobei letztere einen Wechsel des Charakters der Klassenkampfperiode einläuten kann, aber nicht muss). So kann der Beginn des Krieges gegen Afghanistan nach dem 11. September 2001 durch die globale „Allianz der Willigen“ durchaus als konterrevolutionäre Situation beschrieben werden, in der, allerdings nicht für allzu lange Zeit, der Widerstand, die Antiglobalisierungs-, die ArbeiterInnenbewegung usw. paralysiert wurden.

Die längeren, historischen Perioden in der imperialistischen Epoche lassen sich in sechs Abschnitte einteilen:

a) Entstehungsperiode des klassischen Imperialismus bis 1914

b) Revolutionäre Krisen- und Zusammenbruchsperiode 1914 – 1948

c) Periode des langen Booms und der konterrevolutionären Nachkriegsordnung 1948 – 1968

d) Periode des Niedergangs der Nachkriegsordnung 1968 – 1989

e) Globalisierungsperiode seit 1989 – 2007/2008

f) Periode einer neuen globalen Krise des Kapitalismus seit 2007/2008 – Periode der Krise der Globalisierung.

13. Perioden der imperialistischen Epoche, ihre grundlegenden Charakteristika und die in ihnen inkludierten Klassenkampfperioden

Im Folgenden wollen wir einen kurzen Abriss der geschichtlichen Perioden der imperialistischen Epoche liefern. Wir werden darin auch beispielhaft wichtige Klassenkampfperioden darstellen, freilich ohne jedes Jahr und jeden Tag der letzten hundert Jahre zuzuordnen. Ein besonderes Augenmerk wollen wir auf die Übergänge von einer Periode zur anderen legen.

13.1 Die Entstehungsperiode des Imperialismus bis 1914

Die Periode bis 1914 kann im Anschluss an Trotzki als eine der Herausbildung der Widersprüche des Imperialismus charakterisiert werden. Die Krise von 1873 stellte einen wichtigen Bruchpunkt in der Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert dar. [cii] Verglichen mit den vorhergehenden zyklischen Krisen trat der internationale Charakter besonders stark hervor, die Krise traf alle wichtigen Nationalökonomien. In den jüngeren kapitalistischen Ländern oder Mächten (Vereinigte Staaten, Deutschland, Österreich-Ungarn) war sie besonders ausgeprägt, wirkte sich aber auch auf England and Frankreich stark aus. Vordergründig erschien sie durch ein massives „Spekulationsfieber“ indiziert, aber das verschleierte eher ihre Ursachen und vor allem ihre Auswirkungen.

Rückblickend können wir feststellen, dass sie eine wirkliche Weltmarktkrise darstellte, in allen Ländern zu einer massiven Vernichtung von überschüssigem Kapital und zu einer massiven Erneuerung des Kapitalstocks, vor allem im Bereich der Herstellung von Produktionsmitteln, führte. Die Krise signalisierte und verstärkte also eine Durchsetzung der industriellen Großproduktion in allen wichtigen Sektoren, sie gab der Zentralisation und Konzentration von Kapital einen mächtigen Schub und damit auch der Bildung und Durchsetzung des Finanzkapitals.

Natürlich lässt sich der Übergang von einer Epoche des Kapitalismus zur nächsten nicht genau datieren, wohl aber können wir vom Beginn einer neuen Epoche beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sprechen.

Mit ihr fallen auch die Herstellung des Weltmarktes und der Abschluss der Aufteilung der Welt unter die großen Kapitale und Großmächte zusammen. Es ist die Periode des Übergangs zum Imperialismus. Es ist die Periode, in der die Verschmelzung von industriellem und zinstragendem Kapital unter Dominanz des Letzteren zur Bildung und Durchsetzung des Finanzkapitals führte. Die wesentliche Form dieser Verschmelzung ist in jener Periode sowie auch in der folgenden jene von industriellem Kapital mit den Banken. Die Börse und die Finanzmärkte spielten in vielen Ländern in dieser Periode eine relativ geringe Rolle.

Die Aufteilung der Welt ist zu Beginn der imperialistischen Epoche faktisch bereits abgeschlossen. Britannien bildete die dominierende, hegemoniale Macht aufgrund der Funktion des Pfunds als Weltgeld, des riesigen Kolonialreiches und der überlegenen militärischen Schlagkraft der britischen Flotte. Während Frankreich als zweitgrößte Kolonialmacht zwar einen globalen, geopolitischen Rivalen darstellte, wurde es von anderen aufsteigenden Mächten bedrängt und in vieler Hinsicht bereits überflügelt.

Die USA und Deutschland als größte industrielle Mächte etablierten sich als wichtigste aufstrebende RivalInnen des britischen Hegemons. Hinzu kam Japan. Während die USA über einen gigantischen Binnenmarkt verfügten und frühe Formen der halbkolonialen Dominanz in den Amerikas entwickelten, waren Deutschland und Japan bei der kolonialen Aufteilung der Welt „zu kurz“ gekommen. Drei Imperien befanden sich schon in der frühen imperialistischen Epoche in äußerst prekärer Lage. Das traf vor allem auf das Osmanische Reich zu, das praktisch in Schuldknechtschaft der imperialistischen Banken gezwungen wurde. Der Widerspruch zwischen imperialer Ambition und einer Ökonomie, die einem halbkolonialen oder kolonialen Gebiet entspricht, trat hier am deutlichsten hervor. Aber auch in der Habsburger Monarchie und im zaristischen Russland zeigte sich der Gegensatz zwischen imperialer Stellung und Ambition einerseits und extremer Rückständigkeit andererseits in äußerst widersprüchlicher Form. Beide entwickelten im Gegensatz zum Osmanischen Reich neben Formen der Rückständigkeit auch modernste und gigantische Großindustrien (Russland) oder ein bedeutendes Bankkapital (Österreich), für das die unterdrückten Länder der Doppelmonarchie bevorzugte Ziele des Kapitalexports darstellten.

Kleinere oder schwächere imperialistische Staaten, wie z. B. Belgien oder Portugal, fungierten faktisch als Mitpartizipierende einer globalen Arbeitsteilung und politischen Ordnung, als Pufferstaaten oder untergeordnete Vasallen einer Großmacht.

All das verdeutlicht schon am Beginn der imperialistischen Epoche, dass Imperialismus vor allem eine globale politische und ökonomische Ordnung ist und nicht einfach eine Ansammlung von Eigenschaften voneinander isoliert betrachteter Ökonomien und Staaten darstellt. Ob  ein Land als imperialistisch zu charakterisieren ist oder nicht, kann daher nur im Rahmen einer Betrachtung der Totalität der ökonomischen und politischen Weltordnung erfasst werden, die den Ländern ihren Platz in der globalen Hierarchie der kapitalistischen Ökonomien und Mächte zuweist.

Die technologischen Neuerungen in Schwerindustrie, Chemie, Transport und Kommunikation bildeten ein weites Feld für rasante Akkumulation. Gleichzeitig war genug Anlagekapital zu günstigen Zinsen verfügbar. Mit dem Aufschwung der Monopolindustrien ging eine „Explosion“ der Kapitalexporte einher. Wie Lenin ausführlich zeigt[ciii], konzentrierte sich dieser Kapitalexport auf die Jahre 1900 – 1914. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde in England, Frankreich und Deutschland ein Niveau erreicht, das jenes von Mitte des 19. Jahrhunderts fast um das Hundertfache übertraf.

Dabei wurde der Kapitalexport vor allem durch Staatsanleihen und Kredite organisiert, die über Regierungen und Bankenkonsortien vermittelt wurden. Dieser Kapitalfluss war an die Bedingungen geknüpft, Infrastrukturaufträge an große Industriemonopole der imperialistischen Staaten zu vergeben. Zur Sicherung dieser Kapitalbeziehungen wurde in bestimmten Regionen in bisher ungekanntem Ausmaß zum Mittel des direkten Kolonialismus gegriffen, während anderswo die „Unabhängigkeit“ formal bestehen blieb, aber de facto der Status von „Halbkolonien“ entstand.

Die USA und Deutschland als aufstrebende industrielle und finanzielle Mächte gerieten mehr und mehr an die Grenzen der unter britischer Vorherrschaft vorgenommenen Aufteilung der Welt. Das traf vor allem auf Deutschland zu, das, im Kolonialsystem zu kurz gekommen, an die Grenzen eines für die Akkumulationsbedürfnisse des Großkapitals zu klein gewordenen Binnenmarkts stieß. Die USA befanden sich in einer weit besseren Situation wegen des größeren und noch nicht entwickelten inneren Marktes und ihrer Dominanz über Lateinamerika als halbkoloniale Einflusssphäre.

Ökonomisch war diese Periode von 1900 – bis 1914 expansiv, da Monopol- und Finanzkapital mit der enormen Ausdehnung der Produktion, den großen industriellen und sonstigen Unternehmungen auch fortschrittliche Potenzen an den Tag legten.

Aber das Monopol verschärft die krisenhaften Tendenzen gerade auch deshalb, weil es entwertende und damit expansive Voraussetzungen wiederherstellende Wirkungen der industriellen Krise modifizieren kann – z. B. indem die Vernichtung überschüssigen Kapitals aufgeschoben wird und die Kosten seiner Erhaltung der Gesellschaft aufgebürdet werden.

Das sich entwickelnde Finanzkapital begann  in dieser Periode, sich alle Aspekte des Wirtschaftslebens unterzuordnen. Überaus wichtige Beispiele dafür waren Forschung und Wissenschaft, die mehr und mehr auf die Bedürfnisse des Großkapitals bezogen wurden, immer größere Kapitalauslagen brauchten oder staatlich organisiert werden mussten. Daher nahm logischerweise auch die Bedeutung des Eigentums und exklusiven privatkapitalistischen Anspruchs auf Resultate der Forschung und Wissenschaft (inkl. Patentrecht) zu. Insgesamt verschärfte all das die Dominanz des Finanzkapitals gegenüber nichtmonopolistischem Kapital und der Gesellschaft insgesamt.

Die industriellen Krisen trieben die Monopolisierungstendenzen mit voran, führten zur Verschärfung der internationalen Konkurrenz, schließlich zum Krieg.

Politisch ging diese Periode einher mit einer ökonomischen Vertiefung des Kolonialsystems und damit auch der Notwendigkeit seiner militärischen Absicherung und Durchsetzung. Der Militarismus bildete ein immer stärker werdendes Kennzeichen aller imperialistischen Mächte. Seine Durchsetzungsformen reichten von der Kanonenbootpolitik bis hin zu größeren, ins Landesinnere ausgreifenden kolonialen „Missionen“.

Der Russisch-Japanische Krieg, die erste Russische Revolution, die Marokkokrise und die Balkankriege signalisierten schon den Übergang zur nächsten Periode, verdeutlichten, dass sich die inneren Widersprüche zuspitzten.

Die Periode bis zum Ersten Weltkrieg stellte eine der Entwicklung der Widersprüche auch in dem Sinne dar, dass sich die gesellschaftlichen Hauptklassen (auch mit inneren Kontroversen) des Epochenbruchs zum Imperialismus bewusst wurden.

Die ArbeiterInnenbewegung machte in dieser Periode mit der Vergrößerung der ArbeiterInnenaristokratie, Veränderungen des Gewerkschaftswesens und der Entwicklung einer ArbeiterInnenbürokratie als Resultat erfolgreicher gewerkschaftlicher und politischer Kämpfe für Reformen einen wichtigen Formwandel durch.

Auch die sozialen Verhältnisse in den Kolonien und Halbkolonien wurden dahingehend umgewälzt, dass eine, wenn auch kleine, aber oft hoch konzentrierte moderne ArbeiterInnenklasse entstand. Zugleich war ihnen eine, gegenüber dem Westen, einfach „nachholende Entwicklung“ aufgrund des kolonialen oder halbkolonialen Charakters ihres Landes im Rahmen des imperialistischen Weltsystems nicht möglich. Gerade was die Entwicklung dieser, vom imperialistischen Finanzkapital beherrschten Länder betrifft, zeigte sich der hemmende Charakter der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse in der imperialistischen Epoche, was die Entwicklung der Produktivkräfte der Menschheit betrifft, und zwar für ihren weitaus größeren Teil.

In dieser Periode spitzten sich in der ArbeiterInnenbewegung auch die inneren politischen Gegensätze zu. Die reformistische Alltagspraxis, die in den westlichen ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften mehr und mehr dominierte, suchte mit den Vorstößen des Revisionismus auch nach einem theoretischen Ausdruck ihrer Politik.

Insgesamt kann man jedoch konstatieren, dass sich das Bewusstsein der sich formierenden Fraktionen in der internationalen Sozialdemokratie hinsichtlich des Charakters ihrer Meinungsverschiedenheiten und deren politischer und organisatorischer Konsequenzen erst allmählich entwickelte und dieser von allen Fraktionen an bestimmten Punkten unterschätzt wurde.

Der imperialistische Weltkrieg und der Zusammenbruch der Zweiten Internationale zwangen die RevolutionärInnen dazu, sich die Frage nach den materiellen Wurzeln des Verrats der Zweiten Internationale in allen Aspekten zu stellen und grundlegende, radikale Konsequenzen daraus zu ziehen, d. h., den konsequenten Bruch mit dem reformistischen Sozialchauvinismus zu vollziehen sowie die Notwendigkeit einer Dritten Internationale zu proklamieren und diese schließlich als Weltpartei der proletarischen Revolution zu gründen.

13.2  1914 – 1948: Periode des Zusammenbruchs der imperialistischen Ordnung – Revolution und Konterrevolution

Die Periode von 1914 bis 1948 entsprach offensichtlich in ihrer Erscheinungsform am deutlichsten den klassischen Imperialismustheorien der revolutionären ArbeiterInnenbewegung.

Mit dem Ersten Weltkrieg traten die inneren Widersprüche, die sich in der vorhergehenden Periode aufgeladen hatten, explosiv hervor. Doch der Weltkrieg löste diese nicht. Die Frage der imperialistischen Führung und der Neuaufteilung der Welt blieben ungelöst, ja, verschärfte sich. Die USA wurden zur führenden Wirtschaftsmacht, zur Industriellen der Welt. Auch Japan verzeichnete einen starken industriellen Aufschwung.

Britannien und Frankreich konnten jedoch ihr Kolonialmonopol behaupten, aber auf ungleich schwächerer industrieller Grundlage. Das Pfund blieb Leitwährung. Seine Weltmarktfunktion als Weltgeld vermochte es jedoch nicht mehr recht auszufüllen, was den britischen Imperialismus vielmehr von innen aushöhlte. In der prekärsten Lage befand sich jedoch der deutsche Imperialismus.

Die unmittelbare Nachkriegsperiode war neben den politischen auch durch massive ökonomische Erschütterungen, v. a. in Deutschland, charakterisiert – bis hin zur Hyperinflation 1923. Diese konnte durch eine Änderung der US-Politik und deren Weltmachtrolle (neben dem für das Kapital positiven Scheitern der Revolution) ab Ende 1923 relativ stabilisiert werden. Aber die Probleme blieben.

Die 1920er Jahre sahen einen enormen Anstieg von privaten Investitionen, speziell aus den USA in Form von Anleihen in lateinamerikanischen und osteuropäischen Staaten sowie in Deutschland, die durch US-Investmentbanken gebündelt und vermittelt wurden. Diese Anlagen wiederum dienten als Deckung für eine Kreditausdehnung auf Basis niedriger Zinsen. Mit dem Steigen der US-Zinsen Ende der 1920er Jahre und den wachsenden Problemen bei der Schuldentilgung durch die Schuldnerstaaten platzte die Spekulationsblase in der ausgedehnten Finanzkrise nach 1929. Die nächsten Jahre sahen einen gewaltigen Rückfluss an Schuldentilgung, Auflösung von Reserven, sinkenden Wechselkursen und stark ungünstige „Terms of  Trade“ auf Seiten der betroffenen Länder. Insbesondere in Lateinamerika war „Importsubstitution“ eine logische Antwort auf diese Probleme. Ebenso wechselte damit die vorherrschende Form des Kapitalexports in die der Direktinvestition, insbesondere in Landesgesellschaften der US-Konzerne in Lateinamerika.

Gleichzeitig bedeutete das Kolonialsystem für die USA, Deutschland und Japan aus unterschiedlichen Gründen enorme Einschränkungen. Das US-Kapital investierte auch wegen des Kolonialsystems in den 1920er Jahren v. a. in Deutschland, Lateinamerika und Osteuropa, während ihm die britischen und französischen Kolonialgebiete oft verschlossen waren.

Das deutsche Monopolkapital war zu groß für den inneren Markt. Zugleich verhinderten Schutzzölle und andere Auflagen des französischen und britischen Imperialismus den Zugang zum Weltmarkt, v. a. für die Stahl- und Chemieindustrie.

Damit verschärfte sich der Gegensatz zwischen den größten Kolonialmächten sowie den USA, Deutschland und Japan weiter. Der Gegensatz musste sich, sofern nicht die proletarische Revolution zuvorkommen würde, in einem weiteren Weltbrand, dem Zweiten Weltkrieg, entladen.

Insgesamt waren weite Teile dieser Periode gekennzeichnet durch die Erschütterungen, ja, den Zusammenbruch der imperialistischen Ordnung und des Weltmarktes. Die imperialistische Vormachtstellung Britanniens ist in offenen und akuten Gegensatz zu seiner ökonomischen Potenz getreten. Anders als vor dem Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach gab es keine imperialistische Hegemonialmacht, die als „Weltmarktgarantin“ hätte fungieren können.

Gerade deshalb stellen die kurzen, fieberhaften wirtschaftlichen Aufschwungsperioden von 1923 – 29 ökonomische Entwicklungen dar, die große Katastrophen vorbereiteten, weil die globalen geopolitischen Verhältnisse und die klassenmäßigen Voraussetzungen nicht in der Lage waren, eine anhaltende Stabilisierung herbeizuführen.

Das zeigte sich auch in der Entwicklung der Technik. So bereiteten die 1920er und 1930er Jahre viele Entwicklungen vor, die später, in der Periode des langen Booms (s. u.), verallgemeinert wurden und wichtige Elemente der ökonomischen Grundlagen dieser Periode darstellten (Anwendung des Taylorismus in der US-Autoindustrie ab 1913 und dessen beginnende Ausbreitung nach dem Ersten Weltkrieg, Zentralisation des Kapitals im Handelssektor, „Entdeckung“ der ArbeiterInnenklasse als Massenkonsumentin, „Entdeckung“ der kolonialen oder halbkolonialen Länder für Direktinvestitionen).

Doch all diese Entwicklungen konnten ihr ökonomisches Potential in dieser Periode unmöglich realisieren, weil die globalen Bedingungen dafür, d. h. massive Vernichtung bestehender Kapitale, Neuaufteilung der Welt und Etablierung einer imperialistischen Hegemonialmacht, über Jahrzehnte fehlten.

Die Zwischenkriegsperiode und der Zweite Weltkrieg markierten auch aus einem anderen Grund einen Wendepunkt., eine globale Durchsetzung des Imperialismus. Anders als in jeder vorhergehenden Periode waren die Kolonialländer und die Halbkolonien direkt in die Weltpolitik, in das globale politische System im Rahmen der globalen Auseinandersetzung eingefügt, in der diesen Ländern, respektive den sich bildenden, in ihrer Formierung durch das imperialistische Weltsystem letztlich blockierten, modernen Gesellschaftsklassen in diesen Ländern (ArbeiterInnenklasse und Bourgeoisie), eine ungleich größere Rolle zukam als in der vorimperialistischen Epoche oder in der ersten Periode des Imperialismus. Die Kolonialvölker wurden in viel größerem Maße als je zuvor AkteurInnen im revolutionären Kampf.

Wir können also von einer globalen Periode des Zerfalls des Kapitalismus, seines Niedergangs sprechen, in der der Übergang zum Sozialismus den einzigen möglichen Ausweg bildete, um historische Katastrophen – Krieg, Faschismus, Barbarei –  abzuwenden. In dieser insgesamt revolutionären Geschichtsperiode, einer von Revolution und Konterrevolution, kam dem subjektiven Faktor, der Frage des Bewusstseins, der Reife, Organisiertheit, der strategischen und taktischen Richtung der kommunistischen Bewegung, eine bis dahin nie dagewesene geschichtliche Bedeutung zu.

Die Periode von 1914 bis 1948 muss also auch von dieser Seite charakterisiert werden, und zwar als eine revolutionäre Periode, weil sie wiederholt einen Ansturm der WeltarbeiterInnenklasse auf die politische Macht im Weltmaßstab mit sich brachte. Der Sieg und das Behaupten der Russischen Revolution, die Errichtung der Sowjetunion usw. belegen auch den Charakter der imperialistischen Epoche als „Übergangskapitalismus“.

Zugleich offenbart sich der Charakter der weltgeschichtlichen Periode keineswegs immer in derselben Form. In seiner Kritik des 6. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale verwies Trotzki auf dieses Problem folgendermaßen:

„Der revolutionäre Charakter der Epoche besteht nicht darin, dass er es in jedem gegebenen Augenblick gestattet, die Revolution durchzuführen, d. h. die Macht zu ergreifen, sondern in scharfen Schwankungen und abrupten Übergängen von einer unmittelbar revolutionären Situation, in der die Kommunistische Partei Anspruch auf die Macht erheben kann, zu einem Sieg der faschistischen oder halbfaschistischen Konterrevolution, und von letzterem zu einem provisorischen Regime der goldenen Mitte (dem „Linken Block“, der Einbeziehung der Sozialdemokraten in die Koalition, dem Übergang der Macht an die Partei MacDonalds usw.), um gleich darauf wieder die Gegensätze auf die Spitze zu treiben und in aller Schärfe die Machtfrage zu stellen.“ [civ]

Wenn wir einmal beiseitelassen, dass Trotzki hier die geschichtliche Periode mit der gesamten imperialistischen Epoche identifiziert, so zeigt das für diese Zeit sehr deutlich, welche zentrale Bedeutung die Einschätzung der Klassenkampfperiode oder der konkreten Lage für die konkrete revolutionäre Politik, für die Bestimmung ihrer konkreten Taktik, der Losungen, Forderungen, die in den Mittelpunkt ihrer Agitation und Propaganda gerückt werden, hat. Eine Politik, die der jeweils konkreten Lage nicht Rechnung trägt, ist, unbeschadet aller guten Vorsätze und des Heroismus ihrer AnhängerInnen, letztlich zum Scheitern verurteilt. Sie führt unvermeidlich zur politischen Desorientierung der Klasse. Darin liegt eben eine der großen Tragödien des Linksradikalismus, ultralinker politischer Ungeduld oder auch opportunistischer Passivität. Wenn die sich verändernden Situationen nicht rechtzeitig erkannt werden, wird die revolutionäre Organisation notwendigerweise unangemessene Taktiken verwenden oder die falschen Losungen in den Mittelpunkt stellen. Ein solches Unvermögen wirkt sich bei allen Wendungen im Klassenkampf – sowohl bei revolutionären Zuspitzungen als auch nach grundlegenden Niederlagen – verheerend aus. Trotzki verdeutlicht das Problem unter anderem nach der Niederlage des deutschen Oktober 1923, als sich die Komintern weigerte, die Niederlage zur Kenntnis zu nehmen:

„Nach der Periode der Sturmflut während des Jahres 1923 begann die Periode einer langdauernden Ebbe. In der Sprache der Strategie bedeutete das einen geordneten Rückzug, Nachhutgefechte, die Befestigung der Stellungen innerhalb der Massenorganisationen, die Überprüfung der eigenen Reihen und die Reinigung und Schärfung der theoretischen und politischen Waffen. Diese Haltung wurde als Liquidatorentum gebrandmarkt. Mit diesem, wie auch mit anderen Begriffen aus dem Wörterbuch des Bolschewismus wurde in den letzten Jahren der allergrößte Missbrauch getrieben. Man lehrte und erzog nicht mehr, sondern säte nur Zwietracht und Verwirrung. Liquidatorentum bedeutet die Zurückweisung der Revolution, es ist der Versuch, deren Wege und Methoden durch die Wege und Methoden des Reformismus zu ersetzen. Die leninistische Politik hat nichts mit Liquidatorentum gemein. Doch genausowenig hat sie mit einer Mißachtung der Veränderungen in der objektiven Lage zu tun, damit, den Kurs des bewaffneten Aufstands in Worten aufrechtzuerhalten , wenn die Revolution uns bereits den Rücken gekehrt hat und es notwendig ist, wieder den langwierigen Weg hartnäckiger, systematischer und mühseliger Arbeit unter den Massen einzuschlagen, um die Partei auf eine neue Revolution vorzubereiten .

Um eine Treppe hinaufzusteigen, braucht der Mensch eine andere Art der Bewegung, als wenn er sie hinuntergeht. Am gefährlichsten wird es, wenn der Mensch, nachdem er das Licht gelöscht hat, den Fuß zum Hinaufsteigen hebt, während es vor ihm die Stufen hinuntergeht. Stürze, Verletzungen und Verrenkungen sind  dann unvermeidlich. Die Führung der Komintern hat im Jahre 1924 alles getan, um die Kritik der Erfahrungen des deutschen Oktobers und jede Kritik überhaupt zu unterdrücken. Sie wiederholte halsstarrig: Die Arbeiter steuern unmittelbar auf die Revolution zu – die Treppe führt hinauf. Kein Wunder, daß die Direktiven des 5. Kongresses, angewandt während des Zurückflutens der Revolution, zu schweren politischen Stürzen und Verrenkungen führten!“ [cv]

Die Bedeutung einer konkreten Analyse der politisch-ökonomischen Lage, der kurzfristigen Klassenperiode oder Situation ergibt sich daraus, dass diese jeweils unterschiedliche, konkrete Politik erfordern. Daher bilden die Einschätzung und Charakterisierung der aktuellen Lage ein unterlässliches Moment revolutionärer Tätigkeit. Ohne diese agiert eine Organisation oder Gruppe blind. Die Einschätzung der Veränderung solcher Perioden und von deren Übergängen bereiten naturgemäß oft Schwierigkeiten, weil diese nur aus einer Gesamteinschätzung der Lage gewonnen werden können, deren alternative Entwicklungsmöglichkeiten durchaus offen sein mögen – nicht zuletzt, weil sie selbst im Klassenkampf und nicht am Kopf des/r Analysierenden entschieden werden. Das relativiert ihre Bedeutung und die ständige kritische Überprüfung von Prognosen und Einschätzungen jedoch nicht. Im Folgenden wollen wir zur Illustration kurz die politischen Klassenkampfperioden in dieser längeren Periode von 1914 – 1948 skizzieren.

1914 – 1916: Imperialistische Schockwelle, Phase der Defensive und Vorbereitung

Die historische Katastrophe des Ersten Weltkrieges und des Zusammenbruchs der II. Internationale eröffnete eine Periode der nationalistischen Verhetzung der ArbeiterInnenklasse und der Masse der Unterdrückten. Die sozialpatriotische, tatkräftige Hilfe der Sozialdemokratie und der bürokratischen Gewerkschaftsapparate bildeten dabei in den meisten Ländern eine wesentliche soziale Stütze, die den Einfluss nationalistischer Ideologien und der Kriegshetze in der ArbeiterInnenklasse verstärkte.

Viele Untersuchungen zeigen, dass die Kriegsbegeisterung im Proletariat, anders als bürgerliche, aber auch viele sozialdemokratische IdeologInnen verbreiten, keineswegs allgemein war, sondern ein bedeutender Teil der Klasse dem Krieg von Beginn an skeptisch bis offen ablehnend gegenüberstand. Der Verrat der Sozialdemokratie bedeutete aber gerade die Illegalisierung, Isolierung und gezielte Marginalisierung dieser Teile.

In dieser weltgeschichtlichen Lage stellte der Kampf der Bolschewiki und anderer internationalistischer Linke für einen Bruch mit der II. Internationale, einschließlich des unversöhnlichen Kampfes gegen das Versöhnlertum, eine unerlässliche Voraussetzung für die Neuformierung der ArbeiterInnenklasse.

1917 – 1919: Periode des offen revolutionären Ansturms

Diese Periode des revolutionären Ansturms wurde durch politische Ereignisse, erste internationalistische Massendemonstrationen gegen den Krieg und v. a. die Februarrevolution, eingeläutet. Gegen Ende des Krieges und danach  stellte sich in einer Reihe europäischer Länder unmittelbar die Machtfrage bis hin zur Errichtung von landesweiten oder städtischen bzw. lokalen Räterepubliken und Doppelmachtorganen. Doch in Deutschland, Italien, Deutsch-Österreich, Ungarn, der Slowakei usw. wurde die Revolution geschlagen durch das Zusammenwirken von Reaktion und Sozialdemokratie. Mit den Niederlagen dieser Revolutionen wurde diese Klassenkampfperiode beendet.

1920 – 1923: Instabile Periode der Defensive und des Kampfes um die Massen

Dies war die Periode, die vor allem dadurch gekennzeichnet war, dass das revolutionäre Proletariat aus der Organisierung von Abwehrkämpfen heraus die Offensive vor dem Hintergrund einer nach wie vor turbulenten und höchst instabilen Weltlage organisieren musste.

Aber aufgrund der Niederlagen des unmittelbar revolutionären Ansturms konsolidierten sich die bürgerliche Herrschaft und die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbürokratie einigermaßen.

Ökonomisch und politisch blieb diese Periode jedoch weiter äußerst instabil. Sie zeigte enorm große Zuspitzungen des Klassenkampfes in einzelnen Ländern (z. B. Kapp-Lüttwitz-Putsch, Ruhrkrise). Sie kulminierte und endete 1923 im deutschen Oktober, der einer strategischen Niederlage der WeltarbeiterInnenklasse gleichkam.

Diese Periode erforderte von den KommunistInnen, die Lehren aus dem Scheitern des ersten Ansturms zu ziehen und ihr strategisches Ziel mit dem Kampf um die Massen in Phasen der Defensive, der leicht in den um die Macht umschlagen konnte, zu verbinden. Auch wenn die kommunistische Bewegung in dieser Phase viel Lehrgeld zahlen musste, wurden entscheidende politische, taktische und programmatische Schlussfolgerungen entwickelt (Einheitsfront, Übergangsforderungen), die bis heute ihren Wert behalten haben.

1924 – 1929: Periode der relativen Stabilisierung

Die Niederlage im Oktober 1923 ging Hand in Hand mit einer politischen Kursänderung der imperialistischen Mächte, v. a. mit einer stärkeren und die Lage in Europa stabilisierenden Rolle des US-Imperialismus (Zurückdrängen des rabiaten französischen Revanchismus, Währungsreform und Stabilisierung in Deutschland durch die USA). Diese Periode der relativen Stabilisierung der bürgerlichen Herrschaft kannte auch wichtige verpasste Chancen der ArbeiterInnenbewegung (Britannien), vor allem aber die Niederlage der chinesischen Revolution und die Stärkung der Stalinbürokratie sowie das massive Voranschreiten der Degeneration der Kommunistischen Internationale nach 1924.

Diese veränderte ihren Charakter von einer revolutionären zu einer zentristischen Organisation. Diese Degeneration stellte selbst einen Faktor dar, der den Spielraum der Weltbourgeoisie vergrößerte.

1929 – 1936: Weltwirtschaftskrise, große Depression, Zuspitzung der Klassenkämpfe

Die Weltwirtschaftskrise, die verschiedene Länder ab 1929 zeitversetzt traf, führte zu massiven inneren Erschütterungen, einer Reihe von Revolutionen und Konterrevolutionen.

Verschiedene Länder (Deutschland, Frankreich, Spanien) bildeten in dieser Phase den Schlüssel zur internationalen Lage, weil die Klassenkämpfe derartig intensive Formen angenommen hatten, dass deren Ausgang wesentlich nicht nur über Revolution und Konterrevolution im Inneren entschied, sondern auch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen auf weltweiter Ebene prägte.

Deutschland bildete am Beginn der 1930 Jahre in mehrfacher Hinsicht das Zentrum des Klassenkampfes. Erstens warf die tiefe Krise die Alternative Faschismus oder sozialistische Revolution und damit die zentrale Frage der ArbeiterInneneinheitsfront gegen die drohende Naziherrschaft und deren Verknüpfung mit dem Kampf um die Macht auf. Während die Sozialdemokratie die Klasse an das Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie zu binden versuchte, einschließlich der Unterstützung bonapartistischer Herrschaftsformen, erlebte die ultralinke Politik der KDP und der von Stalin geführten Komintern ihren historischen Bankrott. Sie erwies sich  als unfähig, ja, als Hindernis, die sozialdemokratischen ArbeiterInnen zu gewinnen und so überhaupt die Grundlage zu schaffen, den Nationalsozialismus zu schlagen.

Mit dieser historischen Niederlage und der Weigerung, dieses Fiasko selbstkritisch überhaupt nur zu diskutieren, war auch das Schicksal der Kommunistischen Internationale als revolutionärer Kraft besiegelt.

Die Erschütterungen durch die Weltwirtschaftskrise, aber auch die Schockwirkungen des Versagens der deutschen ArbeiterInnenbewegung eröffneten vorrevolutionäre und revolutionäre Möglichkeiten in Frankreich und Spanien, die jedoch von Sozialdemokratie und Stalinismus durch die Politik der Volksfront konterrevolutionär gestoppt wurden bzw. dem Sieg der Reaktion (Franco in Spanien) den Weg bereiteten.

Die Niederlage in Spanien vollzog sich im Grunde schon 1936 und eröffnete eine neue Periode im internationalen Klassenkampf, die vom Vormarsch der Konterrevolution auf allen Ebenen geprägt war.

1936 – 1943: Vormarsch der Konterrevolution

Die Niederlage in Spanien vollzog sich im Grunde schon 1936, und sie eröffnete, wie oben gesagt, eine neue Periode im internationalen Klassenkampf, die von einem Vormarsch der Konterrevolution auf allen Ebenen geprägt war. In Deutschland festigte sich die Nazidiktatur. Doch auch viele andere Länder griffen mehr und mehr zu bonapartistischen Herrschaftsformen. Die Vorbereitungen eines neuen Weltkriegs und dessen Ausbruch prägten diese Phase.

Für die ArbeiterInnenklasse waren das denkbar ungünstige Bedingungen. Nach dem Übergang der Sozialdemokratie ins bürgerliche Lager muierte eine weitere Internationale, die Komintern, zum Instrument einer reaktionären Bürokratie und zu einem Hindernis für die Revolution. Die Politik des Kreml nahm einen offen konterrevolutionären Charakter an, der sich direkt gegen das Proletariat bzw. die kommunistische Avantgarde richtete (spanischer Bürgerkrieg, Moskauer Prozesse, Hitler-Stalin-Pakt).

1943 – 1948: Revolutionäre Periode

Mit der Wende für den deutschen Imperialismus im Russlandfeldzug nach Stalingrad, der Konferenz von Jalta, aber vor allem auch mit der Entwicklung des Partisanenkriegs in Italien, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien zeichnete sich der abschließende offene Kampf um die Neuordnung der Welt ab.

Die innerimperialistischen Kräftefragen waren im Grunde schon zu diesem Zeitpunkt bereits gelöst. Der Gegensatz einer zukünftigen US-dominierten Weltordnung zur Sowjetunion trat mehr und mehr in den Vordergrund. Zugleich führten das kommende Kriegsende und die Nachkriegsperiode zu Doppelmachtsituationen in halb Europa. Die ehemaligen Kolonialmächte standen außerdem Aufstands- oder jedenfalls Massenbewegungen der Kolonialbevölkerungen gegenüber. Die Frage des Kampfes um die Macht stand insbesondere in Europa auf der Tagesordnung, und zwar in Gestalt des Ringens zwischen proletarischer Revolution und bürgerlicher Konterrevolution (wenn auch oft in „demokratischer“ Form, mitunter aber auch äußerst blutig, z. B. Griechenland).

Das waren die zentralen Voraussetzungen, damit andere ökonomische und politische Resultate des Zweiten Weltkriegs wirken konnten: die massive Vernichtung überschüssigen Kapitals, die Revolutionierung der Technik der US-Wirtschaft, die Ausdehnung der Konsumgüterindustrie in den USA, die damit verbundene Erhöhung der „Produktionsweise“ des relativen Mehrwerts und die Integration der ArbeiterInnenschaft als KonsumentInnen, die Etablierung einer globalen, vom US-Imperialismus bestimmten und garantierten globalen Finanz- und Wirtschaftsordnung, u. a. in Form der Gründung von IWF und Weltbank (Bretton Woods), der Zusammenbruch des Kolonialsystems (auch wenn die Entkolonialisierung noch mehr als ein Jahrzehnt brauchte und blutiger und heroischer Befreiungskämpfe bedurfte) und damit die Durchsetzung der US-Hegemonie (Open Door Policy).

Die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse in Frankreich, Italien, Griechenland, kurzum die konterrevolutionäre Befriedung wären unmöglich gewesen ohne die Kollaboration von Sozialdemokratie, Stalinismus und Gewerkschaftsbürokratie.

Schon im Zweiten Weltkrieg und im Aufbau der Nachkriegsordnung wurden die britischen und US-amerikanischen Gewerkschaften, die Labour Party und die schwedische ArbeiterInnenbewegung als zuverlässige, antikommunistische Bollwerke aufgebaut. Diese unterstützten tatkräftig die Rekonstruktion der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften in der westlichen Einflusssphäre im Sinne des Imperialismus. Nicht minder wichtig war die Kooperation des Stalinismus mit seiner Politik der „friedlichen Koexistenz“, die zwar einerseits als Gegnerin der US-geführten imperialistischen Welt im Kalten Krieg auftrat, zugleich aber unverzichtbare, konterrevolutionäre Garantin der Nachkriegsordnung war.

Die Degeneration der Vierten Internationale 1948 und ihr organisatorischer Zerfall 1953 waren ein wichtiges, wenn auch keineswegs unvermeidliches Resultat der historischen Niederlagen der ArbeiterInnenklasse in der Nachkriegsperiode und der darauf aufbauenden konterrevolutionären Stabilisierung. Die Vierte Internationale war trotz ihrer geringen Größe – ähnlich wie die InternationalistInnen am Beginn des Ersten Weltkriegs – ein gewichtiger Faktor der Weltpolitik. Die Tatsache, dass sie zu keinem Generalstab der Weltrevolution wurde, ihre Degeneration und ihr Zerfall und der damit verbundene Abbruch der revolutionären Kontinuität, das Fehlen einer revolutionären Internationale seit Jahrzehnten verkörpern ebenfalls einen wesentlichen Faktor der Weltpolitik und Weltordnung, der die kommenden Perioden mit charakterisierte.

Allein die Tatsache, dass die verschiedenen Reste der Vierten Internationale, dass der Trotzkismus nach 1948 bei allen wichtigen Wendepunkten des Klassenkampfes versagt hatte, verdeutlicht, dass die Vierte Internationale für die Revolution gestorben ist, dass der Aufbau einer neuen, revolutionären Fünften Internationale die drängende Aufgabe unserer Zeit schlechthin bedeutet. Ein wesentlicher Grund für dieses Versagen bestand darin, dass die Vierte Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in der Lage war, eine veränderte Weltlage konkret zu analysieren, die relative Stabilisierung des Weltkapitalismus spätestens nach 1948 lange bestritt. Dies führte tragisch-ironisch mit dazu, dass zugleich zentrale revolutionäre Momente des programmatischen Verständnisses der Vierten revidiert wurden (Stalinismus, Bedeutung der revolutionären Partei).[cvi]

13.3 1948 – 1968: Periode des Langen Booms und der unumstrittenen US-Vorherrschaft

Die USA waren die eindeutige Hegemonin, die den Dollar als Weltgeld durchgesetzt hat. Mit dem Abkommen von Bretton Woods war ein System fester Wechselkurse gegenüber dem Dollar, seine Goldanbindung und ein Mechanismus des Gegensteuerns gegen Währungsungleichgewichte (IWF = Internationaler Währungsfonds) geschaffen. Die Struktur der Kapitalströme im Nachkriegsboom kennzeichnete ein großer Anstieg von Kapitalexporten zwischen den imperialistischen Zentren USA, Deutschland und Japan, die gleichzeitig ökonomische Netze von Landesgesellschaften in den Halbkolonien aufbauten.

Die wichtigsten Voraussetzungen für mehrere Zyklen erweiterter Reproduktion des Kapitals in allen imperialistischen Zentren waren folgende:

  • Die massive Vernichtung fixen Kapitals in Europa und Japan im und auch nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Erneuerung des Kapitalstocks.
  • Die Öffnung der britischen und französischen Kolonien für den Weltmarkt des Kapitals.
  • Die Etablierung einer auf die fast absolute Hegemonie des US-Imperialismus gestützten internationalen Finanzordnung
  • – Damit verbunden die Herstellung zentraler Felder für den Export des US-Kapitals nach 1945 und somit die Überwindung seiner eigenen inneren Expansionsschranken.
  • Die hohen Profitraten im industriellen Sektor und die damit verbundene Expansionsdynamik.
  • Die dramatische Erhöhung der Ausbeutungsrate der ArbeiterInnenklasse in allen imperialistischen Staaten während des Zweiten Weltkrieges und weitere Entwertung der Einkommen der Lohnabhängigen durch die Währungsreformen nach 1945.
  • Die größere Bedeutung der Arbeitsmigration (v. a. halbkoloniale Arbeitsmärkte, aber in Deutschland auch Vertriebene) nach 1945 und ein damit verbundener „Neustart“ der Akkumulation in Japan und Westeuropa unter Einschluss von Arbeitskräften, deren Preis weit gedrückt wurde oder deren Herstellung das eigene Kapital nichts gekostet hat (und damit verbunden Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft).
  • Weitaus stärkere Einbeziehung von Frauen in die Lohnarbeit, was umgekehrt auch eine Veränderung der privaten Hausarbeit erforderte.
  • Die Vernichtung von Kapital und die relativ billige Arbeitskraft nach 1945 gingen einher mit einer massiven, über mehrere Zyklen laufenden Ausdehnung der Produktion.
  • Ein wesentlicher Aspekt der Ausdehnung der Produktion bildete die Ausdehnung des Konsumgütersektors, die stetige Steigerung der Produktivität der zu ihrer Herstellung verwandten Arbeitskraft und damit die Kombination von erweiterter Reproduktion des Kapitals, steigenden Profitmassen, Erweiterung der Nachfrage nach Arbeitskraft sowie Aneignung von Mehrwert, v. a. durch relative Mehrwertproduktion.

Auf der Grundlage der zyklenübergreifenden erweiterten Reproduktion des Kapitals haben die USA und ihre Verbündeten eine ganze Reihe globaler Institutionen geschaffen, die diese Ordnung zugleich absichern: Bretton Woods und Goldstandard; Dollar als Weltgeld; internationaler Währungsfonds und Weltbank; die UNO als Institution, die alle imperialistischen Staaten und alle degenerierten ArbeiterInnenstaaten umfasst. Hinzu kamen die imperialistischen Allianzen wie die NATO, die Gründung der EG usw. Zum Teil existieren diese Institutionen, wenn auch mit großen Veränderungen bis hin zu veränderten Zielsetzungen (z. B. EG – EU), bis heute.

All das erlaubte eine ganze Periode mehrerer expansiver industrieller Zyklen, eine Akkumulationsperiode der erweiterten Reproduktion. Die Produktivkraft der Arbeit wuchs über mehrere Zyklen.

Die USA fungierten in dieser Periode faktisch als Demiurgin des Weltmarktes. Sie stellten nicht nur das Weltgeld (Dollar), der US-Konjunkturzyklus bestimmte nach dem Zweiten Weltkrieg auch den Weltmarktzyklus, der faktisch parallel zur US-Konjunktur verlief.

„Innerhalb des Welthandels dominieren die USA nach dem 2. Weltkrieg absolut. Gemessen an den Weltexporten bestritten sie in den 1950er Jahren eine Quote von rund 20 %. Dies war doppelt so viel wie die der nächstfolgenden Nation Großbritannien, die trotz der fortbestehenden Begünstigung durch Handelsschranken nur auf 10 % kam. Wiederum die Hälfte des britischen Anteils konnte Frankreich in diesem Zeitraum auf sich vereinigen (5 %), sodass die westlichen Siegermetropolen des 2. Weltkriegs in dem dem Krieg folgenden Jahrzehnt mehr als ein Drittel der Weltexporte bestreiten. ( … )

Diese ausgeprägte Ungleichheit der Welthandelsanteile zwischen den führenden kapitalistischen Weltmarktmetropolen, wie  sie sich als Ergebnis langfristiger ökonomischer Entwicklungstendenzen sowie politischer Konstellationen im Anschluss an den 2. Weltkrieg ergab, verschaffte dem zyklischen Verlauf der Kapitalakkumulation in den USA zunächst den prägenden Einfluss auf die Konjunkturen des Weltmarkts. Obwohl das US-Nationalkapital aufgrund seines großen Binnenmarkts nur eine vergleichsweise niedrige Außenhandelsverflechtung ausweist, war die prägende Kraft des USA-Zyklus für die Konjunkturen des Welthandels und in weiterer Instanz für die nationalen industriellen Zyklen der nachgeordneten kapitalistischen Metropolen evident.“ [cvii]

Die 20 % müssen ins Verhältnis zum Gewicht der US-Ökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg in der Weltwirtschaft gestellt werden. Rund 40 % der Industrieproduktion entfielen auf die USA, ihr Markt stellte den mit Abstand größten und bedeutendsten Binnenmarkt dar. Sie verfügten im eigenen Land und in Venezuela über Zugang zu relativ günstigem Öl als dem entscheidenden Energieträger, die US-Landwirtschaft erzeugte Überschüsse. Europa und die Öffnung des Weltmarktes erlaubten dem US-Kapital zu expandieren, faktisch als Monopolist hinsichtlich von Industriewaren- und Kapitalexport zu fungieren und sich gleichzeitig auf die den Weltmarkt prägende Binnenökonomie zu stützen.

Es sind also Sonderbedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg, nach erfolgter Neuaufteilung der Welt und der faktisch absoluten Hegemonie der USA gegenüber ihren imperialistischen RivalInnen durchgesetzt wurden, die die Grundlage für den außergewöhnlichen Charakter der Nachkriegsperiode bildeten und deren Sonderstellung für die gesamte imperialistische Epoche erklären.

Bestimmte Aspekte der Epoche traten jedoch sogar stärker hervor. Zugleich etablierte das Finanzkapital mit der halbkolonialen Neuordnung der Welt die dem Kapitalismus eigentlich entsprechende Form der Unterordnung und Abhängigkeit der von den imperialistischen Mächten beherrschten Teile der Welt.

Die Vorherrschaft des Finanzkapitals festigte sich noch mehr durch die enge Bindung zwischen Banken, Industriekapital und staatlicher Politik. In jenen imperialistischen Ländern, wo die großen Monopole der vorherigen Periode z. T. zerschlagen wurden (z. B. IG Farben in Deutschland) etablierten sich rasch neue Großkonzerne, die in Summe eine nicht minder marktbeherrschende Stellung im globalen Rahmen einnahmen (Bayer, Höchst, BASF). Gerade im Agrar- und Konsumgütersektor erreichte die Tendenz zur Monopolisierung oder eine oligarchische Aufteilung der Märkte einen Umfang, der vor dem Zweiten Weltkrieg nicht oder nur ausnahmsweise bekannt war. Dies reflektiert nicht nur die Zentralisations- und Konzentrationstendenzen in den Metropolen, sondern vor allem auch die Erweiterung der Operationen dieser Kapitale in den halbkolonialen Ländern und die Umwälzung der landwirtschaftlichen Produktion nach 1945 überhaupt.

Zweitens wurden die kolonialen und die halbkolonialen Länder stärker als vor 1945 qualitativ stärker in den kapitalistischen Weltmarkt integriert. Die kolonialen Befreiungsbewegungen und der Übergang der Länder Asiens und Afrikas von einer kolonialen zur indirekten, halbkolonialen Herrschaftsform und Einbindung in den Weltmarkt spiegelten einerseits den Druck demokratischer und revolutionärer Bewegungen wider. Andererseits brach auf diese Weise nicht nur der privilegierte Zugang der alten Kolonialmächte zu diesen Märkten auf. Die staatliche, formale Unabhängigkeit entsprach auch der Verbreiterung des kapitalistischen Verhältnisses in den Ländern, was zu ihrer auf den Weltmarkt bezogener Teilindustrialisierung und zu einem Wachstum des Proletariats führte, aber auch zur Umwälzung der Verhältnisse auf dem Land und der prekären Einbindung der Agrarproduktion in den Weltmarkt. Die sog. Grüne Revolution in Indien illustriert diese Veränderung, indem sie Millionen und Abermillionen von Bauern abhängig machte von Saatgut und Pestiziden, die von wenigen Agrarkonzernen der imperialistischen Zentren monopolisiert werden. Die für Halbkolonien typische Form der Weltmarktabhängigkeit bedeutete auch, dass die formale Unabhängigkeit der Länder mit einer Verstärkung der Abhängigkeit vom Weltmarkt einherging. An die Stelle formeller Fremdbestimmung trat auch in diesen Ländern die stumme Macht der Verhältnisse, die im Zweifelsfall durch direkte Interventionen abgesichert wurde und wird.

Drittens war die Periode auch von einer Ausdehnung der degenerierten ArbeiterInnenstaaten nach 1948 geprägt (China, Osteuropa, Nordkorea, Kuba, Vietnam). Der polare Gegensatz von USA und UdSSR kennzeichnete die Weltpolitik, der aufgrund der Politik der stalinistischen Bürokratie selbst eine stabilisierende Funktion für die Gesamtperiode mit sich brachte –  ja, ohne deren Politik wäre die relative Stabilität der Weltordnung unmöglich gewesen.

Die stalinistische Bürokratie unterdrückte nicht nur die ArbeiterInnenklasse in den von ihr beherrschten Staaten, sie stellte zugleich ein Haupthindernis für die Revolutionierung der antikolonialen Befreiungsbewegungen und des Proletariats dar. Sie offenbarte hier deutlich ihren Charakter als Agentur des Weltimperialismus.

Die erweiterte Reproduktion in den kapitalistischen Ländern ging auch mit einer Ausdehnung der industriellen und produktiven Basis in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten, v. a. der UdSSR und Osteuropas auf Basis der Erneuerung der Industrie infolge der Zerstörungen des Krieges, einher. Dies führte mit zu einer Stabilisierung der bürokratischen Herrschaft nach 1953 – 1956, aber auch zu einer Festigung des globalen Status quo.

Die Zunahme von degenerierten Arbeiterstaaten nach 1948 verdeutlicht den Übergangscharakter der imperialistischen Epoche, aber auch, dass diese selbst in das imperialistische Weltsystem zeitweilig integriert werden können und die Politik der Bürokratie zu deren Stabilität funktional beiträgt.

Schließlich erlaubten die Expansion des Kapitalismus und die geopolitische Frontstellung zwischen dem US-Imperialismus und der Sowjetunion den halbkolonialen Ländern auch einen gewissen Spielraum. Die UdSSR versuchte, verbündete Staaten wie Kuba nach der Revolution zu stützen. Eine Reihe linksnationalistischer Regime verfolgte eine staatskapitalistische oder eine, jedenfalls über bedeutende staatliche Interventionen vermittelte, Strategie zur industriellen Entwicklung, was jedoch letztlich scheiterte. Interessanterweise konnten ähnliche Phänomene auch bei Ländern beobachtet werden, die von den USA gestützt wurden (z. B. Türkei, Israel, Südkorea, Taiwan), die zeitweilig günstige Bedingungen zur Kapitalakkumulation eingeräumt erhielten, weil sie als wichtige geostrategische Verbündete gegen  „Kommunismus“ und Befreiungsbewegungen fungierten.

Damit wären wir bei einem weiteren zentralen Charakteristikum der Periode des Langen Booms und der uneingeschränkten US-Hegemonie unter den imperialistischen Staaten angekommen: die qualitativ stärkere Einbindung der ArbeiterInnenaristokratie und der ArbeiterInnenbürokratie in die bürgerliche Gesellschaftsordnung. Die Gewerkschaften und die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien wuchsen nicht nur zu bislang unüblichen und ungeahnten Größen, sie wurden auch in die Formen staatlicher Herrschaft und die Regulation des Kapitalverhältnisses eingebunden. Die bürgerliche Herrschaft wurde in diese Organisationen verlängert. Die Gewerkschaftsbürokratie, die Führungen und der Apparat der Sozialdemokratie oder der Labourparteien agierten als politische Polizei in der ArbeiterInnenklasse.

Die Expansion des Kapitalismus führte in den 1960er Jahren zu einer massiven Ausdehnung der privilegierten Schichten des Proletariats in den imperialistischen Ländern, wobei auch in den Halbkolonien und in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten solche Phänomen, wenn auch in geringerem Maße und auf einer schwächeren ökonomischen Grundlage, beobachtbar waren. Die Akkumulationsdynamik zog aber auch für einige Zeit die mittleren und selbst unteren Schichten der Klasse in ihren Bann, da die Masse der Gebrauchswerte zunahm, die die  ArbeiterInnenklasse konsumieren konnte. Diese reale Ausdehnung der Konsummöglichkeiten und eine partielle Öffnung von Bildungschancen (aufgrund der Nachfrage nach qualifizierter Arbeitskraft) untermauerten das soziale Aufstiegsversprechen des Langen Booms. Schließlich schuf dieser auch die Basis für eine viel tiefere Durchdringung der ArbeiterInnenklasse mit bürgerlicher Ideologie und „Massen“kultur.

All das darf keineswegs zur falschen Einschätzung führen, dass diese geschichtliche Periode frei von massiven Klassenkämpfen und Krisen gewesen wäre. An dieser Stelle verweisen wir nur auf den Koreakrieg, antikoloniale Befreiungsbewegungen wie z. B. in Algerien, (StellvertreterInnen-)Kriege, Vertreibung der PalästinenserInnen, Aufstände und Revolutionen in der DDR, in Polen und Ungarn, die bolivianische und die kubanische Revolution, um zu verdeutlichen, dass auch diese Abschnitte reich an Kämpfen waren. Aber die expansive Dynamik der Kapitalakkumulation, die Vorherrschaft der USA und die konterrevolutionären Rolle von Stalinismus und Sozialdemokratie bildeten die Grundlage für eine längere Periode relativ stabiler Herrschaft in den imperialistischen Zentren, die auch Erschütterungen in anderen Regionen vergleichsweise unbeschadet überstand.

Das Fehlen einer revolutionären Alternative zum bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalismus, zu Stalinismus und Sozialdemokratie, also zu den vorherrschenden Kräften in der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten in dieser Periode, verstärkte diese Dynamik.

13.4 1968 – 1989: Periode des Niedergangs der Nachkriegsordnung

Das Ende des Langen Booms kündigte sich bereits mit dem Niedergang der Profitraten, dem Erlahmen der Akkumulationsdynamik an. Auch wenn der Akkumulationszyklus nach dem Zweiten Weltkrieg, streng genommen, bis Anfang der 1970er Jahre, bis zur Krise 1973/74 dauerte, so begann die neue geschichtliche Periode schon 1968. Gleichwohl müssen wir uns kurz mit der ökonomischen Entwicklung beschäftigten, die ihr zugrunde lag.

Die Profitraten in den imperialistischen Staaten entwickelten sich dabei schon vor der Krise ungleichmäßig. Im Folgenden stützen wir uns auf Berechnungen von Stefan Krüger.[cviii] Auch wenn die Zahlen verschiedener marxistischer AutorInnen im Einzelnen abweichen, so geben sie wieder, was für uns an dieser Stelle entscheidend ist: nämlich die gleiche Entwicklungslinie. Die Profitrate von US-Kapitalgesellschaften lag nach dem Krieg (bis 1954) auf ihrem höchsten Niveau (12 %), sank in den 1950er Jahren, um sich in den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre auf einem niedrigen Niveau von 6 bzw. 5 % einzupendeln. Die Profitrate des westdeutschen und japanischen Kapitals lag seit den 1950er Jahren deutlich höher als jene des US-Kapitals. Anfang der 1950er Jahre lag die des BRD-Kapitals bei über 25 % und sank in den folgenden Zyklen stetig, fiel aber langsamer als jene der USA, um sich in den 1970er Jahren bei unter 10 % einzupendeln. Die Kurve der Profitratenentwickelung des japanischen Gesamtkapitals zeigte eine wichtige Besonderheit. Sie erreichte in den 1960er Jahren mit rund 35 % ihren Höhepunkt, fiel in den siebziger Jahren deutlich ab und erreichte 10 – 15 % für die späten 1970er und 1980er Jahre.[cix]

Uns geht es an dieser Stelle nicht um eine Diskussion der Profitraten in einzelnen Ländern, wohl aber um einen internationalen Trend. Die Entwicklung des deutschen und japanischen Kapitals (Profitraten, Wachstumsraten ihrer Nationalökonomien, Weltmarktanteile) reflektieren das wachsende Gewicht der beiden wichtigsten und ökonomisch dynamischsten Rivalen der USA. Sie entwickelten sich für die USA zu Herausforderern ihrer ökonomischen Vorherrschaft, die Ende der 1960er Jahre ihren absoluten Charakter eingebüßt hatte. Auch der Weltmarktzyklus wurde nun nicht mehr bloß von einer Nation bestimmt, vielmehr gingen v. a. die Bewegungen des japanischen und westdeutschen Kapitals in diese ein. Beide konnten, was den Anteil am Welthandel betrifft, zu den USA in den 1970er und 1980er Jahren aufschließen oder diese gar überholen. Dass sich die USA gezwungen sahen, den Goldstandard aufzugeben, brachte die Verschiebung der Weltwirtschaft schlagend zum Ausdruck.

Zweitens verweisen die niedergehenden Profitraten in imperialistischen Weltökonomien wie auch eine Untersuchung für Frankreich, Britannien, Italien und Kanada darauf, dass die Weltwirtschaft insgesamt in eine lang andauernde strukturelle Überakkumulationsperiode des Kapitals geriet. Diese prägt die Weltwirtschaft bis heute entscheidend, auch wenn die verschiedenen Entwicklungsphasen seit den 1970er Jahren immer von bestimmten ökonomischen und geopolitischen Konstellationen geprägt sind, die dieses Problem überwinden oder zumindest  kompensieren sollen.

Insofern markierte 1968 den einschneidenden, eigentlichen Periodenwechsel hinsichtlich der politisch-ökonomischen Gesamtentwicklung. Die Krisentendenzen des globalen Systems äußerten sich in der wachsenden, globalen Protest- und Widerstandsbewegung gegen den US-Imperialismus wie auch im „Prager Frühling“. Den entscheidenden Wendepunkt markierte jedoch der Mai 1968 in Frankreich und damit die Entwicklung einer revolutionären Situation in einem imperialistischen Kernland.

1968 – 1974/75: Revolutionäre Klassenkampfperiode

Anders als die Klassenkämpfe während des Langen Booms trug die Entwicklung nach 1968 einen globalen Charakter, die in allen wichtigen Regionen der Welt zu einem massiven Anwachsen von Klassenkämpfen bis hin zu revolutionären Erschütterungen und Krisen führte: revolutionäre Situationen in Frankreich und Italien 1968 und 1969, die Radikalisierung in den USA, das allgemeine abrupte Anwachsen der radikalen Linken wie der ArbeiterInnenbewegung weltweit, die bolivianische und chilenische Revolution, die Nelkenrevolution in Portugal, der Prager Frühling.

Bei aller Unterschiedlichkeit war den Kämpfen gemeinsam, dass sie die Aktualität der Revolution auf die Tagesordnung setzten – bis hin zur Entwicklung von Doppelmachtorganen, die die Machtfrage praktisch aufwarfen.

1968 bis 1974/75 stellte eine revolutionäre Klassenkampfperiode im Weltmaßstab dar. Die Tiefe der Führungskrise des Proletariats zeigte sich freilich auch darin, dass weit über die einzelnen Länder hinausgehende Niederlagen den Sieg der Konterrevolution markierten – sei es auf extrem blutige, diktatorische Art wie z. B. in Chile 1973 oder durch die konterrevolutionären Befriedung wie in der portugiesischen Revolution 1974/75, deren Niederlage auch den Endpunkt dieser Klassenkampfperiode darstellte.

1975 – 1979: Die sozialdemokratische Befriedungsperiode

Die Niederlage des US-Imperialismus in Vietnam, der Aufstieg europäischer und japanischer Rivalen und die Unfähigkeit der imperialistischen Bourgeoisie, einerseits die ArbeiterInnenklasse in der ersten großen Nachkriegskrise „direkt“ zu schlagen sowie  die Unreife und politische Schwäche der subjektiv revolutionären StudentInnen und ArbeiterInnen andererseits  riefen die Sozialdemokratie als eine zentrale Agentur zur Rettung und Stabilisierung auf den Plan. Sie versuchte dabei auch, auf Reserven zur Befriedung und sozialpolitischen Abfederung der Krise zurückgreifen. Ihre ökonomische Hauptmethode bildete der Keynesianismus und die damit einhergehende enorme Ausweitung der Staatsschulden.

Schon Anfang der 1970er Jahre war die Goldbindung des Dollars längst Fiktion, ebenso das System fester Wechselkurse. Mit dem Zusammenbruch von Bretton Woods verlor die US-Zentralbank die Kontrolle über einen Teil der weltweiten Dollarguthaben. Durch das Entstehen der großen Offshore-Dollarguthaben („Petrodollars“ genannt, da ihre Quelle oft in ölexportierenden Ländern lag) in den 1970ern wurde mit dem Ende des Nachkriegsbooms eine neue Periode der Kreditvergabe in großem Stil an lateinamerikanische und asiatische Staaten eingeleitet. Diesmal waren es vor allem Geschäftsbanken in den imperialistischen Zentren, sofern sie über diese Dollarreserven verfügten, die diese Verschuldungswelle in Gang hielten.

Das Problem der sozialdemokratischen Politik war letztlich, dass sie keine Hauptklasse der Gesellschaft befriedigen konnte. Die Einkommen der ArbeiterInnenklasse erodierten schon aufgrund der Inflation und der geforderten „Zurückhaltung“ angesichts der krisenhaften Entwicklung. Zugleich war die ArbeiterInnenbewegung oft noch zu stark, um eine bürgerliche Krisenpolitik einfach zu schlucken. Konnte und wollte die Sozialdemokratie schon den Lohnabhängigen nicht geben, was diese erwarteten, so konnte ihre Politik der Vermittlung zwischen den Klassen erst recht nicht das Kapital zufriedenstellen.

1979 – 1989: Periode der neoliberalen Offensive

Die Bildung der Regierung Thatcher 1979 und ihr offensives, neoliberales Kampfprogramm markierten den Bruch mit der sozialdemokratischen Politik und bildeten den politischen Einschnitt in dieser geschichtlichen Periode. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die neoliberalen IdeologInnen ihre Strategie nur in Halbkolonien, am blutigsten in Chile, umgesetzt. Der Thatcherismus präsentierte einen strategischen Angriff auf allen Fronten, einen regelrechten Krieg gegen die ArbeiterInnenklasse und ihre Avantgarde, die BergarbeiterInnen. Auf dem Weg dazu brach Thatcher aus gutem Grund den Malwinenkrieg vom Zaun, um damit ihre unangefochtene Führung im bürgerlichen Lager zu festigen, KleinbürgerInnentum und rückständige ArbeiterInnen an den Nationalismus zu binden. Gleichzeitig offenbarte sie auch die sozialpatriotische Ohnmacht der Labour-Führungen, die den reaktionären Krieg unterstützten und damit Thatcher in die Hände spielten. Die Niederlage der BergarbeiterInnen nach einem rund einjährigen Streik stellte eine historische Niederlage für die britische ArbeiterInnenklasse dar, die auch international nachhaltige, demoralisierende Auswirkungen hatte.

Der Reaganismus folgte auf dem Fuß. Er markierte nicht nur eine klare strategische Neuausrichtung des US-Imperialismus hin zu einem aggressiven Kurs gegenüber der UdSSR, sondern auch zur Reetablierung verlorengegangener US-Hegemonie und Dominanz. Ökonomisch gesehen hatten sich die keynesianischen Maßnahmen erschöpft. Ähnlich wie Thatcher in Britannien führte auch Reagan einen regelrechten Klassenkrieg gegen wichtige Sektoren der US-ArbeiterInnenklasse. So hatte z. B. die Niederlage des Fluglotsenstreiks eine weit über diesen Bereich hinausgehende Bedeutung.

Die veränderte US-Zinspolitik trug maßgeblich zur Ausbreitung der massiven Schuldenkrisen Anfang der 1980er Jahre bei, die durchaus auch als Kampfmittel, v. a. des US-Finanzkapitals, genutzt wurde. Das Resultat ist bekannt: Die Interessen der betroffenen Gläubigerstaaten wurden kombiniert durch den IWF vertreten und führten mindestens ein Jahrzehnt zu einem harten „Entschuldungsregime“ in Lateinamerika und Asien. Als Konsequenz des Endes von Bretton Woods und der Verschuldungskrise müssen halbkoloniale Länder nun einerseits große Währungsreserven in Dollar oder anderen harten Währungen (Yen; DM, später Euro) halten, andererseits restriktive Haushaltspolitik betreiben, um nicht zu Opfern massiver Spekulationswellen gegen ihre Währung oder ihren Anleihemarkt zu geraten.

Insgesamt markierten Thatcherismus und Reaganismus eine globale Offensive des US-Imperialismus gegen:

  • die eigene ArbeiterInnenklasse. Ähnliche Angriffe wurden in anderen imperialistischen Ländern gefahren, wenn auch nicht in vielen und nicht mit demselben durchschlagenden Erfolg wie in Britannien. So blieb Kohls „geistig-moralische Wende“ in Ansätzen stecken;
  • die halbkoloniale Welt durch die Politik der strukturellen Anpassungsprogramme und die Benutzung der Schulden und der Finanzpolitik als Instrumente, diese für imperialistisches, anlagesuchendes, überschüssiges Kapital zu öffnen;
  • die degenerierten ArbeiterInnenstaaten durch die Hochrüstungspolitik der 1980er Jahre und zugleich die Schuldenfalle, in die v. a. die osteuropäischen Länder in den 1970er Jahren getappt sind;
  • und schließlich einen erfolgreichen Versuch, die wichtigsten, auf den Plan getretenen imperialistischen Rivalen Japan und BRD dazu zu zwingen, einen Teil der Rettungskosten für die US-Ökonomie zu übernehmen (Volcker-Schock).

Der Reaganismus und der Thatcherismus stießen in den 1980er Jahren auf den Widerstand großer und starker Massenbewegungen, einschließlich des einjährigen Streiks der britischen BergarbeiterInnen, der Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung, des Widerstands von Sandinismus und Bürgerkrieg in Nicaragua, der Kämpfe der brasilianischen und südafrikanischen ArbeiterInnenklasse, die zu militanten, klassenkämpferischen gewerkschaftlichen Bewegungen und zur Formierung einer zentristischen Massenpartei im Falle der PT führten.

Generell endete diese Periode der imperialistischen Offensive trotz heroischer Abwehrkämpfe mit einer Reihe wichtiger Niederlagen der ArbeiterInnen und einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der imperialistischen Bourgeoisien. Die neoliberalen Reformen, die in den 1990er Jahren verallgemeinert wurden, bedeuteten für die Massen, insbesondere in Lateinamerika, ein „verlorenes Jahrzehnt“.

Vor allem aber erschütterte der Rüstungswettlauf die UdSSR und Osteuropa nachhaltig, da sie die seit den 1970er Jahren immer stärker hervortretende wirtschaftliche Stagnation weiter verschärften. Die stalinistische Bürokratie versuchte, auf die Offensive der USA mit einer Mischung aus „offensiver Friedenspolitik“ (Gorbatschows „Unser Haus Europa“), marktwirtschaftlichen Reformen (Perestroika) und begrenzter politischer Öffnung unter bürokratischer Kontrolle (Glasnost) zu antworten. Diese schlug fehl, ja, verschärfte die innere Krise der stalinistischen Staaten und führte zur zunehmenden Fragmentierung der Bürokratien selbst. Die Todeskrise des Stalinismus und damit der politischen Nachkriegsordnung war eingeläutet.

13.5 1989 – 2008: Globalisierungsperiode unter US-Hegemonie

Die Periode nach 1989 stellt in vieler Hinsicht eine Verallgemeinerung der neoliberalen Agenda dar. Doch sie bildet nicht einfach deren Fortsetzung, weil die Erfolge von Reagan und Thatcher auch die gesamte imperialistische Nachkriegsordnung erschütterten, als sie zur Todeskrise des weltpolitischen und geostrategischen Konkurrenten (der UdSSR und ihres Lagers) führten und, nach der Phase des Umbruchs 1989 – 1991, eine qualitativ andere Weltlage entstehen ließen.

1989 – 1991: Todeskrise des Stalinismus

Die Globalisierungsperiode begann mit einer kurzen, weltgeschichtlich revolutionären Klassenkampfperiode, die sich von 1989 bis spätestens 1991, dem Sturz Gorbatschows und der Etablierung eines bürgerlich restaurativen Staates in Russland erstreckte.

Aufgrund der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse, der Passivität und ideologischen Schwäche wie auch akkumulierten Niederlagen des Proletariats im Westen dauerte diese jedoch nur sehr kurz an. Als die großen Siegerinnen dieser Periode gingen die imperialistischen Mächte, allen voran die USA und zu einem bedeutenden, wenn auch geringeren Teil, Deutschland hervor. Sie schaffte die politischen, klassenmäßigen Vorbedingungen für die Reetablierung der US-Hegemonie in einem noch in den 1980er Jahren für unmöglich gehaltenen Ausmaß.

Der deutsche Imperialismus ging als Sieger aus der ersten, kurzen Klassenkampfperiode der Globalisierung hervor a) wegen der Inkorporation eines ganzen Staates (der DDR) in ein Land, dessen Wiedervereinigung die Gestalt einer Ausweitung des Systems der BRD annahm, b) wegen des Abstreifens zentraler Einschränkungen der Handlungsfähigkeit des deutschen Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg, c) wegen der Verschiebung des ökonomischen Kräfteverhältnisses zugunsten Deutschlands in Europa.

1992 – 1998: Blüte der Globalisierung, demokratisch-konterrevolutionäre Periode

Als unbestrittener Sieger des Kalten Kriegs und der Restauration des Kapitalismus versuchte der US-Imperialismus, sowohl die ökonomischen als auch politischen Früchte des Sieges zu ernten und dauerhaft zu nutzen. Die Niederlagen der ArbeiterInnenklassen in den USA und Britannien in den 1980er Jahren und die Restauration des Kapitalismus haben Anfang der 1990er Jahre die Kapitalistenklasse in die Offensive gebracht.

Gestützt auf eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der herrschenden Klasse aufgrund realer materieller Erfolge sowie einer beginnenden Restrukturierung des Kapitals erleben wir seit Beginn der 1990er Jahre eine neue Entwicklungsphase der imperialistischen Epoche, welche gemeinhin „Globalisierung“ genannt wird.

In den 1970er Jahren hatten die imperialistischen Länder versucht, des Problems der Überakkumulation durch keynesianische Wirtschaftspolitik Herr zu werden. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre war dieses Mittel erschöpft. Statt einer Lösung kam es zu einer krisenhaften Zuspitzung in Form des weltweiten Schuldenproblems. Daher änderte sich auch die politische Strategie in allen großen kapitalistischen Ländern, wobei die USA unter Reagan und Britannien unter Thatcher eine Vorreiterrolle spielten.

Durch den Zusammenbruch des Stalinismus, den Sieg der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg erhielten diese Strategien auf dem Feld der internationalen Beziehungen einen enormen zusätzlichen Schub.

Was waren die entscheidenden Entwicklungen?

Erstens wurden Schranken des internationalen Handels, vor allem des Kapitalverkehrs seit den 1980er Jahren und besonders zu Beginn der 1990er in rasender Geschwindigkeit außer Kraft gesetzt. Auch wenn diese Internationalisierung notwendigerweise selektiv vor sich ging, auf die imperialistischen Länder und einige Halbkolonien konzentriert war, so hatte diese Ausdehnung des Welthandels insgesamt eine stützende Funktion für die kapitalistische Weltwirtschaft.

Wichtiger als diese waren und sind jedoch die Ausdehnung von Direktinvestitionen und der Spekulation.

Diese stellen selbst einen Ausdruck verschärfter Konkurrenz unter den großen Nationalökonomien und stärkerer Dominanz des Banken- und Fondskapitals über das industrielle dar. Schließlich spekulieren die großen Banken und Konzerne nicht, weil sie die Spekulation an sich der Profitmacherei in der Produktion vorzögen. Vielmehr ergibt sich die „Flucht“ in Aktienmärkte, Währungsspekulation, Termingeschäfte usw. selbst aus relativ geringen Profiterwartungen in der Industrie.

Die verschärfte Konkurrenz führt gleichzeitig zu immer größerer Zentralisation. Investiert wird nur zum geringen Teil in die Erweiterung bestehender Anlagen. Viel wichtiger sind die Fusion, die Übernahme, die Ballung des Kapitals in einer Hand oder Rationalisierungsinvestitionen, die rasche Einführung neuester Technik.

So können sich die größten Konzerne die entsprechenden Konkurrenzvorteile, nämlich Präsenz auf allen Märkten sowie Monopolpreise und Extraprofite aus kurzfristigen technologischen Vorsprüngen, sichern.

Es ist in diesem Zusammenhang nur folgerichtig, dass die großen multinationalen Konzerne nicht mehr wie noch Anfang der 1980er Jahre Diversifikation (also die Präsenz auf möglichst vielen Geschäftsfeldern) anstreben, sondern die Konzentration auf bestimmte Sparten, in denen die Weltmarktführerschaft oder zumindest Position zwei oder drei anvisiert oder verteidigt werden sollen.

Insgesamt führte das zu einer enormen Zentralisation des Kapitals (weniger der Konzentration), die selbst wiederum nur durch eine riesige Ausdehnung des Kredites und der Aktienmärkte möglich war, um das für die „Übernahmeschlacht“ notwendige Kapital bereitstellen zu können. Die stärker gewordene Dominanz der größten „multinationalen“ Konzerne lässt sich an allen Indikatoren der Weltwirtschaft ablesen.

Alle großen, die Weltwirtschaft (und in letzter Instanz die Welt) beherrschenden Konzerne beanspruchen den Weltmarkt als ihr Operationsfeld. Anders als noch vor 20 oder 30 Jahren brauchen sie sich aufgrund ihrer Größe nicht auf eine Region zu beschränken. Sie müssen wirklich „global“ agieren – oder sie werden früher oder später nicht mehr existieren, jedenfalls nicht unter den Top 100 oder Top 500 der Welt des Großkapitals.

Hier können wir tatsächlich von einer neuen Entwicklung innerhalb der imperialistischen Epoche sprechen, die aus dem quantitativen Anwachsen der großen Kapitale entstand, die jedoch auch durch die nach wie vor nationalstaatliche Gebundenheit der einzelnen Kapitale gebrochen wird. In den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich diese Tendenz sehr stark entwickelt, weil die USA als einzige Weltmacht die Konkurrenzbedingungen auf dem Weltmarkt und die geopolitische Ordnung bestimmen.

Der Heißhunger nach Profit treibt – gestützt auf nationale und internationale Organisationen – das Kapital außerdem in Sphären, die über Jahrzehnte staatlich oder halbstaatlich organisiert waren. Die kapitalistische Globalisierung wäre jedoch ohne Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und ohne technische und arbeitsorganisatorische Basis nicht möglich gewesen.

Die Mischung aus technischen Innovationen, die Reorganisation von Arbeitsabläufen und des Arbeitsprozesses sowie die Schaffung internationaler Produktionsketten ermöglichten die Reduktion der Kosten für Lagerhaltung und die Verkürzung der Umlaufzeit. Die Restrukturierung der Arbeitsorganisation und die Zentralisation im internationalen Maßstab führten in einigen Branchen auch zur Herausbildung einer internationalen Profitrate (Autoindustrie).

Zusammen mit einer massiven Erhöhung der Ausbeutungsrate (aufgrund der Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung) konnte so in einigen Ländern – insbesondere in den USA – in den 1990er Jahren zeitweilig die industrielle Profitrate in die Höhe getrieben werden, wenn auch bei weitem nicht auf das Niveau des Langen Booms.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie viel davon auf eine Revolutionierung der Technik und der Arbeitsorganisation, wie viel auf die Kürzung der Löhne, die Intensivierung der Arbeit und die Flexibilisierung zurückzuführen ist. Wichtig ist vielmehr, dass sich das US-amerikanische Modell nicht weltweit ausdehnen ließ und lässt, weil es die grundlegenderen Probleme der Überakkumulation des Kapitals nicht lösen konnte und kann.

In dieser Periode änderten sich auch die Strukturen der Kapitalflüsse wie jene des Finanzkapitals selbst.

Mit der Erholung der US-Konjunktur Anfang der 1990er Jahre setzte eine Welle sehr hoher Portfolio- und Direktinvestitionen, speziell in Asien, aber auch z. B. in Mexiko, ein und eröffnete die „Globalisierung“. Diesmal waren es wieder vor allem Privat- bzw. institutionelle AnlegerInnen aus den internationalen Finanzzentren, die in Aktien, Wertpapiere bzw. Derivate von Basiswerten in den halbkolonialen Ländern investierten. Daher konnte mit den in der IWF-Periode einstudierten Maßnahmen das Platzen der Spekulationsblase 1995 in Mexiko („Tequila-Krise“) und 1997 in Thailand (als Auslöser der „Asienkrise“) nicht verhindert werden.

In der Kapitalzuflussperiode 1990 – 1994 spielten „offizielle“ Schulden (z. B. Staatsanleihen) kaum mehr eine Rolle (nur noch 11 % des Kapitalzuflusses). Auch die Geschäftsbanken spielten eine weitaus geringere Rolle als in der Periode 1978 – 1981. Entscheidend waren einerseits Deregulierungen in den Halbkolonien (z. B. Privatisierungen), die Direktinvestitionen in die Höhe schnellen ließen.

Andererseits war es die wachsende Verbriefung internationaler Kapitalschulden (also die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte), die es ermöglichte, Offshore-Anlagen auch ohne staatliche Absicherung gegen Risiken abzuschirmen (z. B. Ausweitung des Derivate- und Devisenmarktes).

Als die Phase der niedrigen Zinsen und des niedrigen Dollarkurses Mitte der 1990er Jahre zu Ende ging, ebbten sowohl der Kapitalzufluss ab, wie auch das exportorientierte Wachstum z. B. in Asien durch die Anbindung der Währungen an den Dollar in Schwierigkeiten geriet. Da half keine restriktive Haushalts- bzw. Hochzinspolitik mehr. Offshore-Banken, Investmentbanken, Hedgefonds, Derivate- und DevisenhändlerInnen erzeugten eine massive Spekulationsblase, die letztlich die betroffenen Währungen in die Knie zwang und tief verschuldete Privatunternehmen in den Halbkolonien hinterließ. Der Kapitalfluss bewegte sich fortan massiv in Richtung USA, während in den von der Finanzkrise betroffenen Ländern eine neue Welle von Firmenübernahmen bzw. Kapitalvernichtung durch das imperialistische Finanzkapital vor sich ging.

Die US-Konjunktur der 1990er Jahre beruhte schon stark auf einer Ausdehnung fiktiven Kapitals und war auch durch Kapitalabfluss aus anderen imperialistischen Staaten und Stagnation in Japan und Fast-Stagnation in Deutschland erkauft.

Die Ausdehnung des Weltmarktes, die viel stärkere Durchdringung der Halbkolonien und der ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten wirkten dem Fall der Profitrate entgegen und halfen bei der Aneignung von Extraprofiten für das imperialistische Finanzkapital.

Zugleich ging die Periode der „Hochblüte“ mit massiver Kapitalvernichtung in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR einher. Die osteuropäischen Länder wurden als Halbkolonien in den Einflussbereich des deutschen Kapitals und, in Konkurrenz dazu, anderer europäischer Länder und der USA einbezogen. Russland machte eine permanente Krisenperiode durch, die mit einer historisch fast einzigartigen Deindustrialisierung des vormals zweitgrößten Industrielandes der Erde einherging, die, würde sie nicht gebremst werden, auch die Zukunft Russlands als imperialistischen Staat in Frage stellen würde.

Modernes Finanzkapital

Die eigentliche Triebkraft der kapitalistischen Globalisierung stellt das imperialistische Finanzkapital dar. Das Monopolkapital – jedenfalls sein stärkster und konkurrenzfähigster Teil – tritt als multinationaler oder transnationaler Konzern auf und ist der eigentliche Herrscher des globalen Kapitalismus.

Multinational oder transnational hat hier nichts mit einer Entbindung der nationalstaatlichen „Verankerung“ bestimmter Kapitale zu tun. Es bedeutet nur, dass wir es mit einem wichtigen Wandel des wirtschaftlichen Operationsgebietes des Großkapitals zu tun haben.

Das Finanzkapital macht jedoch gleichzeitig einen wichtigen Formwandel durch. Wir erleben eine Neuorganisation des Verhältnisses von Geldkapital und produktivem Kapital. Es ist dabei keineswegs so, dass die „SpekulantInnen“ und „Finanzhäuser“ dem produktiven Kapital entgegengestellt wären. Wir haben es vielmehr mit einer anderen Form der Verschmelzung von Industrie- und Geldkapital zu tun.

In der Geschichte des Imperialismus bildeten sich immer wieder unterschiedliche Formen mehr oder weniger enger, direkter Verschmelzungen (z. B. unmittelbarer Besitz der Unternehmen durch Banken und vice versa, wie lange Zeit in Deutschland vorherrschend) oder – wie in den USA – als eine über Aktienmärkte regulierte, „losere“ Verbindung von zinstragendem zu industriellem Kapital. Der Unterschied besteht darin, dass das Kapital in der zweiteren Form stärker versucht, sich von bestimmten stofflichen Schranken der Expansion zu befreien, nämlich den konkreten Produktionsmitteln, in denen das industrielle Kapital vergegenständlicht ist.

Eine gänzliche Befreiung des Kapitals aus dem inneren Widerspruch zwischen einer bestimmten stofflichen (und damit die Expansion des Kapitals begrenzenden) Form und dem schrankenlosen Trieb zur ständigen Selbstverwertung ist selbstverständlich unmöglich. In den 1990er Jahren, ja, bis hin zur Krise 2007/2008 und darüber hinaus erlebten wir in allen westlichen imperialistischen Ländern eine Verschiebung zu dieser Form.

Dies liegt an mehreren Faktoren. Erstens stellt es eine Weise dar, wie die dominierenden Fraktionen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals der Überakkumulation entgegenwirken wollen, die sie umgekehrt zu dieser Formveränderung unter den Bedingungen der Globalisierung treibt. Zweitens bringt diese Entwicklung eine innere Tendenz des Kapitals selbst zum Ausdruck, sich von seiner stofflichen Basis freizumachen. Drittens hängt sie jedoch auch mit bestimmten historischen Bedingungen, der Erneuerung und versuchten Festigung der US-Hegemonie zusammen, weshalb die USA auch versuchten, die Operationen dieser Form von Finanzkapital durch ihr gemäße Regularien der Weltwirtschaft (WTO, Freihandelsabkommen … ) zu stärken.

Der Aufstieg Chinas und die Festigung Russlands im 21. Jahrhunderts verdeutlichen jedoch, dass diese Form keineswegs die einzige ist, wie Finanzkapital auf dem Weltmarkt auftritt. Eine Verstärkung der imperialistischen Konkurrenz, somit auch die Tendenz zur Bildung von Blöcken bis hin zur Fragmentierung des Weltmarktes, bedeutet wahrscheinlich auch, dass die Formen des Finanzkapitals, die eine direktere Bindung an den Staat kennzeichnen, verstärkt, teilweise auch parallel und in Konkurrenz zu anderen auftreten können.

Weltimperialismus

Die globale Struktur des Finanzkapitals erfordert in dieser geschichtlichen Periode eine, natürlich immer auch selektive, Open Door Policy bei gleichzeitigem Schutz des „Heimatblocks“. Sie erfordert internationale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) oder die Weltbank bzw. ihre regionalen Entsprechungen (z. B. Europäische Entwicklungsbank).

Sie erfordert von den imperialistischen Mächten, global interventionsfähig zu sein, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und militärisch, um eigene Interessensphären gegen die Massen der Halbkolonien oder missliebige Regime, aber auch gegen imperialistische Konkurrenten absichern zu können. Politisch wird der Weltimperialismus durch folgende Faktoren geprägt:

• Politische, militärische und ökonomische Vorherrschaft des US-Imperialismus;

• Institutionen wie IWF, Weltbank, WTO, G 7/8 agieren als ideelle GesamtimperialistInnen unter US-Hegemonie;

• Massive Verelendung der Halbkolonien, stärkere direkte imperialistische Kontrolle;

• Suche nach neuen, der „Globalisierung“ adäquaten Formen politischer, diplomatischer und militärischer imperialistischer Herrschaft, was zu einer Wiederkehr der Kanonenbootpolitik (in einigen Aspekten ähnlich jener am Beginn der imperialistischen Epoche) führt.

Die Widersprüche zwischen den imperialistischen Ländern sind keineswegs verschwunden, sondern verschärfen sich unter der Oberfläche, teils auch offen. Alle potentiellen Rivalen der USA achten darauf, den Gegner nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt herauszufordern. Vielmehr müssen unter dem Deckmantel der Kooperation eigene Positionen gegen die USA gehalten oder neue erobert werden. Das geht umso leichter, als es immer auch ein reales Element gemeinsamer Interessen der imperialistischen Mächte gegenüber den Massen und den Halbkolonien gibt.

Die Herausbildung transnationaler Monopole führt keineswegs zu einem „Ultraimperialismus“ oder zu einer kollektiven imperialen Friedensordnung. Sie verringert auch nicht die Rolle des bürgerlichen Staates als Sicherer und Garant der nationalstaatlich verwurzelten Großkapitale. Aber sie treibt zunehmend den Widerspruch zwischen internationaler Produktion und internationalisiertem Austausch einerseits und nationalstaatlicher oder blockmäßiger Verwurzelung des Kapitals andererseits auf die Spitze. Die Blockbildung (oft missverständlich als „Regionalisierung“ bezeichnet) stellt selbst eine Form der Internationalisierung des Kapitals dar.

Die Neuzusammensetzung des Kapitals verändert auch die ArbeiterInnenklasse. Damit Kapital rascher die Wandlung von einer Form in die andere vollziehen kann, Stockungen im Produktionsprozess vermieden werden, muss sich auch das variable Kapital uneingeschränkt bewegen können und zugleich in seiner Bewegung kontrolliert werden. Alle kollektiven Sicherungsrechte der ArbeiterInnenklasse, die die möglichst unbeschränkte Flexibilität der Arbeitskraft einschränken, stehen daher notwendigerweise auf der Abschussliste. Der Vorsprung der USA, die Vorherrschaft des am meisten entwickelten Kapitals, d. h. einer Form des Kapitals, die mehr seinem Begriff entspricht als in anderen Ländern, wäre ohne die Niederlagen der US-ArbeiterInnenklasse in den 1980er Jahren undenkbar.

Die Schaffung einer „neuen Weltordnung“ bildete über fast drei Jahrzehnte, also bis zu Trump, Leitideologie und Doktrin des US-Imperialismus. Schon in den frühen 1990er Jahren formulierten US-IdeologInnen, aber auch deren geostrategische Doktrin offen das Ziel, die durch den Zusammenbruch des Stalinismus gewonnene Rolle als einzige Weltmacht möglichst zu verewigen, mit dem Ziel keine potentiellen Rivalen – Deutschland, Frankreich, China, Russland – emporkommen zu lassen.

Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater mehrerer US-Präsidenten, stellte die Konzeption in seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ wie folgt dar: „Eurasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird.“[cx]

Schon 1992 formulierte das Pentagon in einem strategischen Papier (Defense Planning Guidance) den sog. „No Rivals-Plan“, in dem es u. a. heißt: „Wir müssen versuchen zu verhüten, dass irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen – unter gefestigter Kontrolle – ausreichen würden, eine Weltmachtposition zu schaffen. Solche Regionen sind Westeuropa, Ostasien, das Gebiet der früheren Sowjetunion und Südwestasien.“ [cxi]

Die US-Strategie unterschied zwischen den vermeintlichen und wirklichen Herausforderern. Die europäischen Mächte und die EU sollten durch Bündnispolitik, Allianzen und PartnerInnenschaft eingehegt werden. China und Russland gelten als mögliche Konkurrenten und als besonders gefährlich, weil sie auch eine Systemalternative zur westlichen „Wertegemeinschaft“ verkörpern könnten. Aus diesem Grund tauchte auch schon zu diesem Zeitpunkt der islamische Fundamentalismus als Bedrohung auf, obwohl dieser weder eine militärische noch eine staatliche Macht darstellte – sich aber umso besser als ideologischer Gegner zur inneren, rassistischen Mobilisierung als auch zum Angriff auf diverse „Schurkenstaaten“ und zur Rechtfertigung asymmetrischer Kriege eignet. Dass der antimuslimische Rassismus zur vorherrschenden Form des Rassismus in den meisten westlichen Staaten geriet, stellt keinesfalls eine Reaktion auf islamistische Anschläge im 21. Jahrhundert dar, sondern wurde in den 1990er Jahren bewusst forciert und popularisiert (z. B. in Huntingtons 1996 erschienenem  Bestseller „Krieg der Kulturen“).

Wandel der ArbeiterInnenklasse

Die letzten Jahrzehnte sahen einen starken Wandel der ArbeiterInnenklasse als Resultat der Restrukturierung des Kapitals und der Angriffe der herrschenden Klasse. Worin bestehen deren wichtigsten Elemente?

  • Anwachsen der Klasse in einigen imperialistischen Ländern und wichtigen, fortgeschrittenen Halbkolonien;
  • Schrumpfen der produktiven Arbeit, Ausdehnung der unproduktiven Arbeit;
  • Proletarisierung lohnabhängiger Mittelschichten aus ehemaligen höheren“ Berufen (z. B. IngenieurInnen) oder dem Staatsdienst (z. B. LehrerInnen);
  • Schaffung einer gigantischen Masse nicht- oder unterbeschäftigter ProletarierInnen, prekär Beschäftigter und von „working poor“, teilweises Absinken dieser Schichten ins Lumpenproletariat, Millionen und Abermillionen, die in ständiger Armut leben;
  • Verringerung und Schwächung des Proletariats in dramatischem Ausmaß in Osteuropa, Russland und vielen Halbkolonien; Ausdehnung der langfristig überausgebeuteten Schichten der ArbeiterInnenklasse, die unter ihren Reproduktionskosten bezahlt werden (Kontraktarbeit, …);
  • Verringerung, teilweise auch Auflösung der tradierten ArbeiterInnenaristokratie im industriellen Sektor bei gleichzeitiger Schaffung einer neuen ArbeiterInnenaristokratie (oft aus ehemaligen lohnabhängigen Mittelschichten);
  • Schaffung eines zunehmend international kooperierenden Proletariats in den großen Konzernen (im Sinne der realen Kooperation in international integrierten Produktionsprozessen), Teile davon gehören gleichzeitig Kernschichten der ArbeiterInnenaristokratie in verschiedenen Ländern an.

In den relativ entwickelten Halbkolonien in Ostasien und Lateinamerika sowie im kapitalistischen China wachsen die ArbeiterInnenklassen in dieser Periode. Letztere nimmt zunehmend eine strategische Bedeutung für das Weltproletariat ein. In Kontinentaleuropa und zumal in (West-)Deutschland haben wir es damit zu tun, dass die ArbeiterInnenklasse zwar in ihrer Kampfkraft geschwächt, jedoch noch nicht strategisch geschlagen ist.

Diese Veränderungen haben auch die historisch gewachsenen Organisationen des Proletariats, insbesondere die Gewerkschaften, die stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien massiv beeinflusst – und die Veränderungen sind seither in Riesenschritten weitergetrieben worden. Die Gewerkschaften sind in den Zentren zunehmend Organisationen der traditionellen ArbeiterInnenaristokratie. Ihr Überleben hängt davon ab, ob und wie sie neuen proletarisierten Schichten, insbesondere aber den nichtarbeiteraristokratischen Teilen der Klasse, eine Perspektive bieten können.

Die sozialdemokratischen Parteien haben in den letzten Jahrzehnten einen Wandel hin zu neu entstehenden arbeiteraristokratischen Schichten und lohnabhängigen Mittelschichten gemacht. Ein Teil der Gewerkschaftsbürokratie ist diesen Schritt mitgegangen, ein anderer hat sich auf die „Kernschichten“ konzentriert. Für die nichtorganisierten Teile des Proletariats (und dabei geht es keineswegs nur um abfällig als „Randschichten“ bezeichnete Sektoren) haben alle Flügel der ArbeiterInnenbürokratie immer weniger zu bieten. Die stalinistischen Parteien haben in Europa weitgehend an Bedeutung verloren, nicht jedoch in wichtigen Halbkolonien. Sie unterscheiden sich jedoch oft nur im Namen von der Sozialdemokratie.

Die Hinwendung des Reformismus zur neuen ArbeiterInnenaristokratie und zu den neuen Mittelschichten hat sich politisch-programmatisch in der Neuen Mitte (oder im „Dritten Weg“) manifestiert. Sie drückt auch einen stärkeren Einfluss der Mittelschichten (und über diese der Bourgeoisie) auf die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien, aber auch auf die Gewerkschaften aus.

1998 – 2007: Zuspitzung der inneren Widersprüche der Globalisierung

Die Asienkrise und die Börsenkrise Ende der 1990er Jahre verdeutlichten schlagartig die Krisenhaftigkeit der Globalisierung. Sie brachten zum Ausdruck, dass die grundlegenden Probleme der Weltwirtschaft nicht gelöst wurden, sondern die fiktive Blüte der 1990er Jahre erkauft wurde um den Preis einer weiteren Vertiefung und Zuspitzung der Widersprüche.

Spiegelbildlich zur Asienkrise und zur Entwicklung der Schuldenblase in den USA begann das chinesische „Exportwunder“. Dessen Voraussetzung bildete die nur beschränkte, kontrollierte Öffnung für Direktinvestitionen, bei einem weiterhin stark regulierten chinesischen Finanzmarkt. Damit konnten lange Zeit sowohl eine Aufwertung der chinesischen Währung verhindert als auch Exportüberschüsse in großen Dollarreserven in China gehalten werden. Zugleich floss Kapital nach der Asienkrise von den Börsen hin zum US-Immobilienmarkt, wo es über die folgenden Jahre einen neuen, spekulativen Zyklus entwickelte.

Diese Faktoren führten dazu, dass die Krise um die Jahrhundertwende relativ flach blieb und aufgeschoben wurde.

Aber zugleich eröffnete sie schon wichtige, vorbereitende Elemente des Niedergangs und der folgenden Krise der Globalisierung:

a) Die Dynamik der Weltwirtschaft konnte im Wesentlichen nur durch die Ausweitung fiktiven Kapitals angeschoben und aufrechterhalten werden, der eine Stagnation des industriellen Sektors gegenüberstand, insbesondere in den imperialistischen Kernländern.

b) Die Ausweitung der Finanzmärkte, der Spekulation und der Verschuldung in den USA waren wesentliche Mittel, die Expansion des Welthandels sicherzustellen sowie des US-Konsums als „Lokomotive“ vor der Weltwirtschaft.

c) Auch wenn die ökonomischen Auswirkungen der Krise relativ abgemildert werden konnten, so wurden ihre Ursachen nicht beseitigt, sondern verstärkten vielmehr die Krisentendenzen, die jetzt zum Ausbruch kommen.

d) Untrüglich zeichnete sich eine kommende Schwächung der US-Hegemonie auf ökonomischer Ebene – Einführung des Euro, Voranschreiten der EU-Integration (trotz alle Schwächen ist sie nun der größte Wirtschaftsraum der Erde), Aufstieg Chinas und Restabilisierung Russlands – ab.

e) Der sog „permanente Krieg“ Bushs – eine Neuformulierung der US-Doktrin – stand im engen Verhältnis zur ökonomischen Basis des US-„Booms“ – sprich Kriegskeynesianismus, Eroberung, Sicherung von Rohstoffen und Reichtümern anderer Länder als Faustpfande gegenüber imperialistischen und anderen potentiellen Rivalen.

f) Die imperialistische Politik des US-Imperialismus sicherte in dieser Periode nicht nur die US-Hegemonie, sondern auch, dass das Wachstum der US-Binnenwirtschaft auf Kosten anderer Staaten und Rivalen weiter aufrechterhalten werden konnte. Allerdings geschieht das schon (anders als in den 1990er Jahren unter Clinton) auf Kosten der US-Industrie, also bei gleichzeitiger Unterminierung ihrer Wettbewerbsfähigkeit.

g) Entscheidend für die veränderte politische Lage und den Beginn einer neuen Klassenkampfperiode sind jedoch nicht nur die ökonomische Stagnationstendenz und die zunehmende Aggressivität des US-Imperialismus, sondern auch die nachhaltige Erschütterung der neoliberalen Hegemonie. Auch wenn der Neoliberalismus vorherrschende Ideologie der herrschenden Klassen in den imperialistischen Staaten und in den meisten Halbkolonien bleibt, auch wenn er in Form des „Neuen Realismus“ und „Dritten Weges“ in den großen, bürokratisierten Gewerkschaften der imperialistischen Welt sowie in den sozialdemokratischen Parteien faktisch anerkannt wird, so entstand nach der Asienkrise auch eine globale Gegenbewegung.

h) Diese Gegenbewegung, ihre Entstehung und Geschichte stellte keinen Nebenaspekt, sondern einen prägenden Faktor der Periode von 1998 – 2007/8 als Periode der Zuspitzung der inneren Widersprüche der Globalisierung dar.

i) Diese äußerte sich:

– in revolutionären Bewegungen und Situationen (Indonesien … )

– der riesigen Antikriegsbewegung

– im Widerstand gegen EU/Euro, in vorrevolutionärer Situation in Frankreich

– dem entschlossenen und heroischen Widerstand in Afghanistan, Irak, Libanon und seinen Erfolgen gegen den Imperialismus (wenigsten in dem Sinne, dass die Ziele des Imperialismus nicht erreicht werden konnten)

– der Entstehung linkspopulistischer und/oder linksbonapartistischer Regime und Bewegungen – insbesondere Chávez und Morales – inkl. ihrer kontinentalen und internationalen Ausstrahlung

– der Entstehung einer globalen internationalen Bewegung, der Antiglobalisierungs- oder auch antikapitalistischen Bewegung. Implizit warf diese die Frage einer neuen Internationalen auf und mit den Sozialforen schuf sie bei all ihren Schwächen eine Form des globalen Austausches von AktivistInnen der radikalen Linken, der ArbeiterInnenbewegung, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, rassistisch und national Unterdrückter, die die Internationalisierung des Kapitals und des Klassenkampfes reflektierten. Diese spontane Entwicklung konnte ihr fortschrittliches Potential jedoch aufgrund der politischen Hegemonie von linkem Reformismus, Populismus und kleinbürgerlichem Radikalismus in der Bewegung nicht realisieren.

13.6 Seit 2007/2008: Historische Krisenperiode und Krise der Globalisierung

Mit dem Platzen der Immobilienblase, Finanzkrise, weltweiten Wirtschaftskrise begann eine neue historische Periode.

Diese kennzeichnet erstens eine tiefe, historische Weltwirtschaftskrise. Im Unterschied zu früheren Umschlägen der globalen Lage markierte sie jedoch nicht ein politisches Ereignis, sondern einen globalen ökonomischen Einbruch, einen Periodenwechsel. Dies reflektiert die viel größere Bedeutung des Weltmarktes, die zu einer viel rascheren Verbreitung eines großen wirtschaftlichen Zusammenbruchs im Gesamtsystem führt. Dies gilt übrigens noch viel stärker für die aktuelle globale Krise, deren Kombination mit der Corona-Pandemie zu einer Unterbrechung der Kapitalzirkulation in weiten Teilen der Weltwirtschaft führt und somit die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat.

Doch zurück zu 2007 und folgenden Jahren. Schon die damalige Rezession erforderte eigentlich eine Vernichtung überschüssigen Kapitals von geschichtlichem Ausmaß und zugleich eine riesige Steigerung der Ausbeutung des Proletariats und der Unterdrückten, um den ihr zugrundeliegenden geringen Profitraten und der strukturellen Überakkumulation entgegenzuwirken. Dem standen aber enorme innere Hindernisse des Kapitals selbst und auch des Klassenverhältnisses entgegen.

Die imperialistische Bourgeoisie verfolgte eine Politik der Rettung des Finanzkapitals – und insbesondere seines zinstragenden Teils. Diese schob zugleich die eigentlich notwendige Vernichtung von Kapital auf oder wälzte sie auf schwächere Teile ab (industrielles Kapital, kleinere und mittlere Unternehmen, Halbkolonien usw.). Anders als z. B. in der Großen Depression der 1930er Jahre fand jedoch kein „Ausbluten“ des Finanzsektors, also keine strukturelle Vernichtung von fiktivem Kapital statt. Im Gegenteil, gerade diese Teile wurden gerettet und diese Politik fand schon Mitte des Jahrzehnts vor dem Hintergrund sich formierender imperialistischer Konkurrenz der Blöcke (EU) und der aufstrebenden Weltmacht China und einzelner Regionalmächte statt (Indien, Brasilien … ).

Die gegenwärtige Krise unterscheidet sich von der Weltwirtschaftskrise 1929 und folgenden in einem wichtigen Punkt: Der Weltmarktzusammenhang war nicht zusammengebrochen, der Dollar weiter die wichtigste Währung der Welt.

Die USA agierten weiter als Hegemonialmacht. Der US-Imperialismus organisierte im Bund mit der EU, auch mit China, die Welt so weit, dass ökonomische Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, um die Weltwirtschaft wieder zum Laufen zu bringen (Politik des billigen Geldes). Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode streifen die USA dafür aber keine ökonomische Dividende mehr ein.

Die hegemoniale Rolle ließ sich nur aufrechterhalten durch die weitere, zwangsläufige Unterminierung ihrer wirtschaftlichen, industriellen Basis. Die anderen ImperialistInnen und potentiellen KonkurrentInnen „stützten“ die USA, doch wollten sie sich diese Stützung durch größere Anteile am Weltmarkt, mehr „Mitsprache“rechte und größeren Einfluss auf die Weltordnung „bezahlen“ lassen, sprich durch weitere Aushöhlung der US-Hegemonie.

Aber die USA können die Einheit unter den großen Mächten, den G 20, vor allem noch dadurch herstellen, dass ihr Zusammenbruch die ganze Welt in den Untergang mitreißen würde. Ein positives Programm für eine neue Periode der „Expansion“ haben sie nicht.

Allerdings fürchten auch die RivalInnen den Zusammenbruch der Weltwirtschaft, des Terrains, auf dem sie die USA zugleich zu besiegen oder jedenfalls weiter zurückzudrängen versuchen.

Daher kommt die Konferenzkonjunktur, der Neuordnungs- und Regulierungshype in den herrschenden Klassen, permanentes Krisenmanagement, das immer mehr auf die Grenzen verstärkter gegensätzlicher Interessen trifft.

Die „Ratlosigkeit“, das Fehlen eines gemeinsamen „Plans“ oder Programms, einer klaren Wirtschaftsdoktrin der herrschenden Klasse ist jedoch nicht nur ein Resultat verschärfter innerer Gegensätze des Kampfes, wer innerhalb der Kapitalistenklassen und unter den imperialistischen Bourgeoisien die Krisenkosten tragen soll.

Es ist auch ein Zeichen für die Überlebtheit der bürgerlichen Herrschaft selbst – so wie jede Krise auch die Zusammenbruchstendenzen des Systems selbst in Erinnerung ruft. Die herrschende Klasse kann ihr System nur retten, wenn sie bestehende Formen der Vergesellschaftung und Produktivkräfte zurückdrängt, weitere Kriege vorbereitet und zugleich die Welt einem ökologischen Desaster entgegenführt.

Gerade die Globalisierung hat als ein Moment, um dem Fall der Profitraten und dem Problem der Überakkumulation entgegenzuwirken, den Weltmarkt massiv ausgedehnt und auch die Produktionsabläufe in enormem Ausmaß international  vorangetrieben. Doch die nationalstaatliche Form erweist sich als unüberwindbare Schranke, eine Barriere, auf die die herrschende Klasse zur Rettung ihrer nationalen Interessen und imperialen Ambitionen zugleich mehr und mehr zurückgreifen muss.

Schon die Krise ab 2007 verdeutlichte schlagartig, dass ihre Überwindung eigentlich eine globale, bewusste Planung erfordert, um die weitere Entwicklung, die Entwicklung der Produktivkräfte zu gewährleisten und den Fortbestand und die Schaffung wahrlich menschlicher Lebensverhältnisse überhaupt zu sichern. Dazu ist die herrschende Klasse nicht in der Lage.

Diese widersprüchliche Situation, historisch tiefe Krise des Produktionsverhältnisses und  zugleich Bestehen einer untergehenden Hegemonialordnung und innerimperialistischen Kooperation, die die Herrschenden noch hoffen lässt, dass sie „das Schlimmste“ verhindern können, eröffnete eine längere Periode des „permanenten Krisenmanagements“, der Kooperation auf ökonomischer, politischer und diplomatischer Ebene, um „den Zusammenbruch“ (oder verschiedene, jäh auftauchende Zusammenbruchsszenarien) zu verhindern. Zugleich aber werden sich die inneren Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten (und jenen, die solche werden möchten) weiter zuspitzen.

Bei aller Unterschiedlichkeit und „Schwankungen“ der herrschenden Klassen, wenn es um eine „pragmatische“ Lösungsstrategie für das Kapital geht, so bedeutet die Krise für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten eine Periode des Frontalangriffs, bis in die ArbeiterInnenaristokratie und Mittelschichten hinein, von dramatischem, weltweit verallgemeinertem Ausmaß.

In jedem Fall führte die historische Krise, die 2007 begonnen hatte, rasch zu großen Kämpfen: Hungerrevolutionen und Massenproteste in einem Viertel aller Länder der Erde, vorrevolutionäre Situationen, Aufstände usw. Sie eröffnete eine Periode, in der die Frage, wer herrscht, wer bestimmt den weiteren Gang der geschichtlichen Entwicklung, also die Machtfrage, direkt gestellt wurde, auch wenn sich die Gesellschaftsklassen erst allmählich des Charakters der Entwicklung bewusst wurden. Das traf auch auf die herrschenden Klassen zu, die von der Krise „überrascht“ wurden, aber auch die SozialimperialistInnen in der ArbeiterInnenbürokratie, die noch bis Ende 2008 die Existenz der Krise zu leugnen versuchten und behaupteten, dass doch alles beim Alten geblieben sei (eine jener tröstlichen „Wahrheiten“, mit denen die Bürokratie sich selbst über jeden historischen Wendepunkt zu „retten“ versucht).

Zweifellos hatte die spezifische Form des Wendepunktes – eine ökonomische Krise – damit zu tun. Ein Weltkrieg oder eine Revolution in einem bestimmten Land stellen per se die Machtfrage. Eine Wirtschaftskrise trägt einen zeitlich ausgedehnteren Charakter. Außerdem erscheint sie als „Sachzwang“, als „Verhängnis“, als fast natürliche Katastrophe, die alle „gleichermaßen“ trifft. D. h., selbst wo sie am tiefsten wirkt, erscheint ihre Ursache nicht direkt, offen als notwendiges Resultat des Kapitalverhältnisses, sondern ihre Oberflächenerscheinungen prägen des Bewusstsein. Daher bleibt das Bewusstsein in solchen historischen Umbrüchen auch oft zurück, wodurch die Führungskrise und die konterrevolutionäre Rolle der bürgerlichen Apparate in der ArbeiterInnenklasse noch verstärkt werden.

Schließlich wurde die gegenwärtige Periode von Beginn an auch davon geprägt, dass die ökologische Frage zu einer Menschheitsfrage geworden ist, dass die Fortexistenz des Kapitalismus das Überleben der Menschheit selbst in Frage stellt. Diese Bedrohung wird selbstredend in der aktuellen Krise dramatisch verschärft.

Klassenkampfperioden seit 2008

Die ersten Jahre der Krise waren von einer Erschütterung des bürgerlichen Systems gekennzeichnet, die die Legitimität der kapitalistischen Ordnung in Frage stellte. Die bürgerlichen Medien und die herrschenden Klasse trieb die Furcht um, dass die globale Linke, die ArbeiterInnenklasse von der Krise profitieren würden. Schließlich hatten alle Kräfte links von der Sozialdemokratie immer schon auf die Krisenhaftigkeit des Systems verwiesen. Seit Beginn der Antiglobalisierungsbewegung hatte sich eine, wenn auch reformistisch und populistisch geführte, Bewegung gegen den Neoliberalismus gebildet, deren linker Flügel offen, wenn auch theoretisch und programmatisch sehr heterogen, direkt antikapitalistisch auftrat.

Die Kämpfe gegen die große Krise konnten nicht nur daran, sondern auch an wichtige Mobilisierungen und Massenkämpfe anknüpfen, an Bewegungen wie Blockupy und die Platzbesetzungen im Süden Europas, die, gewissermaßen als Vorbotinnen der historischen Krise, eine tief sitzende Unzufriedenheit, aber auch Handlungsbereitschaft großer Bevölkerungsschichten zum Ausdruck brachten.

Dabei stellten sie selbst nur das Vorspiel zu den revolutionären Erhebungen des Arabischen Frühlings oder der vorrevolutionären Krise in Griechenland dar, die scheinbar fest etablierte Regime stürzten und Millionen im Kampf um eine andere Gesellschaftsordnung in Bewegung brachten. In anderen Ländern wie Indien oder China erwachten hunderte Millionen von Lohnabhängigen zum gewerkschaftlichen und politischen Leben. In Brasilien, in den USA oder in Frankreich unter Hollande demonstrierten Millionen ihren Willen, sich einem putschistischen Regime (Temer), einem rassistischen Präsidenten oder knallharter Austeritätspolitik in den Weg zu stellen. Die sog. „Flüchtlingskrise“, also der zeitweilige Zusammenbruch der rassistischen Grenzen der EU, hat zu Beginn auch eine Solidarisierung unter großen Teilen der Bevölkerung hervorgebracht.

Aber die meisten dieser Bewegungen endeten in bitteren Niederlagen. Insbesondere der faktische Sieg der Konterrevolution im Arabischen Frühling (Ägypten, Syrien, Libyen) bis spätestens 2016, Kapitulation und Verrat von Syriza gegenüber der Troika aus EU-Kommission, EZB und dem IWF im Jahr 2015 markierten einen Wendepunkt der internationalen Lage. Die antirassistische Solidarität am Beginn der massiven Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten und Afrika verwiesen zwar auf das Potential für eine fortschrittliche Bewegung, aber erlitten auch eine Niederlage mit dem Aufstieg des Rassismus und der Formierung einer europaweiten und internationalen rechtspopulistischen Welle. So verschob sich das Kräfteverhältnis auf der ganzen Welt zugunsten der herrschenden Klassen oder gar Elementen der extremen Reaktion – zu rassistischen, rechtspopulistischen, autoritären und diktatorischen Regimen und Kräften.

Diese Niederlagen verdichteten sich 2016. Innerhalb der aktuellen globalen Krisenperiode, deren grundlegende Ursachen längst nicht gelöst sind, begann eine Phase, die vom Vormarsch der Reaktion, der Konterrevolution auf allen Ebenen und von einer weiteren dramatischen Verschärfung des Kampfes um eine Neuaufteilung der Welt gekennzeichnet ist. Die politische Klassenkampfperiode, die damals begann, wird vom Vormarsch der Konterrevolution, des Rechtspopulismus und des Irrationalismus geprägt. Dies bedeutet keineswegs, wie wir bei den Kämpfen der letzten Jahre sehen können, dass es keine Massenbewegungen, ja selbst Generalstreiks oder Aufstandsbewegungen geben kann. Aber diese werden in der Regel durch vorhergehende Angriffe der Rechten, als Reaktion aus einer Situation der Defensive ausgelöst. Beispiele finden sich zuhauf: die befristeten Generalstreiks in Brasilien oder in Indien gegen Modi, die Aufstände im Sudan oder im Libanon, die Massenbewegungen des internationalen Frauen*streiks, die auch durch die extreme Reaktion eines Trumps entfacht wurde, antirassistische Massenbewegungen wie Black Lives Matter und die Rebellionen in den USA, die globale internationale Umweltbewegung, die mit den Schulstreiks von Fridays for Future einen ersten Höhepunkt erreichte.

Zugleich verdeutlichen diese Kämpfe die Führungskrise auch von einer anderen Seite. Linkspopulistische, linksbürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte prägen oft und zunehmend auch die politische Ausrichtung dieser Bewegungen. Das Erstarken dieser Ideologien stellt selbst einen Ausdruck der Defensive dar, eines zunehmenden Einflusses von bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Bewegungen unter den Unterdrückten und selbst in der ArbeiterInnenklasse. Diese Entwicklung wurde durch die Niederlagen in Griechenland oder in den Arabischen Revolutionen und durch die klassenkollaborationistische Politik der Führungen von Gewerkschaftsbürokratie und Reformismus begünstigt, ja, in diesem Ausmaß überhaupt erst ermöglicht. Ebenso wie der Kampf gegen Reformismus und NurgewerkschafterInnentum einen unverzichtbaren Teil des ideologischen und theoretischen Klassenkampfes bildet, muss dieser auch gegen die klein- und linksbürgerlichen Kräfte geführt werden, deren theoretischen Ausdruck z. B. Linkspopulismus, Identitätspolitik, Intersektionalismus, Postmodernismus oder kleinbürgerlicher Ökologismus bilden.

Die innerimperialistischen Gegensätze, der Kampf zwischen „alten“, tradierten Mächten (den USA, Japan, den europäischen Mächten wie Deutschland) und „neuen“ Imperialismen (China und Russland) machten sich zugleich bei jedem globalen Konflikt, in jeder „Krisenregion“ bemerkbar. Der Vormarsch der Reaktion im Nahen Osten, die Dauerkrise in Zentralasien, der neue „Run um Afrika“ usw. können nur im Rahmen dieser Konkurrenz verstanden werden. Dasselbe gilt für die US-Offensive gegen missliebige „linke“, also linkspopulistische oder reformistisch geführte Regierungen in Lateinamerika, ebenso für Chinas Jahrhundertprojekt der neuen „Seidenstraße“.

Die verschärfte Ausbeutung der sog. „Dritten Welt“, Interventionen der führenden Großmächte, aber auch regionaler, in der imperialistischen Ordnung untergeordneter Staaten führen dazu, dass die Weltlage immer explosiver wird. Die Kriegsgefahr steigt. Sog. „Stellvertreterkriege“ oder nukleare Drohungen wie gegen Nordkorea können unter diesen Umständen zu einem Weltenbrand werden.

Gerade weil die strukturellen Probleme der kapitalistischen Weltwirtschaft ungelöst sind, müssen sich sowohl die Angriffe auf die Massen als auch die innerimperialistische Konkurrenz weiter verschärfen.

Die Ursache der Finanzkrise, der tiefen Rezession und des Rückgangs der Produktion in allen tradierten imperialistischen Staaten war und ist die Überakkumulation von Kapital. Eine immer größere Masse an Kapital kann im produktiven Sektor nicht mehr mit ausreichend hohen Gewinnerwartungen angelegt werden. Die „Flucht“ in den Finanzsektor, das Entstehen spekulativer Blasen war und ist die unvermeidliche Folge.

Innerkapitalistisch kann das nur durch zwei miteinander verbundene Wege gelöst werden – einerseits die Vernichtung „überschüssigen“ Kapitals, andererseits durch eine Neuaufteilung der Welt, bei der auch entschieden wird, wessen Kapital zerstört wird, welcher Imperialismus (oder welcher Block) sich letztlich durchsetzt. Daraus ergibt sich auch, warum die Frage der Formierung Europas für den deutschen Imperialismus so entscheidend ist.

Daraus ergibt sich aber auch, warum eine Lösung der grundlegenden Menschheitsprobleme wie z. B. der ökologischen Krise, also der drohenden und rapide fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, von Hungerkatastrophen, Armut und Verelendung immer größerer Massen unter dem kapitalistischen System zunehmend unmöglich wird. Die Krise und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfen vielmehr notwendigerweise diese Probleme, gerade und vor allem in den von imperialistischen Staaten beherrschten Ländern. Die gegenwärtige Krisenperiode umfasst alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens wie des Mensch-Natur-Verhältnisses.

Zugleich bestätigt sie auch die Aktualität der Methode des Übergangsprogramms. Losungen wie die nach Aufteilung der Arbeit auf alle, Enteignung der Banken und Konzerne, Notpläne unter ArbeiterInnenkontrolle, Generalstreik, Besetzungen, die Frage der ArbeiterInnenregierung – also alles Losungen, die zur Machtfrage führen und zum Übergang zur proletarischen Diktatur, sind zentral  für jedes Aktionsprogrammen, das einen Weg zur Lösung der entscheidenden Fragen bietet, vor denen nicht nur die ArbeiterInnenklasse, sondern die gesamte Menschheit steht.

Der Sturz des Imperialismus, das Programm der proletarischen Machtergreifung, der sozialistischen Reorganisation der Weltwirtschaft wird auch strategisches Ziel zur Rettung der Menschheit vor sozialem Verfall und zur Rettung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen.

14. Imperialismus, Weltwirtschaftskrise und der Übergang zum Sozialismus

Die gegenwärtige Krisenperiode bestätigt Lenins Analyse des Imperialismus als Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, als Epoche, die weltgeschichtlich die Alternative Sozialismus oder Barbarei aufwirft.

Der Imperialismus ist eine Epoche, in der die Bourgeoisie aufgehört hat, eine fortschrittliche Klasse zu sein, in der die weitere Herrschaft der Kapitalistenklasse, in der die kapitalistische Produktionsweise insgesamt reaktionär ist, weil sie zu einem Hemmnis für die Entwicklung der Produktivkräfte und Gesellschaft geworden ist.

Es geht nicht einfach um die Epoche der Herrschaft „des Kapitals“, sondern des Finanzkapitals, der Fusion von industriellem und zinstragendem (financial) Kapital, einer schon gesellschaftlichen Form des Kapitals, die, historisch betrachtet, immer schon beinhaltet, dass das Kapital zu Mitteln seiner eigenen Negation greifen muss, um sich selbst als herrschendes gesellschaftliches Verhältnis zu behaupten.

Die Epoche des Imperialismus ist nicht nur eine Epoche, wo die Produktionsweise reaktionär wurde, wo der Kapitalismus zu Niedergang und Stagnation tendiert, wo zur Sicherung der Herrschaft des Finanzkapitals die gesamte Welt unter wenige große Kapitale und Mächte aufgeteilt ist (resp. immer wieder neu aufgeteilt werden muss). Mit der Bildung des Finanzkapitals, der Entstehung riesiger, weltumspannender Monopole wird gleichzeitig auch die direkte, bewusste Vergesellschaftung der sich jetzt in den Händen einer kleinen Gruppe von Konzernen, Banken und Finanzinstitutionen befindenden Produktionsmittel zu einer unmittelbaren Möglichkeit und Notwendigkeit.

Im Kapitalismus ist das natürlich unmöglich. New Deal, keynesianischer Sozialstaat, Staatskapitalismus in den Halbkolonien, aber auch die weniger augenscheinliche staatliche Protektion des nationalen Finanzkapitals unter Globalisierung/Neoliberalismus sind Zeichen dafür, dass der bürgerliche Staat ein weit wichtigeres Element der Ökonomie des Kapitalismus darstellt, als dies in der vorimperialistischen Epoche der Fall war.

Der reaktionäre Charakter der Epoche zeigt sich wohl am sinnfälligsten darin, dass sich die Herrschaft des Finanzkapitals nur durch äußerst barbarische Mittel (Völkermord, faschistische Herrschaft samt industrieller Massenvernichtung des jüdischen Volkes, zwei Weltkriege, nukleare Auslöschung von Hiroshima und Nagasaki, generell Krieg als großindustrielles Vernichtungsunternehmen) überhaupt halten konnte. Ohne Vernichtung solchen Ausmaßes hätte es die Prosperitätsphasen des Imperialismus, insbesondere den Langen Boom, nicht geben können.

Doch auch der „Normalzustand“ des Imperialismus grenzt an Barbarei. Die systematische „Unterentwicklung“ der Halbkolonien, täglicher Hungertod Tausender, Hunger und Elend für Milliarden Menschen sind Erscheinungen, die sich durch alle Perioden seiner Entwicklung ziehen.

Zeichen für den reaktionären Charakter der Epoche sind diese Perioden jedoch nicht nur wegen der barbarischen Ausmaße von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen und ihres gigantischen Blutzolls. Reaktionär sind sie v. a., weil sie von einem Großteil der Staaten und Menschen der Erde erzwingen, in einem Zustand der „Unterentwicklung“, der sozialen Paralyse zu verharren.

Zugleich war der Kapitalismus in seiner langen Entstehungsphase wie in seiner Blüte und industriellen Durchsetzung im 19. Jahrhundert keineswegs „nichtbarbarisch“ gewesen. Die Kolonisierung, die Schaffung von Märkten für die Arbeitskraft der SklavInnen und Kulis gingen einher mit der Ausradierung eines Großteils der indianischen Bevölkerung Amerikas und einer Stagnation der Bevölkerungsentwicklung Afrikas im 18./19. Jahrhundert.

Sie gingen aber auch einher mit eine Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse, der Zerstörung vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen und mit der Schaffung globaler moderner Produktions- und Klassenverhältnisse. Doch dieses Werk ist längst vollendet.

Der Imperialismus des 20. und 21. Jahrhunderts zerstört im Wesentlichen keine vorkapitalistischen Verhältnisse mehr, er hat den Weltmarkt schon verallgemeinert. Er verunmöglicht dem Großteil der Menschheit, aus halbkolonialer Abhängigkeit samt Unterentwicklung zu entfliehen, und hat zugleich die vorkapitalistischen Produktionsweisen als relativ stabile Verhältnisse zerstört. Zugleich schafft er immer wieder auch „hybride“ Produktionsweisen, die die Nachteile beider verchmelzen.

Die Wiederherstellung des Kapitalismus in Osteuropa, Russland, China, Vietnam hat der imperialistischen Bourgeoisie politisch wie auch wirtschaftlich Mittel zur Expansion oder jedenfalls zur Abfederung der Krisentendenzen des Systems geliefert. Aber sie hat das in einer ganz anderen Form getan als bei der Zerstörung vorkapitalistischer Eigentumsverhältnisse im 19. Jahrhundert. Der Kapitalismus hat in Russland, Osteuropa China, Vietnam keine rückständige Produktionsverweise zerstört, zurückgesetzt oder inkorporiert. Er hat vielmehr einen gesellschaftlichen Rückschritt mit sich gebracht: bürokratische Planwirtschaften durch halbkoloniale Staaten oder schwache Imperialismen ersetzt und/oder  äußerst autokratische Formen der Herrschaft des Kapitals und Formen, die der ursprünglichen Akkumulation ähneln (mafiose Strukturen, kriminelle Formen der Aneignung … ), errichtet.

Noch dramatischer ist das Bild im Großteil der halbkolonialen Länder. In der sog. „Subsistenzwirtschaft“ der „Dritten Welt“, in den Megastädten und Slums, aber auch in den Ghettos der großen imperialistischen Metropolen sammelt sich ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung, der nicht vor und nicht zurück kann, der in der permanenten Krise einer Gesellschaftsformation gefangen ist.

Zugleich ist diese Abhängigkeit eine unvermeidliche Funktion der Herrschaft des Finanzkapitals. Bis auf wenige Ausnahmeperioden ist das Fortschreiten der Unterentwicklung notwendige Kehrseite der fortschreitenden Zusammenballung und Bereicherung des Finanzkapitals. Die Globalisierung hat dies auf bisher ungeahnte Spitzen getrieben.

Dabei musste das Finanzkapital auch auf Mittel zurückgreifen, die die Produktion und den gesellschaftlichen Verkehr über die bestehenden nationalstaatlichen Grenzen und Formen hinaustreiben: die Zunahme internationaler, koordinierter Produktionsketten und Planungszusammenhänge in Konzernen mit 100.000en Beschäftigen samt einem Vielfachen von ArbeiterInnen in Zulieferindustrien. Die logistischen Leistungen auf dem Gebiet des Transportwesens usw. bezeugen alle auch, zu welchem Ausmaß globaler Wirtschaftsplanung die Menschheit, d. h. die gesellschaftliche Arbeit, fähig geworden ist. Selbst die Einführung des Euro bezeugt nicht nur die imperialen Ambitionen Deutschlands und Frankreichs – sie bezeugt auch, wenn auch im Rahmen des Kapitalismus, dass die modernen Produktivkräfte über den Nationalstaat hinausdrängen.

Programm der herrschenden Klasse

Aber worin besteht das Programm der herrschenden Klasse angesichts dieser Problemstellung in der gegenwärtigen Krise?

Um der schärfsten Explosion vorzubeugen, besteht die unmittelbare Reaktion v. a. der US-Bourgeoisie darin, der Krise durch Staatsverschuldung, also Ausdehnung des Kredits und damit der „Vorbereitung“ der nächsten spekulativen Blase, zu begegnen.  Das wird den Prozess einer Kapitalvernichtung nicht aufheben, auch wenn es diesen verzögern oder sogar zu einem kurzfristigen Aufschwung führen kann.

Angesichts der gigantischen Massen  fiktiven Kapitals, das in den letzten Zyklen angehäuft wurde, angesichts der gigantischen Massen von Kapital, das in Industrien vergegenständlicht ist, die von chronischer Überproduktion betroffen sind, angesichts der gigantischen Widersprüche droht  nach wie vor eine „Bereinigung“, die bisherige Ausmaße dramatisch übersteigt – und die keineswegs sicherstellt, dass danach „der Kapitalismus“ wieder seinen Lauf nimmt.

Die gegenwärtige Krise kann und wird zwar nach einer bestimmten Phase einem zeitweiligen konjunkturellen Aufschwung Platz machen. Die Frage ist jedoch: Werden neue Bedingungen geschaffen, die eine ganze, längerfristige Periode der Expansion ermöglichen? Wird ein relativ stabiles Gleichgewichtig zwischen den großen Kapitalen und Mächten hergestellt werden können, auf dessen Basis auch ein politisches, zwischenimperialistisches Gleichgewicht neu aufbauen kann? Die Frage zu stellen, heißt schon die Probleme zu benennen, die dem gegenüberstehen: Ein neuer tieferer Aufschwung des industriellen Zyklus müsste schließlich nicht nur eine Vernichtung bestehender Kapazitäten, sondern auch eine grundlegende technische Erneuerung des Produktionsapparates oder wenigstens der Zirkulationskosten (wie z. B. Ende der 1980er Jahre und dann v. a. in der Globalisierungsperiode durch die Computerisierung) beinhalten.

Hinzu kommt, dass Kapitalvernichtung ein ungleicher Prozess sein wird und im Rahmen des imperialistischen Gesamtsystems sein muss. Manche kapitalistischen und imperialistischen Staaten und Kapitale gewinnen auf Kosten anderer. Das verschärft wie schon in früheren Phasen die Ungleichgewichte der Weltwirtschaft und die Konkurrenz untereinander. Der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht hat diese weiter angeheizt, er hat die Weltwirtschaft und die internationale Politik nicht stabilisiert, sondern bringt sie längerfristig aus dem Gleichgewicht.

Die Konkurrenz zwischen den alten imperialistischen Staaten und aufstrebenden Mächten wie China führt dazu, dass das Hauen und Stechen verschärft wird, dass Blockbildung und Protektionismus voranschreiten werden.

Die Lösung der herrschenden Klasse in der aktuellen Krise besteht also letztlich darin, schon erreichte Formen des globalen Austausches, der Produktion zu vernichten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen – ein Beleg mehr dafür, dass die Bourgeoisie eine reaktionäre Klasse ist. Das ist auch der Grund, warum wir es heute mit einer historischen Krise des gesamten Systems zu tun haben.

Wie wenig die herrschende Klasse Herrin ihrer eigenen Produktionsweise ist, wie sehr ihr die gesellschaftlichen Probleme über den Kopf gewachsen sind, zeigt die drohende ökologische Katastrophe. Der Kapitalismus war, wie schon oben dargestellt, immer mit der Zerstörung der menschlichen Umwelt, neben der lebendigen Arbeit die andere große Quelle des Reichtums, verbunden. Von sich aus vermag der Kapitalismus – wie alle früheren Gesellschaftsformationen – keinen rationalen, bewussten Umgang mit der Natur, kein vernünftiges Mensch-Natur-Verhältnis zu etablieren. Als verallgemeinerte Warenproduktion stellt sich eben immer erst im Nachhinein heraus, welche Arbeit gesellschaftlich nützlich war, welche vergebens etc. Die „Umwelt“ tritt in diesem Verhältnis immer nur als Kostenfaktor auf, der individuelle Unternehmens- und Investitionsentscheidungen gemäß ihrer Profiterwartungen modifizieren mag, dessen gesamtgesellschaftliche Folgen aber immer unbewusst bleiben müssen.

Ein rationales Verhältnis zur Natur kann nur vorausschauend, auf Basis von Wissenschaft und rationaler Planung gemäß den Bedürfnissen der Menschen und den Reproduktionserfordernissen ihrer natürlichen Lebensgrundlagen (selbst auch ein menschliches Bedürfnis), verankert werden. Mit dem Kapitalismus ist das unvereinbar. Er treibt vielmehr das Problem als Produktionsweise, die auf den Weltmarkt bezogen ist, also immer schon global bestimmt ist, auf die Spitze.

Ebenso wie die modernen Produktivkräfte dem Nationalstaat entwachsen sind, so ist die Frage der Schaffung eines vorausschauenden und nachhaltigen Verhältnisses zur Natur (inkl. der Wiederherstellung menschengerechter Bedingungen) im nationalstaatlichen Rahmen nicht machbar. Es erfordert internationale Planung, offene und transparente Bestandsaufnahme, offenen Austausch von Erfahrung, Wissen, Wissenschaft, Technologie usw. – alles Dinge, die mit einer Weltgemeinschaft imperialistischer Staaten und der großen Monopole, die im immer schärfer werdenden politischen und ökonomischen Wettstreit liegen, einfach unmöglich sind.

Imperialismus und Sozialismus

Doch die imperialistische Epoche hat nicht nur die inneren Widersprüche, die Probleme auf die Spitze getrieben. Sie hat auch den Weg zu ihrer Lösung sichtbar gemacht.

Die imperialistische Epoche ist somit nicht nur die Epoche des Niedergangs, der Tendenz zu Stagnation. Sie stellt auch den Sturz des Kapitalismus und den Übergang zum Sozialismus, zur zukünftigen klassenlosen Gesellschaft auf die Tagesordnung.

Die imperialistische Epoche ist daher auch die Epoche der proletarischen Diktatur. Die Oktoberrevolution 1917 hat nicht von ungefähr die Welt des 20. Jahrhunderts geprägt wie kein anderes Ereignis.

Die Oktoberrevolution und der revolutionäre Ansturm nach 1917 sowie die Gründung der Dritten Internationale, die zahllosen Revolutionen, Krisen, ja, auch die Entstehung der degenerierten ArbeiterInnen0staaten haben bewiesen, dass die sozialistische Revolution ein gesellschaftliches Bedürfnis geworden ist in der imperialistischen Epoche. In seiner Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie verweist Marx zu Recht darauf, dass die Menschheit, die Geschichte nur solche Probleme und Fragen aufwerfen, die sie auch zu lösen vermögen. Die Häufung revolutionärer Krisen, Situationen, ja, die Entstehung von Übergangsgesellschaften, die sich auf der Basis bürokratischer Planung über Jahrzehnte behaupten und reproduzieren konnten, zeigen auch, dass die gesellschaftliche Entwicklung objektiv über den Kapitalismus hinausdrängt.

Die Russische Revolution hat außerdem auch bewiesen, dass die ArbeiterInnenklasse, auch wenn sie unter äußerst schwierigen Bedingungen an die Macht kommt, diese behaupten und beginnen kann, die Gesellschaft in ihrem Sinne bewusst umzugestalten. Die ersten Jahre der Russischen Revolution sind, ohne dass wir unkritisch zu Schwächen und Fehlern sein wollen, eine heroische Periode der größten revolutionären Umwälzung der bisherigen Geschichte, die auch für zukünftige Transformationen reich an Erfahrung und Lehren ist.

Die Erfahrung zeigt aber auch die Grenzen des Weges. Die Isolierung der Oktoberrevolution hat zu ihrer bürokratischen Entartung und Degeneration, zum Stalinismus, der Liquidierung der revolutionären Partei und zur Machtergreifung der Bürokratie geführt. Trotz aller Unterschiede waren sie durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste und die politische Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse charakterisiert.

Stalinismus bedeutete auf dem Feld der Theorie einen vollständigen Bruch mit dem Marxismus, in der Praxis wandte er  nicht nur barbarischste Mittel des „Aufbaus“ bis hin zum Massenmord und Zwangsarbeit an. Die bürokratische und letztlich national fixierte Planung ging auch bis hin zu absurden Formen der Nichtkooperation zwischen den Staaten des Ostblocks, zur Spaltung in feindliche „sozialistische Lager“ um China und die Sowjetunion herum, zum Bruch von Tito und Stalin, zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit der ArbeiterInnenklasse selbst im Landesinneren (also nicht nur bezüglich des „eisernen Vorhangs“, sondern auch in der SU und China).

All diese Auswüchse waren und sind in den verbleibenden degenerierten ArbeiterInnenstaaten Resultat der Herrschaft der Bürokratie und ihrer reaktionären, konterrevolutionären Politik. Die Politik des „Aufbaus in einem Land“ bedeutet nicht Überwindung der Fesseln, die der Kapitalismus der Entwicklung der Produktivkräfte auflegt, sondern stellt selbst eine Fesselung der Produktivkräfte in das Zwangsbett des Nationalstaates dar.

Diese Politik führt keineswegs nur zur technologischen Rückständigkeit, überflüssiger selbstgenügsamer Anstrengung, jede Erfindung oder Neuerung im „eigenen Land“ parallel zu entwickeln. Vor allem bedeutet sie auch ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkraft der lebendigen Arbeit. Nicht nur die Technik und die ökonomischen Kreisläufe, auch die ArbeiterInnenklasse bleiben zwanghaft „national“.

Die politische Unterdrückung durch die Bürokratie heißt aber vor allem, dass sich die ArbeiterInnenklasse nicht als Klasse für sich konstituieren kann (das wäre nur möglich, wenn sie die bürokratische Herrschaft selbst stürzt). In den stalinistischen Regimen wurde gewissermaßen der „Versuch“ unternommen, eine sozialistische Umgestaltung bei gleichzeitiger zwangsweiser Verhinderung der Bildung von Bewusstsein der revolutionären Klasse über diese Umgestaltung durchzuführen. Eine solche Utopie kann nur reaktionär sein und enden. Sie musste scheitern, und sie ist gescheitert – und das mit vollem Recht.

Die sozialistische Umwälzung muss aber ihrem Wesen nach international sein und muss bewusst durchgeführt werden. Die Frage der ArbeiterInnendemokratie, der in Räten und anderen Formen der direkten und aktiven Demokratie als Staatsmacht und Selbstverwaltung der Gesellschaft organisierten ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten ist keineswegs eine bloß politische, sondern auch ökonomische Frage der Übergangsperiode.

Die Frage der Räte und ihrer Demokratie darf daher niemals nur negativ gefasst werden – z. B. als Mittel, die Etablierung einer Bürokratie, die Verselbständigung neuer „Eliten“ zu verhindern und diese an gesellschaftliche Kontrolle, Verantwortlichkeit und Abwählbarkeit zu binden. Sie ist auch unbedingt positiv zu fassen als unverzichtbares Mittel, wie sich die Gesellschaft in der Epoche des Übergangs, der Diktatur des Proletariats mit sich selbst über ihre eigenen Bedürfnisse, wirtschaftliche (und politische) Prioritäten, Schwerpunkte verständigen kann. Sie ist das Mittel, wie die technischen Notwendigkeiten der Planung mit den gesellschaftlichen Zielen, Schwerpunkten, Teilzielen usw. in Einklang gebracht werden können, so dass die einzelnen ArbeiterInnen, ja, alle Gesellschaftsmitglieder zunehmend bewusster in diesen Prozess eingreifen.

Nur so kann das Proletariat zu einer bewusst herrschenden Klasse werden und zugleich das Überflüssigmachen seiner Herrschaft vorbereiten und durchsetzen.

Die Tendenz dazu, die Produktivkräfte bewusst nach den Zielen der gesamten Gesellschaft auszurichten, wurde nicht nur im Stalinismus blockiert (bei gleichzeitiger Einführung bestimmter Voraussetzungen dafür). Sie wird noch viel mehr im Kapitalismus blockiert, auch wenn (oder gerade weil) die Entwicklung der Produktivkräfte in diese Richtung drängt. Das trifft nicht nur auf die internationale Arbeitsteilung und Produktion zu, die auf die Möglichkeit, ja Notwendigkeit internationaler Planung verweisen.

Es trifft auch darauf zu, dass im Kapitalismus die Steigerung der Produktivität der ArbeiterInnen immer wieder auch auf dem  zwiespältigen Prozess der Enteignung ihres Wissens basiert. So muss das Kapital selbst in bestimmten Phasen auf „modernere“, scheinbar „partizipativere“ Formen der Arbeitsorganisation (wie Gruppenarbeit) zurückgreifen, um dieses Wissen über den Produktionsprozess besser inkorporieren zu können. Alle großen Kapitale kennen mehr oder weniger haarsträubende Formen des „Verbesserungswesens“. Aber dies geht immer auch mit einem gewissen Konflikt in Bezug auf die Erfordernisse des Ausbeutungsregimes einher. So werden Gruppen in der Gruppenarbeit von den Vorgesetzten nach bestimmter Zeit regelmäßig zerschlagen, weil diese nicht nur die Arbeitsorganisation verbessern, sondern ab einem bestimmten Zeitpunkt auch dazu tendieren, den Zusammenhalt unter den ArbeiterInnen gegen ihre Vorgesetzten zu stärken. Hinzu kommt z. B., dass auch viele Lohnabhängige sehr genau wissen, wie eigentlich besser, schonender produziert werden kann oder einfach bessere Produkte gefertigt werden könnten, dass dies jedoch den Profitinteressen des/r jeweiligen KapitalistIn entgegensteht. Kurzum, die lebendige Arbeit wird einerseits befähigt, immer mehr Reichtum hervorzubringen, und die ArbeiterInnen wie die Gesamtarbeit werden im Zuge der technischen Entwicklung oft auch viel qualifizierter, aber sie werden zugleich immer drakonischer und offensichtlicher den bornierten Zwecken des Kapitals unterworfen.

Schließlich verweist die Frage der Ökologie, die drohende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch andere große Menschheitsfragen wie jene nach der Bekämpfung von Hunger und Seuchen, die Frage der Umgestaltung der Landwirtschaft darauf, dass auch durchdacht werden muss, wofür was produziert wird.

Stalinismus und Sozialdemokratie haben die Frage nach der Umwandlung der Gesellschaft, nach dem Sozialismus, nach dem Fortschritt nicht von ungefähr technisch und organisatorisch behandelt: Sicherung von Arbeitsplätzen, von Einkommen, eines bestimmten Lebensstandards.

Die Umwandlung des Verhältnisses der ProduzentInnen zu ihren Arbeitsmitteln und zum Produkt waren für sie keine Fragen, weil sie mit ihrer „Vision“ von „Sozialismus“ nichts zu tun hatten und auch nicht haben konnten. Für beide war die ArbeiterInnenklasse im Grunde nicht Subjekt, sondern Objekt einer „Umwandlung“.

Wenn sie jedoch nicht zum bewussten Subjekt der Umwandlung wird und das Verhältnis zwischen den Menschen zunehmend bewusst zu gestalten beginnt, so ist natürlich auch ein bewusstes, rationales Verhältnis zur Natur unmöglich.

Die objektiven Voraussetzungen für die sozialistische Umgestaltung der Weltwirtschaft bestehen schon seit über einem Jahrhundert. Sie ist heute brennend aktuell und notwendig, weil sowohl die aktuelle Weltwirtschaftskrise und alle größeren, tieferen Probleme der Menschheit danach drängen. Ohne diese sind massive Zerstörung, Vernichtung, Heraufbeschwören neuer „natürlicher“ und zivilisatorischer Katastrophen unabwendbar. Die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ droht – und weist zugleich auf den Ausweg.

Doch so dramatisch zugespitzt die Verhältnisse sind, so sehr nicht nur moderne Technik, Produktions- und Kommunikationsmittel und eine wissenschaftlich und technisch hochqualifizierte ArbeiterInnenklasse vorhanden sind, die schon jetzt die Fähigkeit hat, unter ihrer Regie die ganze Weltwirtschaft neu, rational und vernünftig zu reorganisieren, so ist sie sich dieser Fähigkeiten als Klasse  aber nicht bewusst.

Ein solches Bewusstsein kann in ihr freilich nicht spontan entstehen – so wie revolutionäres Klassenbewusstsein nicht. „Spontan“ erscheint es den ArbeiterInnen so, dass ihr Zugewinn an Wissen und Fähigkeiten, den Gesamtprozess zu organisieren, zusätzliche Potenzen für das Kapitals wären.

Dieser Schleier, diese Umkehrung der realen Verhältnisse, die der Kapitalismus aber notwendig als „falsches Bewusstsein“ hervorbringt, kann nur durch den revolutionären Kampf um Kontrolle, Enteignung des Kapitals, gesellschaftliche Planung, also den Kampf um ein Programm von Übergangsforderungen durchbrochen werden.

Was dazu fehlt, ist eine politische Strategie, ein Programm der sozialistischen Revolution und wirtschaftlichen Umgestaltung zum Sozialismus, eine Partei, eine Führung.

Auch in diesem Sinne ist die Krise der Menschheit die Krise der proletarischen Führung. Es gibt nur ein Mittel, diese Krise zu überwinden: die Schaffung einer neuen Weltpartei der sozialistischen Revolution – einer neuen, Fünften Internationale.


Endnoten

[i] Degenerierte ArbeiterInnenstaat sind Staaten, in denen zwar das Kapital enteignet wurde, die politische Herrschaft jedoch nicht von der ArbeiterInnnenklasse ausgeübt wird, sondern von einer bürokratischen Kaste, einer privilegierten Schicht. Während die Sowjetunion erst durch die stalinistische Konterrevolution zu einem solchen Staat degenerierte, stellten jene Osteuropas, China, Nordkorea, Kuba, Vietnam oder Kambodscha von Beginn an degenerierte, von einer ihrem Wesen nach konterrevolutionen Bürokratie beherrschte ArbeiterInnenstaaten dar.

[ii] Francis Fukayama, Das Ende der Geschichte, Kindler, München 1992

[iii] Siehe dazu: Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1984 bzw. Lukács, Existenzialismus oder Marxismus? Aufbau-Verlag, Berlin 1951

[iv] Siehe die Kritik der Postkolonialismustheorie in diesem RM und die Kritik von Chibber, Vivek: Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals, Dietz Verlag, Berlin 2018

[v] Michael Hardt undAntonio Negri, Empire – Die neue Weltordnung, Campus Verlag, Frankfurt/M. 2020

[vi] Rodney Edvinsson und Keith Harvey, „Empire“: Jenseits des Imperialismus?, in: Revolutionärer Marxismus 33, Theoretisches Journal der Liga für die Fünfte Internationale, Global Red, Berlin 2003, und Martin Suchanek, Das reformistische Schaf im autonomen Wolfspelz, in: Revolutionärer Maxismus 41, Global Red, Berlin 2010

[vii] David Harvey, Der neue Imperialismus, VSA Verlag, Hamburg 2005 und ders., Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, VSA Verlag, Hamburg 2014

[viii] Elmar Altvater, Konkurrenz für das Empire, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2007

[ix] Joachim Bischoff, Die Herrschaft der Finanzmärkte, VSA Verlag Hamburg 2012

[x] Siehe insbesondere PROKLA 194: Welmarktgewitter: Politik und Krise des globalen Kapitalismus, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2019, PROKLA 195: Umkämpfe Arbeit – reloaded, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2019, PROKLA 198: Globale Stoffströme und internationale Arbeitsteilung, Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2020; PROKLA 199: Politische Ökonomie des Eigentums, Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2020

[xi] Utsa Patnaik und Prabhat Patnaik, A Theory of Imperialism, Columbia University Press, New York 2017

[xii] Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1970; ders., Aufsätze zur Krisentheorie, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1971

[xiii] Paul Mattick, Economic Crisis and Crisis Theory, The Merlin Press, London, 1981; ders., Kritik der Neomarxisten, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/M. 1974

[xiv] Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ,Kapital’, Bd. I und II, EVA, Frankfurt/M. 1973

[xv] Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 8

[xvi] Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1983, S. 420

[xvii] Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1974, S. 28

[xviii] Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Gesammelte Werke, Band 1, 1. Halbband, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1987, S. 367ff.

[xix] Trotzki, Schriften über Deutschland, Band 1, EVA, Frankfurt/M. 1971

[xx] Mandel, Trotzkis Faschismusanalyse, Einleitung zu Schriften über Deutschland, in: a. a. O., S. 14.

[xxi] Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 463

[xxii] Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 321

[xxiii] Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 777 f.

[xxiv] Ebenda, S. 779

[xxv] Siehe dazu z. B. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 95

[xxvi] Marx, Kapital Band 1, a. a. O., S. 790f.

[xxvii] Marx, Kapital Band 3, MEW 25, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1969, S. 260

[xxviii] Marx, Grundrisse, a. a. O.,  S. 641

[xxix] Ebenda, S. 642

[xxx] Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’, Bd. 2, a. a. O., S. 449, FN 38

[xxxi] Marx, Das Kapital Band 1, a. a. O., S. 662 (in Einschaltung 1* aus der autorisierten französischen Ausgabe)

[xxxii] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O., S. 381

[xxxiii] Marx, Theorien über den Mehrwert Band 2,  MEW 26.2, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 510

[xxxiv] So zum Beispiel im Abschnitt „Große Industrie und Agrikultur“ im 1. Band des Kapitals, siehe: Das Kapital, Band 1, a. a. O., S. 527 – 530

Zur ausführlichen Darstellung unserer Position: Gruppe ArbeiterInnenmacht, Umwelt und Kapitalismus. Zu den grundlegenden Widersprüchen zwischen Nachhaltigkeit und kapitalistischer Produktionsweise, Berlin 2019, http://arbeiterinnenmacht.de/2019/06/26/umwelt-und-kapitalismus/

[xxxv] Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1973, S. 111 – 207

[xxxvi] Ebenda, S. 117

[xxxvii] Hilferding, Das Finanzkapital, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1955

[xxxviii] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik, in: Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 5, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 431

[xxxix] Grossmann, a. a. O.

[xl] Ebenda, S. 21

[xli] Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: LW Band 22, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1988, S. 189 – 309

[xlii] Ebenda, S. 230

[xliii] Ebenda, S. 270

[xliv] Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 551

[xlv] Trotzki, Die permanente Revolution, in: ders.: Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution, EVA, Frankfurt/M. 1971

[xlvi] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 271

[xlvii] Ebenda, Vorwort zur französischen Ausgabe, a. a. O., S. 198

[xlviii] Marx, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW 7, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 247f.

[xlix] Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch, MEW 19, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1974, S. 384 – 406

[l] Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution. Mit Einleitungen von Helmut Dahmer und Richard Lorenz, a. a. O.

[li] Ebenda, S. 122f.

[lii] Ebenda, S. 123f.

[liii] Trotzki, Was ist nun die permanente Revolution? Grundsätze, These 2, in: ders., Ergebnisse und Perspektiven … , a. a. O., S. 158

[liv] Trotzki, Was ist nun die permanente Revolution; Grundsätze, These 10, in: ders., Ergebnisse und Perspektiven … , a. a. O., S. 161

[lv] Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, in: MEW 17, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1973, S. 313 – 365

[lvi] Zur Ausführlichen Darstellung der Entwicklung der bolschewistischen und Lenin’schen Konzeption siehe: Martin Suchanek, Bruch und Wandel des Bolschewismus. Das Programm der Russischen Revolution, in: Revolutionärer Marxismus 49, global red, Berlin 2017, S. 5 – 82

[lvii] Lenin, Über die aufkommende Richtung des „imperialistischen Ökonomismus“, in: LW Band 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 1 – 10; ders., Antwort auf P. Kijewski (J. Pjatakow), ebenda, S. 11 – 17; ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus oder über den „imperialistischen Ökonomismus“, ebenda, S. 18 – 71

[lviii] Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: MEW 22, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1977, S. 225 – 240

[lix] Trotzki, Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale, Zweiter Teil: Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche; in: ders., Kritik des Programmentwurfs für die Kommunistische Internationale (29.6.1928), Schriften Band 3.2, Linke Opposition und IV. Internationale 1927 – 1928, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 1997, S. 1251; auch in: ders., Die Dritte Internationale nach Lenin, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993, S. 89

[lx] Luxemburg, Gründungsparteitag der KPD 1918/19, III: Unser Programm und die politische Situation, 31. Dezember 1918, in: dies., Gesammelte Werke Band 4, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1987, S. 494

[lxi] Trotzki, Der Zusammenbruch der beiden Internationalen. Erklärung der Bolschewiki-Leninisten auf der Pariser Konferenz (17.8.1933), in: ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928 – 1934, Neuer ISP Verlag, Köln 2001, S. 440

[lxii] Trotzki, Die neue Etappe. Die Weltlage und unsere Aufgaben, Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1921, Reprint

[lxiii] Inprekorr vom 24. April 1924, zitiert nach Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 111

[lxiv] Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 113

[lxv] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 270

[lxvi] Ebenda, S. 269f.

[lxvii] Hilferding, Das Finanzkapital, a. a. O., S. 439

[lxviii] Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a. a. O., S. 327; in der deutschen Erstausgabe, noch außerhalb der MEW, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1953, findet sich das Zitat nahezu gleich auf S. 317

[lxix] Margaret Wirth, Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme des Klassenkampfs Nr. 8/9, Berlin/West 1973, S. 24

[lxx] Joachim Schubert, Die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus – Kritik der zentralen Aussagen, in: Mehrwert (Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie) Nr. 4, Berlin/West 1973, S. 8

[lxxi] Lukács, Ontologie – Marx, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die ontologischen Grundprinzipien von Marx, Sammlung Luchterhand 86, Darmstadt/Neuwied 1972

[lxxii] Lukács, Ontologie – Marx, a. a. O., S. 45

[lxxiii] Marx, Das Kapital Band 1, a. a. O., S. 791

[lxxiv] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 242

[lxxv] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O.,  S. 452f.

[lxxvi] Ebenda, S. 453

[lxxvii] Ebenda, S. 454

[lxxviii] Ebenda, S. 456

[lxxix] Hilferding, Das Finanzkapital, a. a. O., S. 258

[lxxx] Ebenda, S. 349

[lxxxi] Zitiert nach Oelßner, Vorwort zur Neuausgabe von „Das Finanzkapital“, a. a. O., S. XXXIII

[lxxxii] Lenin, Heft Hilferding. „Das Finanzkapital“, LW 39, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1965, S. 330 – 336

[lxxxiii] Ebenda, S. 334

[lxxxiv] Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft, Archiv Sozialistischer Literatur 13, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1969

[lxxxv] Ebenda, S. 131

[lxxxvi] Ebenda, S. 191

[lxxxvii] Ebenda, S. 133

[lxxxviii] Ebenda, S. 133

[lxxxix] Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode, Texte des Sozialismus und Anarchismus, rororo Klassiker 261 – 263, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1970

[xc] Ebenda, S. 19

[xci] Ebenda, S. 50

[xcii] Ebenda, S. 54f.

[xciii] Lenin, Einige Erwägungen zu den Bemerkungen der Kommission der gesamtrussischen Aprilkonferenz, LW 24, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 465f.

[xciv] Lenin, VIII. Parteitag der KPR (B), 18. – 23. März 1919, Bericht über das Parteiprogramm, 19. März, LW 29, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1971, S. 153

[xcv]Busch/Schoeller/Seelow, Weltmarkt und Weltwährungskrise, Bremen 1971; Christel Neusüss, Imperialismus und Weltmarktbewegung des Kapitals, Verlag POLITLADEN, Politladen-Druck Nr. 4, Erlangen 1972; Wolfgang Schoeller, Werttransfer und Unterentwicklung – Bemerkungen zu Aspekten der neueren Diskussion um Weltmarkt, Unterentwicklung und Akkumulation des Kapitals in unterentwickelten Ländern (anhand von E. Mandel, Der Spätkapitalismus), in: Probleme des Klassenkampfes 6, März 1973, S. 99 – 120, Verlag Politladen, Erlangen1973; Margaret Wirth, Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme des Klassenkampfs 8/9, S. 17 – 44, Verlag Politladen, Erlangen 1973; Klaus Busch, Ungleicher Tausch – Zur Diskussion über internationale Durchschnittsprofitrate, Ungleichen Tausch und Komparative Kostentheorie anhand der Thesen von Arghiri Emmanuel (1), Probleme des Klassenkampfs 8/9, a. a. O., S. 47 – 88; Ders., Die multinationalen Konzerne. Zur Analyse der Weltmarktbewegung des Kapitals, Suhrkamp Verlag, edition suhrkamp 741, Frankfurt/M., 1974

[xcvi] Wolfgang Schoeller, Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals, EVA, Frankfurt/M., Köln 1976

[xcvii] Marx, Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 53

[xcviii] Marx, Theorien über den Mehrwert Band 2, a. a. O., S. 521

[xcix] Schoeller, Weltmarkt und … , a. a. O., S. 23

[c] Marx, Kapital Band 1, a. a. O., , S. 583f.

[ci] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O., 247

[cii] Zur Darstellung der Krise von 1973 und ihrer Bedeutung siehe: Oelßner, Die Wirtschaftkrisen. Die Krisen im vormonopolistischen Kapitalismus, Reprint Frankfurt/Main 1973, S. 244 – 262

[ciii] Lenin, Der Imperialismus … , a. a.O., S. 246

[civ] Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 94f.

[cv] Ebenda, S. 125f.

[cvi] Zu einer ausführlichen Darstellung siehe: Gruppe ArbeiterInnenmacht, Der Letzte macht das Licht aus. Die Todesagonie des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale http://arbeitermacht.de/broschueren/vs/index.htm

[cvii] Stephan Krüger, Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft. Arbeits- und Betriebsweisen seit dem 19. Jahrhundert und der bevorstehende Epochenwechsel, VSA Verlag, Hamburg 2019, S. 117f.

[cviii] Stephan Krüger, Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft … , a. a. O.

[cix] Ebenda, S. 119 – 122

[cx] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer Verlag (7. Auflage), Frankfurt/M. 2003, S. 57

[cxi] Zitiert nach Leo Mayer und Fred Schmid: Welt-Sheriff  NATO. Weltwirtschaftsordnung und neue NATO-Doktrin, isw report 40, München 1999, S. 22