Poststreik – die einzige Sprache, die sie kennen!

Helga Müller, Infomail 1215, 4. März 2023

Die Deutsche Post AG verweigert den Kolleg:innen einen Inflationsausgleich – trotz Milliardengewinnen. Daraufhin hat sich die ver.di-Tarifkommision für die Urabstimmung über einen Vollstreik entschieden. Die Abstimmung läuft bis zum 8. März. Mit einem klaren Ja ist zu rechnen – und damit steht die Tür offen, die Konzernleitung in die Knie zu zwingen: durch einen unbefristeten Durchsetzungsstreik gegen die Bedrohung der Post AG mit Auslagerung und der „Arbeitgeberverbände“ mit Verschärfung des Streikrechts!

Die Forderungen …

Wie bekannt hat sich die ver.di-Tarifkommission bei der Deutschen Post AG nach einer Mitgliederbefragung dazu entschieden, eine lineare Erhöhung der Gehälter von 15 %, eine Erhöhung der Ausbildungsvergütung für Azubis und Student:innen in der dualen Ausbildung von 200 Euro und eine Verlängerung der Postzulage für die noch 20.000 Kolleg:innen mit Beamtenstatus zu fordern.

Begründet wird das zum einen mit der schlechten Bezahlung der überwiegenden Mehrheit der Kolleg:innen. Von den 160.000 Tarifbeschäftigten bei der Deutschen Post AG sind 140.000 in den Entgeltgruppen 1 bis 3 eingruppiert, was einem Monatsbruttogrundgehalt zwischen 2.108 und 3.090 Euro entspricht (Angaben nach ver.di). Zum anderen mit den schlechter gewordenen Arbeitsbedingungen durch massiven Stellenabbau, ein drastisch ausgedünntes Filialnetz mit der Folge, dass die Kolleg:innen überbelastet sind durch die ständig wechselnden und größeren Zustellungsgebiete.

Die Inflation schlägt gerade bei diesen schlecht bezahlten Beschäftigten bei der Post – immerhin fast 90 % – besonders hart zu, denn diese müssen einen höheren Anteil ihres Gehalts für die höheren Preise bei Energie und Lebensmitteln ausgeben.

 … und Rekordgewinne

Auf der anderen Seite kann sich die Deutsche Post AG diese Erhöhung leicht leisten, da diese in zwei Jahren in Folge Rekordgewinne eingefahren hat: 2021 von 5,1 Milliarden und 2022 sogar 8,4 Milliarden Euro! Die Beschäftigten haben dies mit mieser Bezahlung – so betrug der Reallohnverlust laut ver.di allein im vergangenen Jahr 5,9 % (zit. nach nd-aktuell, 15.2.23: „Gewerkschaft Verdi im Superkampfjahr“) – und schlechter gewordenen Arbeitsbedingungen bezahlen dürfen!

Nach 3 Verhandlungsrunden und Warnstreiks, an denen sich über 100.000 Beschäftigte in den Brief- und Paketzustellzentren punktuell beteiligten, hatte der Postvorstand die Forderungen zunächst als realitätsfern und nicht umsetzbar bezeichnet und dann in der dritten Runde ein Angebot vorgelegt, das nach Angaben von ver.di sehr komplex ist, da steuer- und abgabenfreie Zahlungen mit tabellenwirksamen Festbeträgen kombiniert werden und daher individuell sehr unterschiedliche Auswirkungen zeitigen (Details s. hier: https://psl.verdi.de/tarifrunde2023/angebot). Diese liegen weit entfernt von den ver.di-Forderungen nach einem Inflationsausgleich. Nach ver.di-Berechnungen würde das Angebot lediglich eine durchschnittliche Tariferhöhung von 9,9 Prozent betragen und das auf eine Laufzeit von 2 Jahren gerechnet (Zit. nach nd-aktuell, 15.2.23: „Gewerkschaft Verdi im Superkampfjahr“)!

Urabstimmung

Vollkommen zu Recht hat die Tarifkommission dieses Tarifergebnis als völlig unzureichend bezeichnet und ihre Mitglieder zur Urabstimmung über einen unbefristeten Streik aufgerufen. 75 % müssen sich nun bis zum 8. März für den unbefristeten Streik entscheiden, damit es zu Durchsetzungsstreiks kommt.

Die Bedingungen dafür sind gut: Zum einen ist die Wut über die arrogante Haltung des Postvorstandes angesichts der Rekordgewinne in den letzten beiden Jahren und der immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen groß. Zum anderen ist die Notwendigkeit, einen realen Inflationsausgleich durchzusetzen, aufgrund der schlechten Bezahlung, die durch die galoppierende Inflation schnell aufgefressen wird, bei den Postbeschäftigten besonders dringlich! Obendrauf kommt dann auch noch die Androhung des Postvorstandes inmitten des Urabstimmungsverfahrens, noch mehr Betriebe und Bereiche zu noch schlechteren Arbeitsbedingungen auszugliedern und damit die Tarifbindung zu unterlaufen. Gerade damit haben die Kolleg:innen in den letzten Jahren genügend Erfahrung gemacht. Das führt sicherlich zu noch mehr Wut und Ärger unter ihnen.

Gut organisiert

Zudem sind sie gut organisiert: Der Organisationsgrad liegt insgesamt im Durchschnitt bei 70 % bundesweit, wobei es hier auch starke regionale Unterschiede gibt. Es gibt Bereiche, die bis zu 90 % organisiert sind, aber es gibt auch solche, wo der Organisationsgrad unter 50 % liegt – vor allem bei Dienststellen mit vielen Teilzeit- oder befristeten Beschäftigten. Alles in allem sind das aber gute Voraussetzungen, um auch einen Durchsetzungsstreik durchzuhalten.

Die Kampfkraft der 160.000 Beschäftigten bei der Post könnte zusätzlich verstärkt werden, da auch die 2,3 Millionen im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen gerade in Tarifverhandlungen stehen. Die dritte und vorerst letzte Verhandlung findet dort vom 27. – 29. März statt. Auch wenn sich die Kolleg:innen im öffentlichen Dienst noch in der Warnstreikphase befinden, könnten gemeinsame Streiks und Protestkundgebungen erfolgen. Solche haben bereits vor der dritten Tarifrunde bei der Post in mehreren Städten stattgefunden, die auch von den Kolleg:innen aus den beiden Bereichen sehr positiv aufgenommen wurden, zudem sich auch die öffentlichen Arbeit„geber“:innen stur stellen!

Diese Zusammenführung ist dringend nötig, denn zum einen werden voraussichtlich auch die Verhandlungsführer:innen aus Kommunen und Bund sich bis zur dritten und vorerst letzten Tarifverhandlung weigern, ein Angebot, das einen Inflationsausgleich beinhaltet, zu unterbreiten mit dem Hinweis auf angeblich leere Kassen – auch wenn mit einem Handstreich 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung lockergemacht wurden und es genügend Spielraum gäbe, die Gewinne von Unternehmen, die auch während der Pandemie und Energiekrise Profite eingefahren haben, abzuschöpfen. Dies wird den ver.di-Vorstand mit großer Wahrscheinlichkeit auch dazu nötigen, eine Urabstimmung abzuhalten – mit der Einschränkung, dass es hier vorher noch zu einem Schlichtungsverfahren zu kommen droht.

Streikrecht

Zum anderen droht nicht nur der Postvorstand mit neuen Angriffen. Die CDU-Mittelstandsvereinigung – also Unternehmerzusammenschlüsse – fordern bereits aufgrund der zweitägigen Warnstreiks bei mehreren Flughäfen eine Einschränkung des Streikrechts. „Das Streikrecht dürfe nicht missbraucht werden, um im ‚frühen Stadium von Tarifverhandlungen unverhältnismäßig Druck auszuüben und durch die Einbeziehung kritischer Infrastrukturen schweren Schaden auszurichten’, heißt es in einem Papier der Mittelstandsunion.“ (Zit. nach nd-aktuell, 20.2.23: „Das Kapital zeigt bei der Post & Co. seine Zähne gegen Streiks“)

Gegen diesen Angriff braucht es auch eine offensive Antwort von Seiten der Gewerkschaften! Die nach wie vor betriebene Sozialpartnerschaft mit Appellen an die Vernunft der Verhandlungsführer:innen durch die Gewerkschaftsführungen, die auch immer wieder bei den Verlautbarungen von ver.di sowohl bei der Tarifrunde Post als auch öffentlicher Dienst anklingen, wird die „Arbeitgeber:innen“ nicht weiter beeindrucken! Im Gegenteil, wenn wir uns nicht mit allen Mitteln gemeinsam wehren, droht das zu einer großen Niederlage der Gewerkschaftsbewegung zu führen. Nicht nur, dass dann viele enttäuschte Kolleg:innen, die für ihre Ziele gestreikt haben, die Gewerkschaftsbücher hinwerfen könnten, es würde auch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis noch weiter zugunsten des Kapitals verschieben!

Ein erster guter Ansatz, der mittlerweile in verschiedenen Bezirken – aber noch lange nicht in allen – existiert, sind gemeinsame Bezirkskampfleitungen, in denen die aktiven Kolleg:innen aus den verschiedenen Bereichen, die sich gerade in Tarifverhandlungen befinden, zusammenkommen und über gemeinsame Aktionen diskutieren. Diese müssen auch das Recht bekommen zu bestimmen, gemeinsame Streiks durchzuführen.

Konsequenzen aus den letzten Tarifrunden

Darüber hinaus müssen aber auch die Konsequenzen aus den letzten Tarifrunden gezogen werden, bei denen die Gewerkschaftsführungen auf unterschiedliche Art und Weise immer wieder faule Kompromisse mit den „Arbeitgebern:innen“ gefunden haben, weil sie nicht mit der Politik der Klassenzusammenarbeit brechen wollen und damit letztendlich den Wirtschaftsstandort Deutschland gegen die internationale Konkurrenz zu verteidigen versuchen.

Die streikenden Kolleg:innen, die ein wirkliches Interesse an der vollen Durchsetzung der Forderungen hegen, müssen die Entscheidung über den Fortgang der Kampfmaßnahmen erhalten. Dafür brauchen sie auch Einblick in den Stand der Verhandlungen und das Entscheidungsrecht darüber, wie der Streik fortgeführt wird. Einzelne Elemente der Streikdemokratie gab es in den beiden Krankenhausbewegungen in Berlin und NRW: Z. B. wurden die Tarifdelegierten oder -botschafter:innen über die Ergebnisse der Verhandlungen zeitnah informiert und konnten über den Fortgang mitentscheiden. Auch die streikenden Kolleg:innen wurden z. B. in der NRW-Krankenhausbewegung in Streikversammlungen über das letzte Tarifergebnis informiert, konnten es diskutieren und darüber entscheiden. Es hatte sich zwar eine Mehrheit dafür ausgesprochen, aber z. B. die Kolleg:innen in Düsseldorf stimmten nach einer längeren Diskussion gegen das Ergebnis!

Aber all dies beruhte auf einer „freiwilligen“ Entscheidung der Tarifkommission, über das Verhandlungsergebnis nicht ohne Befragung und Abstimmung unter den streikenden Kolleg:innen zu entscheiden. Letztendlich hatten aber immer noch die Gewerkschaftsfunktionär:innen das letzte Wort, was sich z. B. im „verfrühten“ Abschluss bei der Charité und Vivantes niederschlug und dazu führte, dass die Kolleg:innen der ausgelagerten Tochtergesellschaften am Schluss allein für die Anerkennung des TVöD in den Töchtern kämpfen mussten. (S. a.: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/04/vorlaeufige-bilanz-des-berliner-klinikstreiks-vor-der-entscheidung/ und https://arbeiterinnenmacht.de/2022/06/18/nrw-unikliniken-in-der-8-streikwoche-licht-und-schatten/; https://arbeiterinnenmacht.de/2022/07/21/streik-der-unikliniken-nrw-beendet/)

D. h. freiwillige Zusagen der Tarifkommissionen über eine engere Zusammenarbeit und Abstimmung unter den streikenden Kolleg:innen sind zwar positiv zu bewerten, reichen aber nicht aus. Was es braucht, sind Streikkomitees – wie sie an der Uniklinik Essen aufgebaut und praktiziert wurden –, bestehend aus Delegierten verschiedener Bereiche, die jederzeit abwählbar sein müssen und die Aufgabe haben, die Diskussion und Abstimmung über die Fortführung der Tarifrunde auf Streikversammlungen mit den streikenden Kolleg:innen zu organisieren. Solche Streikkomitees, mit Hilfe derer die streikenden Kolleg:innen selbst demokratisch entscheiden können, sind überall in allen Betrieben, Dienststellen oder Büros, aber auch auf lokaler, regionaler und letztendlich auch auf Bundesebene nötig, damit sie selbst ihren Kampf unter ihre eigene Kontrolle bekommen und damit der Sozialpartnerschaftspolitik der Führung funktionierende Strukturen entgegensetzen können.




Volle Mobilisierung für 10,5 %/500 Euro! Erzwingungsstreik!

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe Arbeiter:innenmacht zur Tarifrunde im Öffentlichen Dienst, Infomail 1214, 21. Februar 2023

Die „Arbeitgeber“verbände lehnen unsere Forderung ab. Angebot haben sie bis jetzt keines vorgelegt. Sie „wissen“ nur eins: unsere Forderung sei „wirtschaftlich nicht verkraftbar“. Wir sagen: 8 % Inflation und die Reallohnverluste der letzten Jahre sind für uns nicht verkraftbar!

Nach den Coronajahren, in denen wir mit Einmalzahlungen abgespeist wurden, stehen wir nun massiven Preissteigerungen gegenüber, die gerade bei Heizung, Energie und Lebensmitteln noch über der offiziellen Inflationsrate liegen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht.

Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. Wenn wir unsere Forderungen durchsetzen, einen Abschluss wollen, der über der Inflationsrate liegt, dann werden Warnstreiks nicht reichen. Wir müssen uns auf eine politische Kraftprobe mit Bund und Kommunen einstellen, die nicht nur von den Regierungen, sondern auch von der bürgerlichen Presse und vom Kapital in allen Branchen unterstützt werden. Daher sollten wir uns nicht auf monatelange Rituale und Verhandlungen einlassen, sondern möglichst schnell die Urabstimmung einleiten und einen landesweiten Erzwingungsstreik aller Beschäftigten vorbereiten und durchführen.

Keine faulen Kompromisse! Nein zur Mogelpackung Einmalzahlung!

Unsere Gewerkschaften wie auch die Tarifkommission müssen Einmalzahlungen weiter eine Absage erteilen und unsere Forderungen nach 10,5 % mehr Lohn, aber mind. 500 Euro bei einer Laufzeit von 12 Monaten ohne Wenn und Aber vertreten.

Jedoch wenn wir die Tarifrunden der IG Metall oder IGBCE anschauen, müssen wir wachsam sein. Dort wurden Einmalzahlungen vereinbart. Im Gegenzug wurden die Lohnforderungen zurückgeschraubt sowie einer längeren Laufzeit zugestimmt. Bei der IG Metall wurde die hohe Streikbereitschaft nicht genutzt. Das Ergebnis für die Beschäftigten: schon wieder Reallohnverlust. Solche Mogelpackungen brauchen wir nicht.

Natürlich ist die Einmalzahlung für den Moment hilfreich. Aber der geht vorüber, die Inflation bleibt. Auch auf die Rente wird sie nicht angerechnet und die Arbeit„geber“:innen sparen die Krankenkassenbeiträge auf Kosten des Gesundheitswesens.

Tarifrunde von unten!

Eine der Lehren, die wir aus diesen Tarifrunden ableiten können: Wir können uns als Voraussetzung für einen Erfolg nicht auf den Gewerkschaftsapparat verlassen! Die Vorbereitungen rund um die Warnstreiks müssen genutzt werden, um Mitglieder zu gewinnen wie auch Mobilisierungsstrukturen in den Betrieben und Einrichtungen aufzubauen.

Die beiden Krankenhausbewegungen in Berlin und Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass ein systematischer Gewinn von Mitgliedern wie auch erfolgreiche Tarifkämpfe selbst in Bereichen der Pflege möglich sind, die noch vor Jahren von ver.di als nicht streikfähig angesehen wurden.

Ob Gesundheitswesen, Bildung oder Verwaltung, ob Beschäftigte bei Bund oder Kommunen: Wir müssen alle zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen! Wie die Kolleg:innen in den Krankenhausbewegungen müssen wir unsere Forderungen selbst aufstellen und die Tarifkommission muss ständig die Mitglieder informieren. Dafür sind Streik- oder Streikdelegiertenversammlungen da!

Streikversammlungen als Kampfmittel!

Gute Beispiele stellen hier Anträge zur Aufkündigung der Schlichtungsvereinbarung dar. Ein solcher wurde auf einer Berliner Arbeitsstreikversammlung mit großer Mehrheit angenommen. Von der Aufstellung der Forderungen bis hin zur Streikführung und Entscheidung, wann der Streik zu Ende ist, müssen wir selbst bestimmen und kontrollieren. Die Uniklinik Essen kann hier als positives Beispiel für uns dienen. Dort wurden Delegierte aus allen Abteilungen in Streikkomitees gewählt und auf Streikversammlungen zusammengeführt. Diese diskutierten die jeweiligen Verhandlungen und beschlossen die weiteren Schritte des Arbeitskampfes wie auch seine Finanzierung. Die Delegierten waren gegenüber den Streikversammlungen rechenschaftspflichtig. Auf solchen regelmäßigen Streikversammlungen diskutieren dann die nach Tarif bezahlten Kolleg:innen den weiteren Weg zur Durchsetzung unserer Forderungen.

Weitergehende Forderungen

Hier können wir dann auch Forderungen diskutieren und beschließen, die über die derzeitigen Vorschläge für die Tarifrunde hinausgehen wie z. B. die starke Besteuerung großer Unternehmen und DAX-Konzerne, die auch während der Pandemie oder Energiekrise ihre Taschen gefüllt haben oder weiter füllen. Geld ist genug da! Deshalb können wir auch genauso gut die Wiedereinführung der Vermögens- wie Einführung einer Übergewinnsteuer in unsere Forderungen mit aufnehmen.

Ein Verweis wie in der ver.di-Tarifbroschüre, dass die finanzielle Situation der Kommunen gar nicht so schlecht sei, reicht hier nicht aus. Wichtiger ist hier, die Offenlegung der öffentlichen Finanzen und aller Verträge zur Auslagerung öffentlicher Dienste zu fordern. Nur so können wir und die Bevölkerung wirklich die Vorschläge der Gegenseite bewerten. Zusätzlich sollten wir auch jetzt schon Forderungen diskutieren, wie dem Personalmangel entgegengesteuert werden kann. Er ist in Krankenhäusern ebenso bekannt wie eklatant und stellt sich im Erzieher:innen- und Bildungsbereich sowie den sozialen Diensten nicht anders dar. Ein Element hierfür liefert sicherlich eine bessere Bezahlung. Wichtig ist darüber hinaus aber auch die Entlastung durch Einstellung zusätzlichen Personals. Der Kampf darf hier nicht auf einzelne Bundesländer und unabhängige Tarifverträge aufgeteilt werden. Hierfür benötigen wir unsere gesammelte Schlagkraft.

Vom Warnstreik zum unbefristeten Streik!

Diese wird von den Gewerkschaftsführungen auch in der derzeitigen Tarifrunde nicht ausgeschöpft. Die bisher durchgeführten Aktionen, Aktionstage und zeitlich versetzte Warnstreik können nur erste Schritte setzen. Aber sie reichen nicht. Wir müssen aber weitergehen und die volle Kampfkraft möglichst rasch entfalten.

Auch wenn es durchaus Sinn macht, einzelne Themen an unterschiedlichen Streikaktionstagen in den Vordergrund zu stellen, ist es unverständlich, warum nicht zu allen Warnstreiktagen die volle Belegschaft zum Streik mobilisiert werden soll. Dadurch kann in der breiten Mitgliedschaft darüber diskutiert werden, wie die unterschiedlichen Bereiche (Pflege, Bildung, Nahverkehr, Klimaschutz etc.) gemeinsam gedacht und verknüpft werden sollen.

  • Einzelne Streiktage reichen nicht! Schluss mit der Zersplitterung! Gemeinsame Aktionen mit Post, Bahn und allen anderen Kämpfen! Aufbau von Unterstützungskomitees, um die Öffentlichkeit zu informieren!

  • Wir brauchen einen Erzwingungsstreik! Vorbereitung und Einleitung der Urabstimmung anstatt monatelanger Verhandlungsrituale oder gar Schlichtung!

  • Für gläserne Tarifverhandlungen! Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden, keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!

  • Regelmäßige Streikversammlungen in allen Betrieben und Abteilungen! Wahl und Abwählbarkeit der Streikleitungen durch die Mitglieder!

Kündigt das Schlichtungsverfahren!

Wir dürfen darüber hinaus nicht zulassen, dass die Gegenseite über den Weg des Schlichtungsverfahrens den Streik aushebeln kann. Es gibt zwischen ver.di und dem Arbeit„geber“:innenverband ein Schlichtungsabkommen. Wenn eine der beiden Parteien eine Schlichtung einleiten will, ist das für beide Seiten zwingend. Während der Schlichtung herrscht Friedenspflicht. Nach dem Scheitern dieses Verfahrens könnte zwar die Urabstimmung eingeleitet werden. Aber aller Erfahrung zufolge ist nach einer längeren Phase der Friedenspflicht der Schwung raus und es wird kaum noch möglich sein, die Kolleg:innen zu mobilisieren.

Deswegen stellt in allen Gremien Anträge, dass dieses Schlichtungsabkommen, das nur der Arbeit„geber“:innenseite nützt, von ver.di sofort gekündigt werden muss! Anstatt Energie in ein Schlichtungsverfahren zu stecken, sollten wir diese lieber in die Organisierung eines flächendeckenden Vollstreiks aller Kolleg:innen investieren!

https://vernetzung.org/schlichtung-ist-kein-hebel-sondern-ein-knebel/




Warum stellen wir nur Lohnforderungen?

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe Arbeiter:innenmacht zur Tarifrunde im Öffentlichen Dienst, Infomail 1214, 21. Februar 2023

10,5 % mehr Lohn für alle, mindestens aber 500 Euro mehr pro Monat bei einer Laufzeit von 12 Monaten und Erhöhung der Ausbildungsvergütung sind die Hauptforderungen der diesjährigen TVöD-Runde bei Bund und Kommunen.

Sollten die Ziele erreicht werden, würden sie nicht nur in Hinblick auf die Inflationsraten eine längst überfällige Verbesserung für alle darstellen, sondern gäben auch ein wichtiges Signal für alle anderen Lohnabhängigen. Dennoch kann durchaus die Frage gestellt werden, warum nicht Forderungen mit aufgenommen wurden, die über Lohnerhöhungen hinausgehen?

Die Vorbereitung unserer Tarifrunde begann schon vor der Sommerpause 2022 und durchaus vielversprechend: Ver.di organisierte bundesweit Treffen unter der Mitgliedschaft, um ihr die obigen Forderungen mitzuteilen. Die klare Absage an Einmalzahlungen wie auch die hohen Lohnforderungen waren vor allem Auswirkung innergewerkschaftlichen Drucks:

1) Ver.di möchte ihrem Mitgliederverlust entgegenwirken, indem sie ihren Mitgliedern zu zeigen versucht, dass sie sie ernst nimmt.

2) Die großen Bewegungen der Krankenhausbeschäftigten in Berlin und NRW, die erst 2021 und 2022 für einen Tarifvertrag Entlastung gekämpft haben, zeigten, dass es möglich ist, im Bereich der Gesundheitsversorgung – wenn nötig auch wochenlang – Streiks durchzuführen. Das hat nicht nur zu einem Zuwachs von ver.di-Mitgliedern geführt, sondern auch eine hohe Erwartungshaltung unter der Belegschaft geschaffen, dass sie gut organisiert Kämpfe gewinnen kann.

3) Die Inflation und die hohen Energiekosten üben ebenfalls Druck auf die Mitgliedschaft und dadurch vermittelt auf die Tarifkommission aus. Diese muss dafür sorgen, dass die Löhne ihrer Mitgliedschaft für deren Lebenshaltungskosten reichen.

Trotzdem wurden neben finanziellen Aspekten auch von den Beschäftigten immer wieder Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen genannt, die in einem weiteren Punkt, der Druck aufbaut, wirken: gegen Personalmangel! Die Entlastungsfrage für die Beschäftigten in Krankenhäusern, Kindertagesstätten, Reinigungsfirmen, bei Behörden, usw. wurde durch verschiedene Forderungen deutlich wie z. B.:

  • Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!

  • Früheren Renteneintritt ermöglichen, Altersteilzeitregelung verlängern!

  • Mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst!

Die Begründung der Tarifkommission, solche Forderungen nicht in die für diese Tarifrunde zu integrieren, lautete, dass es damit zu einem gegenseitigen Ausspielen der Forderungen käme. Besonders die Entlastungsfrage soll laut ver.di anschließend in den Bundesländern einzeln aufgegriffen werden, wo es dazu noch keine Tarifverträge gibt. Dies stellt aber eine unbefriedigende Entscheidung der Tarifkommission dar. Diese kam somit dem Bedürfnis der Belegschaften nicht nach, auch Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen aufzustellen, um alte Kolleg:innen im Beruf zu halten und ihn attraktiver für neue zu gestalten. Beides kann unserer Meinung nach nicht getrennt und sollte dadurch in Streikversammlungen angesprochen und kritisch diskutiert werden.




Wirtschaftskrise und politische Instabilität: Politisch-Ökonomische Perspektive 2023

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1214, 19. Februar 2023

Stagflation und instabile Regierungskoalition 2023

2023 wird die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten eintreten. Das ist die logische Folge aus schon länger fallenden Industrie-Profitraten und der gestiegenen Unsicherheit in Produktion und Kapitalverwertung. Diese Einschätzung teilen auch die wichtigsten bürgerlichen Wirtschaftsforschungsinstitute, das WIFO schreibt: „Nach der kräftigen Expansion im 1. Halbjahr 2022 befindet sich die österreichische Volkswirtschaft mittlerweile in einer Abschwungphase. Die Konjunkturabschwächung betrifft sämtliche Wertschöpfungsbereiche; das verarbeitende Gewerbe dürfte sogar in eine Rezession schlittern.“[1], und spricht von Stagflation.[2] Das Institut für Höhere Studien IHS prognostiziert für 2023 ein Wachstum von nur 0,3 % bei einer Inflationsrate von 8,6 %.[3] Die EU Kommission prognostiziert 2023 eine Rezession im gesamten Euro-Raum.[4]

Der Wirtschaftsabschwung 2023 hat denselben Hintergrund wie die Hochinflation 2022. Die Profitrate, also das Verhältnis von Profit zur Gesamtinvestition in Maschinen, Arbeitskraft, Miete usw., in der Industrie geht bereits seit Jahren zurück, was 2020 schon vor der Corona-Pandemie zu einem beginnenden Abschwung geführt hat. Der wurde dann aber von den Lockdownfolgen „überholt“ und aufgenommen. Am grundlegenden Problem (der Überakkumulation, siehe später im Text) hat sich aber nichts geändert, weil die in kapitalistischen Krisen übliche Vernichtung von Kapital durch Staatshilfen ersetzt wurde.

Fallende Profitraten befeuern auch die Inflation. Inflation ist im Großen die Summe aus individuellen Firmenentscheidungen, Preise zu erhöhen. Wenn ein:e individuelle:r Kapitalist:in auf zahlungsfreudige Nachfrage trifft, kann sie entscheiden mehr zu produzieren, oder mehr Geld zu verlangen. In einer unsicheren Wirtschaftssituation werden Kapitalist:innen eher die Preise erhöhen, statt zu investieren, und selbst die Firmen, die diese Entscheidung selber nicht getroffen hätten, „machen mit“ (blöd wären sie, wenn sie sich das entgehen lassen würden). Aber höhere Preise für dieselbe Warenmenge bremsen auch die Kapitalakkumulation, also die Verwandlung von Kapital in mehr Kapital durch Wieder-Investition. Eine Situation, in der die Kapitalakkumulation nicht funktioniert, läutet die Rezession ein, auch wenn einzelne Branchen noch hohe Profite machen.

Kapitalakkumulation funktioniert in drei Schritten: Aus Geld werden Waren (Produktionsmittel und Arbeitskraft), aus diesen Waren im Produktionsprozess andere Waren (die fertigen Produkte), und diese Waren werden zu mehr Geld gemacht (die Verwertung des Kapitals). Wenn einer der drei Übergänge ernsthaft unterbrochen wird, stockt die Akkumulation des Kapitals, eine Krise bricht aus. Die Kombination aus Corona, Klimakrise und Krieg hat an allen drei Übergängen Sand ins Getriebe geworfen.

Der Einfluss durch die globale Pandemie, die Auswirkungen der Klimakrise und den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist besonders und zum Beispiel anders als die Krisendynamik der Finanzkrise ab 2008. Lockdowns in Produktionsstätten, Überschwemmungen und Dürren stören die Produktion, also die Verwandlung von Vorprodukten in Waren. Geschlossene Häfen und abgebrochene Wirtschaftsbeziehungen unterbrechen globale Produktionsketten, die in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich eingesetzt wurden, um den tendenziellen Fall der Profitraten zu bremsen. Generell führt die neue imperialistische Blockbildung zu einer Art De-Globalisierung, und unterläuft damit das Geschäftsmodell vieler imperialistischer Staaten. Das gilt auch für Österreich, dessen Bank- und Handelskapital eng mit den Balkanstaaten und Russland verwoben ist.

Eine Rezession wird zu Entlassungswellen und einem Einbruch der Arbeiter:inneneinkommen führen. Wenn wir aus der Erfahrung der Coronakrise schließen, werden die europäischen Regierungen rasch und schnell mit Subventionen eingreifen, die vor allem den Kapitalist:innen zugutekommen. Um die Verteilung der Krisenkosten wird wohl nicht mehr dieses Jahr gekämpft werden, die Regierung wird aber in der Zukunft auf Austerität, also Sparpolitik, und Deregulierung des Arbeitsrechts setzen. Insofern wird 2023 wohl von der Rezession und Abwehrkämpfen am Arbeitsplatz, aber noch nicht von Austerität und Widerstand dagegen geprägt sein. Dabei ist auch zu beachten, dass die Kosten für die Corona-Hilfen auch weiterhin stark auf den Regierungen lasten und noch nicht wieder zurückgeholt werden konnten. Das ist sicher auch einer der Gründe für die Unsicherheit im Handeln der jetzigen Regierung.

Die türkis-grüne Koalition ist instabil und angreifbar. Sie hat in den Umfragen massiv an Zustimmung verloren, die Minister:innen werden nicht anerkannt und die beiden Parteien streiten heftig, miteinander und intern. Das macht sie nicht weniger klassenbewusst (für die herrschende Klasse), sie verliert die Perspektive als „ideelle Gesamtkapitalistin“ aus dem Blick, weil der eigene Machtverlust bedrohlicher ist. Sie kann derzeit schon durch vergleichsweise wenig Druck auf der Straße und in den Betrieben zum Einlenken gezwungen werden.

Gleichzeitig setzt die ÖVP in solchen Fällen auf offenen Rassismus (Sachslehner: „Jeder Asylantrag ist einer zu viel“) und staatliche Schikanen vor allem gegen Asylwerber:innen. Auch die SPÖ hat nach der Wahl im Burgenland einen Kurs des offen hetzenden Rassismus eingeschlagen (Rendi-Wagner: „Wir haben ein Migrationsproblem“).

Die sozialdemokratische Opposition ist seit dem Abtreten von Sebastian Kurz schwach und fast handlungsunfähig. Ihre Strategie, die Regierung durch Untersuchungsausschüsse unter Druck zu setzen hat nicht funktioniert. Sicher auch deshalb, weil die ÖVP die Geschäftsordnung und Medienlandschaft geschickt navigiert, aber auch weil der Ausschuss-Fokus der SPÖ von Anfang an eine Vermeidungsstrategie war, um nicht auf die eigene Mitgliedschaft, die Betriebe, oder außerparlamentarische Oppositionsarbeit zurückzugreifen. Unter dem Eindruck von Krieg und Hochinflation arbeitet die Bundespartei als „loyale Opposition“, die Verbesserungsvorschläge macht und die langsame Umsetzung kritisiert. Die SPÖ präsentiert kein Alternativprogramm zur Regierungslinie und macht folgerichtig auch keinen Druck auf Neuwahlen oder wirksamen politischen Widerstand. Die Neuwahlen können natürlich trotzdem kommen, aber aus der Instabilität der Regierungskoalition wird sie den Sozialdemokrat:innen eher „passieren“.

In dieser Situation ist eine Annäherung der Nehammer-ÖVP an Kickl und die FPÖ möglich. Die Parteien stimmen in weiten Teilen ihrer Krisenpolitik überein, die aus rassistischer Spaltung und Politik im Sinne der Reichsten besteht. Die soziale Rhetorik der FPÖ ist auch nicht teurer als die Forderungen des Gewerkschaftsflügel in der SPÖ (als mögliche Alternative). Es ist nicht gesagt, dass die türkis-grüne Koalition platzen wird, sie ist aber viel Druck ausgesetzt. Eine Neuauflage des schwarz-blauen Rechtsblocks und seiner radikalen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse ist also durchaus im Bereich des Möglichen.

Es gibt keine tragfähige und politisch denkbare Koalition ohne ÖVP, es ist aber eine neue große Koalition mit einer deutlich nach rechts rückenden SPÖ denkbar. Das beschleunigt auch die Tendenzen innerhalb der ÖVP, die grüne Koalitionspartnerin anzugreifen.

Zusammengefasst ist die politische Ökonomie seit 2020 von den gleichzeitigen Auswirkungen der Gesundheitskrise, Klimakrise und der imperialistischen Zuspitzung geprägt. Daraus entstehen recht komplizierte Wechselwirkungen zwischen Produktion und Verwertung, die die kommende Rezession vertiefen werden.

Ausgangslage: Lockdowns und kapitalistische Reproduktion

Die grundlegende ökonomische Dynamik im Kapitalismus ist die Akkumulation von Kapital, die Marxist:innen in den „Reproduktionsschemata“ darstellen. Kapitalist:innen tauschen Kapital in Geldform (oft zumindest teilweise als Kredit) für Waren, besonders Produktionsmittel, Vorprodukte und Arbeitskraft. Wenn die im Produktionsprozess zusammenwirken, entstehen neue (andere) Waren. Werden diese verkauft, hält der/die Kapitalist:in am Ende wieder Kapital in Geldform in der Hand, im Idealfall mehr als am Anfang (die Verwertung des Kapitals). In einer nächsten Runde wird dieses Geld wieder in mehr Kapital investiert, dadurch vermehrt sich das gesellschaftliche Kapital ständig („Kapitalakkumulation“). Abgekürzt wird das als Geld – Ware – andere Waren – mehr Geld oder G – W – G‘ dargestellt.

Die Kapitalakkumulation ist der grundlegende Motor der kapitalistischen Entwicklung. Sie hat die Warenproduktion (W – W‘), die Kapitalverwertung (W‘ – G‘) und die Wieder-Investition (G‘ – W) als notwendige Bestandteile.

Im Produktionsprozess sinkt aber die Profitrate auf mittlere Sicht, weil bei beschleunigter Akkumulation immer mehr Kapital auf dieselbe Arbeitskraft kommt und damit weniger Mehrwert pro eingesetztem Kapitalstock entsteht. Eine Gegenstrategie (von mehreren) zur fallenden Profitrate ist die Beschleunigung des Kapitalumschlags (der Zeit zwischen G und G‘) durch reibungslose Logistik, globale Produktionsketten, aber auch kurzfristig verfügbaren Krediten.

Die Lockdowns ab 2020 haben diese beschleunigte Reproduktion immer wieder unterbrochen. Am offensichtlichsten war das anhand von geschlossenen Fabriken, aber auch großen chinesischen Häfen und Zusammenbrüchen in Containerschiffahrt oder LKW-Transporten. Die Zerstörung mehrerer russisch-europäischer Gaspipelines und die Einschränkung der Lieferungen durch die Pipelines in der Ukraine, aber auch die Sanktionen und Lieferembargos im Rahmen des Kriegs schlagen in dieselbe Kerbe.

Niedriginflation nach 2008, Hochinflation ab 2022

Nach der globalen Wirtschaftskrise ab 2008 folgte eine lange Zeit der Niedriginflation in den imperialistischen Zentren. Die von den Zentralbanken angestrebte Durchschnittsinflation von 2 % wurde nicht erreicht, das mit „unorthodoxer Geldpolitik“ günstig verborgte Geld kam nicht über die Banken hinaus. Statt in der Konsum- oder Investitionsnachfrage landeten die Zentralbank-Milliarden an den Börsen (wo es tatsächlich zu einer Preisexplosion von Finanzprodukten, also asset inflation kam). Die Niedriginflation war eine Krisenfolge und führte zu tatsächlichen Problemen in der Kapitalakkumulation. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass in den „Minwarenkörben“ der Arbeiter:innen sehr wohl Inflationsraten jenseits der 2 % erreicht wurden, einige neokoloniale Länder sogar in die Hyperinflation gingen.

Auf den Einbruch 2020 und den Kriegsbeginn 2022 folgte dafür eine Hochinflationsperiode. Die Preise hatten bereits ab 2021 deutlich an Fahrt aufgenommen. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und dem begleitenden Wirtschaftskrieg kam ein Preisschock auf den Energiemärkten dazu. Die liberalisierten Strom- und Gasbörsen auf dem Weltmarkt breiteten diesen Schock in alle Wirtschaftsbereiche aus.

Sowohl die Niedrig- als auch die Hochinflation zeigen systematische Probleme im Kapitalismus auf. Sie sind aber nicht für die Krise verantwortlich, sondern umgekehrt die Folge von erst niedrigen Profitraten und anschließend hoher Unsicherheit bei den erwarteten Profitraten. Die Antwort der Regierungen, besonders in den USA, ist eine Rezession einzuleiten, um die Konsumnachfrage zu schwächen. Die Inflation ist aber nicht durch „heißgelaufene“ Nachfrage ausgelöst worden und wird nicht im erhofften Ausmaß fallen. Trotzdem ist die Leitzinserhöhung ein wirkungsvoller Angriff, um die Krisenkosten auf unsere Schultern zu verteilen.

Neue Blockbildung und Positionierung der für den österreichischen Imperialismus zentralen Balkanstaaten

Nicht erst seit dem Krieg zeigt der weltweite Kapitalismus eine Tendenz zur Deglobalisierung. Das liegt einerseits an der neuen Blockbildung, grob zwischen den Polen USA/EU und China/Russland sowie den entstehenden Wirtschaftskriegen. Der zeitweise, wiederholte Zusammenbruch der internationalen Logistik, erst durch Ölpreisschwankungen Anfang 2020, dann durch Lockdowns, beschleunigte diese Tendenz. Die neue US-Administration führt hier im Großen und Ganzen die Trump-Politik einer weiteren Konfrontation mit China fort. Änderungen sind hier vor allem in Bezug auf 1) einen gemeinsamen Ansatz mit seinen traditionellen Verbündeten (EU, GB, Japan, Australien) aber auch neuen Verbündeten (Indien), 2) Zuspitzung auf zielgerichtetere Maßnahmen (Chips-Embargo statt Einfuhrzöllen). Im militärischen Bereich gibt es hingegen die größten Kontinuitäten (Quad, mögliche Verteidigung Taiwans gegen Angriff, etc.).

Die Blockbildung zieht sich aber auch durch Ost- und Zentraleuropa, für den österreichischen Imperialismus zentrale Regionen. Das österreichische Kapital konnte sich überhaupt erst durch den Zusammenbruch der stalinistischen Staaten und gezielte Investitionen des Bank- und Handelskapitals von Deutschland unabhängig machen. Bis heute ist Österreich am Balkan, in Zentraleuropa und in Russland über-exponiert. Das hat bereits 2011 zu massiven Verlusten österreichischer Banken geführt, als ein Rückzahlungseinbruch am Balkan mit der Rubelkrise zusammenfiel. Die teilweisen Versuche Russlands, serbische und ungarische Nationalist:innen auf ihre Seite zu ziehen, werden die Lage für das österreichische Kapital weiter anspannen und Angriffe auf die Arbeiter:innen zur Folge haben.

Bestandaufnahme: österreichische Wirtschaft 2022

2021 und 2022 hat das österreichische Kapital hohe Wachstumsraten erzielt. Das Bruttoinlandsprodukt ist um jeweils fast 5 % gestiegen. Der Arbeitsmarkt hat sich so weit erholt, dass es 2022 sogar zu einer Arbeitskräfteknappheit kam. Diese erstreckt sich von angelernten Niedriglohnberufen bis zu Facharbeiter*innen, ist also ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Das Wachstum war aber von Aufholeffekten getragen. 2021 produzierte die Industrie mehr als 2020, weil damals Fabriken und Transportwege teilweise geschlossen waren. 2022 waren es Tourismus und Hotellerie, die im Vergleich zu den Lockdownmonaten höhere Einnahmen hatten. Der Einbruch 2020 ist damit aber nicht ausgeglichen, wobei die staatlichen Hilfszahlungen hier viele Unternehmen vor der Insolvenz retten konnten. Das bedeutet aber auch, dass die Ursachen der Rezession, nämlich Überakkumulation und niedrige Profitraten, weiter auf den Ausbruch warten. Die Bruttoinvestitionen und der Privatkonsum sind 2022 bereits zurückgegangen.

Die österreichischen Banken sind gleichzeitig überexponiert, also hohem Risiko ausgesetzt, vor allem durch die Investitionen in Ost- und Zentraleuropa sowie Russland. Ein plötzlicher Einkommensverlust bei Facharbeiter:innen könnte außerdem die Kreditrückzahlung bei Hypotheken in Wanken bringen. Gleichzeitig scheinen die europäischen Regulierungsbemühungen nach 2008 bei den österreichischen Geschäftsbanken schon zu Veränderungen geführt zu haben. Die Eigenkapitalquote ist, bis auf Kleinstbanken wie im berüchtigten Mattersburg, relativ stabil. Das wird nicht ausreichen, wenn es eine gesamtwirtschaftliche Krisendynamik gibt (das zeigt auch die jetzt schon langsamere Kreditvergabe). Derzeit deutet aber nichts darauf hin, dass diese in Österreich vom Bankensektor ausgehen würde.

Eine globale Finanzkrise ist aber durchaus im Rahmen des Möglichen. 2022 gab es Liquiditätsprobleme und sogar Insolvenzen bei Energieunternehmen, die auf liberalisierten Strom- und Gasmärkten ähnlich wie Finanzinstitute agieren. Gleichzeitig kam es an den großen Aktienbörsen zu einem anhaltenden Kursverfall im ersten Halbjahr 2022, und die Kryptowährungs-Börsen erlebten Zusammenbrüche. Sowohl bei der Deutsche Bank, Credit Suisse als auch bei Blackrock wurden Finanzierungslücken öffentlich. So kann bei fallenden Finanzrenditen die Blase platzen und zu einem „Lehman Moment“ wie 2008 führen, also dem ersten großen Bank-Dominostein, der umfällt. Egal ob die Krise vom Finanzsektor ausgeht oder der Finanzsektor als Multiplikator darunter liegender Krisendynamiken funktioniert, wird mit der Rezession ab 2023 auch eine Finanzkrise einhergehen. Die Banken werden keinesfalls stabilisierend wirken können, sondern im Gegenteil die Geschwindigkeit der Krisenentwicklung weiter anheizen.

Türkis-Grüne Umverteilungsmaschine

Die türkis-grüne Regierung ist in allererster Linie instabil. Die beiden Parteien halten sich aneinander fest, für die ÖVP geht es um den Machterhalt nach dem Zusammenbruch von Schwarz-Blau, für die Grünen um die erstmalige Regierungsbeteiligung. Die politische Schnittmenge der Koalition ist gering.

Im Gegensatz zur rot-schwarzen großen Koalition sind aber bei türkis-grün die Arbeiter:inneninteressen nicht einmal mehr indirekt vertreten. Der Einfluss der Gewerkschaften im SPÖ-Parlamentsklub hat die Klasse zwar politisch gelähmt, aber sie waren nie bereit ihre grundlegenden Interessen aufzugeben. Worauf sich ÖVP und Grüne einigen können, ist eine breite Bereitstellung von Staatsmitteln an das Kapital, mit Detailfragen zu Klein- oder Großkonzernen und wie wichtig der Öko-Fokus bei den Förderungen sein soll. Außerdem wissen die Grünen, dass ihr nächstes Wahlergebnis davon abhängt, wie glaubwürdig sie ihre soziale Rhetorik formulieren.

Türkis-grün wird medial und von der Opposition vor allem als zurückhaltend und inkompetent dargestellt. Tatsächlich hat die Regierung aber als Umverteilungsmaschine von unten nach oben effektiv funktioniert. Das zeigt sich am Wachstum der Profite durch COFAG-Hilfen bei gleichzeitigen Reallohnverlusten, der Preistreiberei staatlicher Energiekonzerne (zugunsten der privaten Minderheits-Shareholder) und auch an den Vorschlägen für Verschärfungen im Arbeitslosenversicherungs- und Pensionsgesetz (auf die sich die Koalitionspartnerinnen aber nicht einigen konnten).

Für direkte Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse ist die Koalition derzeit aber zu schwach. Auch wenn die Bundes-SPÖ desorganisiert ist, haben die Gewerkschaften mit Warnstreiks und der Mobilisierung für Preissenkungen im Herbst klar gemacht, dass sie noch Kampfmittel haben. Daraus erklärt sich auch die Zurückhaltung bei Erzwingungsstreiks bei den Kollektivvertragsverhandlungen, eine Mobilisierungsniederlage hätte diese Drohung abgeschwächt.

Auch eine Neuauflage der großen Koalition ist denkbar, für die ÖVP und die hinter ihr stehenden Kapitalfraktionen aber weniger attraktiv als Schwarz-Blau und Schwarz-Grün. Diese Koalition würde den Rechtsruck der SPÖ weiter beschleunigen, die parteiinternen Konflikte beruhigen aber hinter der Fassade weiter zuspitzen. Eine SPÖ, die die Krisenausterität mitträgt, würde die Gewerkschaft nachhaltig schwächen, aber oppositionelle Kräfte in ihr stärken.

Die Instabilität der Koalition geht aber mit einem entschlossenen Kurs einher. Beide Parteien wollen dringend an der Macht bleiben, für die Grünen steht perspektivisch mal wieder die Existenz im Parlament, für die ÖVP das Umkrempeln der Partei nach Mitterlehner auf dem Spiel. Vor allem wollen sie ihre Kern-Kapitalfraktionen an sich binden, die sich wegen dem Tumult der letzten Jahre auch auf andere Kräfte (vor allem NEOS und FPÖ) orientieren könnten.

Wenn Nehammer und Kogler gemeinsam an der Macht bleiben, werden sie in die Offensive gehen müssen. Zerbrechen sie an dieser Herausforderung, droht eine neue Rechtsblock-Regierung.

Schwache Opposition

Die parlamentarische linke Opposition wird in Österreich vor allem von der Sozialdemokratie gestellt. Sie hatte bis in die 1990er-Jahre eine entscheidende Rolle im Aufbau und der Verwaltung des österreichischen Kapitals. Wegen der zentralen Rolle der verstaatlichten Industrie übernahm die Verwaltungsbürokratie die unterstützende Rolle, die andere Kapitalfraktionen für normale bürgerliche Parteien einnehmen. Damit hatte die SPÖ eine soziale Basis sowohl in der organisierten Arbeiter:innenklasse als auch im Management der Kernindustrien. Die ideologische Entsprechung war die Sozialpartner*innenschaft mit jährlichen Lohnverhandlungen und hoher kollektivvertraglicher Abdeckung als Abstimmungsmechanismus.

Die ökonomische Grundlage der Sozialpartner:innenschaft war die historische Schwäche des österreichischen Kapitals nach dem zweiten Weltkrieg. Sie war kein Zugeständnis an eine besonders kämpferischen Arbeiter:innenklasse, sondern ein Einbinden in die nationale Akkumulationsstrategie. Nachdem die ganz gut funktionierte und das österreichische Kapital ab 1990 sogar eigenständig imperialistische Bestrebungen durchführen konnte fiel die ökonomische Basis der Sozialpartner:innenschaft weg. Der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten in Ost- und Zentraleuropa schuf einen Nährboden für einen eigenständigen österreichischen Zusammenbruch, gleichzeitig fiel die „Systemalternative“ weg, die viele Zugeständnisse motiviert hatte. Firmen haben, bis auf Ausnahme- und Krisensituationen, kein Interesse mehr an Sozialpartner:innenschaft, die entsprechenden Rechtsformen und die Ideologie existieren aber weiterhin.

Die Sozialdemokratie orientiert sich also weitgehend an einem Gesellschaftsentwurf, den es nicht mehr gibt. Ihre Strategie in der Regierung und in der Opposition ist die Befriedung von Klassenkämpfen bei gleichzeitiger Verlangsamung von Verschlechterungen für die eigene soziale Basis. Ihre programmatische Stoßrichtung ist aber leer und die Partei kommt auch deshalb nicht aus ihrer Krise heraus. Angesichts einer rechten Wähler:innenmehrheit bedeutet das einen massiven Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten.

Die parlamentarische Opposition hat das dadurch entstehende Vakuum nicht füllen können. Die KPÖ ist, bis auf die Steiermark, zu schwach, um ihr eigenes linksreformistisches Programm verwirklichen zu können. Noch weniger ist sie in der Lage, eigene Kämpfe gegen die Regierung zu führen oder effektiv auf die parlamentarische Ebene zu tragen.

Die Grünen als bürgerliche Partei konnten nach dem Aufflammen der Klimaproteste im ersten Halbjahr 2019 bei den Wahlen im Herbst 2019 deutlich profitieren – vor allem auf Kosten der SPÖ. Doch mit dem Regierungseintritt Anfang 2020 verlor einerseits die breite Klimabewegung an Fahrt (vielmehr ging der Fokus nach einer Pandemie-Pause auf radikalere, aber kleinere Aktionsformen über), andererseits enttäuschten die Grünen in der Regierung mit ihrer zaghaften Klimapolitik.

Aber auch die außerparlamentarische Opposition ist gleichzeitig schwächer geworden, statt den Bedeutungsverlust des Reformismus für sich zu nutzen. Wir haben es nicht geschafft, einen Fuß in die Tür zu den Gemeindebauten und Arbeiter*innenbezirken zu bekommen, als sie langsam hinter der SPÖ zugegangen ist. Zu keinem Zeitpunkt wurde außerparlamentarischen Gruppen das Vertrauen entgegengebracht, dass die SPÖ zu ihren Hochzeiten genoss, nämlich die Anliegen der Arbeiter:innen und Erwerbslosen effektiv zu vertreten.

Aber auch die klassische Rolle der außerparlamentarischen Linken, gegen die richtigen Dinge zu protestieren und scharfe Kritik zu äußern, hat sie in der Bevölkerung verloren. Gegen den Aufstieg der FPÖ, gegen Rassismus und auch gegen die eskalierende Klimakrise hatten wir noch Antworten mit Massenwirkung gefunden, auch wenn sie nicht mehrheitsfähig waren. Wir haben es aber nicht geschafft, auf Pandemiepolitik und Krieg Antworten zu finden, die breiter in der Arbeiter:innenklasse oder den fortschrittlichsten Schichten verankert wären. Die Mobilisierungsfähigkeit der radikalen Linken und der linken „Zivilgesellschaft“ ist 2022 massiv gesunken. Das ist ein ordentliches Problem, wenn wir uns auf ein Jahr der Abwehrkämpfe vorbereiten.

Perspektiven

Die Weltwirtschaft wird 2023 in eine Rezession übergehen, bei weiterhin hoher Inflation in den imperialistischen Zentren. Die ist durch die Unsicherheit in der Kapitalakkumulation getrieben, die wiederum auf den Krieg, die Pandemie, und Auswirkungen der Klimakrise zurückgeht. Das wird Österreich besonders betreffen, weil die Abhängigkeit von Energie aus Russland, und der wirtschaftlichen Entwicklung Osteuropas besonders groß ist. Das österreichische Bankensystem ist in Gebieten überexponiert, die von der neuen Blockbildung betroffen sind, wirkt aber stabil genug um nicht der Auslöser einer tiefen Krisendynamik zu sein.

Die Regierungskoalition ist instabil, sie muss sich gleichzeitig um das Vertrauen von entscheidenden Kapitalfraktionen und ein Mindestmaß an Zustimmung aus der Bevölkerung bemühen. In dieser Konstellation rechnen wir nicht mit breiten Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse, aber großzügigen Mitteln für das Kapital und Umverteilung von Unten nach Oben. Einzelne scharfe Verschlechterungen, beispielsweise bei Erwerbslosen und rassistische Angriffe sind aber zu erwarten. Außerdem wird 2023 bestimmt ein Sparpaket vorbereitet und eventuell schon stückchenweise umgesetzt werden.

Die rechte Opposition um FPÖ und NEOS wird weiter stärker werden, sie bündelt auch effektiv die Unzufriedenheit in verschiedenen Teilen der Bevölkerung.  Ein Koalitionsbruch mit kurzem „freiem Spiel der Kräfte“ und anschließender Rechtsblock-Regierung ist eine reale Gefahr.

In dieser Situation werden sich auch die Konflikte innerhalb der SPÖ zuspitzen, die im Niedergang der Sozialpartner:innenschaft keine strategische Orientierung mehr hat. Durch den rassistischen Rechtsruck der Parteiführung sind Konflikte mit den Jugendorganisationen wahrscheinlich. Aber auch in den Gewerkschaften kann ein Streit über die Ausrichtung der eigenen Arbeit und die fehlende Kampfbereitschaft der Führung entstehen.

Kommunist:innen und Revolutionär:innen starten also mit großen Aufgaben und wenigen Ressourcen ins Jahr 2023. Um überhaupt außerparlamentarisch wirkmächtig zu werden, müssen sie eine stringente Analyse der Periode weiterentwickeln und klare Antworten auf die Fragen von Inflation und Krieg geben. Wir müssen außerdem klären und erklären, welches Feindbild in dieser Situation angegriffen werden kann – die Umverteilungsregierung, die Überprofit-Konzerne und die rechten Hetzer:innen.

In den kommenden Auseinandersetzungen, wie schon bei den rotesten um die Kollektivvertragsverhandlungen 2022, können wir den Kontakt zu organisierten Arbeiter:innen aufbauen und Zusammenarbeit mit gewerkschaftlichen Strukturen suchen. Auch die sich radikalisierende Klimabewegung und antirassistische Mobilisierungen sind Felder, wo gemeinsamer Protest und kritische Diskussionen notwendig sind.

Die immer tieferen, immer komplexeren Krisen des Kapitalismus zeigen auf, dass es eine Alternative zum bestehenden System braucht. Das bedeutet nicht nur, eine Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen, sondern auch Organisationsformen und eine Partei aufzubauen, die die Unterdrückten vereint und mit der sie erfolgreich siegen können. In Österreich bedeutet das, den Kräften links der reformistischen Organisationen ein revolutionäres Programm vorzulegen, und sie in der gemeinsamen Aktion von einer revolutionären Methode zu überzeugen.

Endnoten

[1] WIFO Presseaussendung am 7. Oktober 2022. „Stagflation in Österreich. Prognose für 2022 und 2023.“

[2] Stagflation ist ein Begriff aus der Volkswirtschaftslehre. Bürgerliche Ökonom*innen gehen davon aus, dass Inflationsraten gedämpft werden wenn die Wirtschaft schrumpft, weil die sinkende Nachfrage auch die Preise dämpft. In den Ölpreiskrisen der 1970er-Jahre hat dieses „Patentrezept“ (das auf Kosten von Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau geht) versagt, weil die Inflation weder von Konsum- und auch nicht von Investitionsnachfrage getrieben wurde. Von damals stammt auch das Wort Stagflation.

[3] IHS Presseinfo am 6. Oktober 2022. „IHS-Direktor Klaus Neusser zur Herbstprognose der österreichischen Wirtschaft 2022–2023: „Wir kommen mit ein paar Schrammen gut durch den Winter.“

[4] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/eu-kommission-herbstprognose-bip-inflation-101.html




Britannien: Bilanz des Aktionstages vom 1. Februar

KD Tait, Infomail 1213, 8. Februar 2023

Am 1. Februar streikten Hunderttausende Lehrkräfte, Dozent:innen, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und Lokführer:innen im Rahmen des größten koordinierten Aktionstages seit vielen Jahren.

Allein in London zogen 50.000 Streikende durch die Straßen bei der größten Demonstration an einem Werktag seit dem Protest gegen den Besuch von Donald Trump im Jahr 2018. Weitere Zehntausende demonstrierten im ganzen Land.

Die Gewerkschaften fordern Lohnerhöhungen, um der Krise bei den Lebenshaltungskosten zu begegnen. Inflationsraten von mehr als 11 % und ein Jahrzehnt des Einfrierens der Löhne und Gehälter bedeuten, dass ihr realer Wert für Millionen von Beschäftigten des öffentlichen Sektors niedriger ist als im Jahr 2010.

Mehr als Löhne

Aber bei diesen Streiks geht es um viel mehr als nur um die Löhne. Jede/r kann sehen, dass ein Jahrzehnt der Sparmaßnahmen, der Privatisierung und des wirtschaftlichen Rückschlags durch den Brexit die öffentlichen Dienste an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Für die regierenden Konservativen ist dies ein Schritt in Richtung Abschaffung der universellen, kostenlosen öffentlichen Dienstleistungen vor Ort. Für die Streikenden geht es bei dieser Aktion um den Schutz von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen. Sie kämpfen für vollständig finanzierte öffentliche Dienstleistungen, auf die wir alle angewiesen sind.

Die Privatisierung des Gesundheits- und Bildungswesens, die Verarmung und Bestrafung der Arbeitslosen, der katastrophale Zustand unseres öffentlichen Nahverkehrs, der Anachronismus von Arbeitsbedingungen, die so schlecht sind, dass Zehntausende von teuer ausgebildeten, neu qualifizierten Lehrer:innen und Krankenpfleger:innen innerhalb der ersten zwei Jahre kündigen – all das sind Gründe genug für einen Streik.

Aber das ist noch nicht alles. Die Regierung nutzt die Streiks, um noch drakonischere Antistreikgesetze zu verabschieden, die das Streikrecht im Gesundheits-, Verkehrs- und Bildungswesen sowie bei den Notdiensten faktisch abschaffen werden.

Es geht nicht nur um die Beschäftigten des öffentlichen Sektors. Die Löhne und Gehälter in der Privatwirtschaft bleiben weit hinter der Inflation zurück, aber die Lohnerhöhungen sind immer noch doppelt so hoch wie im öffentlichen Bereich. Die Regierung will die Löhne  dort  niedrig halten, um einen Maßstab für die Lohnsumme insgesamt zu setzen.

Es steht für alle viel auf dem Spiel: Löhne, Renten, Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie das Streikrecht sind in Gefahr. Die Aktion am 1. Februar war beeindruckend. Um sie zu organisieren, waren nachhaltige Organisationsbemühungen in den Gewerkschaften erforderlich, die Zehntausende neuer Mitglieder und Hunderte von Vertreter:innen und Aktivist:innen rekrutiert haben. Die Demonstrationen spiegelten eine jüngere, vielfältigere Mitgliedschaft wider, die sich der politischen Implikationen und des Einsatzes bewusst ist.

Aber die zentrale Frage: „Wie geht es weiter?“ bedeutet, dass man sich fragen muss, ob die Strategie der Gewerkschaftsführer:innen funktioniert.

Rolle der Bürokratie

Erstens wurden die Streikenden am 1. Februar von der Gewerkschaft des Pflegepersonals (RCN) im Stich gelassen, deren Vorsitzende Pat Cullen darauf bestand, dass sie keine gemeinsamen Aktionen unterstützen würde, weil sie nur Pflegekräfte vertrete. Hinter diesem „Mandat“ verbirgt sich engstirniger Sektionalismus, der die Interessen einer Gruppe von Beschäftigten über kollektive Bemühungen stellt und damit alle schwächt.

Schlimmer noch: Geplante Verhandlungen mit den „Arbeitgeber:innen“ wurden von den Gewerkschaften im Kommunikations- (CWU) und Verkehrswesen (RMT), deren Führer Dave Ward und Mick Lynch die profiliertesten Befürworter einer koordinierten Aktion waren, als Vorwand benutzt, um sich von der Aktion fernzuhalten (mit Ausnahme einer kleinen Zahl von Lokführer:innen). In keiner der beiden Auseinandersetzungen hat die Seite der Bosse ein Angebot vorgelegt, das diese Entscheidung auch nur annähernd rechtfertigt. Sie schwächten damit ihren Arbeitskampf ebenso wie die Position aller anderen.

Die Regierungspartei der Tories spielt „Teile und herrsche“, und die Weigerung des Gewerkschaftsdachverbandes und der Führer:innen der wichtigsten Gewerkschaften, eine geschlossene Koalition zu bilden, die die Macht der Stärkeren nutzt, um die Forderungen der Schwächeren durchzusetzen, hilft ihnen dabei. Für diese Gewerkschaftsführung ist das Motto unserer Bewegung – „Einigkeit macht stark“ – nur ein leerer Slogan, gut für Reden und Transparente, aber aus dem Verhandlungssaal verbannt.

Zweitens, und verbunden mit dem vorrangigen Wunsch der Gewerkschaftsspitze, die Kontrolle über ihre eigenen Auseinandersetzungen zu behalten und zu vermeiden, dass sie sich zu einer politischen Offensive ausweiten, die ihre eigenen Forderungen durchsetzt, ist die Strategie eine von gelegentlichen ein- oder zweitägigen Streiks, gefolgt von langen Verhandlungsperioden, deren Ziele und Verlauf die Mitglieder, die Lohneinbußen hinnehmen müssen, weder mitbestimmen noch kennen.

Der Beweis ist eindeutig: Gegen eine Regierung, die entschlossen ist, die Profite der Bosse zu stützen und das Vermögen der Reichen zu verteidigen, indem sie die Löhne niedrig hält, reichen eintägige Streiks nicht aus, um zu gewinnen. Bestenfalls werden sie bescheidene Zugeständnisse für einige wie Pflegekräfte und Bahnbeschäftigte bringen, die Bewegung spalten und andere Teile isoliert zurücklassen, die sich mit weniger zufrieden geben müssen.

Die Universitäts- und Hochschulgewerkschaft UCU hat für Februar und März 18 Streiktage angekündigt, während die Bildungsgewerkschaft NEU zu regionalen Streiks übergeht. Eine Eskalation, die so schnell wie möglich vonstattengeht, ist die einzige Alternative zu einer langwierigen Kampagne, die die Initiative und die Macht der Regierung überlässt, die  einfach länger abwarten kann.

Strategiewechsel ist nötig

Drittens: Streiks sind zwar die wirksamste Waffe der organisierten Arbeiter:innen, um für ihre Interessen zu kämpfen, aber die allgemeine soziale Krise, die den Lebensstandard drückt, erfordert die Mobilisierung der gesamten Arbeiter:innenklasse und nicht nur bestimmter Gewerkschaften. In jeder Gemeinde brauchen wir eine soziale und politische Kraft, die sich für Maßnahmen gegen Energierechnungen, Mieten und die ungezügelte Profitmacherei der großen Banken und Energieunternehmen einsetzt. Lasst uns Aktivist:innen aus Mieter:innenkampagnen, Umweltgruppen, Schwarzen- und Frauenorganisationen mit Gewerkschafter:innen zusammenbringen, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.

In den Gewerkschaften müssen die Aktivist:innen der Basis, die die Notwendigkeit eines Strategiewechsels erkannt haben, auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zusammenkommen, um einen Aktionsplan auszuarbeiten, mit dem sie die Kontrolle über die Streiks und Verhandlungen übernehmen können.

Der nächste Aktionstag ist erst am 15. März, dem Tag der Verabschiedung des Haushalts, vorgesehen – also in sechs Wochen. Diese Wochen werden einen entscheidenden Wendepunkt im Kampf darstellen. Was wir brauchen, ist ein gezieltes Eingreifen in die Bewegung, um die Organisation und Kontrolle der Basis und die Einheit der sozialen Kampagnen wie People’s Assembly (Volksversammlung) und Enough is Enough (Genug ist Genug) aufzubauen. Für diese Strategie, die Organisation von Aktivist:innen hinter einem Aktionsprogramm, um unsere Bewegung kampffähig zu machen, kämpfen die Mitglieder von Workers Power. Wenn ihr einverstanden seid, schließt euch uns an!




Streiks in Britannien: Wie können wir gewinnen?

Workers Power Britannien, Infomail 1213, 7. Februar 2023

Die derzeitige Streikwelle ist der größte und am weitesten verbreitete Widerstand gegen das Kapital seit den 1980er Jahren, mit bis zu 3 Millionen Streiktagen zwischen Juni 2022 und Anfang dieses Monats.

Die Bahn, die Post, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Hochschulen und der öffentliche Dienst haben Streiks durchgeführt oder angekündigt. Lokale Streiks, wie bei Abellio-Bussen in London, haben zu dem allgemeinen Gefühl beigetragen, dass sich eine Klasse wehrt.

Die Feuerwehrleute haben gerade ihre Urabstimmung mit 88 % Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 73 % gewonnen und werden sich sicherlich dem Kampf anschließen, ebenso wie die Ärzt:innen in der Ausbildung, die derzeit ihre Stimme abgeben. Der gemeinsame Streik vom 1. Februar, der von jungen Lehrer:innen vor Ort angeführt wurde, war die erste koordinierte Aktion mit einer halben Million Streikenden und die größte Arbeitsniederlegung seit 12 Jahren.

Es steht viel auf dem Spiel. Wenn wir verlieren, wenn die Gewerkschaftsführer:innen sich mit der Art von Vereinbarung zufrieden geben, die angeboten wird, nämlich 4,5 % in diesem Jahr und 4,5 % für 2023-24, wie sie beim Schienenverkehr angepriesen wird, dann würde die Arbeiter:innenklasse eine große Niederlage erleiden, einen Rückgang des Realeinkommens um 12-15 %. Vor diesem Hintergrund wäre es schwer vorstellbar, dass die Gewerkschaften mobilisieren, um das neue Antistreikgesetz zu verhindern.

Wenn wir andererseits inflationsgleiche Lohnerhöhungen oder mehr durchsetzen, dann stellt sich die Frage, ob wir diese Errungenschaften dauerhaft machen können.

Das macht die aktuelle Situation zu einem potenziellen Wendepunkt für den Klassenkampf in Großbritannien. Und nicht nur hier, denn Arbeiter:innen in ganz Europa und Nordamerika beobachten Großbritannien als Land, in dem die weltweite Offensive der Bosse gebrochen werden könnte.

Streikwelle

Die vorherrschende Gewerkschaftsstrategie besteht in ein- oder zweitägigen Streiks, die manchmal kurz hintereinander stattfinden, gefolgt von langen Perioden, in denen geheime Verhandlungen geführt werden.

Das funktioniert nicht. Das einzige, was hilft, ist die Entschlossenheit, auf der vollen Forderung zu bestehen und daraus die Schlussfolgerungen zu ziehen – und das muss von den Gewerkschaftsführungen eingefordert werden, auch von den Linken wie Mick Lynch (RMT, Schienen-, Wasser- Straßentransport) und Pat Cullen (RCN, Pflegepersonal). Wenn isolierte, nicht eskalierende Warnstreiks Erfolg versprächen, hätten sie das schon längst getan.

Die Gefahr besteht darin, dass die Belegschaft durch die Strategie „Wir machen das so lange, wie es nötig ist“ schneller zermürbt wird als die Regierung oder die „Arbeitgeber:innen“ des privaten Sektors. Es droht dann, eine „Wir nehmen alles an, was uns angeboten wird“- Haltung stärker wird oder die Zahl der Nichtstreikenden wächst.

Jetzt gibt es jedoch immer noch eine starke Begeisterung für die Streiks, sowohl unter der Basis als auch in den Unterstützungsgruppen, die in etwa der Hälfte der Londoner Stadtbezirke und über „Enough is Enough“ („Genug ist Genug“) im Süden Manchesters entstanden sind.

Auf nationaler Ebene sind „Enough is Enough“ und People’s Assembly (Volksversammlung) gescheitert, weil die Gewerkschaftsbürokrat:innen (oder ihre politischen Wasser:innen im Falle der People’s Assembly) die Entwicklung eines Klassenkampfes im realen und nicht nur rhetorischen Sinne des Wortes fürchten. Sie wollen die Hände frei haben, um sich bei der ersten Gelegenheit zu einigen. Eine breite, organisierte Militanz in der Arbeiter:innenbewegung könnte sie nämlich zwingen, weiter zu kämpfen und weiterzugehen, als sie wollen.

Die Basis

Der Schlüssel zur aktuellen Streikwelle liegt in der Organisierung der Basis, und zwar sowohl innerhalb der Gewerkschaften als auch – was ebenso wichtig ist – gewerkschaftsübergreifend. Mit „Basis“ meinen wir die Aktivist:innen am Arbeitsplatz, die sich an den Streiks und Urabstimmungen beteiligt oder sie unterstützt haben. Die war deutlich sichtbar bei den Schulkontingenten der NEU (Nationale Gewerkschaft Bildungswesen) am 1. Februar. Andere Gewerkschaften sollten es ihnen gleichtun und in den Betrieben den alten Slogan „Educate, Agitate, Organise (Aufklären, Agitieren, Organisieren)“ befolgen.

Die Aktivist:innen müssen auf lokaler Ebene über bestehende Solidaritätsnetze oder durch den Aufbau eines solchen Netzes sowie auf nationaler Ebene miteinander in Kontakt gebracht werden, damit sie ihre Führung kontrollieren und zur Rechenschaft ziehen können.

Es geht aber nicht nur darum, Erfahrungen auszutauschen, moralische und sogar finanzielle Unterstützung zu gewähren und Streikposten nicht zu übertreten, sondern auch Aktionen zu organisieren. Es gibt z. B. hunderte Vorfälle, von Maßregelungen örtlicher Militanter. Wir brauchen sofortige Streiks, wilde oder inoffizielle, wenn es sein muss, um zu verhindern, dass die Bosse führende Aktivist:innen herausgreifen und unter Druck setzen.

Es sollte nicht unterschätzt werden, wie die Streikwelle – bei der Stimmabgabe, der Organisation von Streikposten und Demos, beim Streik und bei der Teilnahme an Streikposten – beiträgt, neue Gewerkschaftsaktivist:innen zu gewinnen und bestehende zu verändern und politisch weiterzuentwickeln. Das Bewusstsein der Gewerkschaften ist jetzt auf einem Höhepunkt, und das muss zu dauerhaften Ergebnissen führen. Generalsekretär Kevin Courtney berichtet, dass die Bildungsgewerkschaft NEU (National Education Union) in den zwei Wochen seit Ankündigung der Streiks 40.000 neue Mitglieder rekrutiert hat.

Generalstreik

Die NEU hat für den 15. März zum nächsten landesweiten Streik aufgerufen. Mark Serwotka (Vorsitzender der PCS; Gewerkschaft Öffentlicher Dienst und Handel) hat den Aufruf unterstützt und andere Gewerkschaften dazu aufgerufen, sich anzuschließen. Um den Schwung zu steigern, muss der Streik größer geraten als am 1. Februar, eine Million oder mehr.

Die Basis der Gewerkschaften, Solidaritätsgruppen und Sozialist:innen müssen sich auf dieses Datum vorbereiten, indem sie von ihrer Führung verlangen, dem Aufruf Folge zu leisten, und indem sie inoffizielle Aktionen organisieren, falls sie dies nicht tun. Das bedeutet die Bildung von Aktionsräten mit Delegierten aus lokalen Betrieben, Gewerkschaftszweigen und anderen Organisationen der Arbeiter:innenklasse, um für den Tag zu mobilisieren und zu planen.

Die objektive Situation, einschließlich, aber nicht ausschließlich, des neuen Antistreikgesetzes, wirft sicherlich die Frage nach einem Generalstreik auf. Einige Linke haben zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen, und insofern dies den Willen zur Einheit widerspiegelt, ist dies verständlich. In der Tat sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den 15. März zu einem solchen zu machen. Dann käme es darauf an, was am Tag danach passiert. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass die Kundgebungen einen Aufruf zu unbefristeten Massenstreiks beinhalten, so dass die Gewerkschaftsführer:innen ihn nicht ignorieren können.

Es ist klar, dass der Sieg über die Bosse und ihre Regierung nicht durch einen eintägigen Proteststreik errungen werden kann, egal wie groß er auch ausfallen mag.  Was wir mehr als alles andere brauchen, ist, die Gewerkschaften dazu zu zwingen, zu stark eskalierenden Maßnahmen bis hin zu einem Generalstreik aufzurufen.




Ver.di: Vor einem Streikjahr?

Helga Müller, Neue Internationale 271, Februar 2023

In diesem Jahr stehen mindestens 5 größere Tarifrunden in Deutschland an! In diesem Frühjahr allein 3 wichtige Tarifrunden: bei der Post, im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen und im Nahverkehr Bayern. Es folgen die bei der Bahn und im Herbst im öffentlichen Dienst der Länder.

Und die Gehaltsforderungen lauten: bei der Post: 15 %, im öffentlichen Dienst und beim Nahverkehr Bayern 10,5 % und mindestens 500 Euro Festgeld. Letzterer hat bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen. Sie verkörpern allesamt einen realen Ausgleich gegen die galoppierenden Inflation. Voraussetzung dafür wäre natürlich ihre volle Durchsetzung.  Dies ist nur möglich, wenn sich die Verantwortlichen von ver.di schnell dazu entscheiden, eine Urabstimmung für Erzwingungsstreiks durchzuführen.

Kampfstärke und Erfolgsaussichten

1. Alle Forderungen sind von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt worden. Bei der Post z. B. hatten sich die gewerkschaftlich organisierten Kolleg:innen bei einer Mitgliederbefragung für eine deutlich höhere Entgeltforderung als die von der Tarifkommission (TK) vorgeschlagenen 10 % ausgesprochen und 90 % derjenigen, die sich an der Befragung beteiligten, waren auch bereit, dafür Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen. Daraufhin hatte sich die TK zu der Tarifforderung von 15 % durchgerungen und eine Erhöhung für die Azubis von 200 Euro beschlossen. Auch bei ver.di gab es deutlich höhere Forderungen aus den Reihen der Kolleg:innen – bis zu 19 % –, die sie auch gegenüber der TK vehement vertreten hatten. Gerade die Festgeldforderung von 500 Euro würde für viele von ihnen, die sich in den unteren Entgeltgruppen befinden und besonders hart unter der Preissteigerung leiden müssen, eine Erhöhung von bis zu 21 % bedeuten.

2. In vielen Bereichen existiert auch eine hohe Bereitschaft, dafür in den Streik zu gehen. Bei der Post sind die Voraussetzungen besonders günstig, der Organisationsgrad hier ist traditionell sehr hoch. Dieser liegt bei 70 % bundesweit – wobei es hier auch starke regionale Unterschiede gibt. Vor allem bei Dienststellen mit vielen Teilzeit- oder befristeten Beschäftigten liegt der Organisationsgrad unter 50 %. Alles in allem jedoch gute Voraussetzungen, um einen Durchsetzungsstreik auszuhalten. Auch die bisherigen Warnstreiks werden von den Kolleg:innen sehr gut befolgt. Sie werden trotz anstrengender Arbeit schlecht bezahlt, verdienen im Bundesdurchschnitt 1.000 Euro weniger als andere Beschäftigte im Monat und mussten dazu noch einen Reallohnverlust von 7 % im Jahr 2022 erleiden. Die Arbeitsbedingungen werden von Jahr zu Jahr schlechter z. B. über ständig wechselnde und größere Zustellungsgebiete, sodass viele sich eine andere Arbeit suchen. Allein 2021 haben 10.000 Beschäftigte den Konzern verlassen. Gleichzeitig hat er 8,4 Milliarden Euro Gewinn eingefahren – das beste Ergebnis aller Zeiten! Dies alles wird die Kampfmoral zusätzlich steigern.

Auch wenn der öffentliche Dienst insgesamt nicht so gut organisiert ist, gibt es dort durchaus Bereiche wie Müllabfuhr, Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen und auch Belegschaften in einigen Krankenhäusern, die schon über viel Kampferfahrung verfügen. Zudem haben die dortigen Bewegungen in NRW und Berlin gezeigt, dass, wenn ein systematischer Mitgliederaufbau betrieben wird und die Kolleg:innen selbst über ihre Forderungen und die Vorgehensweise diskutieren und mitentscheiden können, auch wochenlange Durchsetzungsstreiks in diesen Bereichen möglich sind. Wie groß wäre erst wohl die Kampfstärke, wenn sie die komplette demokratische Kontrolle über den Kampf ausübten?

Im Nahverkehr sind die Kampferfahrungen hoch und selbst gut organisierte kurze Warnstreiks können sehr schnell den öffentlichen Nahverkehr lahmlegen, was den Druck auf die Kommunen erhöht. Hierbei muss gesagt werden, dass bundesweit betrachtet der Nahverkehr ein zerzauster Tarifflickenteppich ist. Während in Bayern dieses Jahr in der Runde des öffentlichen Dienstes mitverhandelt wird (aber auch hier nur bei den Betrieben, die in kommunaler Hand sind), sind andere erst nächstes Jahr dran. Zudem gibt es einige Betriebe mit Haustarifverträgen, z. B. die Berliner Verkehrsbetriebe oder die Hamburger Hochbahn. Das schwächt natürlich die Kampfkraft.

3. Zum anderen sind die Bedingungen auch deswegen günstig, da drei große Tarifrunden fast zeitgleich stattfinden: Die TK bei der Post verhandelt insgesamt für ca. 200.000 Beschäftigte (155.000 bei der Deutschen Post und 37.000 bei DHL), im öffentlichen Dienst für ca. 2,3 Mio. bei Bund und Kommunen und beim Nahverkehr Bayern für mehrere Tausend. Das sind über 2,5 Millionen Beschäftigte insgesamt!  Wenn diese in einer großen Tarifbewegung mit gemeinsamen Durchsetzungsstreiks und öffentlichkeitswirksamen Aktionen von den ver.di-Verantwortlichen zusammengeführt würden, wäre dies eine Kraft, die den Regierungen das Zittern beibrächte – ähnlich wie 1992 beim großen Streik im öffentlichen Dienst, bei dem auf dem Höhepunkt  sich zeitweilig mehr als 330.000 Arbeiter:innen und Angestellte im Ausstand befanden. Das wäre auch die Kraft, die eine Abwälzung der Krise auf die breiten Massen der Lohnabhängigen und Arbeitslosen, Rentner:innen, Jugendlichen und Migrant:innen verhindern könnte.

Die Kolleg:innen im Nahverkehr Bayern haben sehr bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen und sich für gemeinsame Aktionen und Arbeitskampfmaßnahmen ausgesprochen. Zu Anfang war das wohl auch der Wille der TK bei der Post. Mittlerweile haben aber die Mitglieder dort bereits die zweite Verhandlung hinter sich, in denen sich die Vertreter:innen der Post stur stellen und die Forderung nach wie vor ablehnen und für überzogen halten. Die 3. und vorerst letzte Tarifverhandlung findet dort am 8./9. Februar statt, im öffentlichen Dienst die erste Verhandlung erst am 24. Januar. Ob es nach einem letzten schlechten Angebot von Arbeit„geber“:innenseite dann tatsächlich zu einer anschließenden Mitgliederbefragung und Urabstimmung über einen unbefristeten Streik kommt, wissen bisher nur die Götter! Insofern stehen die Postkolleg:innen im Moment alleine da und entsprechend provokativ verhalten sich auch die Konzernverhandlungsführer:innen

4. Zum Vierten haben sich verschiedene Initiativen, darunter die Kampagne „Genug ist Genug“ (GiG) und die Berliner Krankenhausbewegung dazu entschieden, Solidaritätsaktionen bis hin zu einer Großdemo in Berlin am 25. März zu organisieren. Auch auf der Videokonferenz  von GiG zur Information über darüber mit den Postkolleg:innen am 12. Januar gab es verschiedene Ideen zur Unterstützung ihrer Tarifrunde. Alle dort Postler:innen betonten die Notwendigkeit der öffentlichen Unterstützung. Sei es einfach, dass man zu Kundgebungen und Streiks kommt und seine Solidarität bekundet oder einfach ein paar unterstützende Worte vorträgt bis dahin, ihre berechtigten Anliegen in der Öffentlichkeit klarzumachen. Denn bei den Verhandlungen versuchen die Vertreter:innen des Unternehmens, die Forderungen für vollkommen überzogen und realitätsfern hinzustellen. Um sich diesen Verunglimpfungen in den Weg zu stellen und damit auch die aktive Solidarität der Leute in den Stadtvierteln zu gewinnen, ist die Unterstützung von außen sehr wichtig, z. B. mit Flyern, in denen die Forderungen begründet werden und darauf hingewiesen wird, unter welch miserablen Bedingungen sie arbeiten müssen. Am 3./4. März will GiG eine bundesweite Aktionskonferenz in Halle (Saale) organisieren, auf der mögliche Unterstützungsaktionen für die Kolleg:innen in den anderen Tarifrunden besprochen werden.

Schulterschluss mit fortschrittlichen Bewegungen

Im Bereich Nahverkehr – der großteils erst 2024 in Verhandlungen einsteigt – gibt es aus früheren Tarifrunden noch zahlreiche Verbindungen zur Klimabewegung und auch in dieser wird es zu gemeinsamen Aktionen mit ihr kommen! Hier gibt es auch ein ganz klares gemeinsames Interesse: Ausbau des öffentlichen Nah- statt Individualverkehrs und Aufbau des entsprechenden Personals – eine der Forderungen der dort tätigen Beschäftigten. Dies durchzusetzen, geht nur gemeinsam mit Aktivist:innen aus der Klimabewegung und Kolleg:innen anderer Bereiche.

Tarifrunde und Internationaler Frauenkampftag

Last but not least fällt der Tarifkampf – zumindest im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr und evtl. auch bei  der Post, falls es nicht vorher zum Abschluss kommen sollte – auf den Internationalen Frauenkampftag am 8. März. Wie im letzten Jahr sollen Aktionen und Demonstrationen an diesem Tag zusammen mit den Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst und Nahverkehr gemeinsam durchgeführt werden. Doch bisher lehnt der ver.di-Bundesvorstand es ab, an diesem Tag zu Warnstreiks aufzurufen. Nichtsdestotrotz gibt es im Landesbezirk Baden-Württemberg eine Initiative, an diesem Tag ausgewählte Mitglieder zu Arbeitsstreiks aufzurufen, einer Art Vorstufe zu Warnstreiks. Bei der Krankenhausbewegung spielte das in Berlin und NRW eine Rolle zur Sammlung einiger Hundert führender Aktien in Vorbereitung auf einen größeren Arbeitskampf. Gegen diesen Beschluss sollten nichtsdestotrotz alle ver.di-Gliederungen Protestresolutionen verabschieden.

Kampfesführung

Das A und O dafür, dass die Kämpfe erfolgreich geführt, also alle Forderungen erfüllt werden können, bleibt, dass die Kolleg:innen sich dafür einsetzen, auf breiten Streikversammlungen über den Verhandlungsstand informiert zu werden, diskutieren und entscheiden zu können, wie ihr Kampf weitergeführt wird. Diese Entscheidungen müssen sowohl für die TK als auch den Bundesvorstand, der letztlich über die Streiks entscheidet, bindend sein! Um diese Diskussionen organisiert führen zu können, sind gewählte Streikkomitees notwendig, die gegenüber den streikenden Kolleg:innen rechenschaftspflichtig und von ihren Vollversammlungen jederzeit abwählbar sind. D. h., diese müssen sich dafür einsetzen, dass sie selbst die Kontrolle darüber erringen. Erste Elemente dieser elementaren Arbeiter:innendemokratie haben sich in den beiden Krankenhausbewegungen von Berlin und NRW herauskristallisiert. Letzten Endes ist das nur möglich, wenn sich eine politische Kraft in ver.di und allen DGB-Gewerkschaften herausbildet, die bewusst den Kurs der Anpassung aller Gewerkschaftsführungen an Kapitalinteressen und angebliche Sachzwängen in einer antibürokratischen Basisbewegung bekämpft. Einen Ansatz dafür stellen heute die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und ihre lokalen Strukturen dar.

Vorsicht Falle! Schlichtungsabkommen kündigen!

Eine gefährliche Bremse für die konsequente Führung des Arbeitskampfs bildet das Schlichtungsabkommen zwischen ver.di-Spitze und öffentlichen Dienstherr:innen. Die VKG schreibt:

„Aufgrund der unnötig von ver.di unterschriebenen Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst hat sich die Gewerkschaft selbst dazu verpflichtet, sich bei einem Scheitern von Verhandlungen auf eine Schlichtung einzulassen, in der Friedenspflicht herrscht. Hier würde auch starker politischer Druck aufgebaut. Ver.di sollte diese Vereinbarung – sie ist bis einen Monat zum Quartalsende kündbar – sofort kündigen! Wenn die Schlichtung kommt, dann sollten Aktive darauf vorbereitet sein und massiven Druck von unten aufbauen, damit ein Schlichtungsergebnis – von dem schon jetzt klar ist, dass es nicht die notwendigen Erhöhungen beinhaltet – abgelehnt wird und unverzüglich Urabstimmung und Erzwingungsstreik erfolgen.“

Dem ist vollkommen beizupflichten und es ist rechtzeitig darauf zu drängen, dass der Gewerkschaftsvorstand es sofort kündigt, damit es ab April außer Kraft tritt. Diesbezügliche Petitionen sind zu verfassen, Mitglieder aus der VKG Berlin sind hier bereits mit gutem Beispiel in ihren jeweiligen Gewerkschaftsgliederungen vorangegangen. Unabhängig davon sollten alle Mitglieder sich nach Scheitern der Verhandlungen für die sofortige Einleitung der Urabstimmung einsetzen.




Britannien: Alle auf die Straße am 1. Februar!

Workers Power, Neue Internationale 271, Februar 2023

Die Arbeiter:innenklasse sieht sich dem schwersten Angriff auf ihren Lebensstandard seit der Einführung der Kürzungsmaßnahmen nach der Finanzkrise von 2007/2008 gegenüber.

Die Lohnabhängigen haben darauf mit der größten Streikwelle seit den 1980er Jahren reagiert. Millionen von Beschäftigten im privaten und öffentlichen Sektor haben für Lohnerhöhungen gestreikt, um mit den rasant steigenden Preisen für Lebensmittel, Energie, Mieten und Rechnungen Schritt zu halten.

Die Regierung versteckt sich hinter Lohnprüfungsausschüssen (Gesundheit) oder fadenscheinigen Behauptungen, sie sei nicht die „Arbeitgeberin“ (Verkehr), und blockiert seit Monaten Verhandlungen und Vereinbarungen. Ohne einen Plan zur Bewältigung der Krise des britischen Kapitalismus, die durch jahrelangen Produktivitätsrückgang und die Selbstbeschädigung durch den Brexit noch verschärft wurde, greifen die Tories zu einer Offensive gegen die Gewerkschaften und Arbeitsmigrant:innen, die von der Notwendigkeit angetrieben wird, die populistische Rechte und Mitglieder der Partei zu beschwichtigen.

Es ist diese Schwäche der Regierung, die trotz ihrer großen Mehrheit den Brexit-Extremist:innen im eigenen Lager verpflichtet ist, die entschlossen sind, ihr Projekt der Zerstörung des Sozialstaates und der Zerschlagung der verbleibenden Arbeiter:innen- und Umweltschutzbestimmungen zu vollenden, die sie so gefährlich macht.

Premierminister Sunaks Einladung zu Scheinverhandlungen am 9. Januar, unmittelbar gefolgt von der Ankündigung des Gesetzes über Mindestdienste im Streik, zeigt, dass sie ihrer Überleben mit einer Machtdemonstration gegenüber den Gewerkschaften verknüpft haben. Wir müssen unsere Organisationen in Kampfform bringen, um den Versuch abzuwehren, die Lohnabhängigen durch die Aushöhlung unseres Lebensstandards und streikfeindliche Gesetze, die jede wirksame Gewerkschaftsarbeit verbieten würden, für die Krise bezahlen zu lassen.

Doch trotz der inspirierenden Streikwelle seit letztem Sommer sind viele Gewerkschaften bereits dabei, die Aktion zu demobilisieren, bevor sie nennenswerte Lohnerhöhungen durchsetzen können. Die andere Hälfte, der linke Flügel der Bewegung, hat kaum angefangen oder nur gelegentliche Aktionen organisiert, die keinen Sieg erzwingen können.

Dem TUC-Kongress im Oktober ist es nicht gelungen, ein ernsthaftes Programm für koordinierte Aktionen zu vereinbaren. Dies und der schwache Aufruf zu einem „Aktionstag zur Verteidigung des Streikrechts am 1. Februar“ zeigen, dass die offizielle Führung verzweifelt versucht zu verhindern, dass die sich ausbreitenden Streiks eine Eigendynamik entwickeln, die sie nicht kontrollieren kann.

Wenn sich die Gewerkschaften ungeordnet zurückziehen, nachdem sie nur symbolischen Widerstand geleistet haben – wie 2011/12 während des Rentenkonflikts –, werden wir eine schreckliche Niederlage erleiden, die das beginnende Wachstum der Gewerkschaftsmitgliedschaft und des Kampfgeistes, das sich in unzähligen Streiks und der massenhaften Teilnahme an „Enough is Enough“ (Genug ist genug)-Kundgebungen im ganzen Land zeigt, sicherlich zunichtemachen wird.

Deshalb müssen wir uns jetzt organisieren, um den 1. Februar zum Anfang – und nicht Ende – einer echten Kampagne zu machen, um die Antistreikgesetze zu Fall zu bringen und Lohnerhöhungen zu sichern, die die zweistellige Inflation wirklich ausgleichen. Jede Gewerkschaft mit einem gültigen Aktionsmandat sollte streiken. Aktivist:innen sollten Anträge und offene Briefe von Zweigstellen und Betrieben koordinieren und die Gewerkschaftsvorstände mit Forderungen nach gemeinsamen Kampfmaßnahmen bombardieren. Mittagsdemonstrationen und Kundgebungen, wenn möglich mit Arbeitsniederlegungen, sollten in allen Städten und Gemeinden organisiert werden. Um dies zu gewährleisten, sollten lokale Solidaritätsausschüsse gebildet werden.

Das Ausmaß des Angriffs erfordert eine entsprechende Reaktion. In der Realität bedeutet dies, dass wir darauf vorbereitet und organisiert sein müssen, den undemokratischen Gesetzen zu trotzen, die uns daran hindern, wirksame Maßnahmen zu ergreifen – Massenstreikposten, um Streikbrecher:innen zu stoppen, Betriebsversammlungen und Abstimmungen für Maßnahmen, Solidaritätsstreiks bis hin zu einem Generalstreik.

Schlüsselaufgaben für die Bewegung:

  • Verteidigung des Streikrechts: Alle auf die Straße am 1. Februar!

  • Gemeinsame Streikkomitees in jedem Betrieb!

  • Eine Basisbewegung in den Gewerkschaften!

  • Aktionsräte, um den Widerstand zu vereinen!

  • Zerschlagt die Lohnobergrenze: 15 % für alle!

  • Anpassung der Löhne, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

  • Generalstreik zur Zerschlagung der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze!



Britanniens Winter der Unzufriedenheit

Dave Stockton, Infomail 1208, 23. Dezember 2022

Großbritannien steht ein „Winter der Unzufriedenheit“ in Form der größten Streikwelle seit vielen Jahren bevor. Und das, obwohl es ernsthafte rechtliche Hindernisse und restriktive Urabstimmungsregeln für Arbeitskampfmaßnahmen gibt und sogar ein neues Gesetz droht, das während eines Streiks ein Mindestdienstniveau vorschreibt.

Die Streikwelle begann mit einer Welle eintägiger Aktionen der Eisenbahner:innen im Sommer und nahm im Herbst zu. Das nationale Statistikamt berichtet, dass im Oktober 417.000 Arbeitstage durch Streiks verloren gingen, der höchste Monatswert seit November 2011. Zwischen Juni und Oktober fielen mehr als 1,1 Millionen Arbeitstage aus, der Höchststand  innerhalb eines Fünfmonatszeitraums seit Anfang 1990.

Das Spektrum der Streikenden reichte von Eisenbahner:Innen über Lehrer:innen und Dozent:innen, Postbedienstete bis hin zu Beamt:innen, Grenzschutzbediensteten und Rechtsanwält:innen, Busfahrer:innen und Hafenarbeiter:innen. Kein Wunder, denn die Inflation erreichte im Oktober mit 11,1 % einen 41-Jahres-Höchststand, und die meisten dieser Beschäftigten mussten sich seit Jahren mit Lohnabschlüssen unterhalb der Inflationsrate begnügen. Hohe Lohnforderungen lagen auf der Hand. Aber sie stoßen auf den hartnäckigen Widerstand einer Regierung, die sich verpflichtet hatte, die zur Bekämpfung des Covidvirus aufgewendeten Summen von den Massen zurückzufordern.

Die Eisenbahner:innen machen den Anfang

Die Eisenbahner:innen übernahmen im Juni die Führung der Streikbewegung, als sie ihre Kampagne unter dem Slogan „Bust the Transport Workers‘ Pay Freeze“ (Sprengt das Einfrieren der Löhne für die Transportarbeiter:innen!) mit einer Reihe von eintägigen Streiks von 40.000 Bahnbeschäftigten starteten. Erste Kundgebungen, auf denen Generalsekretär Mick Lynch erklärte, die Gewerkschaft befinde sich in einem Klassenkampf, und andere Beschäftigte und Gewerkschaften aufforderte, sich ihr anzuschließen, begannen sich zu einer Bewegung zu entwickeln.

Danach kam es zu einer Art Pause, als die Gewerkschaft in Verhandlungen eintrat, obwohl die von ihr angestrebte Einigung von etwa 8 % immer noch eine Kürzung der Reallöhne bedeutet hätte. Aber das Unternehmen Network Rail und Transport for London (Netzwerk Schiene und Verkehr für London) blieb hartnäckig. Nachdem die RMT-(Gewerkschaft für Eisenbahn, Gewässer und Transport)-Mitglieder die letzten Lohnangebote abgelehnt hatten, schwor die Gewerkschaft, weiter zu kämpfen. Häufigere Arbeitsniederlegungen werden das britische Schienennetz in der Vorweihnachtszeit zum Stillstand bringen, was zu Protesten der Einzelhändler:innen führt, die befürchten, dass ihr gewohntes Geschäft gestört werden könnte.

Die separierte Lokführer:innengewerkschaft ASLEF ruft zu einem Streik auf, um die Einführung neuer Dienstpläne bei Avanti West Coast zu verhindern, einem Unternehmen, das dafür bekannt ist, dass es die vertraglich vorgeschriebenen Leistungen nicht erbringen kann, weil es nicht genügend Lokführer:innen beschäftigt.

Postangestellte nehmen den Fehdehandschuh auf

Die Beschäftigten der Royal Mail (Post) streikten am 13. Dezember zum 14. Mal, nachdem sie in der Woche zuvor eine Kundgebung und einen Marsch mit 20.000 Teilnehmer:innen im Zentrum Londons organisiert hatten. Die CWU-(Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter:innen)Mitglieder sehen darin einen Kampf um ihre Arbeitsplätze gegen den Vorstandsvorsitzenden Simon Thompson, der entschlossen ist, die Belegschaft zu dezimieren, zu prekarisieren und auf einen Paketdienst zu reduzieren. Die Unternehmensleitung hat zunächst Streikbrecher:innen eingesetzt und 100 Gewerkschaftsangehörige und -vertreter:innen während des Streiks suspendiert.

Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen der CWU-Führung und den Bossen von Royal Mail wird es im Dezember und im neuen Jahr zu einer neuen Reihe von Streiks kommen. Der Grund für das Scheitern ist, dass die Chef:innen entschlossen sind, Royal Mail in eine Gelegenheitsbelegschaft umzuwandeln und damit die gewerkschaftliche Vertretung auf betrieblicher Ebene zu brechen. Die Gewerkschaftsführer Dave Ward und Andy Furey boten fälschlicherweise an, für die Gespräche auf Streiks zu verzichten, und erklärten sich bereit, im Gegenzug für den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen und die Beibehaltung der morgendlichen Zustellung ein Lohnangebot von 9 Prozent über 18 Monate zu akzeptieren – eine reale Lohnkürzung. Die Geschäftsführung hat sie vor die Tür gesetzt.

Die CWU steht nun vor einem Kampf auf Leben und Tod, den nur ein Flächenstreik zusammen mit den zahlreichen anderen Beschäftigten, die Aktionen durchführen oder planen, gewinnen und somit das Überleben dieser öffentlichen Dienste und der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder sichern kann.

Pflegepersonal startet historische Aktion

Am 15. Dezember traten die Krankenschwestern und -pfleger des britischen National Health Service (Nationaler Gesundheitsdienst), Mitglieder des Royal College of Nursing (RCN) (Krankenpflegeschule), zum ersten Mal in ihrer 106-jährigen Geschichte in einen landesweiten Streik. Das RCN organisierte eine weitere Arbeitsniederlegung für den 20. Dezember und plant Folgeaktionen im neuen Jahr. Schätzungsweise 100.000 Krankenschwestern und -pfleger streikten in 76 Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Am 21. Dezember legten mehr als 10.000 Mitarbeiter des Rettungsdienstes die Arbeit nieder.

Die Gewerkschaft fordert 19 Prozent und weist darauf hin, dass erfahrene Krankenschwestern und -pfleger trotz der diesjährigen Gehaltserhöhung von 1.400 Pfund real um 20 Prozent schlechter gestellt sind, weil die Gehaltsanstiege seit 2010 wiederholt unter der Inflationsrate lagen. Die niedrige Bezahlung hat zu einem zunehmenden Personalmangel und einer unsicheren Versorgung der Patient:innen geführt.

Die Regierung hat ihnen 4,5 Prozent angeboten, was einen Rückgang der Reallöhne um 6 Prozent im kommenden Jahr bedeuten würde. Sie behauptet, der NHS-Haushalt könne sich eine solche Erhöhung nicht leisten, doch die Weigerung, einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, der ausreicht, um Ärzt:innen und Pflegepersonal anzuziehen und zu halten, bedeutet, dass riesige Summen für Leiharbeiter:innen ausgegeben werden. Krankenhäuser in England haben Ärzt:innen bis zu 5.200 Pfund pro Schicht gezahlt. Dies ist bestenfalls Misswirtschaft, aber in Wirklichkeit ist es Teil der heimlichen Übergabe des gesamten Gesundheitswesens an private Unternehmen und Agenturen.

Trotz der Tatsache, dass die Gewerkschaft eine umfassende Notfallversorgung eingerichtet und die Intensivstation sowie andere Abteilungen wie Chemotherapie und Dialyse ausgenommen hat, hat der Tory-Gesundheitsminister Steve Barclay den Streik als ernsthafte Gefahr für die Patient:innen bezeichnet. Die RCN-Führer:innen boten sogar an, die Streiks über Weihnachten und Neujahr auszusetzen, wenn die Regierung verhandeln würde – eine törichte Zurschaustellung von Schwäche, die die Regierung jedoch ablehnte.

Bisher hat sie sich hartnäckig geweigert, über die Gehälter zu sprechen, mit der Begründung, dass die „Belohnung“ (1.400 Pfund) von einem unabhängigen Gremium stammt, dessen Mitglieder von der Regierung handverlesen werden und nur zufällig das vorlegen, was sich das Gesundheitsministerium nach eigenen Angaben leisten kann. In der Zwischenzeit hat die Regionalregierung in Schottland einen Streik der Krankenschwestern und -pfleger gerade dadurch vermieden, dass sie Gespräche über die Gehälter geführt hat, obwohl die Gewerkschaft GMB, die das Hilfspersonal organisiert, ihr Angebot von 7,5 Prozent abgelehnt hat.

Umfragen im Vorfeld des Streiks ergaben, dass 52 Prozent der Öffentlichkeit die Aktion „stark“ unterstützen. Die Regierung wird natürlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um dies zu ändern, aber sie hat keinen guten Start erwischt, wie die rechtsgerichtete Daily Express mit der Schlagzeile „Gebt den Krankenpfleger:innen einen Vertrag und beendet diesen Wahnsinn“ zeigt. Die stets zuverlässig regierungstreue Daily Mail hingegen titelt: „Streikwoche hält Großbritannien in Geiselhaft!“

Und andere … folgen dem Beispiel

Unite-Mitglieder, die auf 59 Buslinien für das Busunternehmen Abellio im Süden und Westen Londons arbeiten, streiken im Dezember. In der Zwischenzeit haben mehr als 2.000 Busfahrer:innen der Metrolinie in London den Arbeitskampf abgebrochen, nachdem sie eine 11-prozentige Lohnerhöhung und eine 10-prozentige Lohnnachzahlung akzeptiert hatten. Ursprünglich war ihnen am 8. Dezember 2022 eine Erhöhung um 4 Prozent angeboten worden.

Tausende von Universitätsbeschäftigten, die der Gewerkschaft UCU angehören, streikten am 24., 25. und 30. November. Sie taten dies gemeinsam mit 4.000 Gewerkschaftsmitgliedern der National Education Union (Bildungsgewerkschaft NEU) an Oberstufenzentren. Am letztgenannten Tag nahmen sie gemeinsam mit Studierenden und anderen Gewerkschafter:innen an einer militanten Massenkundgebung vor dem Bahnhof King’s Cross teil, bevor sie sich auf einen Marsch ins Zentrum von London begaben. Es war der dritte Tag der Streiks von 70.000 Mitgliedern der Gewerkschaft UCU an Universitäten in ganz Großbritannien im Kampf um Renten, Löhne und Gehälter, Minderung von Arbeitsbelastung und Gleichberechtigung und gegen Prekarisierung.

Koordinieren und eskalieren

Eine ganze Reihe von Gewerkschaften, darunter auch Teile von Unison und Unite, den beiden größten Gewerkschaften des Landes, rufen für das neue Jahr zu Urabstimmungen auf. In dem Maße, in dem sich die Streikpostenketten vervielfacht und andere Gewerkschaftsmitglieder, Student:innen und Aktivist:innen sich ihnen angeschlossen haben, in dem Maße, in dem die Demonstrationen und Kundgebungen größer geworden sind, wächst die Möglichkeit, dass alle getrennten Lohnkämpfe zusammengeführt werden. Obwohl die Gewerkschaftsführer:innen auf ihren Rednerbühnen die Parole „koordinieren und eskalieren“ ausgeben, haben sie wenig getan, um dies zu gewährleisten.

Die Kampagne „Enough is Enough“ (Genug ist Genug) und die Volksversammlung (People’s Assembly) schienen dies tun zu können. Aber ihre unerklärliche Rivalität und unnötige Doppelarbeit scheinen dieses frühe Versprechen zunichtegemacht zu haben, obwohl die Volksversammlung im Januar eine Konferenz abhalten wird. Die Gefahr besteht darin, dass die rivalisierenden Gewerkschaftsführungen und politischen Gruppierungen befürchten, die Kontrolle an demokratische Versammlungen von Delegierten aus lokalen und Basisorganisationen zu verlieren, die über alternative Vorgehensweisen entscheiden könnten. Kämpfer:innen aus den verschiedenen Konflikten, die sich an den Streikpostenketten treffen, können und müssen solide Verbindungen zueinander knüpfen. Sie müssen lokale Koordinierungsgremien an der Basis aufbauen.

Eine weitere dunkle Wolke zeichnet sich am Horizont ab: Premierminister Rishi Sunaks Drohung, ein weiteres gewerkschaftsfeindliches Gesetz durch das Parlament zu bringen, das das Streikrecht von Pflegepersonal, Postangestellten und Bahnbeschäftigten gleichermaßen aushebeln würde. Sobald dieses Gesetz vorgelegt wird, müssen wir eine massive Kampagne zur Verteidigung unserer Gewerkschaften starten. Diese muss darauf abzielen, direkte Aktionen, d. h. Streiks, zu mobilisieren, um den Gesetzentwurf zu Fall zu bringen, wie es unsere Großeltern in den 1970er Jahren getan haben. Ihr Ziel sollte es sein, nicht nur zu verhindern, dass uns diese neuen Ketten angelegt werden, sondern alle anderen, die bis in die Zeit von Thatcher, der ehemaligen Premierministerin, zurückreichen, zu durchbrechen.

All diese Themen – Bekämpfung der Inflation mit Lohnerhöhungen, die Punkt für Punkt mit ihrem Anstieg übereinstimmen; die „Arbeitgeber:innen“ dazu zu bringen, sie aus ihren gigantischen Gewinnen zu bezahlen; die Verteidigung und Wiederherstellung des staatlichen Gesundheitsdienstes; die Wiederverstaatlichung der Bahn und anderer Dienstleistungen und Versorgungsbetriebe sowie die Befreiung unserer Gewerkschaften von vierzig Jahren gewerkschaftsfeindlicher Gesetze – werden politische Massenstreiks erfordern. Um dies in die Wege zu leiten, nützt es nichts, auf die linken oder rechten Gewerkschaftsführer:innen zu warten. Wir müssen Aktionsräte mit Delegierten aus den Betrieben, den Gemeinden und der Jugend bilden. Wenn wir dies tun, können wir sowohl Sunak wie die mit ihm verfeindeten Tories ein für alle Mal von der Macht vertreiben.




Kampf gegen Inflation: Warum blieb der heiße Herbst aus?

Martin Suchanek, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Entgegen aller Erwartung und Ankündigung blieb der heiße Herbst aus. Dabei steigen die Preise und Lebenshaltungskosten wie nie seit Jahrzehnten. Die staatliche Hilfe dagegen ist völlig unzureichend. Jedoch von Klassenkampf keine Spur: Die Tarifabschlüsse blieben hinter der Inflation zurück. Protest von Linken und Gewerkschaften erfolgte nur zaghaft.

Noch nicht angekommen?

Es gibt die Behauptung, die Krise sei bei den Menschen noch nicht angekommen, doch das ist sehr fraglich. Fraglich angesichts der sozialen Lage der Ärmsten, die sich auf das neue Hartz IV (ach nein – Bürgergeld!) freuen können. Fraglich angesichts von Tafeln, die unter Lebensmittelknappheit leiden. Fraglich angesichts einer Rekordinflation, die sich, so die gute (!) Nachricht, bei unter 10 % „stabilisiert“ hätte.

Schließlich könnte es noch weniger Ausgleich und Hilfspakete geben, die Tarifabschlüsse könnten noch schlechter ausgefallen sein. Dass die Krise nicht angekommen sei, heißt nur: Das Schlimmste kommt noch. Die richtig fetten Rechnungen kommen im neuen Jahr und die Rezession wohl auch.

Wir wollen hier keineswegs bestreiten, dass die Hilfspakete der Regierung wie auch die viel zu moderaten Lohnabschlüsse die Auswirkungen der Inflation und Krise auch auf die Lohnabhängigen abmildern. Zumindest wichtige Teile der Mittelschichten und auch besser verdienende Lohnarbeiter:innen können damit erstmal befriedet werden.

Trotzdem kann das nicht erklären, warum der Widerstand auf der Straße verhalten, schwach blieb. Die größte bundesweite Mobilisierung gegen die Krise fand am 22. Oktober statt – gerade mal 24.000 bis, wohlwollend geschätzt, 30.000 Menschen beteiligten sich daran. Die Tatsache, dass es auch einzelne lokale oder regionale Demonstrationen mit respektablen Teilnehmer:innenzahlen gab – zuletzt am 12. November in Berlin mit rund 7.000 – darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Linke wenig zustande brachte.

Eher gelang es den rechtspopulistischen und sogar rechtsextremen Kräften, Menschen zu mobilisieren. Doch von einer Massenbewegung auf der Straße sind auch diese zum Glück noch weit entfernt – bisher.

Lähmung

Dass sich die Regierung trotz großer Unzufriedenheit und Wut einigermaßen halten kann, Parteien wie CDU und Grüne in den Umfragen sogar zulegen können, liegt vor allem daran, dass sich die Enttäuschung mit einer Perspektivlosigkeit und Krisenangst verbindet, die etwas Fatalistisches an sich hat.

Gerade weil die ökonomische Lage, der Krieg und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt ein historisch bedrohliches Ausmaß annehmen, die Masse der Bevölkerung die aktuelle Lage tatsächlich als Zäsur erlebt und empfindet, lässt sich eine Bewegung gegen die Krise nicht so einfach entfachen. Die Mehrfachkrise und ihre Bedrohungen – zuerst die Pandemie, dann der vom russischen Imperialismus entfachte Krieg um die Ukraine, nun die damit verbundene Wirtschaftskrise und über allem die permanente ökologische Katastrophe – sie alle vermitteln ein Gefühl der Ohnmacht, der Ausweglosigkeit, rufen zugleich Abwehrmechanismen auf den Plan, wozu auch Schicksalsergebenheit zählt.

Dies zeigt sich schon bei den Schwierigkeiten, eine Bewegung gegen historische Aufrüstungsprojekte, die Kriegspolitik der NATO, der USA, der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten zu verbreitern. Im Kampf gegen die Preissteigerungen, die vor demselben weltpolitischen Hintergrund stattfinden, erleben wir ein ähnliches, eher noch potenziertes Phänomen.

Bei rein ökonomischen Verteilungskämpfen oder direkt sozialen Angriffen wie den Hartz-Gesetzen sind zumindest Freund:in und Feind:in leicht auszumachen. Regierung und/oder Kapital stehen auf der einen Seite, die Lohnabhängigen oder Teile davon auf der anderen. Der Kampf nimmt die Form eines Umverteilungsgerangels an.

Die aktuelle Krise aber, die im Grunde eine viel tiefere des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs als die vorhergehenden bedeutet, erscheint an der Oberfläche und damit im Bewusstsein der Massen wie eine undurchschaubare Verkettung von quasi Naturkatastrophen: Krieg, Klima, Hunger, Irrationalismus und rechter Wahn, Corona und obendrauf Inflation und Wirtschaftskrise.

Ausbruch und Verlauf der aktuellen kapitalistischen Krise sind und werden zwar eng mit den geopolitischen Kämpfen, mit der Umweltkatastrophe und der Pandemie verbunden, ihr innerer Zusammenhang erscheint aber verkehrt, geradezu mystifiziert – und er wird durch die bürgerliche Propaganda zusätzlich ideologisiert. Deutlich tritt das bei den Sanktionen zutage, wo diese nicht als Resultat bewusster, westlicher Regierungsentscheidungen vorkommen, sondern vor allem als von Putin verursachte (indem er bösartig Gegensanktionen verhängt).

Krise und Gerechtigkeit

Die Forderung nach Gerechtigkeit im Allgemeinen wie nach einem „gerechten“ Lohn im Besonderen stellt selbst eine Ideologie dar, die davon ausgeht, dass es so etwas wie eine allgemeine, über den Klassen stehende Gerechtigkeit im Kapitalismus gebe. Daher unterziehen sie Marxist:innen auch einer scharfen Kritik.

Zugleich stellen diese Parolen Mittel zur Mobilisierung in wirklichen Kämpfen dar. Der Ruf nach gerechter Verteilung entspricht dabei der Forderung, den gesellschaftlichen Reichtum zugunsten der Lohnabhängigen oder anderer unterdrückter Schichten umzuverteilen. Die politisch bewussteren Arbeiter:innen wissen aus Erfahrung, dass das nur durch Kampf zu erreichen ist, da sich hier die Ansprüche von Kapital und Arbeit gegenüberstehen. Dieser Gegensatz reflektiert, wie Marx bei der Analyse des Arbeitstages im „Kapital“ zeigt, die entgegengesetzten Interessen unterschiedlicher Warenbesitzer:innen, ja unterschiedlicher Klassen – von Kapitalist:innen und Arbeiter:innen.

Normalerweise – in „normalen Zeiten“ – gehen die um ihren Anteil am Reichtum Ringenden von einem stabilen System aus, innerhalb dessen sie Konflikte um Umverteilung und Gerechtigkeit austragen. Genau diese „Stabilität“ ist jedoch in historischen Krisen wie der aktuellen in Frage gestellt. Deren tiefere Ursache liegen in der strukturellen Überakkumulation von Kapital und fallenden Profitraten. Diese Ursachen, die innerhalb des Systems nur durch die Vernichtung von überschüssigem Kapital, Arbeitsplätzen und Erhöhung der Ausbeutungsrate „gelöst“ werden können, erfordern auch einen Kampf zwischen großen Konzernen und den führenden imperialistischen Staaten, wessen Kapital zerstört, wie der Weltmarkt und die halbkoloniale Welt sowie die Lasten der ökologischen Krise neu aufgeteilt werden.

Eigentlich erfordert eine solche Systemkrise eine systemsprengende, antikapitalistische, revolutionäre Antwort, legt sie gewissermaßen nahe. Doch damit das Bewusstsein dafür in der Arbeiter:innenklasse Fuß fassen kann, müssen auch die Grenzen des aktuellen, am Rahmen des Lohnarbeitsverhältnisses verhafteten Bewusstseins gesprengt werden.

Für den Kampf um „gerechten“ Lohn, um einen „fairen“ Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, um „gerechte“ Verteilung insgesamt stellt das kapitalistische System – und in der Regel sogar nur die jeweilige Nationalökonomie – eigentlich den Referenzpunkt dar. Solange das Gesamtsystem einigermaßen funktioniert und expandiert, vergrößert sich schließlich auch der Verteilungs-, um nicht zu sagen: der Gerechtigkeitsspielraum. In einer allgemeinen Krise bricht dieser „verlässliche“ Rahmen aber tendenziell weg.

Verharren die kämpfenden Klassen in ihm, so ist es nur logisch, dass der Kampf um die Verteilung des Reichtums zugunsten der Sicherung des Gesamtsystems Kapitalismus, genauer der jeweiligen Nationalökonomie und des Nationalstaats, relativiert werden muss.

Rolle der Apparate

Genau auf dieser Vorstellung fußt die Politik der Gewerkschaftsbürokratie wie sämtlicher reformistischer Arbeiter:innenparteien – ob nun der SPD oder der Linkspartei.

Es geht um einen „gerechten Anteil“ am kleiner werdenden Kuchen; die Bäckerei soll aber unbedingt erhalten bleiben.

Diese Ideologie entspricht der Rolle der Gewerkschaftsführungen und der reformistischen Apparate, auch wenn sie selbst ihre Vorstellungen von gerechtem Ausgleich der Lasten teilweise nur mit Kampfdrohungen durchsetzen können. Aber sie entspricht leider auch dem spontanen Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse selbst. Anders als ihre Führungen, die schließlich nicht zu den Tarifen bezahlt werden, die sie für ihre Mitglieder aushandeln, müssen die Arbeiter:innen jedoch damit auskommen.

Das bildet die Basis für das Aufbrechen des Widerspruchs zwischen bürokratischem Apparat sowie reformistischer Führung einerseits und deren proletarischer Basis andererseits – aber es ist unbedingt auch notwendig, dieser Basis und das heißt zuerst den politisch fortgeschritteneren Arbeiter:innen zu erklären, warum ein bloß besonders radikal geführter Umverteilungskampf in einer allgemeinen Krise letztlich nicht ausreicht. Nicht weil ein solcher Kampf im Einzelnen nicht gewonnen werden könnte, sondern weil er letztlich die inneren Widersprüche befeuert und damit die Systemfrage weiter zuspitzt.

Ein radikaler Verteilungskampf – z. B. ein politischer Massenstreik für die Anpassung der Löhne, Renten und anderer Sozialleistungen an die Inflation – würde den Klassenkampf massiv verschärfen und auch die Gegenseite, also die herrschende Klasse und die Rechte radikalisieren. Er markierte nur eine Etappe hin zu weiteren Konflikten.

Dies spüren im Grunde auch die meisten Lohnabhängigen heute – und genau deshalb stehen sie radikalen Lösungsansätzen, die den Klassenkampf zuspitzen, ambivalent gegenüber. Einerseits empfinden auch sie, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher, andererseits fürchten sie noch mehr Unsicherheit und Instabilität. Die Masse der Lohnabhängigen will nicht in Konflikte um ihre Existenz gezogen werden, deren Grund wie Ziele sie im Unterschied zu einem reinen Verteilungskampf nicht nur oder nur sehr unvollständig versteht.

Was tun?

Schon gar nicht wollen Arbeiter:innen in perspektivlose Kleinaktionen hineingezogen werden. Dahinter steht ein gesunder Realismus, nämlich die Erkenntnis, dass nur große Aktionen und klare Forderungen an der aktuellen Lage etwas ändern und ihre unmittelbaren Anliegen voranbringen können.

Daher erweisen sich lokale Kleinst- oder sog. linksradikale Bündnisse in der aktuellen Situation als nutzlos. Natürlich spricht nichts gegen Aktionen von anfänglich kleinen Gruppen – aber sie sind politisch nur zweckmäßig, wenn sie dazu dienen, größere Organisationen wie Gewerkschaften, Migrant:innenorganisationen, Mieter:inneninitiativen oder reformistische Parteien zur Aktion zu zwingen. Tun sie das nicht, stellen sie nicht mehr als linksradikale Gymnastik dar.

Es ist unbedingt erforderlich, dass die Linke ihr Gesicht den Gewerkschaften und Betrieben zuwendet, versucht, in Tarifrunden einzugreifen und diese voranzutreiben. Das hat mehrere Gründe. Erstens können die Angriffe auf Einkommen, Löhne, Renten, Sozialleistungen nicht einfach wegdemonstriert werden. Es braucht die Kampfkraft, die nur die Arbeiter:innenklasse entfalten kann – den politischen Streik. Zweitens werden gerade die skeptischen, ambivalenten  breiten Schichten der Lohnabhängigen viel eher selbst zu Aktion und Aktivität bewegt werden können, wenn große Mobilisierungen – und sei es in den Tarifrunden – nicht nur die Richtigkeit eines Anliegens demonstrieren, sondern auch mächtig genug ausfallen, damit sie Erfolg haben können. Erfolgreiche Massenaktionen bieten auch am ehesten die Chance, die oben beschriebene innere Ambivalenz in der Klasse zu überwinden.

„Genug ist genug“ (GiG)

Die Orientierung auf gewerkschaftliche Kämpfe stellt sicher den größten Vorzug der bundesweiten Kampagne „Genug ist Genug“ (GiG) dar, die sich am britischen „Enough is enough“ orientiert.

Ins Leben gerufen wurde es von der Redaktion von Jacobin/Deutschland im Verbund mit Teilen der Gewerkschaftsbürokratie, genauer des ver.di-Apparates. Außerdem wird es von Teilen der Linkspartei (Bewegungslinke, marx21) und der Grünen Jugend getragen.

Ähnlich wie bei „Enough is enough“ gibt es auch bei GiG keine formalen, also formal-demokratischen Bündnisstrukturen. Die Koordinierung wird von oben kontrolliert. Finanziert (und letztlich kontrolliert) wird es von ver.di.

Dabei kombiniert GiG auch pseudodemokratische Elemente (offene „Teams“ und lokale Gruppen) mit einer sehr zentralisierten eigentlichen Führung, die die Rallys organisiert, die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit leitet und letztlich auch bestimmt, was wo getan wird. Dies eröffnet wohl einen gewissen lokalen Spielraum für einzelne Gruppen.

So positiv aber die Orientierung auf und Verbindung zu Gewerkschaften wie auch die Einschätzung ist, dass deren Kämpfe (Tarifrunden, Warn-, Flächenstreiks) von enormer Bedeutung für den Klassenkampf sind, so negativ ist die politische Unterordnung unter den Apparat (was im Zweifelsfall auch finanziell sichergestellt ist: Ohne ver.di-Gelder und -Räume würde GiG nicht existieren).

GiG bezeichnet sich zwar selbst offiziell nicht als Bündnis, sondern als Plattform – als „Tool“, als „Projekt“, das eine Bewegung mit hervorbringen soll. Im Grunde setzt es darauf, dass im öffentlichen Dienst ein heftiger Kampf entbrennt und GiG dazu mobilisiert. Für den Gewerkschaftsapparat soll es dabei als Hilfstruppe dienen.

GiG hat mittlerweile mehr als 30 lokale Ableger und etliche Themengruppen. Es ist sicherlich das größte und wichtigste, wenn auch das undemokratischste bundesweite Bündnis. Dennoch macht es Sinn, in GiG zu arbeiten, insbesondere um Unterstützer:innenstrukturen für Streiks im öffentlichen Dienst zu organisieren.

Außerdem erhebt GiG oder jedenfalls ein Teil seiner Führung auch die Forderung nach einer bundesweiten Aktionskonferenz (wenn auch einer, die letztlich von den Apparaten kontrolliert werden soll; aber auch das wäre ein Schritt vorwärts). Wir sollten dies unterstützen.

Aber: Letztlich kann aber auch GiG eine bundesweite, demokratische Bündnisstruktur nicht ersetzen, die bei einer Aktionskonferenz entstehen muss, wenn von ihr mehr als nur Reden bleiben soll. Als Forderungen schlagen wir dazu vor:

1. Automatische Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

2. Kampf um höhere Löhne! Unterstützung der Tarifrunden! Mindestlohn und Mindestrente von 1.600 Euro!

3. Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel!

4. Massive Besteuerung der großen Unternehmen und Vermögen!

5. Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen!