NRW-Unikliniken in der 8. Streikwoche: Licht und Schatten

Jürgen Roth, Infomail 1191, 18. Juni 2022

Seit 45 Tagen streiken Beschäftigte der 6 Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen für einen Tarifvertrag Entlastung (TVE), der personelle Mindestbesetzungen, bessere Ausbildungsbedingungen und einen Freizeitausgleich für Arbeit in belastenden Situationen festschreibt unter Verweis auf ähnliche Regelungen in Berlin, Mainz und Jena. (Wir berichteten: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/; https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/06/unikliniken-nrw-im-streik/; https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/27/uniklinken-in-nordrhein-westfalen-4-wochen-streik/)

Erneuter Angriff und Protest

Gegen den Streik an der Universitätsklinik Bonn (UKB) legte der Klinikvorstand beim Arbeitsgericht Klage ein. Doch diese wurde in 1. Instanz abgewiesen. Das Patient:innenwohl sei nicht gefährdet, es gebe eine Notdienstvereinbarung, so die Richterin. Das UKB wollte mittels einstweiliger Verfügung wegen Verstoßes gegen die Friedenspflicht und fehlender Erstreikbarkeit der Forderungen wegen Rechtswidrigkeit den Arbeitskampf gerichtlich unterbinden lassen und erwägt Berufung.

Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt hatte in einer lahmen Replik vom 13. Juni 2022 kundgetan, die einstweilige Verfügung sein unter allen 6 Kliniken abgestimmt und ziele auf Beeinträchtigung des Streikrechts. Damit berufe sie sich auf die Tarifzugehörigkeit in der Tarifgemeinschaft der Länder. Die „Arbeitgeberseite“ falle somit der neuen Landesregierung und den demokratischen Parteien im Landesparlament in den Rücken.

Lahm ist dieses Erklärung deshalb, weil Landesregierung und demokratischen Parteien hiermit ein Freibrief für deren gute Absichten ausgestellt wird, als seien die Klinikvorstände nicht Büttel der Landesregierung. Für Kollegin Schmidt scheint in NRW der Schwanz mit dem Hund zu wedeln.

Zudem sei angemerkt, dass sie mit dem Zaunpfahl bzgl. des „Landesarbeitgeberverbandes“ ADL winkt, hatte doch ver.di das Ansinnen der alten Landesregierung begrüßt, durch eine Änderung des Landeshochschulgesetzes den Weg für Verhandlungen freizuräumen.

Wir hatten kritisiert, dass in der Folge dieses Ansinnens der zukünftige TVE, sollte er denn zustande kommen, der ja einem Manteltarifvertrag gleichkommt, praktisch als 6 Hausabkommen Gestalt annähme. Der ADL wäre so nur noch für Lohn- und Gehaltsverhandlungen zuständig. Der Beschäftigtenseite diente eine solche Zersplitterung ganz und gar nicht – im Gegenteil! Doch was tun Bürokrat:innen nicht alles, um endlich ihr ureigenes Spielfeld betreten zu dürfen: den Verhandlungstisch?

Solidarität

Es waren die klassenbewussten Kolleg:innen der Essener Uniklinik, die als Erste dagegen protestierten. Am 13. Juni besetzten sie dortige Räumlichkeiten und forderten „ihren“ Vorstand auf, zur einstweiligen Verfügung Stellung zu beziehen. Dieser ließ sie daraufhin von der Polizei aus dem Gebäude entfernen und sagte eine Verhandlungsrunde um 16 Uhr am gleichen Nachmittag ab. Die Essener hatten gemeinsam mit ihren Düsseldorfer ver.di-Kolleg:innen 2018 einen für beide Häuser gültigen Tarifvertrag Entlastung (TVE) erkämpft, der im März diesen Jahres von der Gewerkschaft gekündigt wurde zugunsten eines neuen Anlaufs für alle landeseigenen Unikliniken.

Eine für den darauffolgenden Tag ursprünglich in Münster, dem einzigen westfälischen Standort, geplante zentrale Demonstration aller Streikenden wurde kurzerhand nach Bonn verlegt, wo die Kolleg:innen ihrem Unmut über das dreiste Vorgehen der UKB lautstark Luft machten. U. a. wiesen sie darauf hin, dass der Vorstand sich lange gegen eine Notdienstvereinbarung gesträubt hatte. Zwei Tage später fand dann auch in Münster eine große Kundgebung statt.

Solidarität zeigten auch 640 ärztliche Mitarbeiter:innen, die mittels einer Petition den Streik unterstützen. Auch die Studierendenvertretungen in NRW erklärten sich solidarisch mit diesem Arbeitskampf.

Angebot oder vergifteter Köder?

Nach 36 Streiktagen legten die Klinikleitungen ein Angebot vor, was die landesweite Demonstration und Kundgebung am 10. Juni und die an diesem Tag 1.500 Streikenden einhellig als Mogelpackung verurteilten. Ver.di wies es zurück, weil es nur für Pflegekräfte am Bett gelte (5 Entlastungstage pro Monat), nicht für Ambulanzen, OPs und Aufnahmen, schon gar nicht für Personal außerhalb der Pflege. Stattdessen schlägt die Gewerkschaft richtigerweise ein Verfahren vor, das schichtgenaue Mindestbesetzungen für alle Krankenhausbereiche vereinbart. Werden diese unterlaufen, entsteht in jedem Einzelfall auf freie Tage. Die angebotenen Entlastungstage werden überdies schrittweise reduziert, sobald das Pflegepersonal aufgestockt wird.

Betriebswirtschaftlich macht dieser Spaltpilz durch Verengung der für Entlastung infrage kommenden Zielgruppe durchaus Sinn, folgt sie doch der Refinanzierungslogik im bestehenden System. Gemäß Pflegestärkungsgesetz, noch unter Federführung von Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn verabschiedet, ist mehr Personal am Bett in engen Grenzen für die Kliniken kostenneutral umsetzbar.

Das letzte Wort über einen TVE

Die Tarifkommission ist 75-köpfig besetzt, neben den Apparatschiks mit Kolleg:innen aus allen Bereichen (Teamdelegierte). Man folgt hier also dem Berliner Modell, was sicher gegenüber früherer Art von Verhandlungsführung einen gehörigen Schuss Basisdemokratie verkörpert. Doch die eigentliche Verhandlungskommission ist kleiner. Hier werden die „Profis“ der Bürokratie den Ton angeben. Das letzte Wort über den TVE soll aber der „Rat der 200“ sein, sämtlich aus gewählten Delegierten aller 6 Unikliniken bestehend. Unserer Meinung nach sollten allerdings alle Mitglieder das wirklich letzte Wort haben (Urabstimmung).

Doch die 200 Delegierten sollen sich mit dem (vor)letzten Wort, das ihnen zusteht, nicht zufriedengeben! Um der eigentlichen basisdemokratischen Bedeutung des Begriffs Rat gerecht werden zu können, müssen seine Delegierten auch von Abteilungsversammlungen jederzeit neu und abwählbar sein. Zweitens muss er die Funktion des obersten Streikkomitees ausfüllen. Bürokrat:innen dürfen sich auch als Kandidat:innen bewerben, bitte schön! Ihre Bewährung während des Streiks wäre aber dann Voraussetzung für ihren Wahlerfolg, nicht ihr „Amt“. Dies ist umso dringender, als die ver.di-Spitze in NRW immer wieder zum Einknicken neigte, sei es in Angeboten, den Streik bei Verhandlungsbereitschaft der Arbeit„geber“:innenseite auszusetzen, oder ihren Köder mit dem Ausscheren des Manteltarifs aus dem ADL zu schlucken.

Drittens sollte der „Rat der 200“ den Belegschaften verdeutlichen, wie notwendig direkte Kontrollorgane auf jeder Station, in jeder Abteilung sein werden, die sich bei Unterschreitung der Mindestpersonalbemessung das Recht auf Gegenmaßnahmen wie Schließungen von Betten und Stationen, Nichtaufnahme geplanter Behandlungsfälle und dergleichen aneignen und nach gleichen basisdemokratischen Räteprinzipien funktionieren und zentralisiert werden müssen. Der Streik hat die Bedeutung dessen in den Augen vieler Beschäftigter bereits gezeigt: Die Arbeitsbelastung auf den betroffenen Stationen fiel oft viel geringer als im „Normalbetrieb“ aus! So sehr eine Entlastung in Form freier Tage auch begrüßenswert ist, so sehr steht und fällt diese letztlich mit einer großen Zahl von Neueinstellungen. Erfolgen die nicht, mutiert die gut gemeinte Tarifklausel zu einer besseren Variante von Lebensarbeitszeitkonto.

Die 200 Delegierten sind darum, obwohl selber Rat, doch gut beraten, auch in anderer Hinsicht nach Abschluss eines TVE Akzente zu setzen: als Keimzelle und Funktionsmodell für die bundesweite Ausdehnung der Krankenhausbewegung auf alle Allgemein- und Sonderkrankenhäuser inklusive der Altenpflegeeinrichtungen! Ferner müssen sie alle Illusionen, die die ver.di-Führung eifrigst schürt, der Staat werde sein Versprechen halten und die Personalregelungen finanzieren, im Gegenteil zerstreuen. Der bezahlt nämlich in Wirklichkeit zusehends weniger die Erhaltungs- und Erneuerungsinvestitionen der stationären Einrichtungen, zu denen er in Gestalt der Bundesländer eigentlich gesetzlich verpflichtet ist. Ein Protest vor kurzem in Berlin angesichts der Erfahrungen geringer Neueinstellungen vor dem Roten Rathaus erinnerte den Senat an dieses Versprechen. Ver.di-Spitze und selbst viele Streikende hatten es unermüdlich propagiert und für bare Münze gehalten, dass dies machbar sei und die Kosten des TVE sich wie von selbst rechne. Doch in die Finanzierung des laufenden Betriebs einzugreifen, dafür seien ihm die Hände durch das duale Krankenhausfinanzierungsgesetz gebunden. Diesen Politiker:innen – immer dabei: die Linkspartei! – und ihren Steigbügelhalter:innen in der Gewerkschaftsbürokratie gilt es, nicht länger auf den Leim zu gehen.

Wir brauchen diesbezüglich eine unabhängige und eigenständige Arbeiter:innenpolitik bis hin zum politischen Erzwingungsstreik für eine gesetzliche Personalbemessung, die Abschaffung des Marktprinzips in Form der Fallpauschalen (DRGs) und für Selbstkostenfinanzierung als Schritte hin  zu einem rationalen, geplanten, von Beschäftigten und Patient:innen und den Arbeiter:innenorganisationen kontrollierten Gesundheitswesens!




Uniklinken in Nordrhein-Westfalen: 4 Wochen Streik

Jürgen Roth, Neue Internationale 265, Juni 2022

Seit dem 4. Mai befinden sich die Beschäftigten der Universitätskliniken Nordrhein-Westfalen im Streik. Bei der Urabstimmung votierten 98 % für den Vollstreik. Dieser war zunächst bis zum 26. Mai befristet, wurde jedoch erstmal bis zum 2. Juni verlängert.

Die Kampfbereitschaft fiel nicht vom Himmel. Schon am 19. Januar verfassten über 700 Beschäftigte der landeseigenen Universitätskliniken Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster einen Beschluss, der verbindliche Regelungen zur Entlastung aller Arbeitsbereiche, Sicherstellung und Verbesserung der Ausbildungsqualität und ein wirksames Konsequenzenmanagement im Fall ihrer Nichteinhaltung von der Landesregierung forderte. Dieses Ultimatum lief nach 100 Tagen am 1. Mai ab. Der Arbeitskampf nimmt seither härtere Formen an.

Verlauf

Zeitgleich mit dem Warnstreik zum landesweiten Branchentag „Kitas/Ganztag“ für die Tarifauseinandersetzung der Sozial- und Erziehungsdienste in NRW am 4. Mai hatte ver.di auch die Unikliniken zum Streik aufgerufen. 1.900 Beschäftigte nahmen daraufhin mit Beginn der Frühschicht ihre Arbeit nicht auf. Am Samstag, den 7.5.2022, führten sie eine Kundgebung mit anschließender Demonstration zum Landtag durch. In Essen befinden sich seitdem täglich durchschnittlich 250 Kolleg:innen im Ausstand, so dass knapp zwei Drittel der OP-Säle geschlossen werden mussten. Des Weiteren gab es erhebliche Verzögerungen bei terminierten und ambulanten Behandlungen.

Am 9. Mai fuhren Azubis aus 5 Uniklinken nach Aachen, um ihre dortigen Kolleg:innen zu unterstützen. Die Klinikleitung hatte als einzige keine Notdienstvereinbarung mit der Gewerkschaft abgeschlossen, welche regeln soll, wie viele Beschäftigte mindestens auf den Stationen und in den Funktionsabteilungen bleiben, welche Betten und Einheiten geschlossen werden sowie, dass Auszubildende keine Fehltage für den Streik eingetragen bekommen. Dem Aachener Berufsnachwuchs wurde dagegen genau damit gedroht, was zur Folge haben kann, dass Streikteilnehmer:innen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werden!

Am 19. Mai rief ver.di die Azubis zu einem Auszubildendenstreiktag nach Essen auf, um hier nochmal ein deutliches Zeichen des Protests zu setzen. Ein Aufruf an alle Streikenden wäre sicher angemessener gewesen, handelt es sich doch bei den Maßnahmen der Aachener Klinikleitung de facto um einen Angriff aufs Streikrecht für eine bestimmte Personengruppe. Getreu dem Motto, dass eine Attacke auf eine/n Gewerkschafter:in eine auf alle bedeutet, wäre eine geschlossene Manifestation der Ablehnung durch alle nur konsequent!

Zeichen der Solidarität

In einem Aufruf für ärztliche Unterstützung für eine verbindliche Personalbesetzung an den Universitätskliniken in NRW, der auch vom „Verein demokratischer Ärzt*innen (vdää*)“ unterzeichnet ist, drückten über 530 Ärzt:innen und Medizinstudierende am 5. Mai ihre Solidarität mit den Arbeitskampfmaßnahmen aus. Ins selbe Horn tutet auch die „Solidaritäts-Erklärung des Stuttgarter Metallertreff / Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften für die streikenden Kolleg*innen in den Unikliniken in NRW“, veröffentlicht am 23. Mai und unterstützt von der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG).

Am 12. Mai beschloss eine Versammlung am Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) eine Reihe von Auftaktaktionen, an deren Ende ein Tarifvertrag Entlastung (TVE) stehen soll. So machte eine Gruppe Pflegender vor dem Krankenhaus auf ihre Lage aufmerksam. Sie zeigte sich wenig beeindruckt vom Optimismus der Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD), die stolz auf 3.760 Auszubildende im Pflegebereich der Hansestadt verwies. Die Verlautbarung eines ver.di-Sprechers, die Chancen stünden gut für einen niedrigeren Betreuungsschlüssel in der Intensivpflege, hat die Aktivist:innen ebenso wenig von ihrem Protest abgehalten, wie sie einen konsequenten Beitrag im Kampf gegen den Pflegenotstand darstellt. Auch in Bremen regte sich der zuständige Gewerkschaftssekretär mit einem Vorstoß, man müsse auch hier bald für einen TVE mobilisieren. Die Gewerkschaftsbasis vor Ort sollte ihn rasch beim Wort nehmen. Als Zeichen der Solidarität mit dem Kampf in NRW sind auch diese Ereignisse in Hamburg und Bremen allemal zu werten.

Gegenwind

Die aktuelle Streikbewegung war von Beginn an vom Berliner Kampf um Entlastung an den Krankenhäusern inspiriert. Gegenüber dem Berliner Vorbild zeichnet sie sogar zwei Vorzüge aus: Erstens werden Mindestbesetzungsregeln auch für nichtpflegerische Bereiche gefordert. Zweitens ging der Kampf rasch zum Vollstreik über.

In mehreren Artikeln haben wir Vorschläge für Kampfführung und wirksame Kontrolle über ein evtl. erzieltes Ergebnis im Sinne der Stärkung der Selbstorganisierung der Basis hin zur wirksamen Arbeiter:innenkontrolle und zum politischen Streik für eine gesetzliche Pflegepersonalbemessung unterbreitet.

Aktuell bläst den nordrhein-westfälischen Kolleg:innen jedoch anders als in Berlin ein starker Wind entgegen. Auch dort hatte anfänglich der Senat mit Verweis auf die Haltung der kommunalen (VKA) und Landesarbeit„geber“:innenverbände die Unmöglichkeit ihres Unterfangens zu verdeutlichen versucht. Doch die Berliner Streikenden ließen sich von der Drohung, Berlin flöge aus den Verbänden, wenn es sich auf Verhandlungen über einen TVE einlasse, nicht einschüchtern.

In NRW jedoch läuft die Sache anders. Gesundheitsminister Laumann und Ministerpräsident Wüst ließen verlautbaren, ein Tarifvertrag komme auf jeden Fall zustande. Vorher hatten sie den gleichen Taschenspielertrick wie die Berliner Regierenden vorgeführt. Doch jetzt signalisieren sie, ernsthafte Verhandlungen aufnehmen zu wollen. Passiert ist seit dem Ultimatum bisher aber nichts bzgl. eines realen Angebots.

Ver.di kritisiert daran lediglich den langsamen Verhandlungstakt. Die Gewerkschaft entblödet sich aber nicht, den vermeintlichen Sinneswandel der Unternehmer:innenseite festzustellen und zu loben. Mag sein, dass die von den bürgerliche Medien organisierte „öffentliche Meinung“ dafür verantwortlich ist. Nach anfänglichen Sympathien für den Arbeitskampf mehren sich von Tag zu Tag – der Streik geht in die 5. Woche – kritische Stimmen. So schreibt die „Rheinische Post“ von Geiselhaft, in die Patient:innen von den Gewerkschafter:innen genommen würden. Andere Blätter raunen von Zorn und Fassungslosigkeit auf Seiten der Behandlungsbedürftigen.

Es ist notwendig, dagegen eine eigene Öffentlichkeit von unten zu mobilisieren, den Schulterschluss mit Patient:innenvereinigungen zu suchen und klarzumachen, dass die Forderungen der Beschäftigten in jedem Fall auch einen Beitrag zur Verbesserung der Behandlungen leisten würden. Verursacht wird der gesamte Pflegenotstand schließlich eindeutig von den profitorientierten Gesundheitskapitalen und ihren politischen Helfershelfer:innen, die sich jetzt aufführen, als hätten sie Kreide gefressen.

Doch viel wichtiger ist, deren Bauernfängerei zu entlarven und verurteilen. Diese liegt darin, dass die Klinikleitungen als Vorbedingung, um über einen TVE verhandeln zu können, aus dem Arbeit„geber“:innenverband austreten wollen. Dafür muss das NRW-Hochschulgesetz geändert werden. Nach dem Austritt wären die Unikliniken nicht mehr an die Tarifgemeinschaft gebunden. Die anderen, v. a. Entgelt betreffenden Tarifverträge sollen trotz des Austritts weiter gelten. Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt sprach daraufhin in einer Pressemitteilung von ver.di NRW vom 11.5.2022 davon, „dass der politische Wille da ist, den Weg für Tarifverhandlungen freizumachen“. Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick redete von einem möglichen Einstieg in einen geordneten Ausstieg aus dem Konflikt (WDR, 10.5.2022). Ähnliche Töne finden sich im Artikel „Eine starke Bewegung“ in ver.di publik 3/2022.

Natürlich können Gewerkschaften der Kapitalseite nicht aufzwingen, wie sie sich organisiert. In diesem Sinne hat die Berliner Krankenhausbewegung völlig richtig reagiert, entsprechende Einlassungen des Senats glatt zu ignorieren. Selbst in NRW hat die ver.di-Führung trotz ihrer Schönrednerei den Streik bisher nicht ausgesetzt, sondern verlängert. Doch bleibt zu kritisieren, dass sie einen Ausstieg aus dem Unternehmer:innenverband gutheißt, nur um an den Verhandlungstisch zu kommen. Das ist denn doch des Schlechten, der Sozialpartner:innenschaft, zu viel.

Immerhin verweist sie ihre Mitgliedschaft damit auf den Weg eines immer weiter zersplitterten Häuserkampfes, also schlechterer Bedingungen für ein branchenweites Ergebnis. Notwendig wäre aber folgende Ansage: Diese Taktik stellt nur einen weiteren Spaltungsversuch der organisierten Beschäftigten dar. Folglich werden wir mit verstärkter Kraft den branchen- und bundesweiten Kampf ausweiten bis hin zum politischen Massenstreik für eine gesetzliche Personalbemessung!

Eine solche politische Stoßrichtung müssen wir von der Gewerkschaft einfordern – auf deren Führung verlassen dürfen wir uns nicht. Vielmehr muss diese Ausrichtung auf den Streikversammlungen offen diskutiert und beschlossen sowie Streikleitungen gewählt werden, die diesem Kurs verpflichtet sind.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

Der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand muss, wie die Erfahrung bisheriger Kämpfe zeigt, über die rein betriebliche Ebene hinausgehen. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt!



Unikliniken NRW im Streik

Jürgen Roth, Infomail 1187, 6. Mai 2022

2021 hatten das Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und die Arbeit„nehmer“:innenkammern Bremen und Saarland – die einzigen derartigen Institute im Bundesgebiet –, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, insgesamt 12.700 Aussteiger:innen und Teilzeitkräfte der Pflegeberufe online befragt unter dem Motto „Ich pflege wieder, wenn … “. Nach vorsichtiger Kalkulation entstünden lt. dieser Umfrage durch verbesserte Arbeitsbedingungen 300.000 zusätzliche Vollzeitkräfte.

Als stärkste Motivation für Berufsrückkehr bzw. Arbeitszeitaufstockung wurde genannt: eine Personaldecke, die sich tatsächlich am Bedarf der pflegebedürftigen Menschen ausrichtet. Daneben werden genannt: Stärkung der Tarifbindung (nicht nur das Zurückgehen auf regionale Durchschnittswerte in der stationären Langzeitpflege als Kriterium für die Neuzulassung von Einrichtungen) sowie die Sicherung der Finanzierung. Auffällig war, dass ehemalige Beschäftigte aus der ambulanten Pflege diesen Bereich seltener als Ziel eines Wiedereinstiegs benannten. Dies wirft ein Licht auf die dortigen noch schlechteren Arbeitsverhältnisse, wo es kaum Ansätze zur Personalbemessung gibt.

Der Pflege- und sonstige Personalnotstand im Krankenhaus ließe sich also beheben, wenn v. a. die Zahl der Stellen und Arbeitsstunden aufgestockt würden. Jahrelange Auseinandersetzungen mit deutlichen Erfolgen in jüngster Zeit haben aber gezeigt: Das geht nur mit Arbeitskampf gegen Krankenhausträger, Kommunal- und Landesregierungen! Und hier liefern die Beschäftigten der 6 Unikliniken in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster gerade ein nachahmenswertes Beispiel ab. Ihrem Kampf gebührt volle Solidarität!

Von der Urabstimmung zum Vollstreik

Nachdem NRW-Landesregierung und Arbeit„geber“verband des Landes (AdL) das 100-Tage-Ultimatum am Sonntag, dem 1. Mai 2022, verstreichen lassen hatten, gab ver.di auf einer Pressekonferenz am darauffolgenden Montag bekannt, dass sich die organisierten Beschäftigten in einer Urabstimmung mit 98,31 % – einem überwältigenden Ergebnis – für Ausweitung des Streiks ausgesprochen hatten. Bisher gab es einen zweitägigen Warnstreik, der der Sammlung von 500 Aktivist:innen diente, die sich in Oberhausen trafen, darunter auch im Niederrheinstadion des Ex-Erstligisten RWO. Näheres dazu in NI 264: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/.

An der Urabstimmung hatten sich nicht nur Mitglieder, sondern auch weitere Beschäftigte beteiligt, was wir mit einem weinenden wie lachenden Auge betrachten sollten. Die positive Seite dieser Methode aus dem Arsenal des Social Organizing: So gewinnt das Ergebnis noch mehr Schlagkraft; die negative: Nichtmitglieder entscheiden darüber mit, ob – noch nicht wie – ver.di streiken soll. Es geht jetzt auch darum, aus diesen stimmberechtigten Unorganisierten rasch Gewerkschaftsmitglieder zu machen, denn die Gefahr von Streikbruch lastet natürlich auf dieser Gruppe objektiv schwerer.

Streik aussitzen ohne Angebot?

Ver.di Landesleiterin Gabriele Schmidt bestätigte, dass es zwar kurz vor Ablauf des Ultimatums „positive Signale aus der Politik“ gegeben habe, doch weder ein konkretes Angebot noch einen Vorschlag für einen Verhandlungstermin. Auf keinen der 7 (!) von ver.di unterbreiteten Terminvorschläge hätten die Arbeit„geber“:innen reagiert. Schmidt bekräftigte, dass ihre Gewerkschaft jetzt nicht mehr in der Situation stecke, zu Warnstreiks aufzurufen, sondern zu richtigen. Das ist die richtige und erstaunlich rasche Antwort auf deren Verweigerungshaltung, die letztlich auch von der Landesregierung gedeckt wird.

Fortschritt

Im Vergleich zur Berliner Krankenhausbewegung sehen wir einen weiteren positiven Unterschied im raschen Übergang zu regulären Streiks direkt nach dem Ultimatum. Am Mittwoch, dem 5. Mai 2022, haben sich daraufhin 1.700 Beschäftigte an den 6 Standorten in den Ausstand begeben, wie ver.di-Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick am gleichen Tag mitteilte. Für Mittwochabend war ein Treffen der gewerkschaftlichen Verhandlungsführung mit NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) angesetzt.

Wie streiken und das Ergebnis kontrollieren?

Von den Tarifbotschafter:innen mit informellem Status muss der Impuls für eine vollständige und formale Kontrolle über den zukünftigen Arbeitskampf und die Umsetzung des Ergebnisses ausgehen (Rechenschaftspflicht, Wahl und jederzeitige Abwahl von Streikkomitees vor und durch Mitgliedervollversammlungen, Kontrollorgane mit Vetobefugnissen bis hin zu Bettensperrungen, Aufnahmestopps und Stationsschließungen).

Die Streikenden dürfen sich nicht ins Bockshorn jagen lassen wie in Berlin. Dort wurde ihnen von Krankenhausträgern, Senat, aber leider auch der ver.di-Verhandlungsspitze vorgegaukelt, eine auskömmliche Finanzierung durch den Staat sei gegeben. Gar nicht weiter problematisiert wurde somit also die auf dem Fallpauschalen- oder DRG-Abrechnungssystem basierende Finanzierung der laufenden Betriebskosten. Der Senat bleibt trotz Mittelaufstockung weit unter dem nötigen Aufwand für Gebäude, Technik und sonstige Investitionen. Tarifverträge zu finanzieren, das verbietet ihm das Krankenhausfinanzierungsgesetz dagegen vollständig. Wird die Krankenhausfinanzierung nicht grundsätzlich geändert – Abschaffung der DRGs – und können wir die gewaltigen erforderlichen Mittel für deutlich mehr Personal, das für eine humane Pflege benötigt wird und unter diesen geänderten Bedingungen auch verfügbar wäre, nicht von den Reichen und ihrem Staat erzwingen, kann bei gleichem oder steigendem Behandlungsaufwand das Personal nur entlastet werden, wenn es wie oben beschrieben in den Betriebsablauf eingreift.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

All das zeigt, dass der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand über die rein betriebliche Ebene hinausgehen muss. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die kommende Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Doch gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt.



Unikliniken in Nordrhein-Westfalen: Vor einem Streik?

Jürgen Roth, Neue Internationale 264, Mai 2022

In Nordrhein-Westfalen haben sich Beschäftigte der 6 Universitätskliniken (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster) zusammengeschlossen. Sie fordern einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) nach Berliner Vorbild.

Ultimatum

Die Warnstreiks in der Länderentgelttarifrunde des öffentlichen Dienstes im November 2021 hatten den gewerkschaftlichen Organisationsgrad dort in die Höhe getrieben. 4.000 Beschäftigte beteiligten sich an Arbeitsniederlegungen, über 1.000 schlossen sich der Gewerkschaft an. Viele wurden Tarifbotschafter:innen, vergleichbar mit Tarifberater:innen bzw. Teamdelegierten an der Charité und bei Vivantes. Im Januar 2022 stellten 700 Aktive ein 100-Tage-Ultimatum an Landesregierung und -arbeit„geber“:innenverband, das am 1. Mai abläuft. 12.000 Unterschriften kamen bei einer Petition zusammen, die zusätzlich am 23. März überreicht wurde. Das entspricht einem Anteil von 63 % der von der Tarifforderung betroffenen Kolleg:innen. Am 12. und 13. April rief ver.di zu einem Warnstreik auf, der ohne Beeinträchtigung des Klinikbetriebs zunächst einmal der Sammlung der Aktivist:innen dienen sollte. Dem Aufruf folgten 500 Pflegekräfte nach Oberhausen in Stadthalle und Niederrheinstadion zu einem „Krankenhausratschlag“. Mit ernsthafteren Warnstreiks vor der Landtagswahl am 15. Mai ist zu rechnen, denn bisher gab es keine Reaktion von der Seite, an die sich das Ultimatum richtet.

Notruf nach Berliner Vorbild

Die Beschäftigten tauften ihr Bündnis „Notruf NRW – Gemeinsam stark für Entlastung“. 5.000 Überlastungsanzeigen an den 6 Uniklinken im Jahr 2021 verdeutlichen den Ernst der Lage: Es geht den Kolleg:innen um Mindestpersonalausstattungen für alle Bereiche, angemessene Belastungsausgleiche und Verbesserung der Ausbildungsqualität. Wichtig ist den Kolleg:innen der Einbezug aller Servicebereiche.

Doch nicht nur Forderungen und Umfang der von ihnen betroffenen Beschäftigtengruppen, 100-Tage-Ultimatum, Auftakt im Fußballstadion, Steigerung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, Existenz von Tarifbotschafter:innen gleichen den Verhältnissen vor den großen letztjährigen Berliner Krankenhausstreiks aufs Haar. Wöchentliche Aktiventreffen an jeder Uniklinik, ständige Gespräche mit den Kolleg:innen in allen betroffenen Abteilungen zwecks Erklärung der Tarifforderungen, Mitgliederwerbung und Aufforderung zur Unterzeichnung der Mehrheitspetition treten in die gleichen Fußstapfen. Des Weiteren ist positiv zu werten, dass auch in NRW, dem Vorbild aus der Hauptstadt folgend, offensichtlich Kontakte in die sog. Zivilgesellschaft geknüpft werden konnten: In digitalen Stadtversammlungen bekundeten Bürger:innen, Parteien und Verbände ihren Zuspruch, ihre Solidarität mit dem Kampf um den TVE.

Möglicherweise heben sich 2 Unterschiede fortschrittlich von den in Berlin ausgetretenen Pfaden ab: Zum einen scheint der Ruf nach Mindestpersonalbesetzung auch die Bereiche außerhalb der Pflege (ohne ärztliches Personal) zu umfassen, während es bei Vivantes „nur“ um eine Angleichung der Tochtergesellschaften an den Lohn- und Gehaltstarif des TVöD ging. Inwieweit in NRW diese Bereiche in einen Niedrigtarif ausgelagert worden waren bzw. noch sind, ist uns nicht bekannt. In Düsseldorf und Essen wurde aber seinerzeit auch für ihre Rückkehr unter Dach und TV der Klinikmütter gestreikt und dortige (Teil-)Erfolge könnten weitergehende Forderungen ermutigt haben. In jedem Fall muss aber ein Streikziel – anders als in der Hauptstadt – ihre vollständige Rückführung in Klinikhände sein! Zweitens zeigt sich, wie richtig wir lagen, als wir die Verknüpfung der Tarifrunde TVöD-L mit dem Kampf für einen TVE forderten. Das haben zwar GEW- und ver.di-Tarifkommissionen und -vorstände peinlichst herauszuhalten vermocht, doch die Beschäftigten der Uniklinken haben es an der Basis umgesetzt. Für sie war die Gehaltstarifrunde nicht Ende, sondern nächster Schritt in ihrer weitergehenden Auseinandersetzung!

Aus Fehlern lernen!

So weit, so gut! Es wurde mehr als gelernt aus den positiven Seiten der Berliner Krankenhausbewegung. Nun gilt es, deren Fehler und Schwächen zu überwinden. Erstens: Von den Tarifbotschafter:innen mit informellem Status muss der Impuls für eine vollständige und formale Kontrolle über den zukünftigen Arbeitskampf und die Umsetzung des Ergebnisses ausgehen (Wahl und jederzeitige Abwahl von Streikkomitees, Kontrollorgane mit Vetobefugnissen bis hin zu Bettensperrungen, Aufnahmestopps und Stationsschließungen). Am 25. April demonstrierten Beschäftigte der Charité und von Vivantes gegen die schleppende Umsetzung der Tarifbeschlüsse. So hat der Senat zwar die Landesinvestitionsmittel erhöht (2019: 80 Mio. Euro, 1922: 148 Mio., 1923: 154 Mio.).

Damit meint er, die Gewichtung im Budget der Kliniken zu ändern in Richtung auf mehr Mittel für die Finanzierung zusätzlichen Personals. Die Berliner Krankenhausgesellschaft rechnet aber allein mit einem jährlichen Investitionsmittelbedarf von 350 Mio. Euro. Stärkung der Eigenkapitalzuführungen allein für Vivantes (1922: 128,3 Mio.; 1923: 131,7 Mio.) sollen die Möglichkeit des Unternehmens verbessern, Kredite aufzunehmen. Tarifverträge zu finanzieren, das verbiete aber das Krankenhausfinanzierungsgesetz. Die Krankenhausträger müssen ihre laufenden Kosten selbst erwirtschaften – zuvorderst aus Fallpauschalen (DRGs)! Ver.di und Senatsparteien haben die Streikenden damals also getäuscht mit der Beschwichtigung, eine staatliche Finanzierung des TVE sei gewährleistet. Wird die Krankenhausfinanzierung nicht grundsätzlich geändert – Abschaffung der DRGs -, kann bei gleichem oder steigendem Behandlungsaufwand das Personal nur entlastet werden, wenn es wie oben beschrieben in den Betriebsablauf eingreift.

Vorbereiten muss sich die Krankenhausbewegung auch auf eine andere, kapitalistische „Lösung“ des Dilemmas Personalknappheit, die sich in der steigenden Zahl von Krankenhausschließungen bereits abzeichnet: den Rückzug aus der stationären Grundversorgung in der Fläche! Die kommende Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Doch gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

Welche Perspektive?

All das zeigt, dass der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand über die rein betriebliche Ebene hinausgehen muss. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die  in allen Sektoren, auch der Altenpflege gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt.



China: Vor dem Scheitern des nationalen Projektes 0-Covid?

Resa Ludivien, Infomail 1185, 20. April

Jahrelang erschien Chinas 0-Covidstrategie eine erfolgreiche und lebensrettende Alternative zur vorherrschenden Pandemiepolitik im Westen. Bis heute sind dort nur wenige Tausend Menschen an Corona verstorben, während in den USA mittlerweile fast eine Million an Covid-19 verstorben sind (Stand 19.4.22: 989.331). In den Vereinigten Staaten verstarben bisher 300 Menschen je 100.000 Einwohner:innen, in Deutschland 160,1, in China eine Person.

Paradoxerweise erscheint jedoch die Politik Chinas, folgen wir dem Tenor der westlichen Öffentlichkeit, als die gescheiterte, während wir hier endlich wieder auf Freiheit und das „Leben mit der Pandemie“, also der stillschweigenden Inkaufnahme weiterer Wellen und Toter zu leben gelernt hätten.

Gründe dafür gibt es mehrere. Aber klar ist, dass die chinesische Strategie samt ihre drakonischen Maßnahmen vor dem Hintergrund der Lage auf dem Weltmarkt, ökonomischer Probleme im Inneren, aber auch des autoritären Charakters der Pandemiepolitik der Bürokratie an ihre Grenzen stößt.

Dabei war die chinesische Politik zu Beginn der Pandemie über Monate, ja Jahre erfolgreich. Die Zahl der Toten und Infizierten konnte auf einem vergleichsweise geringen Niveau gehalten werden. Während sich Länder wie Deutschland von Lockdown zu Lockdown hievten und nun Impfpflicht oder Masken als unter „ferner liefen“ gelten, schien in China schnell wieder „alles beim Alten“. Hätte das Land eine den USA oder auch nur Deutschland vergleichbare Politik eingeschlagen, wären heute nicht Tausende, sondern Millionen Chines:innen der Pandemie zum Opfer gefallen.

Jetzt bestätigt sich wieder einmal, dass man globale Probleme wie eine Pandemie auch nur weltweit lösen kann. Chinas Abschottungspolitik sowie das Beharren auf einem eigenen Impfstoff haben den Ausbruch nur verschleppt, der auch durch mangelnde Maßnahmen und Mutationen in anderen Ländern provoziert wurde. Der derzeitige Ausbruch der Omikronvariante trifft auf eine nur in Teilen immunisierte Gesellschaft und zwingt die KP zum Handeln, damit sie an ihrem Narrativ der überlegeneren Strategie festhalten kann.

Grenzen der Strategie

Die chinesische Coronastrategie war auch im Rahmen des Systemkampfes wichtig. Überlegenheit wurde dem In- und Ausland suggeriert. Doch jetzt befinden sich Millionenstädte wie Shanghai, Beijing oder Shenzhen im Lockdown – ein Lockdown, der im Wesen seinesgleichen sucht. Der chinesische Alltag in diesen Städten bedeutet nun leere Straßen, abgeriegelte Viertel, sogar versiegelte Wohnungen, Ausgang nur zu den staatlich vorgeschriebenen Coronatests und eine steigende Überwachung, die sogar die bisherige übertrifft.

Die Versorgung der Menschen ist in Gefahr. In den betroffenen Gebieten beschweren sich die Anwohner:innen über eine schlechte staatliche Versorgung bis hin zu Lebensmittelknappheit. Selbst einzukaufen, ist so gut wie unmöglich. Daneben trifft die Omikronwelle auch in China auf ein belastetes und wahrscheinlich bald überlastetes Gesundheitssystem. Neben chinesischer traditioneller Medizin ist ein weiteres seiner Merkmale das Fehlen von Hausärzt:innen. Bist du krank, gehst du ins Krankenhaus. Viele Kollateralschäden sind hier zu erwarten: Menschen, die nicht hätten sterben müssen, wenn es genügend Ärzt:innen, Kapazitäten geben würde oder sie genügend Geld für eine Sonderbehandlung hätten. In westlichen Medien liest man nun von dramatischen Szenen, in denen Menschen abgewiesen oder infizierte Kleinkinder von ihren Eltern getrennt werden. Die soziale Sprengkraft der Situation ist greifbar. Auf Shanghais Straßen wird bereits das Militär eingesetzt, um der Lage und des Unmuts Herr zu werden.

Gerade scheint es, als könnte das Virus einen der schwersten Angriffe auf den chinesischen Imperialismus verkörpern, den dieser bisher gesehen hat. Derweil läuft die Propaganda weiter. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt wird nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Handels, der Rüstung und Militarisierung, sondern auch als Kulturkampf ausgetragen – sowohl innerhalb Chinas als auch darüber hinaus. Die Propagandamaschinerie für das Militär und vor allem gegen die USA soll auch gegen den Trend arbeiten, dass seit Jahren chinesische Familien eine starke Westbindung entwickelt haben und bspw. in die USA gehen, um ihre Kinder auf die Welt zu bringen, oder sich für die Ausbildung an westlichen Universitäten entscheiden. Beides sollte den Kindern später bessere Lebensbedingungen garantieren.

Seit der Öffnungspolitik nach Maos Tod und spätestens nach der Machtübernahme Xi Jinpings inszenierte sich China als ein Land im Aufschwung. Tatsächlich gewann der Staat an Macht im internationalen Gefüge und auch die chinesische Wirtschaft holte massiv auf. Für die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, also die Masse der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen galt das weitestgehend nicht. Außerhalb der schicken Innenstadtviertel von Großstädten zeigt sich ein ganz anderes Bild. Auch in Städten wie Beijing werden ärmere Menschen diskriminiert. Vor allem der Hukou (ein innerchinesischer Wohnsitzausweis), der besagt, wer sich wo aufhalten und ansiedeln darf, sorgt noch für ein weiteres Kontrollelement.

Illegale Arbeit im Untergrund stellt hier die einzige Möglichkeit dar. Nun steht die Wirtschaft vielerorts still und auch Pendler:innen von außerhalb kommen nicht in die Städte zur Arbeit. Das Essen wird rationiert und in die isolierten Viertel gebracht. Nur wie sollen Menschen überleben, die es eigentlich gar nicht geben darf? Auch ins Krankenhaus zu gehen, wird dadurch erschwert. Am meisten leiden arme Menschen, denn kein Ausgang bedeutet keine Arbeit, keine Arbeit bedeutet kein Gehalt und kein Gehalt bedeutet kein Essen.

Hinzu kommt, dass aufgrund der raschen Verbreitung von Omikron nicht nur die Zahl der Infizierten, sondern auch der Städte und Regionen und somit der Menschen, die von Lockdowns betroffen sind, weitaus höher ist als bei vorhergehenden Wellen. Greift die Regierung hier nicht ein, drohen nicht nur weitere Unruhen, sondern auch eine selbst verursachte Hungerkrise, sofern die Zahlen weiter steigen und die einzige noch vorhandene Maßnahme Lockdowns sind.

Wie China gegen Proteste und Abweichler:innen vorgeht, hat die Regierung in den letzten Jahren deutlich gemacht. Das Militär wurde gestärkt und die Überwachung ausgebaut. Deren Relevanz für einen vermeintlichen sozialen Frieden hat sich vor allem in Hongkong und Xinjiang gezeigt, wobei die Politik der Bürokratie auch an eine Ausrottungsmaßnahme grenzt, ob gewollt oder ungewollt. Überall wo Protest entsteht, verschwinden Menschen und landen in „Gefängnissen“, die eher an Folterlager erinnern. Dennoch gab es in den letzten Jahren immer wieder Einzelne und Gruppen, die das in Kauf genommen haben, bspw. im Rahmen der #MeToo-Proteste, und auch jetzt gibt es immer mehr Videos in den sog. sozialen Netzwerken, die Proteste zeigen. Auf diese folgen oft Verhaftung und Verurteilung. Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Sowohl in China als auch hierzulande haben die letzten Monate und Jahre sehr deutlich gezeigt, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise und imperialistisches Machtstreben keinen gesellschaftlichen Frieden bringen, keinen Wohlstand für alle und globale Konflikte nicht lösen können. Im Gegenteil: Das Versagen im Kampf gegen die Coronapandemie hat einmal vor Augen geführt, dass die Unterordnung der Gesundheit der Bevölkerung unter kurzfristige Profitinteressen Millionen das Leben kostet.

Krise und Widerstand

Doch in Zeiten der Krise und wachsender ökonomischer Schwierigkeiten stößt die Coronapolitik der chinesischen Regierung selbst an Grenzen – und damit auch auf den Unmut von Millionen. Sie betrachten wahrscheinlich schon heute die Politik der KP aus einem anderen Blickwindel. Aus dieser Erkenntnis kann Handeln, einschließlich spontaner Protestaktionen verzweifelter Menschen, folgen. Zugleich ist mit massiver Repression zu rechnen.

Damit Unmut und etwaige Proteste jedoch nicht einfach Episoden bleiben oder brutal zerschlagen werden, brauchen sie erstens klare soziale und politische Forderungen. Diese müssen eine Sicherung der Versorgung aller – also auch der Menschen ohne gültige Papiere, der Armen und Wohnungslosen – beinhalten, also Nahrungsmittel, Zugang zu Gesundheitsvorsorge. Wo Knappheit an Ressourcen herrscht, müssen diese gemäß den Bedürfnissen, nicht den Privilegien in der Gesellschaft verteilt werden. Um überhaupt eine rationale Versorgung zu sichern, muss die Offenlegung aller bestehenden Ressourcen wie auch des wirklichen Stands der Pandemie eingefordert werden. Plattformen wie Weibo (ein chinesischer Mikrobloggingdienst ähnlich Facebook und Twitter) sollten dazu genutzt werden.

Solche Forderungen stellen faktisch die Kontrolle der Bürokratie in Frage. Um die Zuteilung von Gütern zu sichern, sollen in den Betrieben, Gesundheitseinrichtungen, in den Wohnblöcken und Stadtvierteln von der Bevölkerung Ausschüsse zur Organisation und Kontrolle dieser Arbeiten gewählt werden. Von entscheidender Bedeutung wird es dabei sein, dass diese Strukturen in den Betrieben verankert sind und ihre Forderungen mit Aktionen Nachdruck verleihen können. Regionen wie Shanghai bilden heute nicht nur Zentren der chinesischen, sondern der Weltwirtschaft. Angesichts der Pandemie wäre es auch essentiell, solche Strukturen nicht nur in den Regionen unter Lockdown aufzubauen, sondern auch die Arbeiter:innen in den anderen Landesteilen zur Unterstützung aufzufordern. Die Pandemie wird schließlich vor niemandem/r Halt machen und die Alternative zum bürokratisch-autoritären Lockdown lautet nicht Öffnung fürs Kapital, sondern Lockdown unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innen.

Eine Politik der Arbeiter:innenklasse wird sicherlich auf den Widerstand der chinesischen KP-Spitzen und erst recht der Kapitalist:innen im Land treffen. Daher muss nicht nur mit Repression gerechnet werden. Ihre politisch bewusstesten Teile müssen die Lage auch nutzen, um den politischen Bruch mit der KP voranzubringen, die das Wort kommunistisch im Namen nicht verdient hat und eher einer Politkaste gleicht, die die imperialistischen Interessen des chinesischen Kapitals vorantreibt. Daher braucht es in China eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei, die unter den Bedingungen der Diktatur und Unterdrückung aufgebaut werden kann. Die aktuelle Krise der Coronapolitik, die ökonomischen Probleme Chinas und mögliche Massenproteste und Aktionen können die Bedingungen für deren Entstehung extrem begünstigen.

Für uns in Europa oder den USA muss die internationale Solidarität im Vordergrund stehen, die Unterstützung jeden Schrittes zur Bildung einer von der Bürokratie unabhängigen Arbeiter:innenbewegung einerseits sowie des Kampfs gegen die imperialistische Propaganda auf allen Seiten andererseits. Das bedeutet für uns auch, sich von der chauvinistischen und rassistischen Rhetorik über Chines:innen zu lösen wie auch von dem westlich-imperialistischen Narrativ, dass China in der Pandemie auf eine Politik der Öffnung und Durchseuchung hätte setzen sollen, damit seine Produktion für den Weltmarkt nicht ins Stocken gerät. Das Problem der chinesischen Coronapolitik besteht nicht darin, dass das Land „zu viel“ getan hat, sondern dass sie bürokratisch und repressiv erfolgt ist und die Pandemie nicht international koordiniert bekämpft wurde.




Zwei Jahre Corona und das Fiasko der Regierungspolitik

Katharina Wagner, Neue Internationale 263, April 2022

Endlich ist er da, der lang ersehnte „Freedom-Day“. Bundesweit sollte bereits am 20.03., spätestens aber nach Ablauf einer Übergangszeit am 02.04.2022 ein Großteil der Corona-Schutzmaßnahmen wegfallen, auch mit einer nach wie vor sehr hohen Inzidenz von 1758,4 (Stand 26.03.2022).

Dazu gehören beispielsweise 3G-Regelungen, die Homeoffice- sowie die Maskenpflicht in Innenräumen. Den Bundesländern stehen damit nur noch recht wenige Schutzmaßnahmen wie etwa die Masken- oder Testpflicht für besonders gefährdete Einrichtungen wie etwa Pflegeheime oder Kliniken zur Verfügung. Auch sind weitergehende Beschränkungen für sogenannte „Hotspots“ möglich, sobald die jeweiligen Länderparlamente eine besonders kritische Corona-Situation ausrufen.

Scharfe Kritik seitens der Bundesländer kam prompt. Diese werfen dem Bund verantwortungslose Politik vor. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach dagegen von einem großen Schritt in die Normalität und einem Rückgang zur Eigenverantwortung der einzelnen Bürger:innen. Eine Studie der Uni Erfurt zeigt, dass das Vertrauen der Bürger:innen in die Politik vor allem in den letzten zwei Jahren kontinuierlich gesunken ist, wohingegen das Vertrauen in die Wissenschaft relativ stabil auf hohem Niveau liegt (Quelle: https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/topic/vertrauen-ablehnung-demos/10-vertrauen/). Um dies besser zu ver-stehen, sollten wir uns an dieser Stelle die bisherige Corona-Politik in Deutschland genauer ansehen und bilanzieren.

Corona-Politik in Deutschland: Note ungenügend

Zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland vor etwas mehr als zwei Jahren gab es in vielen Teilen der Bevölkerung noch großes Vertrauen in die staatlichen Institutionen, sie mögen diese Pandemie schnell und erfolgreich in den Griff bekommen. Die Realität sah leider völlig anders aus.  Setzte die Politik noch zu Beginn auf eine „Flatten the curve“-Strategie in Verbindung mit kurz-zeitigen Lockdowns, wird bei Omikron nun eine „Durchseuchungsstrategie“ unter Vermeidung einer zu starken Belastung im Gesundheitswesen verfolgt. Weiterhin baut man zusätzlich auf eine möglichst hohe Impfquote, auch in Hinblick auf den kommenden „Corona-Herbst“.

Wir erinnern uns alle noch an die lang anhaltende Diskussion über Maskenpflicht und ob Mund- und Nasenschutz im Allgemeinen überhaupt sinnvoll zur Eindämmung einer Pandemie wäre. Als sich das Robert-Koch-Institut (RKI) dann endlich für Masken und eine daraus resultierende Tragep-flicht aussprach, bestand das Problem vor allem in der Bereitstellung und Beschaffung von aus-reichenden Mengen an Schutzausrüstung seitens der Bundesregierung. Hier zeigten sich wieder einmal die starke wirtschaftliche Abhängigkeit von Lieferketten aus Ländern wie beispielsweise China und fehlende Produktionsmöglichkeiten innerhalb Europas.

Das schlechte Krisenmanage-ment des Bundes offenbarte sich auch in Bezug auf das Impfen. Zentren wurden deutlich zu lang-sam aufgebaut. Eine wirkliche Impfkampagne mit ausführlicher Aufklärung gab es nicht und in sogenannten „Problembezirken“ beispielsweise in Köln oder Berlin fehlte es häufig komplett an Angeboten für die größtenteils migrantische Bevölkerung. Zusätzlich wurde das Impftempo dann auch noch durch fehlende Mengen an Impfstoffen stark gedrosselt, was dazu führte, dass die Bundesregierung das angestrebte Impfziel von 80 % immer wieder nach hinten verschieben musste und tatsächlich bis heute nicht erreicht hat.

Dies liegt auch an mangelnder Impfbereitschaft von Teilen der Bevölkerung. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern wie beispielsweise Frankreich oder Österreich hat sich die deutsche Bundesregierung relativ schnell und vehement gegen eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Vor allem im Sommer 2021 wollte man im Vorfeld der anstehenden Bundestagswahl dieses Thema am liebsten komplett von der Tagesordnung streichen, um die Anhänger:innen der Querdenkenbewegung, welche nach wie vor tausende Menschen auf die Straßen mobilisiert, nicht noch stärker gegen das eigene politische Programm aufzubringen und sie in die Arme der AfD zu treiben. Vor allem aufgrund einer politischen Schwäche aller Parteien, allen voran der Linken, in Bezug auf Fragen rund um die Pandemiebekämpfung wird diese Bewegung nach wie vor von vielen als politische Alternative angesehen. Daher sah man sich gezwungen, immer stärkere Zugeständnisse in ihre Richtung zu machen. Aus dem anfänglichen klaren „Nein“ wurde mittlerweile aber ein „Vielleicht“. Nach wie vor wird im Bundestag über eine allgemeine Impfpflicht diskutiert.

Wer kontrolliert?

Allerdings ist die Frage, wie und durch wen man diese kontrollieren könnte, bis jetzt nicht geklärt. Zudem gelang es bisher nicht, die tatsächlichen Impfzahlen richtig zu erfassen oder die Gesund-heitsämter untereinander digital zu vernetzen. Auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht, welche zum 16. März eingeführt wurde, scheint kein wirksames Instrument im Kampf gegen die herrschende Impflücke zu sein. Derzeit läuft noch die Meldezeit für ungeimpfte Beschäftigte durch betroffene Einrichtungen. Allein in Baden-Württemberg sollen es mehr als 17.000 sein. Eine Freistellung aller Ungeimpfter nach Einzelfallprüfung durch die Gesundheitsämter ist personell kaum durchzuführen. Um die Impflücke doch noch zu schließen, wurde Ende Dezember 2021 der proteinbasierte Impfstoff Novavax in Europa zugelassen. Allerdings liegt dieser wie Blei in den Regalen, sodass ein Großteil der eingekauften Dosen höchstwahrscheinlich nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums vernichtet werden muss.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die sich weiter zuspitzende Situation im Gesundheitsbereich. Viele Pflegekräfte haben während der Pandemie aufgrund sich stetig verschlechternder Arbeitsbedingun-gen ihren Beruf aufgegeben. Eine Änderung dieser Rahmenbedingungen wird derzeit von der Bundesregierung nicht wirklich ernsthaft erwogen. Auch wurde seitens der Politik wenig unternommen, um Kindern und Jugendlichen eine sichere Bildung zu ermöglichen. Ob Homeschooling, Distanz- und Wechselunterricht, Testmöglichkeiten oder die Anschaffung geeigneter Lüftungsanlagen – nichts wurde zufriedenstellend umgesetzt und man redete sich die teilweise gravierend hohen Infektionszahlen unter dieser Bevölkerungsgruppe einfach schön.

Aufgrund von Fehlentscheidungen und mangelhaftem Krisenmanagement der bestehenden und früheren Bundesregierung sind dadurch allein in Deutschland bisher über 20 Mio. Infektionen dokumentiert, wobei die Dunkelziffer wohl das Zwei- bis Dreifache deren beträgt  und bereits mehr als 128.000 Menschen in Verbindung mit einer Corona-Infektion verstarben. Auch verzeichnet Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern eine deutlich höhere Übersterblichkeit. Einiges davon hätte wohl durch ein besseres Krisenmanagement im Interesse aller Lohnabhängigen, Kinder und Jugendlichen verhindert werden können.

Hauptursache: kurzfristige Kapitalinteressen!

Doch warum wurden diese Entscheidungen seitens der Politik so getroffen? Dies muss mit der vorherrschenden kapitalistischen Produktionsweise und einer globalen Wettbewerbsfähigkeit erklärt werden. Bieten Lockdowns in Verbindung mit starken Einschränkungen zwar die Möglichkeit einer raschen Senkung der Infektionszahlen, werden sie jedoch nicht nur von Teilen der Bevölkerung, sondern auch seitens der Wirtschaft abgelehnt. Schlussendlich geht es hierbei vor allem um den Wettbewerbsvorteil der eigenen Nationalökonomie gegenüber einer sich verschärfenden internationalen Konkurrenz und somit um Kapitalinteressen.

Gesellschaftliche Bereiche wie Bildung oder Gesundheitswesen stehen dagegen zu nicht geringem Teil außerhalb der kapitalistischen Profitinteressen, da hier eben nicht überall ein Mehrwert generi-ert werden kann. Daher wurden diese Kosten schon früh quasi vergesellschaftet und auf alle Bürger:innen bzw. Versicherten umgelegt. Aus diesem Grund fehlt es in diesen Bereichen an ausreichenden Investitionen, um den bestehenden Personal- und Geldmangel im Gesundheitssystem zu lindern oder fehlende Schutzeinrichtungen für Schulen und Kitas zu beschaffen.

Alternative

Für eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung und ein Krisenmanagement im Interesse aller Lohnabhängigen, Kinder und Jugendlichen benötigen wir eine bundesweite Bewegung, welche sich auf die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen stützt. Diese sollte den Aufbau von Aktionskomitees in Betrieben, Schulen, Universitäten und Stadtteilen organisieren.

Nur so kann es gelingen, die Mobilisierung breit zu streuen und direkt an der Basis eine politische Alternative zu der bestehenden Querdenkenbewegung aufzubauen. Zudem sollte sich diese Bewegung kritisch zur bisherigen und ungenügenden Politik der Bundesregierung äußern und sich für eine klare Perspektive im Sinne einer internationalen Pandemiebekämpfung (Abschaffung der Patente, ausreichende Versorgung mit Vakzinen zu erschwinglichen Preisen) unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse einsetzen.




Lehren eines bedeutenden Streiks

Beschäftigte bei Charité, Vivantes und Tochtergesellschaften setzen Tarifvertrag Entlastung und einen Tarifvertrag mit ersten Angleichungen an den TVöD durch

Vernetzung kämpferische Gewerkschaften (VKG), Infomail 1178, 7. Februar 2022

Der folgende Beitrag wurde zuerst auf der Seite Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften veröffentlicht.

Nach über sieben Wochen Erzwingungsstreik hatte der Berliner Krankenhauskonzern Vivantes zuletzt für seine ausgelagerten Tochtergesellschaften gemeinsam mit Vertreter*innen der Gewerkschaft ver.di ein Eckpunktepapier unterzeichnet, das einige Verbesserungen, die an den TVöD anknüpfen, enthalten soll. Bereits zuvor, am 7.10., gab es nach 30 Streiktagen ein Eckpunktepapier zur Entlastung der Pflegekräfte bei der Charité und 4 Tage später folgte der Vivantes-Konzern. Die Streiks wurden nach der Einigung auf die Eckpunktepapiere bis zur Unterzeichnung von entsprechenden Tarifverträgen ausgesetzt. In der Zwischenzeit gibt es für beide Häuser einen Tarifvertrag Entlastung und für die Vivantes-Töchter einen ausgehandelten Tarifvertrag über eine Annäherung an den TVöD, die zum 1. Januar 2022 in Kraft getreten sind. Dieser Erfolg war nur möglich, weil zum einen die Vorbereitungen bereits im Frühjahr 2020 begonnen wurden, verbunden mit einer erfolgreichen Kampagne zur Gewinnung von neuen ver.di-Mitgliedern: Insgesamt wurden über 2000 neue Gewerkschafter*innen gewonnen, eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt in diese harte Auseinandersetzung gehen und bestehen zu können. Zum anderen wurden Strukturen wie die Teamdelegierten aufgebaut und diese auch in ihren Aufgaben geschult. Ein wichtiges Element, um zum einen die Beschäftigten zu aktivieren und für die Streiks zu mobilisieren. Zum anderen stellen sie auch Ansätze zur Kontrolle über die Entscheidungen der Tarifkommissionen dar.

Abschluss bei der Charité:

Ver.di-Verhandlungsführerin Melanie Guba erkärte zum Abschluss des Eckpunktepapiers, alle Forderungen seien in diesem Papier, das mit der Charité-Geschäftsführung ausgehandelt wurde, berücksichtigt worden: Mindestbesetzungsregelungen für alle Bereiche, darunter Stationen, OP-Säle und Notaufnahmen/Rettungsstellen; Regelung eines Belastungsausgleichs; Verbesserung der Ausbildungsbedingungen. War auf Intensivstationen bisher eine Pflegekraft für bis zu 4 PatientInnen zuständig, im Nachtdienst für 20 – 30, so soll der neue Personalschlüssel 1:1 bzw. 1:10 – 1:17 lauten. In den Kreißsälen soll es wieder möglich werden, dass eine Hebamme nur eine Frau bei der Geburt begleitet. Es sollen 3 neue Ausbildungsstationen und 1 multiprofessionelle Intensiv-Lehrstation eingerichtet werden.

Wenn eine Abteilung unterbesetzt ist, Leiharbeitskräfte eingesetzt werden, oder nach Gewalterfahrungen gibt es Belastungspunkte. Die Punkte können dann in Freizeitausgleich, Erholungsbeihilfen, Kinderbetreuungszuschüsse, Altersteilzeitkonten oder Sabbaticals (längere Auszeiten) umgewandelt werden. Der Belastungsausgleich im Fall der Unterschreitung der Mindestpersonalbesetzung im TVE sieht 1 freie Schicht für 5 in Überlastung vor. Die Ausgleichsschichten sind jedoch in den nächsten 3 Jahren gedeckelt: 2022 max. 5, 2023 10, 2024 15 Tage.

Bei der Charité sollen in den nächsten 3 Jahren 700 neue Stellen geschaffen wie auch akademisierte Gesundheitsfachberufe aufgebaut werden („Gesamtstrategie 2030“).

Vergleich mit dem Vivantes-Mutterkonzern-Eckpunktepapier:

Im Kern soll der TVE die Angleichung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Berliner Krankenhäusern anstreben. Die Verhandlungsführung von Vivantes wollte anfangs gar nicht über einen TVE verhandeln und war gegen den Streik gerichtlich per einstweiliger Verfügung vorgegangen. Nun trat mit dem Abschluss an der Charité sicher eine Situation ein, nach der Vivantes sich nicht mehr komplett verweigern konnte. Eine weitere Blockade hätte die Gefahr einer Abwanderung des Personals zur Charité heraufbeschworen oder zumindest hätte es einen Imageverlust bedeutet und es wäre schwieriger geworden, Fachpersonal zu aquirieren. Das Eckpunktepapier und auch der TVE bleibt aber in vielen Punkten hinter dem der Uniklinik zurück. Zwar soll auch hier ein Punktesystem eingeführt werden, wenn Schichten unterbesetzt sind, mit entsprechenden Freischichten, dieses ist aber schlechter geregelt als bei der Charité: Im Kern fällt 1 Freischicht auf 9 in Überlast (Charité: 5). Gegenüber einem vorherigen Angebot (1:12) stellt dies eine deutliche Verbesserung dar. Das gilt auch für das Ergebnis für Auszubildende (1:48). Allerdings bekommen diese den Freizeitausgleich erst angerechnet, wenn sie nach Ende ihrer Ausbildung von Vivantes übernommen werden. Es gibt auch keine Zusage für Neueinstellungen wie bei der Charité. Kolleg*innen können auch statt Freizeit eine entsprechende Auszahlung in Geld wählen. Die Konzernleitung hatte stattdessen im Laufe des Arbeitskampfes angedeutet, dass sie planen, Leistungen abzubauen, um mögliche Mindestpersonalbesetzungen zu erfüllen, also Bettenkapazitäten zu reduzieren. Der TVE soll in beiden Konzernen eine Laufzeit von 3 Jahren aufweisen.

Die Gefahr ist groß, dass es zumindest bei Vivantes zu keinem spürbaren Personalaufbau, sondern eher zu einem Abbau der Leistungen – sprich der Bettenkapazitäten – kommen wird, was wiederum zu einer Beeinträchtigung der Notfall- und Grundversorgung führen kann. Die Belegschaften haben die ausgehandelten Tarifverträge bei der Urabstimmung zwar mit überwältigender Mehrheit angenommen – bei der Charité mit 96,3 %, bei Vivantes mit 96,7 %. Trotzdem hätten die KollegInnen die Möglichkeit erhalten müssen, in Abteilungsversammlungen (unter Berücksichtigung von Notdiensten) über das für und wider der Tarifverträgen (inkl. von Beispielrechnungen) zu diskutieren, was auch die Annahme oder Ablehnung hätte beinhalten müssen.

Wichtige Teilerfolge der Streiks

Die Berliner Krankenhausbewegung hat es geschafft, durch einen langen und hartnäckig geführten Streik erfolgreich zu sein – trotz einiger Schwächen. Der TVE an der Charité ist in vielerlei Hinsicht besser als bisherige Entlastungstarifverträge und es ist gelungen, die Vivantes-Geschäftsführung schließlich zum Einlenken und zu einem Abschluss zu zwingen. Dies ist umso wichtiger, da die kommunalen Arbeitgeberverbände ihren Mitgliedern bisher den Abschluss eines TVE untersagten. Der TVE in beiden Krankenhäusern umfasst deutlich mehr Bereiche als 2015, darunter auch nicht-stationäre wie Kreißsäle, OPs und Funktionsabteilungen (Notaufnahmen/Rettungsstellen, Untersuchungsräume) und bietet zudem konkretere Entlastungsregelungen.

Dazu kommt, dass es nun ein Konsequenzenmanagement gibt, was es beim ersten – 2015 bei der Charité erkämpften – TVE so noch nicht gab. Der Arbeitgeber soll so gezwungen werden, auf die ein oder andere Weise eine Entlastung des Personals umzusetzen – entweder durch Einsatz von mehr Personal, oder durch Abbau von Leistungen. Letzteres mit der möglichen Konsequenz der Beeinträchtigung der Gesundheitsversorgung in den Bezirken.

Doch klar ist, dass damit die Probleme nicht gelöst sind und noch lange keine ausreichende Personalausstattung sicher gestellt ist: Es besteht die Gefahr, dass gerade da, wo der TVE auch eine Bezahlung anstatt Freizeitausgleich möglich macht, in der Praxis starker Druck auf die Beschäftigten ausgeübt wird, sich doch gegen den Freizeitausgleich zu entscheiden, um die Situation auf Stationen nicht zu verschlimmern. Diese Möglichkeit besteht auch dann, wenn – zumindest von ver.di – beabsichtigt wird, Freizeitausgleich den Vorzug zu geben. Was zur Folge haben kann, dass es zu keinem spürbaren Personalaufbau kommt.

In diesem Zusammenhang wäre es aus unserer Sicht sinnvoll, unter den Beschäftigten und Aktiven folgende Fragen zu diskutieren: Wie können die Beschäftigten selbst die Umsetzung der Regelungen aus den TVE kontrollieren? Und wie können die Beschäftigten auch über Sanktionen – wie z.B. Bettensperrung und Aufnahmestopps – entscheiden, wenn die Klinikleitungen sich nicht an die Vereinbarungen halten? Gerade in einer Phase ohne Streiks sind solche Maßnahmen wichtig, um den Druck auf die Klinikleitungen nach Einstellung von mehr Personal aufrechterhalten zu können. Die Beschäftigen selbst müssen diese Mittel in die Hand bekommen, da sie es sind (und auch die PatientInnen), die ein wirkliches Interesse an einer Gesundheitsversorgung entsprechend dem Bedarf mit entsprechend guten Arbeitsbedingungen haben.

Vivantes-Töchter

Im Tarifkonflikt bei den Tochtergesellschaften der landeseigenen Vivantes-Kliniken sollen die Beschäftigten nun bis Ende 2025 schrittweise mehr Geld erhalten. Wesentliche Bestandteile des TVÖD-Mantels sollen nun zur Geltung kommen. Dazu gehören 30 Tage Urlaub. Andere Vergünstigungen wie zur betrieblichen Altersvorsorge bleiben außen vor. Zur Zufriedenheit trügen die stark an ihm orientierte Zulagenregelung sowie die Verlängerung des Krankengeldzuschusses über die 6. Woche (eigentlich überhaupt ein Krankengeldzuschuss, denn bis zur 6. Woche gilt ja die gesetzliche Lohnfortzahlung) hinaus bei, so Alexander Thonig von VivantesClean (Reinigungsgesellschaft), Mitglied der ver.di-Tarifkommission. (Quelle: NEUES DEUTSCHLAND, 1.11.2021, S. 10). „Insbesondere in den unteren Lohngruppen bedeutet das in Zukunft deutlich höhere Einkommen und deutlich mehr Gerechtigkeit“, teilte Verdi-Verhandlungsführer Ivo Garbe mit.

Doch von einer Angleichung an die TVÖD-Tabellen ist das Papier weit entfernt: Je nach Tochter sollen ihre Löhne und Gehälter in den kommenden vier Jahren nach und nach auf 91 beziehungsweise 96 Prozent des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) steigen – wie z.B. bei Vivantes Rehabilitation. Sauer stößt vielen Beschäftigten auf, dass keine vollständige Angleichung an den TVöD erreicht werden konnte, geschweige denn eine Rückkehr in den Schoß der Konzernmutter, die ja von Senat und Abgeordnetenhaus versprochen worden war. Melanie Meißner, Medizinische Fachangestellte in einem MVZ, macht ferner darauf aufmerksam, dass manche ihrer Kolleg*innen in den Bestandsschutz schlüpfen müssen, um nicht weniger zu verdienen als zuvor. In Anlehnung an den TVöD nehmen die Eckpunkte nämlich die Lohngruppeneinteilung nach Dauer der Betriebszugehörigkeit vor. Verhandlungsführer Ivo Garbe bezeichnet das Ergebnis denn auch als „teils gut und teils schmerzhaft“.

Für das Labor Berlin, ein gemeinsames Tochterunternehmen mit der Charité, gelten die Eckpunkte nicht. Der Verhandlungsaufforderung ver.dis sind die Geschäftsführungen bisher nicht nachgekommen.

Auch hier haben die Beschäftigten in der Urabstimmung dem Tarifvertrag mit 95,7 % zugestimmt trotz aller Schwächen und setzen auf 2025, um den Rest der Forderungen durchzusetzen (so die Physiotherapeutin Lynn Stephainsiki – selbst eine der aktiven Teamdelegierten – in einem nd-Interview vom 4.12.21). Wir hätten den Kolleg*innen jedoch empfohlen aufgrund der Schwächen der langen Laufzeit und der weiterhin großen Lücke zum TVÖD das Ergebnis abzulehnen. Ein Nein in der Urabstimmung – eine verbindliche Urabstimmung hatte ver.di nicht vorgesehen – bedeutet natürlich auch, eine Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Streiks zum Ausdruck zu bringen. Hierfür wäre es nötig, alle wichtigen Lehren wie zur Streikdemokratie und Organisierung einer gewerkschaftlichen Solidaritätskampagne zu ziehen.

Streikdemokratie

Anders als in den meisten betrieblichen oder Tarifauseinandersetzungen gab es eine starke Einbeziehung und Beteiligung der streikenden Kolleg*innen. Fast jeder Bereich inklusive der Tochterunternehmen hatte ein/e Sprecher*in auf den Kundgebungen. Neben diesen Mobilisierungen ermittelte jede Station ihre Personaluntergrenzen, stellte Notdienstpläne auf und brachte ihre Meinung zum Stand der Verhandlungen ein. Dafür wurden überall Teamdelegierte gewählt, die als Verbindungsglied zwischen den Streikenden und der Tarifkommission und Verhandlungsführung fungieren sollten. Zudem wurde eine repräsentative Tarifkommission gewählt, in der zahlreiche unterschiedliche Disziplinen vertreten waren. Mit den Teamdelegierten wurden Organe geschaffen, die zum einen aktiv zur Beteiligung der Beschäftigten während der Streiks beitrugen, als auch eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Umsetzung des TVE ausüben könnten. Dies stellt alles ein gutes Vorbild für zukünftige Arbeitsauseinandersetzungen inkl. von Tarifrunden dar. Zudem bieten die im Kampf geschaffenen neuen Aktivenstrukturen nun die Möglichkeit, aktive ver.di-Betriebsgruppen und Vertrauensleutestrukturen zu stärken bzw. aufzubauen.

Die Berliner Krankenhausbewegung hat sich somit durch demokratischere Strukturen ausgezeichnet, als die meisten anderen Streikbewegungen. Es ist jedoch wichtig, dass die Kontrolle über den Streik und vor allem über Streikaussetzung und Ergebnisse wirklich bei den Streikenden selbst liegt. Alle Verhandlungsstände sollten stets transparent gemacht werden, und den Streikenden die Möglichkeit zur Diskussion und Abstimmung über die nächsten Schritte und Streikstrategien gegeben werden. Dafür sind regelmäßige Streikversammlungen nötig. Um diese Kontrolle während einer Auseinandersetzung permanent auszuüben und die nächsten Aktionen zu planen bzw. Versammlungen einberufen zu können, braucht es Organe, die von den Beschäftigten aus den Stationen gewählt werden, diesen rechenschaftspflichtig sind und von diesen jederzeit abgewählt werden können – nämlich gewählte Streik- oder Arbeitskampfleitungen bzw. Streikkomitees.

Auch ein Verhandlungsergebnis sollte grundsätzlich erst demokratisch auf einer Streikversammlung diskutiert werden und die Aussetzung des Streiks erst erfolgen, wenn die Streikenden darüber abstimmen konnten. Das war nicht der Fall. Dass ein Streik auch bis zur Urabstimmung gehen kann, zeigte 2011 der Streik beim Charité Facility Management (CFM). Als es nach drei Monaten Streik ein Angebot gab, dem die Verhandlungs- und Tarifkommission von ver.di zugestimmt hatten, wurde der Streik fortgesetzt, bis das Ergebnis der Urabstimmung bekannt war – um den Kolleg*innen die Möglichkeit zu geben, in Ruhe über das Ergebnis zu beraten und auch Lehren aus ihrem Streik gemeinsam zu diskutieren.

Gemeinsamer Kampf

Die gemeinsame Streikbewegung an beiden großen landeseigenen Krankenhäusern war ein großer Schritt nach vorn. Die Kolleg*innen vernetzten sich durch den Streik miteinander und die Solidarität untereinander ist groß. Zudem gibt es viele Elemente dieses Kampfes, die für einen erfolgreichen bundesweiten Kampf aufgegriffen werden könnten. Wie man allerdings genau mit der Frage umgeht, was zu tun ist, wenn es zu einem ersten Abschluss kommt, und wie man mit der dadurch entstehenden Aufspaltung des Streiks umgeht, wurde von der ver.di-Führung nicht zur Diskussion gestellt.

Sicher ist es richtig zu sagen, dass das Ergebnis an der Charité die Vivantes Geschäftsführung auch so schon unter Druck setzte, etwas abzuschließen. Doch führte die Streikaussetzung der Kolleg*innen an der Charité bei einigen Vivantes-Kolleg*innen zu dem Gefühl, dass es jetzt schwieriger ist, den Druck noch weiter zu erhöhen. Besonders schwierig wurde die Lage für die Beschäftigten der Tochtergesellschaften, die am Ende allein weiter streiken mussten. Es wäre wichtig gewesen, wenn dies in großen und regelmäßigen Streikversammlungen und Streikleitungen bzw. Streikkomitees, die allein den Streikenden gegenüber verantwortlich sind, gemeinsam diskutiert und abgestimmt worden wäre. Da es sich rechtlich um drei verschiedene Tarifverhandlungen handelt, war dies keine einfache Frage. Wir hätten in einer solchen Diskussion für eine gemeinsame Streikfortsetzung argumentiert, auch weil die Verantwortung für beide Krankenhäuser letztlich beim Eigentümer, dem Land Berlin liegt.

Für einen gemeinsamen Kampf der Krankenhausbeschäftigten mit der arbeitenden Bevölkerung

 Ein bedeutender Faktor war in der gesamten Berliner Krankenhausbewegung die Frage der Solidarität. So konnte mit wirksamen Aktionen die breite Öffentlichkeit und Bündnisse wie deutsche Wohnen & Co. Enteignen einbezogen werden. Wichtig war zum Beispiel eine große Demonstration am Samstag, den 9. Oktober, wo auch die Berliner Bevölkerung, insbesondere soziale Bewegungen wie auch Gewerkschaften aufgerufen wurden, teilzunehmen. Diese Demonstration war sehr kämpferisch und laut. Sie fand nach der Aussetzung des Streiks an der Charité und unmittelbar vor der Unterzeichnung des Eckpunktepapiers für den TVE bei Vivantes statt. So gut diese Demonstration war, muss trotzdem gesagt werden, dass eines gefehlt hat: Delegationen von anderen Berliner Betrieben und aus den DGB-Gewerkschaften. Dafür wäre es nötig gewesen, schon Wochen vorher eine bewusste Kampagne von den Berliner Gewerkschaften in die Betriebe hinein zu tragen. Auf diese Weise hätte aus der Berliner Krankenhausbewegung eine breite gesellschaftspolitische Bewegung werden können, bei der tausende Berliner Beschäftigte auch aus anderen Betrieben gemeinsam mit den Krankenhausbeschäftigten demonstriert hätten. So hätte der Druck massiv gesteigert und auch die politischen Fragen der Krankenhausfinanzierung, die letztlich über die Frage der Personalausstattung entscheidet, noch mehr zugespitzt und angegangen werden können.

Die Berliner Krankenhausbewegung als Ausgangspunkt für einen bundesweiten Kampf für mehr Personal

In der Ende November abgeschlossenen Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder wäre eine weitere Möglichkeit gewesen, die Frage der Entlastung mit aufzunehmen. ver.di hatte wie in der letzten Tarifrunde Bund/Kommunen darauf verzichtet und lediglich eine Gehaltsrunde durchgeführt, womit diese Chance verpasst wurde. Es gab zwar neben der allgemeinen Lohnerhöhung für Pflegekräfte noch zusätzliche Steigerungen bei den Zulagen. Auch neue Berufsgruppen im Gesundheitsbereich wie Logopäd*innen, Diätassistent*innen oder medizinische Fachangestellte erhalten nun die allgemeine Pflegezulage, jedoch nicht in vollem Umfang, sondern nur zur Hälfte. Aber zum einen stellen diese Erhöhungen keinen Ausgleich für die steigende Inflation dar, noch ändern diese etwas an der prekären Versorgung der Krankenhäuser mit genügend Pflegekräften entsprechend dem Bedarf.

Positiv zu bewerten ist es, dass die Kolleg*innen der Unikliniken in NRW – angeregt durch das positive Beispiel aus Berlin – im nächsten Jahr anstreben, eine gemeinsame Entlastungskampagne zu initiieren. In mehreren Treffen und Veranstaltungen haben die Kolleg*innen aus Berlin ihre Erfahrungen mit Kolleg*innen aus den Unikliniken in NRW ausgetauscht und damit den Stab weitergegeben. Die Berliner Kolleg*innen planen darüber hinaus im nächsten Jahr zusammen mit dem Berliner Bündnis Gesundheit statt Profite, eine Veranstaltung zur Frage der bedarfsgerechten Finanzierung der Krankenhäuser und gegen Privatisierung im Gesundheitsbereich zu organisieren, um auch in dieser grundlegenden Frage ein Stück voranzukommen. Nötig wäre, dass ver.di auch andere Kliniken – ob Uniklinik, kommunal verwaltet oder bereits privatisiert – in weiteren Bundesländern in einen gemeinsamen Kampf für mehr Personal führt.

Von daher besteht die Aufgabe, den beispielhaften gemeinsamen Kampf an den Berliner Krankenhäusern als Ausgangspunkt für eine bundesweite Bewegung für Entlastung und Angleichung an den TVöD zu nehmen. Dafür sollte ver.di eine bundesweite Krankenhauskonferenz mit allen aktiven Kolleg*innen organisieren, auf der ein offener Austausch über die positiven und negativen Erfahrungen erfolgen sollte. Als nächster Schritt sollte der gesamte DGB sowie Organisationen, Bündnisse und Initiativen, die sich für die Interessen der KollegInnen und PatientInnen engagieren, einbezogen werden, um eine entsprechende Unterstützungskampagne zu planen und die entsprechende gesellschaftliche Kraft aufzubauen, die Schluss macht mit einem Gesundheitssystem, das dem Profit einiger weniger Gesundheitskonzerne dient.

Sich an die Seite der streikenden KollegInnen zu stellen und dafür alle Beschäftigten, die ein Interesse an einem gut funktionierenden Gesundheitssystem unter guten Arbeitsbedingungen hegen, zu mobilisieren, wäre die Aufgabe aller DGB-Gewerkschaften über die laufende Tarifrunde hinaus. Mit einer solchen Mobilisierung, bis hin zu Solidaritätsstreiks, könnte eine gesellschaftspolitische Bewegung geschaffen werden, die die Kraft hat, einen erfolgreichen Kampf gegen Privatisierungen und mangelnde personelle und finanzielle Ausstattung des gesamten Gesundheitssektors zu führen. Der Kampf um eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung für alle und unter guten Arbeitsbedingungen kann nur gewonnen werden, wenn Schluss gemacht wird mit der Privatisierungspolitik, die Fallpauschalen ersetzt werden durch eine Finanzierung, die den realen Bedarf deckt und die bereits privatisierten Kliniken rekommunalisiert werden unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und PatientInnen und ihrer Organisationen.




Corona: Sicher die Welle zu Ende reiten?

Christian Gebhardt, Neue Internationale 262, Februar 2022

Die Omikronwelle ist angekommen. Eine Rekordzahl jagt die nächste! Ende Januar wurden über 200.000 Neuinfektionen an einem Tag registriert und die Kurve zeigt immer noch steil nach oben. Laut ExpertInnen und Gesundheitsminister Lauterbach können wir noch von einem weiteren Anstieg der Infektionszahlen auf 400.000 + ausgehen.

Diese Zahlen sind beängstigend, vor allem wenn sie mit den bisherigen verglichen werden. Gleichzeitig versuchen die Sprachrohre der Regierung – namentlich der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), Wieler, und Lauterbach -, den Eindruck zu erwecken, die Infektionslage sei unter Kontrolle: Ende Februar sei davon auszugehen, dass mit den ersten Lockerungen begonnen werden könne.

Alles unter Kontrolle?

Wenn wir diese Aussage analysieren, müssen wir die derzeitige Situation unter dem Blickwinkel der bisher angewandten Methode der Pandemiebekämpfung betrachten: die „Flatten the curve“-Strategie. Bei dieser wird versucht, die Infektionszahlen so gering wie möglich zu halten, so dass es im Gesundheitssystem nicht zu einer Überlastung und damit einhergehend zu erhöhten Todesfällen oder gar zur Situation der Triage kommt. Infektionen sind somit per se eingerechnet. Es ist nur wichtig, den aktuell passenden Mittelweg zu finden, um die Krankenhäuser nicht überlaufen zu lassen, das wirtschaftliche Leben am Laufen und gleichzeitig die Todeszahlen unter Kontrolle zu halten.

Dies scheint den Verantwortlichen bisher in der Omikronwelle zu gelingen. Die Zahlen sind zwar um ein Vielfaches höher als die der vorherigen Höhepunkte, steigen auf den Intensivstationen jedoch noch nicht an. Ob dies so bleibt, muss abgewartet werden, aber auf dem Papier hat sich die Strategie bisher bewahrheitet. Dies liegt aber nicht an einem angeblich vorausschauenden Handeln der Regierenden, sondern schlicht und allein daran, dass wir derzeit das Glück haben, es mit einer vermeintlich milderen Virusvariante zu tun zu haben. Omikron ist zwar leichter übertragbar und besitzt auch eine erhöhte Fähigkeit, den Impfschutz zu umgehen, führt aber in den meisten Fällen zu einem leichten Infekt. Hier ist aber wichtig festzuhalten, dass dies meist nur auf geimpfte Personen zutrifft und bei ungeimpften weiterhin mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einen schweren Krankheitsverlauf annehmen kann.

Ein weiterer Punkt, den die Verantwortlichen für die eingeschlagene Strategie gerne vernachlässigen, ist Häufigkeit und Umgang mit den Langzeitfolgen nach einer Coronainfektion. Studien zufolge leiden rund 10 % aller Menschen danach an Long Covid. Hier ist wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich um 10 % aller Infizierten handelt und nicht nur der schwer Erkrankten. Somit kommen derzeit täglich 18.000 – 20.000 Long-Covid-PatientInnen pro Tag hinzu. Wie schwerwiegend und langwierig deren Symptome ausfallen werden, ist derzeit noch nicht genau abzusehen. Dennoch ist es unverantwortlich, dies in der Bewertung der „Flatten the curve“-Strategie außer Acht zu lassen – und das lässt dann die Bewertung des bisherigen Vorgehens in einem weniger guten Licht erscheinen.

Nimmt man noch zusätzlich die derzeit mehr oder wenig offene Durchseuchung der Schul- und Kitakinder mit dazu, dann scheint es, weniger ein Erfolgskonzept für die Allgemeinheit als für die Wirtschaft darzustellen. Diese kann durch die derzeitigen Regeln nicht nur ihre Produktion offener gestalten als in den bisherigen Wellen, sondern auch die Pandemiesituation dahingehend nutzen, um nicht nur Hilfsleistungen zu erbitten bzw. zu verlangen, sondern auch die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen auf die Coronapandemie zu schieben.

Strategien

Der „Flatten the curve“ sowie der „Durchseuchungsstrategie“ wird weiterhin die von No oder Zero Covid entgegengehalten. Auch wenn diese hier in Europa zur Zeit als eine einer kleinen, linken Minderheit oder verschreckter Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen, angesehen wird, gibt es auch große Volkswirtschaften, die sie anwenden. Daher findet diese Debatte nicht nur in Europa statt, sondern auch auf internationaler Ebene.

Stellten in der öffentlichen Wahrnehmung hierzulande lange Länder wie Australien und Neuseeland die Gesichter der „No Covid“-Strategie dar, ist es nach deren Abkehr von dieser weiterhin China, das sie am deutlichsten verfolgt, um im Kampf gegen Omikron erfolgreich zu bestehen. Millionenstädte werden nur wegen einiger weniger positiv getesteter Personen in den Volllockdown geschickt, dort Massentests durchgeführt. Auch wenn gerne die bald startende Winterolympiade 2022 in Peking als Grund des harten Durchgreifens vorgeschoben wird, dient dies doch nur der Ablenkung von der eigentlich stattfindenden Strategiedebatte. China beweist in der Omikronwelle – wie auch in denen davor -, dass es in einem stark bevölkerten Land möglich ist, nicht nur die Infektionsfälle, sondern auch die Todeszahlen niedrig zu halten. Während in den westlichen imperialistischen Zentren oder in Russland jeweils Hunderttausende verstarben, konnte es seine Todeszahlen auf wenige Tausend eingrenzen. Auch wenn einzelne Angaben der chinesischen Regierung zweifelhaft und ein Teil ihrer Maßnahmen durchaus kritikwürdig sind, so liefern diese Zahlen bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden auch einen starken Beweis dafür, wie effektiv eine No-Covid-Strategie sein kann und Millionen Tote hätten weltweit verhindert werden können.

Traut man den chinesischen Zahlen jedoch nicht, kann man sich auch die der Übersterblichkeit in Deutschland im Vergleich zu Australien und Neuseeland anschauen. Die BRD weist eine stärkere als diese beiden Länder auf.

Kurzfristige Profitinteressen

Auch wenn die Zahlen für sich sprechen, galt und gilt eine Strategie, die Ausbreitung des Virus an sich zu bekämpfen, in Deutschland immer als rein utopisch. Das liegt aber nicht nur daran, dass sie mit starken Einschränkungen, Lockdowns und autoritären Methoden verbunden wird. Sie wird auch vor allem von der Wirtschaft gefürchtet. Im internationalen Wettkampf möchte diese keine weiteren starken Lockdowns riskieren, besitzt eine Nationalökonomie im internationalen Wettbewerb doch deutliche Vorteile gegenüber Volkswirtschaften, die in einen stärkeren und lang anhaltenden Lockdown gehen. Die  verschärfte Weltmarktkonkurrenz hat nun auch in den letzten Monaten dazu geführt, dass einige Länder von ihrer bisherigen Strategie abgerückt sind.

China scheint hier eines der wenigen verbliebenen zu sein. Aufgrund seiner enormen Bedeutung für Weltwirtschaft und globale Lieferketten beunruhigt dies auch die hiesigen Kapitale und Regierungen. Ein harter Lockdown gemäß dieser Strategie führt nicht nur zu einem Herunterfahren der Wirtschaftsleistung Chinas, sondern auch zu einer Behinderung der wirtschaftlichen Prozesse in Europa. Eine offensive Stimmungsmache gegen eine No-Covid-Strategie ist somit nicht nur dadurch zu erklären, dass die hiesige Bourgeoisie einen neuen Lockdown fürchtet, sondern auch dahingehend, dass sie China zu einem Strategiewechsel bringen möchte. Somit will sie ihm auch gleich die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dass die deutsche und andere Ökonomien nicht mit dem von Olaf Scholz einst versprochenen „Wums“ aus der Krise kommen.

Nullpunkt

Im Grunde befindet sich jedoch die Coronapolitik der Bundesregierung auf dem Nullpunkt. Sie setzt auf eine Mischung aus Impfung und rascher Durchseuchung durch Omikron, damit die Pandemie so „mild“ verläuft, dass nicht zu viele gleichzeitig krank, die Intensivstationen nicht überlastet werden und das kaputtgesparte Gesundheitssystem über die Runden kommt.

Alle bereits vor zwei Jahren offenbar gewordenen Probleme – Personal- und Geldmangel im Gesundheitssystem, fehlende Schutzeinrichtungen für Schulen und Kitas usw. usf. – wurden faktisch nicht behoben. Mit der raschen Entwicklung von Vakzinen erschien die Seuche nur noch als Impfproblem.

Dabei war und ist absehbar, dass sie auch mit Omikron nicht vorüber sein wird, weil weitere Mutationen folgen werden. Ob diese weniger tödlich bleiben, ist fraglich. Die langfristigen Folgen von Long Covid werden gänzlich ausgeblendet. Vor allem aber fällt einmal mehr die globale Dimension der Pandemie unter den Tisch. Für zahlreiche Länder, deren Gesundheitssysteme keine Unterstützung finden, stehen bis heute keine oder viel zu wenige Impfstoffe zur Verfügung stehen, während Konzerne wie Pfizer-   BioNtech Milliarden scheffeln, stellt anscheinend kein Problem dar.

Genau dieser Aberwitz ist ein entscheidender Grund, warum die QuerdenkerInnenbewegung als politische Alternative zur Regierung erscheinen kann. Natürlich repräsentiert diese zur Zeit nur eine Minderheit, bringt aber wöchentlich Zehntausende bundesweit auf die Straße.

Die deutsche wie auch die radikale Linke hingegen hat dem Thema entweder den Rücken zugekehrt und hofft darauf, dass die Pandemie bald vorbei ist, um sich endlich wieder mit „richtigen“ Themen beschäftigen zu können. Dies war von Beginn an und ist auch heute noch leider ein folgenreicher Trugschluss. Sie wie auch ihre Auswirkungen werden uns nicht einfach von heute auf morgen verlassen. Vielmehr wirken sie als Katalysatoren der stärker werdenden Krisentendenzen des kapitalistischen Systems.

Zugleich kann und muss jedoch in dieser Situation sehr eindrucksvoll und effektiv für die Vorzüge einer Plan- gegenüber der Anarchie einer Marktwirtschaft argumentiert werden. All diese Vorteile wie auch Möglichkeiten gibt jedoch die Linke aus der Hand, da sie sich des Themas nicht annehmen möchte.

Bundesweite Bewegung notwendig

Notwendig wäre der Aufbau einer Bewegung, die sich auf Mobilisierungen auf der Straße, in Betrieben, an Schulen und Universitäten stützt. Hier sollten die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung vorangehen und Aktionskomitees in Betrieben, Ausbildungsplätzen, Bezirken und Stadtteilen aufbauen, um die Mobilisierung nicht nur in die Breite zu streuen, sondern auch effektiv an der Basis die Argumente der QuerdenkerInnen zu kontern.

Einen Ansatz für eine solche Bewegung können die vereinzelten Gegenproteste gegen die „Spaziergänge“ bilden wie auch die Maßnahmen von SchülerInnen und Elternvertretungen, die sich gegen die Pandemiepolitik in den Bildungseinrichtungen zur Wehr setzen möchten. Einer solchen Bewegung würden wir auch vorschlagen, sich eindeutig kritisch gegenüber der derzeitigen Politik der Bundesregierung zu äußern und für eine klare Perspektive im Sinne einer internationalen Zero-Covid-Strategie wie die der Kampagne #ZeroCovid zu positionieren.

  • Koordinierte, internationale Impfkampagne, Freigabe der Patente und weiterer Forschungsergebnisse, Offenlegung und Kontrolle der Impfstoffforschung und -produktionsabläufe!
  • Enteignung der ImpfstoffproduzentInnen und Pharmaindustrie unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für eine breit angelegte Impfkampagne, kontrolliert durch die Lohnabhängigen in den Betrieben, Schulen und Wohnvierteln! Sicherstellung flächendeckender, kostenloser Tests (auch PCR-Tests)! Aufklärungskampagne zu Impfrisiken und -vorteilen durch Gewerkschaften und Organisationen der ArbeiterInnenklasse in den Betrieben!
  • Milliarden für das Gesundheitssystem, Einstellung von 100.000 fehlenden Beschäftigten!
  • Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und Kontrolle der Arbeitsbedingungen durch Ausschüsse der Beschäftigten!
  • Vollständige Lohnfortzahlung und Sicherung der Einkommen für alle, die in Quarantäne gehen müssen!
  • Festlegung, ob und welche Schulen, Kitas, Betriebe geschlossen werden müssen, durch Gewerkschaften und Beschäftigte!



ImpfgegnerInnen: Von wegen körperliches Selbstbestimmungsrecht!

Leo Drais, Neue Internationale 2022, Februar 2022

Ende Januar 2022 liegt die Impfquote der gegen Corona durchgeimpften Menschen in Deutschland bei ungefähr 73 %. Mehr als 25 % der impftauglichen Bevölkerung und über 3 Millionen der über Sechzigjährigen – Menschen mit erhöhtem Risiko, schwer an Covid zu erkranken – sind ungeimpft. Ein bedeutender Teil der nicht geimpften Erwachsenen sind bewusst Ungeimpfte – nach rund einem Jahr Impfkampagne fehlt es zwar noch immer an Information für Teile der Bevölkerung, aber das trifft auf die Mehrzahl der ImpfgnerInnen nicht zu. Sie haben sich entschieden, obwohl die Gesundheitsrisiken bei einer Impfung nachweislich gering sind.

Das drückt sich auch in Zahlen aus. Laut Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sind bis November 2021 in der Bundesrepublik 123.347.849 Corona-Impfungen verabreicht worden. In 0,16 Prozent der Fälle wurden relevante Nebenwirkungen gemeldet, in gerade mal 0,02 Prozent (26.196) der Fälle schwerwiegende. In 78 Einzelfällen spricht das PEI davon, dass Menschen wahrscheinlich ursächlich an einer Impfreaktion verstorben sind. Natürlich ist das tragisch, für Einzelne gilt Statistik nicht. Vom Standpunkt der gesamten Gesellschaft aus betrachtet, wo definitiv Tausenden das Leben durch eine Impfung gerettet wurde, gleicht sich das Risiko jedoch mehr als aus. Schließlich war der Großteil der IntensivpatientInnen in den letzten Monaten ungeimpft. Abertausende Impftote sind also ein hysterisch erlogener Fake.

Im Folgenden wollen wir uns nicht mit einer möglichen Impfpflicht, wohl aber mit dem Argument auseinandersetzen, dass diese gegen das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper verstoße und daher ganz grundsätzlich abzulehnen sei.

Kollektiver Schutz oder individuelle Entscheidung?

Impfungen werden dabei zwar als ein Mittel des individuellen Gesundheitsschutzes, der „freien Entscheidung“ anerkannt, dass sie jedoch ein gesellschaftlich-allgemeines Ziel verfolgen, nämlich den Gesundheitsschutz insgesamt zu erhöhen, fällt bei dem „grundsätzlichen“ Beharren auf das Selbstbestimmungsrecht unter den Tisch.

Dabei ist die Sache recht einfach. Eine Bevölkerung impft sich gegen ein gefährliches (tödliches) Virus. Sie nimmt dabei unvermeidlich auch das Risiko in Kauf, dass Einzelne einen Impfschaden erleiden. Im Kapitalismus, einer Gesellschaft, die sich in der verallgemeinerten Konkurrenz verwirklicht, beginnen hier aber auch schon die Probleme.

Ideeller Gesamtkapitalist

Erstens, weil es in der Politik der BRD von Beginn an darum ging, nicht für den bestmöglichen Gesundheitsschutz der Bevölkerung zu sorgen, sondern darum, das Infektionsgeschehen irgendwie in eine Bahn zu  bugsieren, die dem deutschen Finanzkapital möglichst erträglich ist und gewissem politischen Kalkül folgt. Die bürgerliche Politik richtet sich nach dem individuellen Interesse einer Klasse. Das setzt sich auch beim Impfschutz fort.

Die Motivation jedes kapitalistischen Staates ist dabei nicht zuerst, bald wieder ein kulturelles Leben zu ermöglichen (das steht vielleicht an zweiter Stelle), sondern den Unternehmen arbeitsfähige Arbeitskräfte bereitzustellen. Impfungen bilden dabei für das Kapital im Vergleich zu hohen Zahlen schwerer Erkrankungen und des Ausfalls von Arbeitskräften sogar relativ kostengünstige Formen der Gesundheitsvorsorge, z. B. verglichen mit dem Ausbau von Krankenhäusern.

Die Tatsache, dass auch der Staat als ideeller Gesamtkapitalist und das Gesamtkapital an einer verfügbaren, also auch arbeitsfähigen ArbeiterInnenklasse interessiert sind, heißt freilich keineswegs, dass die einzelnen Kapitale oder selbst der Staat immer konkret in der Lage oder willig sind, das zu organisieren. Schließlich ist jede Form der Gesundheitsvorsorge vom Standpunkt einzelner Kapitale auch ein Abzug vom (möglichen) Profit, erscheint als überschüssige Kosten, die am besten einzusparen sind – wie man ja auch am Kaputtsparen der Krankenhäuser oder am Impfnationalismus sehen kann.

Die Tatsache, dass das Kapital gesunde Arbeitskräfte, also solche die auch einen Gebrauchswert haben, benötigt, heißt freilich nicht, dass der ArbeiterInnenklasse selbst die eigene Gesundheit egal sein kann oder ist. Genauso wie die Lohnabhängigen ein Interesse am Arbeitsschutz haben, obwohl dieser auch bedeutet, dass der Produktionsprozess reibungsloser ablaufen kann und die Arbeitskraft als Ware erhalten bleibt, hat die ArbeiterInnenklasse ein kollektives Interesse an möglichst wirksamen Maßnahmen. Auf die Bekämpfung einer Pandemie bezogen, schließt das einen Ausbau der medizinischen Versorgung, massive Neueinstellungen ebenso ein wie einen effektiven Impfschutz. Obwohl dieser (wie jede Form der Gesundheitsvorsorge) unter wirtschaftsorientierten Prämisse stattfindet, heißt das daher nicht, dass Impfungen an sich abzulehnen sind.

KleinbürgerInnentum

Zweitens stößt der Kollektivgedanke im Kapitalismus sowieso schnell an Grenzen, weil sich im Wettbewerb erst mal jede/r selbst am nächsten ist und somit zum Individualismus getrieben wird.  Besonders betroffen ist davon das KleinbürgerInnentum, das mit seiner kleinen eigenständigen Existenz zwischen ArbeiterInnenklasse und Kapital glaubt, es wäre seines eigenen Glückes Schmied. Pandemie und Krise sind diesem Glück nun in die Quere gekommen, eben auch, weil sowohl Merkel als auch Scholz darum bemüht waren, Lufthansa und Co. die Lasten der Krise zu nehmen und sie der breiten Bevölkerung aufzuladen. FriseurInnen und Restaurants mussten zurückstecken und schließen, als VW und die anderen Großkapitale in der Krise gestützt und geschützt wurden.

Dementsprechend war und ist das KleinbürgerInnentum die Speerspitze nicht nur der Coronaleugnung, sondern auch ihrer logischen Fortsetzung – der ImpfgegnerInnenschaft -, welche zudem bis ins tiefste rechte Lager reichen. Blind wäre es natürlich, das nur so zu sehen. Jahrzehntelange Niederlagen im Klassenkampf, reformistische Vormachtstellung und serviles, eigennütziges Nachlaufen der Gewerkschaftsführungen, LINKEN und SPD hinter den Bossen (gerade in der Pandemie) haben das Klassenbewusstsein von bedeutenden Teilen der ArbeiterInnenklasse erodiert, zersetzt und diese für Wirrwarr und Geschwurbel empfänglicher gemacht.

Wissenschaft, Irrationalismus und Psyche

Natürlich ist nicht jede/r ImpfgegnerIn ein/e CoronaleugnerIn. Das Spektrum ist fließend und ein sehr breites – von schulterzuckender Gleichgültigkeit („Wird schon nicht so schlimm sein“) über chronischen Wissenschaftsskeptizismus („Ob der Impfstoff wirklich sicher ist und was bringt?“) bis hin zu bizarren, panischen Verschwörungstheorien („Impfen bewirkt Massensterben!“), wobei insbesondere jene antisemitischen VerkleistererInnen gefährlich und überaus ekelhaft sind, die sich einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ ans Revers heften, was nichts anderes als eine Verharmlosung der Shoah ist.

Während der Bundestagsdebatte am 26. Januar demonstrierten etwa 2.000 gegen die Impfpflicht, jede Woche finden Dutzende solcher Demos im gesamten Land statt. Vereint werden die „SpaziergängerInnen“ durch einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Irrationalismus, was stets wissenschaftsfeindlich und auf bestimmte Weise realitätsverneinend geraten muss.

Denn grob gesagt hat das vereinzelte Individuum zwei Möglichkeiten, mit der Pandemie und der Krise psychisch fertig zu werden: Entweder es erkennt die Realität mit ihren Widersprüchen an und hält diese aus, z. B. indem es einsieht, dass Impfungen schützen, obwohl sie von der verfluchten Regierung und dem Robert-Koch-Institut, die einem den Laden mehrmals dichtgemacht haben, empfohlen werden. Zur Anerkennung der Realität gehört dabei auch festzustellen, dass Wissenschaft und Medizin sich zwar ebenfalls den kapitalistischen Erfordernissen der Herrschenden unterordnen (oder wie bei BioNtech selbst zu Profiteurinnen der Pandemie werden), sie aber trotzdem wirksame Impfstoffe hervorgebracht haben.

Die andere Möglichkeit ist, dass das Individuum vor dieser schlechten, widersprüchlichen Realität zu entfliehen trachtet.

Im Kopf findet eine Realitätsanpassung statt, die sich offener ImpfgegnerInnenschaft ausdrückt. Das Problem ist, dass gerade die aktive ImpfgegnerInnenschaft wie auch die sich in Verschwörungstheorien und Leugnung ergehende Realitätsverzerrung mit unbewussten Affekten gefüttert wird. Sie ist kein Ergebnis aus logisch-rationalem, bewusstem Denken. Das psychische Ich wehrt sich gegen eine Wirklichkeit, die es nicht aushält, indem die Welt so gemalt wird, dass sie gefällt. Das kann auch zur Folge haben, sie im Unbewussten so weit zu verwandeln, bis die Impfung nichts mehr bringe, extrem gefährlich oder einfach zum Werkzeug verborgener Mächte und der Herrschenden geworden sei, um angeblich  die Bevölkerung zu dezimieren. Bloße Aufklärung hilft hier kaum. Im Psychischen übersetzt sich die natürliche und gesellschaftliche Totalität, die dem einzelnen Menschen selbst nur verschleiert gegenübertritt, in Gedanken und Handeln.

Verknüpfung

Die kapitalistische Realität selbst bringt den Irrationalismus ständig hervor. Einerseits verfolgt das Kapital seine Zwecke auf sehr berechnende, rationale Art, indem die Produktivität immer mehr gesteigert wird. Doch diese Steigerung im einzelnen Produktionsorganismus oder der bürokratischen Rationalität des Staatsapparates entspricht, dass diese Art Vermehrung des Reichtums keinem allgemeinen, gesellschaftlich vernünftigen Zweck, sondern dem bornierten Heißhunger nach Mehrwert, dem Kampf um maximalen Profit folgt. Der Irrationalismus wird also nicht von CoronaleugnerInnen in eine ansonsten vernünftige Mitte der Gesellschaft getragen, vielmehr trägt ihn schon der kapitalistische Normalzustand, der normale Fortgang der Akkumulation in sich.

In Krisen verbindet sich offen rechte, aggressive Ideologie z. B. mit einer Leugnung der Klimakrise oder einer Kritik an einer völlig inkonsequenten, kaum überschaubaren und direkt irrwitzigen Coronapolitik (die behauptet, mit der Impfpflicht alleine wäre der Pandemie ein Ende zu machen). Die irrationale Wirklichkeit, sie muss sich auch in einem falschen Bewusstsein fortsetzen, wo die Welt scheinbar wieder erklärbar wird: Wenn es Corona erst gar nicht gibt, was braucht es dann die Impfung? Oder umgekehrt: Wenn die Impfung so gefährlich ist, ist sie abzulehnen dann nicht ein rationaler Schutz der Allgemeinheit?

Absolutes Recht und Freiheit?

Es ist wichtig, auf den Unterschied zwischen ImpfgegnerInnen und ImpfpflichtgegnerInnen hinzuweisen. Während die Ersteren auch stets die Letzteren sind, gilt das umgekehrt nicht. Viele lehnen die Impfung nicht ab, argumentieren aber, dass die Impfpflicht einen diktatorischen Eingriff in das körperliche Selbstbestimmungsrecht ausübe.

Dabei ist das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper nicht erst seit der Impfpflichtdebatte gefährdet, sondern für die allermeisten sowieso schon eine Fiktion und das nicht einfach, da nie gefragt werden konnte, ob wir geboren werden wollen oder nicht.

Wie war das denn nochmal mit dem Recht, das eigene Leben beenden zu lassen? Strafbar! Da ist der Mensch hierzulande zum Leben verdammt. Er wird Jahre und Tage durchs Leben geschleift, er soll arbeiten (auf dem gelben Zettel heißt es ja auch „arbeitsunfähig“ und nicht „krank“) oder Kliniken und Pflegeheimen die Kasse füllen. Aber Achtung! Wenn er doch mal kommt, der dritte Weltenbrand, dreht sich das Spiel um. Das sonst so heilige Leben muss wieder geopfert werden für die Nation und den deutschen Imperialismus.

Darüber hinaus: Für die ArbeiterInnenklasse ist es im Kapitalismus das tägliche Spiel, erzwungen die eigene Arbeitskraft zu verkaufen und dem Kapital zur Verfügung zu stellen, ergo für eine bestimmte Zeit nicht über den eigenen Körper und das, was er leisten kann (denken und werken), zu bestimmen.

Und schließlich ist, von der anderen Seite her angeschaut, das Recht und die Freiheit, sich nicht impfen lassen zu dürfen, das Recht und die Freiheit, andere gefährden zu dürfen. Denn obwohl keine Impfung vor einer Infektion mit Corona schützen kann – was auch nie behauptet wurde! –  (der einzige, 100-prozentige Schutz davor, Viren einzuatmen, ist, nicht mehr zu atmen, oder die absolute Isolation), ist ein Mensch mit Impfung weniger lange und stark für andere gefährlich, einfach weil dieser selbst in der Regel nur einen Bruchteil der Viren Ungeimpfter reproduziert.

Ein absolutes Recht auf individuelle Selbstbestimmung führt, wenn es bis zur letzten Konsequenz weitergedacht wird, stets zu reaktionären Ergebnissen, denn es muss das Recht auf Unversehrtheit und Selbstbestimmung aller anderen negieren – nur ich zähle! So wie AbtreibungsgegnerInnen das ungeborene Leben für absolut setzen, und koste es der Mutter das Leben, setzen viele aktive ImpfgegnerInnen das Recht auf ihre eigene körperliche Unversehrtheit für absolut, wobei sie nicht nur andere, sondern ironischer Weise auch sich selbst potentiell gefährden.

Die besseren Ergebnisse

Solange eine kapitalistisch bedingte Pandemierealität herrscht, wird es beides geben – den offiziellen, demokratischen Irrationalismus im Parlament und seinen wilder werdenden, übersteigerten Konterpart auf der Straße. Wie ein alternativer, rationaler Umgang mit Corona und dessen Auswirkungen aussehen kann, haben wir in anderen Ausgaben und auf unserer Homepage schon mehrfach erläutert. Wir erwähnen bloß nochmal, dass die Impfung alleine nicht das Allheilmittel der Pandemiebekämpfung ist, aber ein integraler Teil deren.

Gegen Verschwörungstheorien, Wissenschaftsfeindlichkeit oder Realitätsverneinung in den Köpfen wird keine Impfpflicht ankommen, auch wenn sie vielleicht dem Körper unterhalb dieser Köpfe zu besserem Schutz verhilft. Dem Irrationalismus den weitgehendsten Garaus zu machen, wird nur möglich sein, wenn es eine Kraft gibt, die eine rationale Antwort auf die Krise und Krisenpolitik der Regierungen gibt. Mittels Kampfs um ein Programm, das nicht die Masse der Bevölkerung – die ArbeiterInnenklasse, Unterdrückte und niedriges KleinbürgerInnentum – für die Kosten der Coronamisere knechtet, sondern glaubwürdig die besseren Ergebnisse in ihrem Interesse liefert, kann der Einfluss des Irrationalen gebrochen werden.

Eigenständige Klassenpolitik

Die Voraussetzung dafür, dass es so eine alternative Kraft überhaupt geben kann, ist, dass linke AktivistInnen, kämpferische GewerkschafterInnen, unzufriedene LINKE und SPDlerInnen mit dem Reformismus und einer Regierung, die selbst nur die irrationale Wirklichkeit des Kapitalismus verteidigen, brechen muss. Sie selbst müssen sich zu einer solchen Kraft aufbauen oder mindestens den Startschuss dazu abfeuern. Das Treiben mancher Linker, den spazierenden Irrungen und Wirrungen nachzulaufen und sie für den Keim einer fortschrittlichen, alternativen Antikrisenkraft zu halten, ist demgegenüber – brandgefährlich.




Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen: Vierte Welle des Irrationalismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nicht nur die Zahl der Infizierten erreicht in Mittel- und Osteuropa in den letzten Wochen immer neue Rekordwerte. Noch vor einem Jahr, im Winter 2020/21, als die zweite Welle der Pandemie Europa im tödlichen Würgegriff hielt, gab es kaum Widerstand gegen Lockdowns und die Verhängung von Kontaktbeschränkungen. Selbst die Welle der QuerdenkerInnen ebbte damals angesichts Tausender und Abertausender Toter ab.

Nicht so in diesem Jahr. In Österreich gehen seit Ende November wöchentlich Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen, geführt von der rassistischen FPÖ unter kräftiger Beteiligung offen faschistischer Gruppierungen, auf die Straße. In Deutschland demonstrieren Tausende. In der sächsischen Kleinstadt Grimma belagerten Rechte das Haus der SPD-Landesgesundheitsministerin. In Belgien und den Niederlanden liefern sich wütende ImpfgegnerInnen Straßenschlachten mit der Polizei.

Auch wenn zwischen Corona-LeugnerInnen, ImpfgegnerInnen und der einfachen Masse der ungeimpften Erwachsenen unterschieden werden muss, so bildet Letztere eine Basis für die beiden ersteren Gruppen.

In Deutschland liegt die Impfquote am 7. Dezember noch immer unter 70 % der Gesamtbevölkerung, mit extrem großen Unterschieden zwischen einzelnen Bundesländern und Regionen. Deutlich vorne liegen in Europa Irland, Portugal, Spanien und Schweden mit Impfquoten zwischen 80 und 90 %. Umgekehrt sieht die Lage besonders dramatisch in Osteuropa aus mit Quoten von 40 – 60 % – mit entsprechend hohen Todeszahlen. Das Gesundheitssystem ist dort in etlichen Regionen längst überlastet und faktisch zusammengebrochen. In einigen dieser Länder stellen ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung.

Kapitalistische Corona-Politik

Während global betrachtet gerade in den Ländern Afrikas der Mangel an Impfstoffen aufgrund der Monopolisierung von Produktion, Patenten und Verteilung in imperialistischen Zentren das Hauptproblem darstellt, gilt das für Deutschland und Österreich, aber auch die osteuropäischen Länder der EU oder Russland nicht. Länder wie Kuba, aber selbst das kapitalistische Portugal oder Spanien zeigen, dass eine weitaus effektivere Impfkampagne möglich wäre. Woran liegt es, dass andere so weit hinten liegen? Neben nationalen Besonderheiten bildet die widersprüchliche Politik, wie sie nicht nur in Deutschland vorherrscht, einen Nährboden für reaktionäre, kleinbürgerliche Kritik.

So verkündeten zahlreiche Regierungen noch im vergangenen Sommer, dass die Gefahr faktisch vorbei sei. Warum sollte man sich also noch impfen lassen, wenn das Virus eh besiegt war?

Doch wurde die Gefahr nicht nur verharmlost. Es wurde auch nichts getan, um Vorsorge zu treffen. Investitionen in das kaputtgesparte Gesundheitssystem, wo allein in Deutschland rund 130 000 zusätzliche Beschäftigte benötigt würden? Fehlanzeige! Angesichts dieses Versagens der Politik fragen sich natürlich Menschen, warum sie selbst Einschränkungen hinnehmen müssen, wenn „die da oben“ ungestraft unterlassen können, was sie wollen. Zudem fehlte es bei der Impfkampagne an Aufklärung und rationeller Organisation.

Zugleich nahm die Regierung selbst eigentlich vermeidbare schwere Erkrankungen und Tote billigend in Kauf – wobei sie von VertreterInnen des Kapitals und der Presse, von diversen Talkshow- „PhilosophInnen“ wie Richard David Precht flankiert wurde, garniert mit geradezu abenteuerlichen Verharmlosungen des Virus durch „respektable“ Liberale und Konservative, aber auch Grüne, SozialdemokratInnen und „Linke“ wie Wagenknecht.

Die kapitalistische Corona-Bekämpfung seit März 2020 blieb immer der Anforderung untergeordnet, die Mehrwertproduktion und Profitmaschine am Laufen zu halten. Der Gesundheitsschutz stellte dabei nur eine unvermeidliche Notmaßnahme dar. Er zielte immer nur darauf, die Verbreitung des Virus so weit zu beschränken, dass ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems vermieden werden konnte. Die unvermeidliche Folge waren und sind lang gezogene Hängepartien, die die Bevölkerung stärker belasten als ein kurzer konsequenter Lockdown aller gesellschaftlich nicht notwendigen Produktion bei voller Sicherung der Einkommen.

Rechte Ideologie

Diese widersprüchliche Politik trifft existentiell Sektoren der Dienstleistungsbranche, der Kultur, des KleinbürgerInnentums und die Lohnabhängigen, hier vor allem die ärmsten und prekär beschäftigten Schichten. Sie ist Wind in den Segeln von reaktionären offenen Corona-LeugnerInnen aus AfD, FPÖ sowie anderen rechten und faschistischen Parteien neben ImpfgegnerInnen, die die Wirksamkeit der Vakzine mit Mischung aus Halbwissen und Wissenschaftsfeindlichkeit in Frage stellen. In den Ländern Osteuropas stützen sich diese neben rechtspopulistischen und rechten Kräften auch auf den religiösen Obskurantismus aus den christlichen Kirchen.

Auch wenn die Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen sich aus verschiedenen Quellen speisen, so sind sie dabei, sich zu einer reaktionären politischen Kraft, einer kleinbürgerlich-populistischen Bewegung mit einem durchaus beachtlichen faschistischen Rand zu formieren. Und auch wenn sie reale Missstände und Widersprüche, wirkliche Ängste von Teilen des KleinbürgerInnentums demagogisch aufgreifen, ändert dies nichts am Charakter dieser Mobilisierungen und Ideologien. Im Gegenteil, das Anknüpfen an diese ist typisch für kleinbürgerlich-reaktionäre politische Formationen und eine Voraussetzung für ihren Erfolg.

So auch bei den Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen. Die realen Auswirkungen der widersprüchlichen Pandemiepolitik und echte Existenzängste werden aufgegriffen und als Resultat eines bewussten Manövers des „Establishments“, volksfeindlicher PolitikerInnen und ihrer Hintermänner und -frauen dargestellt. Corona mag zwar wirklich existieren, entscheidend für die ideologische Setzung ist jedoch, dass die Pandemie und vor allem die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz eine Art Verschwörung gegen die „normalen“, vornehmlich weißen Menschen darstellen. Das Virus würde vor allem genutzt, um „uns“ zu kontrollieren, „unsere Freiheit“ zu zerstören, uns die „Selbstbestimmung über den Körper“ zu rauben, „die Kinder zu traumatisieren“ und uns zu „entmenschlichen“.

Das Abstreifen der Maske und die Impfverweigerung werden zum Menschenrecht, zum letzten Hort der Freiheit verklärt. Die eigentlichen Ursachen für eine fatale Corona-Politik, die in der Logik der kapitalistischen Profitwirtschaft zu suchen sind, werden systematisch ausgeblendet. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und gegensätzlichen Klasseninteressen, die auch in der Pandemie aufeinanderprallen, spielen in der Welt der ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen keine Rolle. Ansonsten müssten sie erkennen, dass die Regierungen, das politische „Establishment“ selbst das kapitalistische System nicht bewusst steuern, sie keinem teuflischen Masterplan folgen, sondern eher Zauberlehrlingen gleichen, denen ihr System über den Kopf zu wachsen droht.

Zusammenwachsen

Natürlich besitzen die verschiedenen Strömungen der überzeugten Corona-LeugnerInnen, VerschwörungstheoretikerInnen und ImpfgegnerInnen unterschiedliche Wurzeln, aber zur Zeit konvergieren sie zu einer Bewegung, die eine reaktionäre, gemeinsame kleinbürgerliche Ideologie und die GegnerInnenschaft zu effektivem Gesundheitsschutz einen. Auch wenn sich Menschen aufgrund ihrer Angst vor Einkommensverlusten und Verschlechterungen sog. „Freiheits“-Demos anschließen, so ändert dies nichts daran, dass sie hinter dem Banner rechter und reaktionärer Kräfte herlaufen und deren politische Führung akzeptieren oder, was nicht minder schlimm ist, einfach leugnen.

Ihre Absichten, ihre Wut können noch so real und nachvollziehbar sein, trotzdem sind die Demonstrationen eindeutig reaktionär, verfolgen klar rückschrittliche Ziele. Die pauschale Ablehnung von Abstandsregeln, Gesundheitsschutz und der Impfung bedeuten nichts anderes, als andere Menschen vermeidbarem Leid oder gar dem Tod auszusetzen.

Bei den Aktionen wachsen verschiedene reaktionäre Traditionen zusammen. Dazu gehören gerade in Deutschland ImpfgegnerInnen, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen und die schon damals mit Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungstheorien gerade in Baden-Württemberg und Sachsen ihr Unwesen trieben. Hier knüpft auch die pauschale Ablehnung der „Schulmedizin“ an, die schon im 19. Jahrhundert und im Nationalsozialismus antisemitisch als „jüdische Disziplin“ konnotiert war. Hinzu gesellen sich AnhängerInnen der Alternativmedizin, die sich in den letzten Jahren faktisch mit diesen Kräften zusammengetan haben.

Eine zweite politische Kraft stellt natürlich die aktive politische Rechte dar, die die sozialen Krisenphänomene nun mit der Pandemie verbindet. Die angebliche Corona-Diktatur spielt dabei in der rechten Ideologie heute eine ähnliche Rolle wie Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und die sogenannte Klima-Lüge. ImpfgegnerInnen, AnthroposophInnen, EsoterikerInnen, KurpfuscherInnen firmieren bei der rechten Melange als „GesundheitsexpertInnen“, die unfair vom Wissenschaftsbetrieb ausgegrenzt wären und je nach Geschmack Corona als Fake entlarven, das Immunsystem beschwören oder Entwurmungsmittel für Pferde als wirksame Medizin anpreisen. AfD-Rechtsaußen Höcke und die Identitären entlarven die Gefahren der wirksamen Impfstoffe. Diese sollen nämlich die Geburtenrate drücken und so die „Umvolkung“ Europas vorantreiben. Teile der Bewegung ziehen eine abstoßende, die Verhältnisse auf den Kopf stellende Parallele zur Shoa (dem Holocaust). Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wie Impfungen, 2G- und 3G-Regeln werden allen Ernstes mit der Stigmatisierung, Unterdrückung und Vernichtung des jüdischen Volkes gleichgesetzt!

Dass die Mobilisierungen im Extremfall einen direkt faschistischen Charakter annehmen wie beim Fackelzug in Grimma, sollte bei solchen ideologischen Monstrositäten nicht wundern. Die Führungsrolle etablierter, rechter Kräfte und der Zulauf zu FaschistInnen ergibt sich aus der inneren Logik dieser Bewegungen und Mobilisierungen. Auch wenn bei etlichen die Teilnahme ursprünglich aus bloßer Wut gegen die Regierung und schlechte Lebensverhältnisse gespeist war, so sollte niemand der Illusion aufsitzen, dass diese „desorientierten“ Menschen leicht von den Rechten wegzubrechen wären. Im Gegenteil, eine falsch verstandene pädagogische Herangehensweise nach dem Motto „Schlechtes Ziel, verständliche Wut“ wird in Wirklichkeit nur den rechten Zug stärken, verharmlost sie doch den grundlegend reaktionären, arbeiterInnenfeindlichen Gehalt dieser Bewegungen und ihres Rufes nach „Freiheit“.

Die abstrakte Freiheit

Die ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen inszenieren sich und ihre Mobilisierungen seit Beginn der Pandemie bekanntlich als „Freiheitsbewegung“. Ob nun Masken, Abstandsregeln, Kontaktbeschränkungen oder auch Impfungen – alle werden als Angriff auf unsere „Freiheitsrechte“ interpretiert.

Beschworen wird dabei die „Freiheit an sich“ des einzelnen Individuums, eine abstrakte Angelegenheit, die einerseits Freiheit als unbeschränktes , persönliches Recht interpretiert, andererseits jedoch von den realen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie überhaupt erst existiert, absieht.

Im Kapitalismus ist der Inbegriff der Freiheit jedoch letztlich jene der WarenbesitzerInnen. Bei Kauf und Verkauf erscheinen die Menschen zwar als gleich und frei, in Wirklichkeit besitzen sie jedoch recht unterschiedliche Waren. Während das Kapital über die Produktionsmittel verfügt, müssen die LohnarbeiterInnen ihre Arbeitskraft zu Markte tragen. Nur dem KleinbürgerInnentum (und Anverwandten aus den Mittelschichten) erscheinen die freien ProduzentInnen und deren darauf basierende individuelle Freiheit den Kern der gesellschaft auszumachen.

In Wirklichkeit bestimmt natürlich das Kapitalverhältnis längst die Bedingungen der Produktion und Reproduktion in der Gesellschaft, nicht nur im Arbeits- und Verwertungsprozess, sondern letztlich auch in der Freizeit. Diese doppelte Setzung – Freiheit des/r Einzelnen als WarenbesitzerInnen und ihre gleichzeitige Unterordnung – drückt sich darin aus, dass in bürgerlichen Gesellschaft das Individuum gewissermaßen doppelt erscheint: Einmal als persönliches oder zufälliges, einmal als Klassenindividuum. Schon in der Deutschen Ideologie verweisen Marx und Engels auf die Verkehrung, die damit einhergeht:

„Der Unterschied des persönlichen Individuums gegen das Klassenindividuum, die Zufälligkeit der Lebensbedingungen für das In[dividuum] tritt erst mit dem Auftreten der Klasse [ein], die selbst ein Produkt der Bourgeoisie ist. Die Konkurrenz und der Kampf [der] Individuen untereinander erz[eugt und en]twickelt erst diese Zufälligkeit als solche. In der Vorstellung sind daher die Individuen unter der Bourgeoisieherrschaft freier als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig sind; in der Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Gewalt subsumiert.“ (MEW 23, S. 76)

Die Welt der ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen entpuppt sich – wie die jeder reaktionären kleinbürgerlichen Ideologie und Bewegung – als eine des zufälligen Individuums, als dessen irrationaler, vereinseitigter und aberwitziger Freiheitsraum.

Die reale Unfreiheit, die sachlichen Bestimmungen und Klassenunterdrückung, denen die LohnarbeiterInnen unterworfen sind, gelten diesen FreiheitsheldInnen als natürliche, unhinterfragte Verhältnisse. Umso eifriger legen sie sich für die Surrogate wirklicher Freiheit ins Zeug. Freiheit gerät zur Freiheit, ohne Rücksicht auf andere als Spreader herlaufen zu dürfen. Im Arbeitsleben halten sie dafür die Schnauze. Schließlich wird die Freiheit des Kapitals, mit seinem Betrieb (und den dort Beschäftigten) tun und lassen zu können, was es will, respektiert.

Rechtsruck

Mit bloßer Aufklärung wird ImpfgegnerInnenschaft, Verschwörungsdenken usw. nicht beizukommen sein. Im Grunde können die Menschen, die sich noch nicht völlig in rechten bis faschistischen Ideologien festgefressen haben, nur vom Irrationalismus weggerissen werden, wenn es eine breite Bewegung gibt, die eine rationale, d. h. bewusste Lösung der Pandemie vorschlägt – was unmittelbar mit einer klassenkämpferischen, antikapitalistischen Politik zusammenhängt.

Der Zulauf zur reaktionären Bewegung muss daher auch als Resultat von Niederlagen der Lohnabhängigen im Kampf begriffen werden. Während das zufällige, persönliche Individuum auf dem Boden kapitalistischer Verhältnisse spontan hervortritt, erfordert die Formierung des proletarischen Klassenindividuums selbst Kampf und damit Bildung von Bewusstsein.

Nicht erst die Corona-Politik, sondern Niederlagen der ArbeiterInnenklasse wie der Rechtsruck nach 2016 haben auch eine viel grundlegendere gesellschaftliche Tendenz – den Niedergang der organisierten reformistischen ArbeiterInnenbewegung und damit auch eines existierenden Niveaus von Klassenformierung – weiter vorangetrieben. Dass ImpfgegnerInnenschaft in den Ländern Osteuropas und Russland, aber auch in der ehemaligen DDR besonders stark ist, resultiert auch aus der politischen Atomisierung und Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse unter dem Stalinismus sowie der Restauration des Kapitalismus und der folgenden Deindustrialisierung, sozialen Entrechtung und Zersplitterung.