End Fossil: Occupy! Was können wir von den Unibesetzungen lernen?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Zwischen September und Dezember 2022 sollten unter dem Namen „End Fossil: Occupy!“ weltweit hunderte Schulen und Unis besetzt werden. Auch in Deutschland sind in über 20 Städten Uni- und Schulbesetzungen angekündigt. Startpunkt für die Aktionen war Uni Göttingen, an der wir uns am 24. Oktober auch beteiligten. Weitere folgten an der Technischen Universität Berlin oder in Frankfurt/Main. Aber was fordern die Aktivistist:innen von End Fossil: Occupy! eigentlich?

Ziele

Im Großen und Ganzen richtet sich End Fossil: Occupy! – wie der Name der Kampagne richtig vermuten lässt – gegen jede Form der fossilen Produktion. So heißt es auf der internationalen Website: „Unser Ziel ist es, das System zu verändern, indem wir die fossile Wirtschaft auf internationaler Ebene beenden. Je nach lokalem Kontext können die Forderungen variieren: Beendigung des Abbaus fossiler Brennstoffe, Beendigung der Finanzierung fossiler Brennstoffe, Beendigung der Finanzierung fossiler Infrastrukturen oder andere.“

Vom deutschen Ableger werden dabei weitere spezifischere Forderungen aufgeworfen. Im Fokus steht dabei die Beendigung der profitorientierten Energieproduktion mittels Übergewinnsteuer aller Energieträger und langfristiger Vergesellschaftung der Energieproduktion insgesamt. Ebenso tritt die Initiative für die Verkehrswende für alle ein, da der Verkehrssektor 18,2 % der jährlichen deutschen Treibhausgasemissionen ausmacht. Um dies zu ändern, braucht es laut Aktivist:innen  einen regelmäßigen, für alle erreichbaren ÖPNV sowie einen massiven Ausbau des überregionalen Schienennetzes. Damit er auch von allen genutzt werden kann, wird darüber hinaus ein 9-Euro-Ticket gefordert und langfristig ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr angestrebt. Daneben schließt sich End Fossil: Occupy! auch den Forderungen von Lützi bleibt!, Debt for Climate und Genug ist Genug an. Zusätzlich erheben viele Besetzungen auch lokale Forderungen, auf die wir später noch einmal zurückkommen werden.

Und wie soll das erreicht werden?

End Fossil: Occupy! ist eine Ansammlung von Aktivist:innen aus der Umweltbewegung, von denen ein guter Teil von Fridays for Future geprägt wurde. Diverse Organisationen unterstützen die Initiative, aber im Stil der Umweltbewegung gibt es keine offene Unterstützer:innenliste, um sich nicht zum „Spielball“ unterschiedlicher Interessen zu machen und „unabhängig“ zu bleiben. Darüber hinaus fallen weitere Ähnlichkeiten mit der bisherigen Klimabewegung auf. So wird auf der Website recht eindeutig gesagt, dass End Fossil: Occupy! von „unzähligen historischen Beispielen, wie der Pinguin Revolution 2006 in Chile, der Primavera Secundarista 2016 in Brasilien, der weltweiten Mobilisierung in und nach 1986 und vielen anderen“ inspiriert ist. Daran ist erstmal nichts verkehrt. Gleichzeitig muss aber bewusst sein, dass sowohl die Proteste in Chile 2006 als auch die  Bildungsstreikproteste in Brasilien, bei denen in kürzester Zeit über 100 Universitäten im ganzen Land besetzt wurden, in einer wesentlich anderen Ausgangslage stattgefunden haben. Bei beiden Beispielen gab es konkrete Angriffe auf das Bildungssystem. Die Besetzungen waren die Antwort von Schüler:innen, Studierenden und teilweise Lehrenden, um diese aktiv abzuwehren.

Aufbauend auf diesen Bezugspunkten setzt die Kampagne jedenfalls mehrere Prinzipien für ihre eigenen Aktionen fest:

„Die Besetzungen sind organisiert von jungen Menschen. Der politische Rahmen hinter den Besetzungen ist der der Klimagerechtigkeit. Wir wollen ein Ende der fossilen Industrie, um Klimaneutralität und weltweite soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Unser Ziel wollen wir durch einen globalen und sozial gerechten Prozess erreichen. Unsere Intention ist es, (Hoch-)Schulen an verschiedensten Orten zu besetzen und so das öffentliche Leben zu stören, bis unsere Forderungen umgesetzt sind.“

Kurzum, die Besetzung soll Druck auf Institutionen aufbauen. Diese müssen dann den Forderungen der Aktivist:innen zustimmen und so sollen der fossilen Produktion Stück für Stück Absatzmärkte entzogen werden.

Unibesetzungen

Besetzungen stellen hier also ein zentrales Mittel zur Veränderung der Lage dar. Gemäß aktuellem Kräfteverhältnis folgt allerdings eher dem Muster der direkten Aktion, also mit dem Hintergedanken, dass Menschen durch eine radikale Tat selbst in Aktivität gezogen werden. Vor Ort, also an den Unis oder Schulen, gibt es unter den Studierenden eigentlich keine systematische Vorbereitungsarbeit. Die Masse soll vielmehr durch die unmittelbare Besetzung und ihre mediale Bewerbung so inspiriert werden, dass sich mehr und mehr Leute spontan anschließen. Dabei gibt es jedoch mehrere Probleme, auf die wir im Folgenden eingehen wollen.

Schulen und Universitäten sind keine oder nur im sehr begrenzten Rahmen – z. B. wenn die Forschung direkt mit industrieller Entwicklung verbunden ist – Orte der Mehrwertproduktion. Das heißt, Streik hier wirkt anders als beispielsweise in Sektoren wie der Bahn oder Autoindustrie. Dementsprechend ist es zwar logisch, von „Störung des öffentlichen Lebens“ zu sprechen, gleichzeitig sorgt sie aber auch dafür, dass diese Auseinandersetzungen länger ausgesessen werden können und weniger Druck erzeugen als Betriebsbesetzungen. Das sollte einem bewusst sein, insbesondere, wenn die Gegner multinationale Konzerne sind.

Heißt das, dass wir das alles schwachsinnig finden? Nein, im Gegenteil. Grundsätzlich halten wir die Initiative für sinnvoll und glauben, dass sie Potenzial entfalten kann. Deswegen haben wir Besetzungen, wo wir vor Ort sind, auch aktiv mit unterstützt und wollen dies künftig weiter tun. Gleichzeitig halten wir es sinnvoll, eine offene Debatte über die Strategie der Klimabewegung zu führen, um so aus den Initiativen sowie Fehlern der Vergangenheit zu lernen und unserem gemeinsamen Ziel näher zu kommen. Besetzungen stellen ein wichtiges Kampfmittel der Student:innenbewegung, von Schüler:innen, Indigenen, Bauern/Bäuerinnen, aber vor allem auch der Arbeiter:innenbewegung dar und bieten in diesem Rahmen eine Menge Potenzial. Bevor wir dazu kommen, wollen wir uns jedoch anschauen, was für uns Besetzungen bedeuten.

Was steckt eigentlich hinter einer Besetzung?

Für uns Marxist:innen sind Besetzungen ein recht starkes Mittel im Klassenkampf. Auch wenn dies manchen Leser:innen als altbacken daherkommen mag, wollen wir an der Stelle einen kurzen Abschnitt aus dem Übergangsprogramm Trotzkis zitieren:

„Die Streiks mit Fabrikbesetzungen, eine der jüngsten Äußerungen dieser Initiative, sprengen die Grenzen der ‚normalen’ kapitalistischen Herrschaft. Unabhängig von den Forderungen der Streikenden versetzt die zeitweilige Besetzung der Unternehmen dem Götzenbild des kapitalistischen Eigentums einen schweren Schlag. Jeder Besetzungsstreik stellt praktisch die Frage, wer der Herr in der Fabrik ist: der Kapitalist oder die Arbeiter.“

Das heißt, Besetzungen werfen unmittelbar die Fragen auf: Wer kontrolliert das besetzte Gebäude, die besetzte Unternehmung? Damit stellen sie die Verfügungsgewalt des Privateigentums und/oder etablierte kapitalistische Herrschaftsstrukturen infrage. Der besetzte Betrieb ist eine lokal begrenzte Form der Doppelmacht. Selbstverwaltete Strukturen von Arbeiter:innen und Unterdrückten existieren parallel und im Gegensatz zum eigentlich staatlich gesicherten Privateigentum.

Deswegen können sich Besetzungen je nach Lage der gesamten Situation recht schnell auch zuspitzen, wie man in der Vergangenheit sehen konnte, beispielsweise von französischen Arbeiter:innen, die ihm Rahmen von Streiks Raffinerien besetzten. Solche Situationen können aber nicht ewig bestehen bleiben, da die eine Struktur immer wieder die Legitimität der anderen in Frage stellt und beide letzten Endes auch Ausdruck zweier unversöhnlicher Interessen sind.

Das heißt: Im klassischen Marxismus geht es bei Besetzungen nicht nur darum, „die Normalität zu stören“, sondern sie sind ein Mittel, um den Klassenkampf bewusst zuzuspitzen. Auf der anderen Seite sind sie auch ein Ausdruck vom Kräfteverhältnissen. D. h., die Lohnabhängigen müssen selbst eine gewisse Entschlossenheit, Bewusstheit, also auch politische und organisatorische Vorbereitung sowie ein Wissen über den/die Gegner:in besitzen, um eine solche Aktion gezielt durchzuführen und den Kampf weiterzutreiben. Ansonsten bleibt eine spontane Besetzung leicht bloßer Ausdruck von Verzweiflung und kann nicht länger gehalten werden.

Dieses Verständnis erklärt übrigens, warum isolierte Besetzungen in der Regel nicht erfolgreich sein können. Sie greifen das kapitalistische System nur an einem Punkt an und steht dem von Besetzer:innenseite keine massive, dauerhafte Mobilisierung entgegen, verfügt der/die Kapitalist:in bzw. der etablierte, bürgerliche Staat, der sein/ihr Privateigentum schützt, über weitaus mehr Ressourcen, diese zu räumen. Heißt das im Umkehrschluss, dass man nur Besetzungen machen sollte, wenn man eine Basisverankerung vor Ort hat? Die Antwort ist: Kommt drauf an, was man erreichen will. Als symbolischer Protest kann eine Besetzung auch genutzt werden, um Basisarbeit aufzunehmen. Das heißt, in diesem Sinne kann es durchaus zweckmäßig sein, dass „die Normalität gestört wird“. Wenn es aber darum geht wie im Hambacher Forst, im Dannenröder Wald oder auch bei End Fossil:Occupy!, aktiv Errungenschaften zu verteidigen oder zu erkämpfen, dann bedarf es unbedingt vorheriger Basisarbeit an dem Ort, der besetzt werden soll. Dann muss dafür auch in den bestehenden gewerkschaftlichen oder studentischen Strukturen gekämpft werden. Im Folgenden wollen wir skizzieren, wie das aussehen kann.

Wir glauben, dass Besetzungen, die mehr als einen symbolischen Charakter haben, erfolgreich sind, wenn eine Massenbasis bzw. eine Verankerung besteht, beispielsweise wenn man gesamte Gebäude einer Universität statt einzelner Hörsäle oder gar Betriebe besetzen will. Werden diese Besetzungen nicht von den Studierenden oder Arbeiter:innen getragen, werden sie schnell geräumt oder im Falle der Unis geduldet, bis die Besetzer:innen nicht mehr können.

Das heißt, sie sind ebenfalls eine bewusste Entscheidung für die Besetzung durch die Mehrheit aller, zumindest aber durch die aktiven Student:innen. Ansonsten ist sie letztlich auf Dauer nicht zu halten, organisiert keine Basis, sondern spielt faktisch Stellvertreter:innenpolitik.

Wie kommt man nun zum Ziel? Vollversammlungen sind ein sinnvolles Mittel wie beispielsweise bei der Besetzung der TU Berlin. Wichtig dabei ist, dass man a) für diese gezielt mobilisiert, indem man beispielsweise Forderungen, die man vor Ort aufstellt, präsentiert und b) die Anwesenden aktiv in die Debatte einbindet und so die Besetzung auch zu ihrer kollektiven Entscheidung gestaltet.

Letzteres ist dort leider nicht passiert und eine der Ursachen dafür, warum die Besetzung auf eine kleine Gruppe und einen Hörsaal beschränkt blieb. Die „gezielte Mobilisierung“ ist für eine wirkliche Besetzung, die das bestehende Kräfteverhältnis in Frage stellt, unumgänglicher, essentieller Teil der Vorbereitung. Das bedeutet praktisch: wochenlanges Flyern, Plakatieren, mit dem Megaphon vor der Mensa zu stehen und Gespräche mit Studierenden bzw. der Belegschaft vor Ort zu führen. Dabei kann man Termine vorschlagen, um den Kreis der Vorbereitenden zu erhöhen und mehr Aktivist:innen in die Arbeit einzubeziehen, und wenn gewollt, auch weitere kreative Mobilisierungsformen entwickeln.

Zentral ist dabei, diese mit Forderungen zu verbinden, die lokale Probleme aufzeigen bzw. thematisieren, wie es positiver Weise an der TU Berlin geschehen ist. So wurden unter anderem die Transparenz über Fördermittel sowie weitere Geldquellen der TU Berlin und  Abkehr von fossiler Finanzierung gefordert. Dabei sollten „alle Einnahmen und sonstige finanziellen Unterstützungen durch Unternehmen transparent und übersichtlich aufgeschlüsselt werden, um sowohl die Verwendung der Gelder als auch den Einfluss der Unternehmen auf akademische Strukturen für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen.“

Dies gleicht der Offenlegung der Geschäftsbücher, die wir unterstützen, und bietet beispielsweise auch die Möglichkeit, um mit Beschäftigten an der Uni ins Gespräch zu kommen, was die Höhe ihrer eigenen Gehälter angeht und dass die Unterstützung der Besetzung letzten Endes in ihrem Interesse liegt.

Dies sind alles kleine, mühselige Schritte – aber notwendig, wenn wir Erfolg und Besetzungen nicht bloß einen symbolischen Charakter haben sollen.




Die „Letzte Generation“ – neue radikale Klimabewegung?

Jonathan Frühling, Infomail 1204, 14. November 2022

In den letzten Wochen ist die Bewegung mit dem Namen „Letzte Generation“ mit ihren Aktionen in aller Munde.

In Berlin laufen über 700 Ermittlungsverfahren gegen sie, über ein Dutzend sitzt im Gefängnis. Von Springer über AfD bis zum Staatsapparat hetzt alles, was Auto fährt und liebt gegen sie. Der Tod einer Radfahrerin wird gegen die „Letzte Generation“ instrumentalisiert. Es wird dreist gelogen und verschleiert, dass die Tausenden Verkehrstoten auf deutschen Straßen ein Massensterben sind, das Autoindustrie und Verkehrsministerium zu verantworten haben – nicht Klimaaktivist:innen.

Wir solidarisieren uns mit der „Letzten Generation“: Freiheit für alle ihre Gefangenen, keine Repression gegen Klimaschützer:innen!

Forderungen

Zugleich wollen wir die Bewegung, ihre Ziele und Kampfformen einer Kritik unterziehen. Wir halten diese für notwendig, gerade weil die Aktivist:innen der „Letzten Generation“ selbst nach einem Weg suchen, wie die Bewegung effektiv werden und strategische Schwächen überwinden kann.

Die „Letzte Generation“ ist Teil des A22-Netzwerkes, welches angeblich Ableger in elf Ländern hat. Wenn man den Links von ihrer deutschen Webseite folgt, haben einige der Seiten jedoch kaum Inhalt, sind offline oder behandeln nur sehr spezifische Themen (für Brandschutz in Australien, für mehr Bahnlinien in Neuseeland). Wahrscheinlich gibt es nur in Deutschland und England größere Gruppen. Viele Aktivist:innen haben sich ihr wahrscheinlich deshalb angeschlossen, weil sie nach den erfolglosen Massenaktionen von FFF nach anderen, scheinbar radikaleren Aktionsformen gesucht haben.

Ihre Forderungen sind einfach: Es muss sich in den nächsten zwei bis vier Jahren etwas ändern, sonst sind die Folgen des Klimawandels unumkehrbar und bedrohen das Überleben unserer Spezies. Ihre Forderungen sind auf der Webseite in Form eines offenes Briefes an die Bundesregierung formuliert. Konkret wird dort nur das Tempolimit von 100 km/h sowie eine Neuauflage des 9-Euro-Tickets gefordert. Die Begründung der Aktivist:innen ist dabei, dass diese Forderungen sofort umgesetzt werden können. Wenn dies ausbleibt, dann sei die Politik der Bundesregierung entlarvt. Der darüber hinausgehende Forderungskatalog der Bewegung konnte bisher nicht aufgefunden werden.

Die Forderungen mögen richtig sein, doch ist es offensichtlich, dass sie nicht im Mindesten ausreichen, um die Vernichtung unserer Lebensgrundlage aufzuhalten. Nur die einfachsten Sofortforderungen zu stellen, wird uns zudem nicht reichen und auch nicht das Bewusstsein der Menschen entwickeln. Allgemein fällt auf, dass sie zwar auf die Probleme aufmerksam machen wollen, sich bei Lösungsvorschlägen aber sehr bedeckt halten.

Dies zeigte sich auch, als sie es 2021 im Interview mit Olaf Scholz ermöglichten, den deutschen Staat als Vorreiter der Klimapolitik und die „Letzte Generation“ als Schwarzmaler:innen ohne Lösungsansätze zu präsentieren.

Taktik und Ziel

Um ihre politische Ziele zu erreichen, greifen die Aktivist:innen auf die Taktik des zivilen Ungehorsams zurück. Sie kleben sich z. B. auf Straßen fest, um den Verkehr zu stören, oder bekleckern bekannte Gemälde mit Essen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dabei treten sie mit ihrem Namen auf und wollen die Gerichtsverhandlungen auch zum Politikum machen. Spannender Weise hat ein Gericht mit Verweis auf den Klimanotstand eine Aktion der „Letzten Generation“ am Brandenburger Tor als legitim bewertet. Nichtsdestotrotz krankt diese Taktik an mehreren Problemen.

Zunächst einmal sind dies alles symbolische Aktionen, die vor allem Aufmerksamkeit erzeugen. Es wird davon ausgegangen, dass die Öffentlichkeit und damit der gesellschaftliche Druck die Regierung zum Umdenken bewegen können. Ein paar Straßenblockaden und beschmierte Bilder werden einen Staat nicht zum Umdenken bewegen, der sich nicht davor fürchtet, Tausende an der Grenze der EU sterben zu lassen, Krieg zu führen und an der Vernichtung unserer Lebensgrundlage zu arbeiten.

Tatsächlich erlangen Politik und bürgerliche Presse durch die Aktionsformen sogar eine gute Möglichkeit, die „Letzte Generation“ zu diskreditieren. Anstatt die Herrschenden anzuschwärzen, richtet sich der Zorn gegen die Bewegung.

Letztlich ist die Taktik des zivilen Ungehorsams auch bei der „Letzten Generation“ Ausdruck eines Mangels. Es gibt keine wöchentliche Klimamassenbewegung mehr und selbst wenn, was vermochte diese schon zu bewegen?

Da wo Streiks wirklich wehtun – in der Produktion – gehen die sozialpartnerschaftlich den Bossen hörigen Gewerkschaften an der Klimakrise weitgehend vorbei. Einen politischen Klimastreik wird die feige Gewerkschaftsbürokratie niemals organisieren. Ihre Privilegien hängen selbst am deutschen fossilen Kapitalismus.

Die „Letzte Generation“ versucht, dies aus der Not der Klimakrise heraus durch selbstlose, subjektiv verständliche Taten auszugleichen, was natürlich nicht gelingen kann. Denn erstens verprellen sie durch Straßenblockaden zumindest einen Teil der Arbeiter:innen, die die Klimabewegung – Stichwort: Streik – eigentlich versuchen müsste zu gewinnen (wobei wir hier nicht entschuldigen wollen, dass sich welche trotz vorhandenen öffentlichen Nahverkehrs herausnehmen, täglich in ihrer klimatisierten Blechbüchse zur Arbeit zu kriechen, die Luft zu verpesten und als einzelner Mensch 12 qm Platz verbrauchen!).

Zweitens kann eine Taktik nie von den damit verfolgten Zielen getrennt werden. Da die Forderungen der „Letzten Generation“ nicht ausreichen, um national wie international etwas gegen die Klimakrise auszurichten, muss ihr Vorgehen als moralisch aufgeladener, ungenügender Radikalreformismus bezeichnet werden, der dem Kapitalismus mit seinem Staat fatalerweise die Möglichkeit unterstellt, dass er auch ökologisch nachhaltig funktionieren könnte.

Das kommt auch in dem erwähnten Brief an die Regierung zum Ausdruck. Für die „Letzte Generation“ erscheint der demokratische bürgerliche Staat als etwas über der Gesellschaft Stehendes, das mit genügend Öffentlichkeit und zivilem Ungehorsam in diese oder jene Richtung gedrängt werden könnte. So macht man es der ignoranten Regierung nur deutlich genug.

Das ist eine Illusion. Wahrscheinlicher ist, dass der Staat die Repression gegenüber der „Letzten Generation“ erhöht so wie es die Regierung NRWs mit „Ende Gelände“ gehalten hat. Der Staat ist eine Institution der herrschenden Klasse und über Parteispenden, Lobbygruppen usw. mit ihr verbunden. Der Staat weiß ganz genau, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern. Jedoch steht für ihn nicht die Erde, sondern das Profitinteresse des Kapitals an erster Stelle. Das hat er oft genug bewiesen, und in einer Welt, in der die Konkurrenz die erste Treibkraft von allem ist, kann er auch nicht anders.

Revolutionäre Alternative

Wir brauchen keinen „Vertrauensbeweis“ der verlogenen Regierung, wie es die „Letzte Generation“ fordert. Sie liefert täglich den Beweis, dass sie unsere Generation der Dystopie ausliefert. Was juckt sie die Zukunft in der kapitalistischen Realpolitik der Gegenwart?

Wir müssen die Herrschenden da treffen, wo es wehtut: beim Profit. Doch das können wir nur erreichen, wenn wir wirkliche Klimastreiks organisieren und diese militant gegen Polizei und rechte Schläger:innen verteidigen. Die Klimabewegung muss den Schulterschluss mit der Arbeiter:innenklasse und oppositionellen Teilen der Gewerkschaften suchen. Diese besitzen das Know-how, wie eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft aussehen könnte – und sie sind auch zentral dafür, die Gewerkschaften selbst zu Kampforganisationen zu machen. Blockaden können nur gezielt und im besten Fall als demokratische Massenaktionen z. B. gegen Waffentransporte oder Kohlekonzerne ihre volle Wirkung entfalten. Nur so können wir sicherstellen, dass es eine Akzeptanz gibt, und weitere Menschen mit einbeziehen.

Der Klassenstandpunkt und die Position gegen den Staat sind essenziell für eine erfolgreiche Klimapolitik. Unser Planet wird für die Profitinteressen des Kapitals zerstört. Nur wenn wir den Kapitalismus überwinden, kann es eine ökologisch nachhaltige Wirtschaft geben. Neben Sofortmaßnahmen (Tempolimit, kostenloser Nahverkehr, massive Klimasteuer auf fossile Profite, keine weiteren Autobahnbauten … ), die durch Streiks erzwungen werden könnten, müssen wir deshalb Forderungen diskutieren, die zur Auflösung des Kapitalismus und zu einer klassenlosen Gesellschaft führen: Verstaatlichung der Industrie unter Arbeiter:innenkontrolle, Reorganisierung der Produktion in einer demokratischen Planwirtschaft, Ersetzung des bürgerlichen Staates durch eine Rätedemokratie.




Vom Hoffen auf den heißen Herbst: Ey Linkspartei, was machst du?

Jaqueline Katharina Singh, Neue Internationale 269, November 2022

In England gingen Hunderttausende auf die Straße, in Frankreich werden Betriebe bestreikt und Besetzungen diskutiert. Und auch in Deutschland wurde im Sommer noch von der Linkspartei ein heißer Herbst angekündigt. Groß sollte er werden, kämpferisch. Der größte Aktionstag brachte bundesweit gerade 24.000 Menschen auf die Straße. Dahinter reihen sich wenige lokale Demonstrationen mit Tausenden in Berlin und Leipzig und zahlreiche kleine Aktionen von mehreren hundert Menschen ein. In der Realität ist der heiße Herbst bisher leider nicht mehr als ein lauwarmes Lüftchen. Die Gründe dafür sind zahlreich, doch einer sticht heraus: der Scherbenhaufen mit dem Namen Linkspartei. Was sind die Probleme? Und was müsste getan werden? Ein Debattenbeitrag für alle, die ernsthaft gegen die Inflation kämpfen wollen.

Lage

Potenzial, auf die Straße zu gehen, wird genügend geliefert. Meistens direkt in unsere Briefkästen in Form von Gasabschlägen von mehreren Hundert Euro oder in Form von Kassenbons, die einem nach dem Einkauf in die Hand gedrückt werden.

Zeitgleich versucht natürlich auch die Bundesregierung, die Kosten abzufangen. Auch wenn die Entlastungspakete weit hinter dem zurückbleiben, was die Lohnabhängigen – und vor allem die Armen – brauchen, können sie einen Teil des Unmuts abfangen. (Genauso wie die 20 Grad im Oktober helfen, die Heizung erstmal runterzustellen, Klimawandel sei Dank.)

Doch vergessen wir nicht. Diese Zugeständnisse der Regierenden sind selbst eine Reaktion auf die Wut und Empörung von Millionen. Unmöglich machen sie Proteste sicher nicht. Denn die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung ist angespannt, wenn sich bei vielen auch Frustration und Hoffnungslosigkeit breitzumachen beginnen.

Kämpfen lohnt sich nicht?

Anders als in Frankreich kann man in Deutschland nicht auf eine Tradition von einigermaßen erfolgreichen Abwehrkämpfen blicken. Vielmehr wurden Niederlagen eingesackt, ob nun vor Jahren bei den Protesten gegen die Hartzgesetze, ob von der antirassistischen Bewegung. Von kämpferischen Streiks will man gar nicht erst reden. Kämpfe wie jene der Krankenhausbewegung in Berlin und Nordrhein-Westfalen stellen die Ausnahme dar. Es herrschen sozialpartnerschaftliche Regulierung, ritualisierte Tarifrunden vor – im Extremfall der nationale Schulterschluss oder die Konzertierte Aktion zwischen Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Regierung.

Die Erfahrung, die allgemein hängenblieb, lautet: Politischer Streik geht nicht. Doch gerade in einer Krise ist es nicht unmöglich, diese bürgerlichen Ideologien aus den Köpfen der Bevölkerung zu fegen. Doch dazu bräuchte es eine Organisation, die sich den Interessen der Beschäftigten verschreibt, in Opposition zur Regierung, eine Organisation, die den Kampf gegen die Preissteigerungen mit dem gegen Krieg, Umweltkatastrophe, Rassismus und Imperialismus verbindet. Eine Organisation, die Druck auf Gewerkschaften ausübt, die aktiv vorantreibt.

Dabei verspricht die Linkspartei auf Parteitagen und in Sonntagsreden eine Politik im Interesse der Mehrheit, verkündet einen heißen Herbst und manche schreiben gar eine „verbindende Klassenpolitik“ auf ihre Fahnen. Zu sehen ist davon nichts. Bevor wir jedoch zu den öffentlich einsehbaren Machtspielchen der Partei kommen, wollen wir einen Blick auf die inhaltliche Antwort der Linkspartei auf die aktuelle Situation werfen.

Forderungen

Gesammelt auf einer Themenseite (https://www.die-linke.de/themen/preissteigerungen/) findet man die Forderungen der Linkspartei. So heißt es: Die Gaskrise verschärft sich und die Bundesregierung agiert hilflos. Die Linkspartei fordert dagegen folgende Sofortmaßnahmen:

a) Ein drittes Entlastungspaket, einen „sozialen Klimabonus“ von 125 Euro im Monat für jeden Haushalt. Weitere 50 Euro sollen für Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen ausgezahlt werden. Ebenso fordert sie eine sofortige Erhöhung der Sozialleistungen um 200 Euro pro Monat und eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets bis zum Jahresende.

b) Einen sofortigen Gaspreisdeckel sowie ein Verbot von Strom- und Gassperren, verbunden mit einem bezahlbares Grundkontingent für Strom und Gas für alle.

c) Eine Übergewinnsteuer und den Ausbau von erneuerbaren Energien.

Viel könnte man an dieser Stelle ergänzen, wir wollen es aber bei den wesentlichen Punkten belassen. Zum einen stellt sich einem/r die Frage, warum das 9-Euro-Ticket nur bis zum Jahresende verlängert werden soll. Die geforderten Summen stellen sicher ein Verbesserung gegenüber den Einmalzahlungen der Regierung da, aber letztlich bleiben sie auch hinter dem, was notwendig ist: einer Erhöhung der Renten und Arbeitslosengelder auf 1.600 Euro pro Monat mit automatischer Inflationsanpassung.

Zum anderen ist gerade der Punkt mit der Übergewinnsteuer sehr verklausuliert. Die Forderung an sich ist richtig, im Absatz des Forderungskatalogs findet man jedoch auch Aussagen wie „Es ist richtig, Unternehmen zu retten, um einen Kollaps der Versorgung zu verhindern. Der Bund sollte dauerhaft Eigentümer bleiben, um Bürger entlasten zu können.“

Die Verstaatlichung von Unternehmen ist sicher ein Schritt zur Verhinderung von Entlassungen. Doch DIE LINKE drückt sich hier nicht nur darum herum, dass sie ohne Entschädigung erfolgen soll. Es fragt sich auch, warum eigentlich Profiteur:innen von der Krise, die selbst die Preise nach oben treiben, nicht enteignet werden sollen, zumal wenn es nicht nur darum geht, die Versorgung zu sichern, sondern auch, die Energieversorgung ökologisch umzurüsten.

Schließlich wird die Frage, wer die Produktion in solchen verstaatlichten Unternehmen kontrollieren soll – das Management oder die Beschäftigten – erst gar nicht aufgeworfen. Im Grunde geht das Sofortprogramm der Linkspartei nicht über das hinaus, was auch die Bundesregierung tut. Sie will nur, dass das „dauerhaft“ bleibt.

Vor allem aber muss man in einem Land, in dem die Kampferfahrung gering ist, aufzeigen, wie man die eigenen Forderungen umsetzen will. Als Gruppe Arbeiter:innenmacht unterstützen wir beispielsweise Forderungen wie die nach einem Gaspreisdeckel, glauben aber, dass diese nur unter direkter Kontrolle von Beschäftigten sinnvoll ist. Praktisch bedeutet es, ein Gremium aus deren Vertreter:innen zu wählen, das rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar ist. Doch wie kann so eine scheinbare Utopie zur Wirklichkeit werden? Wie können die Forderungen nicht nur hübsch auf Flyer gedruckt, sondern in der Praxis umgesetzt werden?

Eine Antwort auf diese Frage findet man nicht auf der Homepage. Auch nicht im FAQ, welches sonst recht gut kurz und knapp Sachen erklärt.

Über Terminankündigungen hinaus finden wir auch nichts, wie eine Bewegung aufgebaut werden kann oder soll, und schon gar nichts, wie diese in die Betriebe zu tragen ist.

Würde die Linkspartei (bzw. jede ihrer Strömungen) ihren eigenen Anspruch, ihre eigenen Versprechen ernst nehmen, müsste/n sie aktiv daran arbeiten, ein breites Aktionsbündnis, eine Einheitsfront aller Akteur:innen der Arbeiter:innenbewegung aufzubauen. Sie müsste/n dazu vor allem die Gewerkschaften zum gemeinsamen Kampf und Bruch mit Sozialpartner:innenschaft und Konzertierter Aktion auffordern.

Doch DIE LINKE schafft es nicht einmal, konkrete Forderungen für die Tarifabschlüsse mit in die Kampagne aufzunehmen. Nicht nur Sozialleistungen, sondern auch Löhne müssen an die Inflation angepasst werden und die kommende Metallrunde sowie die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst sind kein Nebenschauplatz des Kampfes gegen Preissteigerungen, sondern müssen vielmehr als konkrete Möglichkeit begriffen werden, diesen mit betrieblichen Aktionen zu bestzen. Dass dies nicht thematisiert wird, ist kein Zufall.

Strategische Schwäche

Wie oben bereits erwähnt, unterminiert und fesselt die Sozialpartner:innenschaft der Gewerkschaftsbürokratie die Kampfkraft der Arbeitenden. Der Schulterschluss mit dem Kapital bringt mit sich, dass man aus Sorge um den lokalen Standort zu beschwichtigen versucht. In der Praxis bedeutet das oft genug, dass Arbeitsplätze vernichtet und die Beschäftigten mit Sozialplänen abgespeist werden oder Tarifabschlüsse hinter der aktuellen Inflationsrate zurückbleiben.

Aber warum muss sich eine linke Partei dazu verhalten? Die sogenannte soziale Frage, die nach Verbesserung des Lebensstandards ist nicht nur Kerninteresse von Linken, weil man ein reiner Gutmensch ist. Die 5 Millionen Mitglieder des DGB bilden die stärkste Kraft, wenn es darum geht, Forderungen durchzusetzen. Denn Streik ist eines der effektivsten Mittel, um Druck auf Unternehmen sowie Regierung aufzubauen. Wer also Einfluss in den Gewerkschaften ausübt, kann Kämpfe ganz anders führen. Oder anders herum: Wenn es nicht gelingt, die Gewerkschaften und ihre Millionen Mitglieder für den Kampf gegen Preissteigerungen und die Rezession auf der Straße und in politischen Massenstreiks zu mobilisieren, werden wir die Angriffe von Kapital und Regierung nicht stoppen können.

Doch es stellt seit Jahren eine strategische Schwäche der Linkspartei dar, sich in diesem Bereich nicht als klare Opposition zur SPD und zur Gewerkschaftsbürokratie aufgestellt zu haben. Nicht dass die Linkspartei komplett ohne Einfluss wäre, das zeigen Figuren wie Bernd Riexinger. Aber DIE LINKE will keine antibürokratische Opposition, sondern den Apparat ideologisch nach links verschieben. Diese Politik führt aber dazu, dass ihre gewerkschaftlich Aktiven und vor allem die Funktionär:innen letztlich als Anhängsel der sozialdemokratischen dominierten Bürokratie agieren, ob sie das nun wollen oder nicht.

Dies ist nichts Neues, sondern ein Merkmal reformistischer Parteien – ebenso wenig die Auftrennung zwischen politischen und ökonomischen Kämpfen. Die Linkspartei agiert demzufolge im Parlament und vielleicht auch auf der Straße. In den Betrieben und in den Gewerkschaften überlässt sie aber den ökonomischen Kampf bzw. dessen Verhinderung der Bürokratie (und der SPD). Doch genau dieses Prinzip wird in Krisenzeiten sichtbar aufgebrochen, denn  Inflation oder drohende Rezession zeigen, dass es keine unabhängigen Sphären sind, die voneinander existieren.

Statt also die Gewerkschaftsführungen offen aufzufordern, sich an den Mobilisierungen zu beteiligen, beispielsweise durch offene Briefe und eine Kampagne in den Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörpern, schweigt man. Statt offen eine Positionierung in den Tarifkämpfen einzunehmen und die Beschäftigten in diesen Kämpfen zu unterstützen, ordnet man sich der Gewerkschaftsbürokratie unter und wird damit indirekt Unterstützerin der Sozialpartner:innenschaft.

Verquere Debatte

Das ist nicht die gleiche Debatte, die im Vorfeld zum Parteitag geführt wurde. Denn auch wenn die populäre Linke und Wagenknecht schnell dabei sind, das Bild vom Arbeiter im Blaumann herauszuholen und die Ausrichtung auf diesen zu fordern, so schweigen sie bei der Frage der Gewerkschaften, der Rolle der Bürokratie und dem Kampf, den man gegen diese führen muss. Ähnliches gilt jedoch auch für das Lager der Bewegungslinken, das Organizing als Antwort sieht, das aber der offenen Konfrontation mit der Bürokratie ausweicht. Von den Regierungssozialist:innen will man an der Stelle lieber nicht reden, denn sie haben gar kein wirkliches Interesse, auch nur partiell Druck aufzubauen – das schadet letztendlich nur den Chancen, in eine Regierung zu gelangen.

Hätte man jedoch eine klare Strategie in dem Bereich, wäre die Verbindung von ökonomischen Kämpfen mit jenen Bewegungen wie der gegen Umweltschäden kein großes Rätsel mehr. Denn im Endeffekt müssen diese beiden aktiv miteinander verbunden werden, um erfolgreich Errungenschaften für die gesamte Klasse zu erkämpfen wie beispielsweise ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket oder einen kostenlosen ÖPNV. Stattdessen verliert man sich im internen Richtungsstreit, der aktuell eine neue Ebene des Elends erreicht.

Flügelstreit statt Klassenkampf

Leipzig, 05. September 2022. Sören Pellmann, einer der drei Gründe, warum die Linksfraktion überhaupt im Bundestag sitzt, organisiert einen ersten Protest. Rund 5.000 Menschen versammeln sich auf dem Augustusplatz und beteiligen sich an der Demonstration der Linkspartei. 5 Wochen später wird die Linkspartei wieder einen Protest organisieren – diesmal als Bündnis unter der Führung von Juliane Nagel. Sie ist eine Vertreterin des Lagers der Regierungssozialistinnen und erklärt, dass weder Sahra Wagenknecht noch Sören Pellmann auf dieser Kundgebung sprechen dürfen. Kurzum: Man ist zwar in einer Partei, aber setzt alles daran, nicht gemeinsam zu arbeiten.

Ein Einzelfall, könnte man meinen. Aber nein, auch in Berlin im Bündnis „Heizung, Brot, Frieden“ gibt es ähnliche Querelen. Hieran ist unter anderen Aufstehen beteiligt. Nachdem am Anfang auch Gesichter der Bewegungslinken und marx21 anwesend waren, hätte man meinen können, dass es ein positives Beispiel sein könnte. Trotz Differenzen ist man in einem Bündnis, mobilisiert gemeinsam, während man inhaltlich streitet und versucht, die Partei insgesamt zum Handeln zu zwingen. Hätte, hätte, Fahrradkette! Dieses Verhalten ist ein Schlag ins Gesicht für alle Basismitglieder, die versuchen, aktiv gegen die Preissteigerungen zu kämpfen.

Feindbild Populismus

Dass es Teile der Partei gibt, die den Linkspopulismus von Sahra Wagenknecht ablehnen, ist gut. Doch erstens ist Kritik an ihr keineswegs immer eine fortschrittliche. Im Gegenteil, der jüngste Sturm der Empörung entbrannte, gerade weil Wagenknecht auch einmal etwas Richtiges gesagt hatte, nämlich dass Deutschland und seine Verbündeten einen Wirtschaftskrieg gegen Russland führen.

Der rechte Parteiflügel will es sich offenkundig mit der Regierung nicht verscherzen. Fast noch mehr scheint er von einem wahrhaften Abgrenzungswahn gegenüber Sahra Wagenknecht und Aufstehen, also dem linkspopulistischen, an Mélenchons Partei La France Insoumise orientierten Flügel, der Partei besessen zu sein.

Der Aufstehen-Flügel hingegen will eine linkspopulistische Massenmobilisierung, die auch Gewerkschaften und radikale Linke umfassen soll. Gegenüber einer realen Orientierung auf die Arbeiter:innenklasse, der Frage von Streiks und betrieblichen Kämpfen verhält er sich ignorant. Stattdessen wird das „Volk“ aufgerufen, eine Allianz bis hin zu den krisengeschüttelten Unternehmen angestrebt und der russische Imperialismus real verharmlost. Aber er beteiligt sich mit sehr viel Elan an den Aktionen, ja prägt diese in etlichen Städten. Dass Aufstehen versucht, den Mobilisierungen seinen politischen Stempel aufzudrücken, für seine Zwecke zu nutzen, um sich stärken zu wollen, kann ihm niemand ernsthaft vorwerfen. Das will schließlich jede politische Kraft, die in solchen Mobilisierungen aktiv ist.

Die Mehrheit der Linkspartei agiert demgegenüber einfach sektiererisch. Vom Standpunkt der Regierungssozialist:innen ergibt das durchaus Sinn. Ihnen sind Regierungsposten und Verbindungen und gutes Einvernehmen mit SPD, Grünen und Gewerkschaftsbürokratie allemal wichtiger als eine Bewegung, die diese in Schwierigkeiten bringen könnte. Die sog. Bewegungslinke – und in ihrem Schlepptau Strömungen wie marx21 – macht sich zunehmend zur politischen Gehilfin der Lederers, Nagels und Ramelows.

Hoffen auf Veränderung?

Die Spaltung der Linkspartei ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Die verschiedenen Flügel rüsten faktisch zum entscheidenden Kampf und warten vor allem auf eine günstige Gelegenheit. Dabei ist die Krise selbst nur Ausdruck der strategischen Perspektivlosigkeit einer kleinen reformistischen Partei. Zwischen Bewegungsspielerei und Regierungsbeteiligung lässt sich eine schlüssige Strategie schlecht ausarbeiten. Es ist also kein Wunder, dass die Partei ideologisch zwischen verschiedenen Spielarten von Populismus, Reformismus und Identitätspolitik hin und hergerissen wird. Der Krieg um die Ukraine hat die Flügel weiter polarisiert, treibt die einen mehr ins Putinlager, die anderen Richtung Regierung und westlichem Imperialismus.

Kein Wunder, dass immer mehr Aktivist:innen sich abwenden. Zweifellos stellt der kommende Untergang für die sozialistischen Kräfte in der Partei eine zentrale Frage dar. Es ist eigentlich höchste Zeit, offen dem Reformismus den Kampf anzusagen und einen revolutionären Bruch mit der Partei vorzubereiten, also die eigenen Kräfte als Alternative zu bestehenden reformistischen und populistischen Strömungen zu sammeln.

Eine solche Intervention in den Flügelstreik müssten sie zugleich mit dem Kampf für eine Einheitsfront aller Kräfte der Arbeiter:innenbewegung – also auch aller Teile der Linkspartei – verbinden. Das Fatale am inneren Flügelstreit ist ja nicht, dass sich dieser zuspitzt, sondern er vor allem von den Regierungssozialist:innen und der Bewegungslinken mit einer bewussten Sabotage gemeinsamer Aktionen gegen Inflation und Krise verbunden wird. Unglücklicherweise finden sich diese mit ihrem Sektierertum in der „radikalen Linken“ in guter Gesellschaft.

Es mangelt nicht an verschiedenen Bündnissen mit teilweise fast identischen Forderungskatalogen, die – anders als der „solidarische Herbst“ von Gewerkschaften, NGOs und Sozialverbänden – Kapital und Regierung als politischen Gegner:innen verorten und, zumindest verbal, die Notwendigkeit einer Massenmobilisierung proklamieren.

Doch wer diese wirklich will, muss auch danach trachten, aktionsfähige Bündnisstrukturen aufzubauen, Kräfte wie „Heizung, Brot, Frieden“, „Genug ist Genug“, „Nicht auf unserem Rücken“ oder „Umverteilen“ auf lokaler und bundesweiter Ebene zu einem Bündnis zusammenzuschließen. Ein erster Schritt dazu wäre es in jedem Fall, gemeinsame Demonstrationen und Aktionen zu organisieren.

Schon heute ist klar: Wie es ist, kann und darf es nicht bleiben. Wir wissen auch, dass wir im Kampf gegen Inflation, Rezession und Kosten des Krieges einen langen Atem brauchen werden. Umso dringender ist es freilich, die linken Bündnisse auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis zusammenzuführen und dazu möglichst rasch lokale und bundesweite Aktionskonferenzen zu organisieren.




Proteste gegen Inflation und Energiekrise: Klare Kante gegen rechts!

Christian Gebhardt, Neue Internationale 268, September 2022

Die Inflationsrate steigt und steigt. Betrug sie im August 2022 in Deutschland 8,8 %, wird im Herbst schon eine zweistellige Steigerungsrate erwartet. Bürgerliche Ökonom:innen sprechen zwar davon, dass die Spitze der Inflation bald erreicht sein solle und es sich wieder „zu den normalen“ 2 % hin entwickeln würde. Eins ist aber sicher: die Preise werden oben bleiben und mit ihnen der finanzielle Druck im Alltag etlicher Menschen. Vergleicht man die Inflationsraten mit denen anderer Länder, wird deutlich, wohin die Reise gehen könnte: Österreich 9,2 %, Estland 25,2 % sowie die Türkei mit satten 80,1 % im August 2022 weisen alle eine höhere Inflation auf.

Somit ist es nicht verwunderlich, dass die stark ansteigenden Preise nicht nur Gesprächsthemen in Politshows und bürgerlichen Kolumnen einnehmen, sondern auch täglich für Gesprächsstoff an den Frühstückstischen, in den Pausenräumen und Betrieben sorgen. Die Arbeiter:innenklasse bekommt die Auswirkungen täglich durch gestiegene Lebensmittel- und Energiepreise zu spüren und der Unmut darüber wird immer lauter. Auch wenn es noch nicht überkocht, die Stimmung scheint zu brodeln und die Menschen suchen nach Aktivitätsmöglichkeiten, um ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Einen Hinweis darauf stellen zum Beispiel die Teilnehmer:innenzahlen bei den ersten Montagsdemonstrationen wie z. B. 4.000 Teilnehmer:innen in Leipzig dar.

Rechte Mobilisierungen

Neben den Mobilisierungen linker Kräfte versuchen auch rechte wie die AfD oder „Freie Sachsen“, das Thema für sich zu besetzen und mit ihren reaktionären Perspektiven zu verbinden. Auch wenn sich daraus noch keine regelmäßig mobilisierende Massenbewegung wie gegen Corona entwickelt hat, wird die bundesweit beworbene AfD-Kundgebung am 8. Oktober in Berlin ein Gradmesser dafür sein, wie stark rechte Organisationen oder Strukturen dieses Thema für sich nutzen können. Schon jetzt dominieren rechte und faschistische Kräfte in Sachsen viele lokale Demos.

Der Herbst wird also auch ein Kräftemessen zwischen rechts und links, zwischen reaktionärer kleinbürgerlicher Demagogie und der Arbeiter:innenklasse. Schon jetzt erfolgt dieses: Die jeweilige Größe von Demonstrationen wie jene des linken Bündnisses Brot Heizung Frieden am 3. Oktober, der Mobilisierung der Sozialverbände, Umweltorganisationen und Gewerkschaften am 22. Oktober wird für den Stand des Einflusses ebenso wesentlicher Indikator wie die AfD-Kundgebung am 8. Oktober werden.

Währenddessen werden die bürgerlichen Medien nicht müde, gemäß der Hufeisentheorie die linken wie rechten Proteste in einen Topf zu werfen und zu diffamieren. Alle Proteste gegen die Inflation und ihre Auswirkungen soll als putinfreundlich, rechtsradikal oder antisemitisch gebrandmarkt werden.

Wie umgehen mit rechten Gegenprotesten?

Diese rechten Mobilisierungen zeigen aber auch Auswirkung auf die Diskussionen innerhalb der (radikalen) Linken im Umgang damit. Hier unterscheiden sich drei Ansätze: 1) Entweder es wird der Kampf gegen rechts in den Vordergrund gestellt und Blockaden der rechten Demonstrationen als oberstes Ziel ausgerufen; 2) es wird sich in populistischer Natur rechts offen gegeben und darauf hingewiesen, dass auch reaktionäres Gedankengut zunächst innerhalb einer breiten, populären Massenbewegung gegen die Inflation ausgehalten werden müsse; und 3) die Notwendigkeit einer unabhängigen Massenbewegung der Arbeiter:innen aufzubauen betont, die aus ihrer Perspektive heraus nicht nur den proletarischen Kampf gegen die Inflation und Teuerung, sondern auch gegen rechts in einer Massenbewegung vereinen könne.

Diese Ansätze werfen direkt die Frage des Charakters einer solchen – dringend notwendigen – Massenbewegung auf. Soll sie einen populistischen Charakter tragen? Eine Bewegung, die vor klaren Klassenpositionen wie Internationalismus und Antirassismus zurückschreckt, um Teile „des Volkes“ nicht zu verprellen und für die Bewegung zu gewinnen? Oder soll sie einen internationalistischen, proletarischen Charakter besitzen? Eine Bewegung, die sich an den Kampforganen sowie -formen der Arbeiter:innenklasse orientiert? Die sich auf Basisstrukturen der Arbeiter:innenklasse in Betrieben, Nachbarschaften und an Schulen zur Mobilisierung, Diskussion und Verbreitung der Bewegung stützt und ihr dadurch einen basisdemokratischen, multiethnischen Charakter verleiht?

Wir argumentieren für den Aufbau einer internationalistischen, proletarischen Massenbewegung – die einen Attraktionspol für die Menschen darstellen und gleichzeitig einen Ausweg im Interesse der arbeitenden Bevölkerung aufzeigen kann. Nur durch eine klare Positionierung können breite Teile der Arbeiter:innenklasse für eine solche Bewegung gewonnen und Gegenmacht gegen die rassistische Demagogie der Rechten formiert werden.

Dies bedeutet, auch innerhalb der linken Mobilisierung einen offenen und solidarischen Kampf gegen politische Konzeptionen von Kräften wie „Aufstehen“ rund um Sahra Wagenknecht, gegen kleinbürgerliche Politiken von Umweltverbänden zu führen – und natürlich auch gegen Sozialpartnerschaft und Kompromisslerei auf Seiten der Gewerkschaftsbürokratie oder der Reformist:innen in der Linkspartei. Letztlich wird die entscheidende Frage im Kampf gegen rechts sein, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, der Bewegung ihren Stempel aufzudrücken und eine Perspektive zu weisen. Daher ist es auch so zentral, die Gewerkschaften in die Aktion zu ziehen, denn die aktuellen Angriffe können letztlich nicht wegdemonstriert, sondern müssen weggestreikt werden.

Rechte Aktionen und Provokationen

Zweifellos ist es auch richtig, sich rechten Mobilisierungen entgegenzustellen wie am 5. September in Leipzig oder sich am 8. Oktober an den Gegenaktionen zum AfD-Aufmarsch zu beteiligen. Den Kampf um die Massen, die jetzt eine Perspektive und eine Bewegung gegen Inflation und Verarmung brauchen, können wir aber durch diese Aktionen alleine nicht führen. Mehr noch. Wenn sich die Linke auf die Verhinderung von rechten Aufmärschen fokussiert, wird sie selbst keine attraktive Kraft werden können, sondern überlässt letztlich den Rechten die Opposition zur Regierung.

Gänzlich verfehlt und problematisch wird die Sache, wenn beispielsweise der Demonstration am 5. September in Leipzig von der antideutschen Antifa vorgeworfen wird, dass diese eine „Querfront“ gewesen wäre, weil DIE LINKE und andere eine eigene Veranstaltung durchgeführt haben, statt sich auf die Blockade der Rechten und Nazis zu konzentrieren. In Wirklichkeit offenbart diese Anschuldigung nicht nur einen albern dümmlichen Gebrauch des Querfrontvorwurfs, sondern auch die politische Perspektivlosigkeit vieler Antifa. Selbst hat man keinen Plan, keine Vorschläge, keine Forderungen, wie gegen Preissteigerungen und die Kriegspolitik der Regierung vorzugehen wäre. Was als besonders „militant“ daherkommt, stellt im Grunde eine politische Bankrotterklärung dar.

Ein gänzlich anderes Problem wirft freilich die Frage auf, wie organisierte rechte Präsenz, Provokationen oder Infiltrationsversuche auf linken Demos effektiv gestoppt werden können. Natürlich spielen auch hier die Forderungen und klassenpolitische Ausrichtung selbst schon eine wichtige Rolle. Darüber hinaus braucht es klare Stellungnahmen, dass rechte Organisationen, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus auf den linken Kundgebungen und Aktionen keinen Platz haben.

Bei Ankündigungen darf es dabei natürlich nicht bleiben. Es braucht einen organisierten Ordner:innendienst und Schutz der Aktionen, die organisierte rechte oder rechts offene Kräfte von den Demonstrationen und Kundgebungen auch entfernen können. Solche Ordner- und Selbstverteidigungsstrukturen müssen von den linken Aktionsbündnissen gebildet und diesen auch verantwortlich sein.

Dies ist vor allem notwendig, weil wir es nicht nur, in etlichen Städten wahrscheinlich nicht einmal in erster Linie, mit organisierten rechten, faschistischen oder rechtspopulistischen Strukturen zu tun haben. Diese haben bei den Aktionen nichts verloren und müssen rausgeschmissen werden.

Anders stellt sich das Problem bei bisher kaum mobilisierbaren Lohnabhängigen und Kleinbürger:innen mit politisch diffusem Bewusstsein dar, die die reale Existenzangst auf die Straße treibt. Wir wollen diese Menschen in die Bewegung ziehen und für unsere Aktionen gewinnen, denn auch im politischen Kampf um deren Herzen und Hirne wird entschieden, ob die Rechte oder die Linke zur hegemonialen Kraft im Kampf gegen Preissteigerungen, Energiekrise und Regierungspolitik wird.

Schließlich kann und darf eine „richtige“ Positionierung zum Ukrainekrieg keine Vorbedingung zur Teilnahme an einer Bewegung gegen die Teuerung darstellen. Das gilt natürlich noch mehr, wenn die vom DGB, den Sozialverbänden und Umweltorganisationen für den 22. Oktober geforderte Position die falsche ist. Versuche, eine Kritik an den reaktionären Sanktionen zu untersagen, haben mit einem Kampf gegen rechts nichts zu tun, sondern stellen bloß eine politische Flankendeckung für die Regierung und ihren imperialistischen Kurs dar. Sie schrecken Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende potentielle Unterstützer:innen ab, vor allem im Osten.

Die klare Kante gegen rechts, die klare Abgrenzung von AfD und Co. wird nur dann eine scharfe politische Waffe sein, wenn sie auch eine gegen Kapital und Regierung, gegen Krieg und Krise, gegen den deutschen Imperialismus beinhaltet.




Frankreich: Neue Volksunion ein Fortschritt für die Arbeiter:innenklasse?

Marc Lassalle, Infomail 1191, 10. Juni 2022

„Französisches Volk, wenn du es willst, kannst du mit deinen Stimmen viele wichtige Forderungen erfüllen“. „Am 12. und 19. Juni, wenn Sie sich dafür entscheiden, indem Sie die Abgeordneten der NUPES wählen, wird an diesem Tag der Frühling des Volkes erblühen und den Frühling der Natur widerspiegeln.“

Die Botschaft der Neuen Populären, Ökologischen und Sozialen Union (NUPES = Nouvelle Union Populaire écologique et sociale) ist einfach und klar: Wählt bei den kommenden Parlamentswahlen diese neu gegründete Koalition linker Parteien, und die von dem selbsternannten Premierminister Jean-Luc Mélenchon geführte Regierung wird alle eure Probleme lösen, von Lohnerhöhungen über ökologische Planung bis hin zur Sechsten Republik.

Die von Mélenchon nach seinem beachtlichen Ergebnis (22 %) bei den Präsidentschaftswahlen im April ins Leben gerufene NUPES ist eine Wahlfront, die von La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich, LFI, Mélenchons Partei), den Grünen, der Kommunistischen Partei, der Sozialistischen Partei und anderen kleineren Organisationen gebildet wird. Auf der Wahlliste stehen für die LFI 357 Kandidat:innen, für die PS 70 und für die PCF 50.

Seit dem Start der NUPES hat sich der Vorsprung des Präsidenten in den Meinungsumfragen auf 26 – 27 % der Wahlpräferenzen im ersten Wahlgang verringert, gegenüber 25 % für die NUPES und 21 % für Marine Le Pens Rassemblement National (RN) (Ipsos, französisches Markt- und Sozialforschungsinstitut). Eine neuere Umfrage (französisches Meinungsforschungsinstitut Ifop-Fiducial, 31. Mai) deutet darauf hin, dass Macron die absolute Mehrheit verfehlen könnte, so dass seine Premierministerin Élisabeth Borne auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen wäre.

Mélenchon rühmt sich, dass die bloße Tatsache, all diese Kräfte zu vereinen, eine historische Errungenschaft sei, und vergleicht dies mit der Volksfrontregierung von 1936. Es stimmt, dass die beiden großen linken Parteien, die PS und die PCF, seit 1997 nicht mehr auf einer gemeinsamen Liste (Die Plurale Linke) zu den Wahlen angetreten sind. Der Erfolg des Unternehmens zeigt jedoch nicht die Stärke der Führung von Mélenchon, sondern unterstreicht vielmehr den erbärmlichen Zustand der französischen Linken.

Mit dem demütigenden Ergebnis von 1,7 % für die Kandidatin der Sozialistischen Partei, Anne Hidalgo, und nur 2,2 % für den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Fabien Roussel, befinden sich die beiden traditionellen Parteien der französischen Linken auf einem historischen Tiefstand, und es stellt sich die Frage nach ihrem Überleben. Während der Niedergang der PCF seit Jahrzehnten anhält, war die PS 2017 noch an der Macht, verfügte über eine Mehrheit im Parlament und regierte in wichtigen Regionen und Städten wie Paris und Lyon. Die Kandidatur von Emmanuel Macron im Jahr 2017 bedeutete eine große Abspaltung von der PS nach rechts, wobei viele führende Persönlichkeiten der Partei ihm folgten, um gewählt zu werden und Positionen in der Regierung zu erhalten. Die NUPES erscheint daher heute den jüngeren Kadern der PS als Rettungsboot, auch wenn sie unter der Führung der LFI die Rolle der Juniorpartnerin spielen muss.

CPF und PS

Trotz ihrer Schwächen sind PS und die PCF nach wie vor mit der französischen Arbeiter:innenklasse verbunden. Am deutlichsten ist dies bei der PCF mit ihrer starken Basis von Aktivist:innen, einem dichten Netz von Verbänden, die in den Arbeiter:innenbezirken tätig sind, und insbesondere durch ihre Verzahnung mit der CGT, der führenden Gewerkschaft. Die Verbindungen der PS zur Arbeiterklasse waren schon immer schwächer ausgeprägt. Der Vorläufer der PS, die SFIO, erlebte in den 1960er Jahren beinahe einen Tod, bis sie von François Mitterrand als Wahlkampfinstrument zur Erlangung der Macht wiederbelebt wurde. Dies führte zum gemeinsamen Programm von 1972, worin ein Übergang weg vom Kapitalismus versprochen wurde, und Mitterands Sieg 1981 mit einem Programm umfangreicher Verstaatlichungen, das er jedoch nach zwei Jahren wieder aufgab.

In Frankreich wurden die Beziehungen zu den „sozialistischen“ Parteien schon vor langer Zeit in der „Charta von Amiens“ der Gewerkschaften kodifiziert, die eine strikte Trennung zwischen ihnen und den politischen Parteien vorschreibt. Die Parteien kümmern sich um die Wahlen und die lokale und nationale Regierung, während die Gewerkschaften für den Arbeitskampf in der Wirtschaft zuständig sind, einschließlich der Organisierung in den Betrieben und der Verhandlungen mit Unternehmer:innen und Regierungen. Natürlich ist diese Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik eine reine Fiktion, deren einziger Zweck es ist, sowohl die Bürokratie der Gewerkschaften als auch die Führer:innen der linken Parteien aus der Verantwortung zu entlassen, wenn Fragen des Klassenkampfes ein gemeinsames Vorgehen erfordern.

Dies erklärt zum Teil, warum die Verbindungen zwischen der PS und den Gewerkschaften immer im Verborgenen geblieben sind. Dennoch stand die CFDT, eine der größten Gewerkschaften, der PS immer nahe, sowohl in Bezug auf ihre Führungskräfte und ihre Bürokratie als auch auf ihre Ideologie – und das tut sie auch heute noch. Außerdem orientiert sich ein großer Teil der französischen Arbeiter:innenklasse immer noch an der PS und betrachtet sie als Schutzschild gegen die schlimmsten Aspekte des Neoliberalismus. Der Sieg von François Hollande bei den Präsidentschaftswahlen 2012 war vor allem darauf zurückzuführen: Die Arbeiter:innenklasse hatte genug von den brutalen Angriffen unter den Präsidentschaften von Chirac und Sarkozy und nutzte die Wahl von Hollande, um dem einen Riegel vorzuschieben.

Die derzeitige Verwirrung in den Reihen der Linken rührt von dem wiederholten Verrat der reformistischen Führer:innen und der Tatsache her, dass sie in der Regierung eine neoliberale Politik betrieben haben, die der der Rechten ähnelt, was sie nicht von der britischen Labour Party oder der deutschen Sozialdemokratie unterscheidet. Die Tatsache, dass Macron ein wichtiger Minister Hollandes war und er als Präsident eine ähnliche Linie der Angriffe gegen die Arbeiter:innenklasse fortsetzt, hat die PS in eine tiefe Identitätskrise gestürzt. Wer braucht die PS, wenn Macron und seine Gefolgsleute sich um die Regierungsseite kümmern und Mélenchon die Opposition hegemonisiert?

Die derzeitige „linke“ Hinwendung der PS zur NUPES, die über das kurzfristige Ziel der Rettung der Fraktion und des vom Staat bezahlten Parteiapparats hinausgeht, könnte zeigen, dass sich eine jüngere Generation von Parteikadern der Arbeiter:innenklasse zuwendet, um ihr reformistisches Bekenntnis zu erneuern und möglicherweise engere Verbindungen zu ihr herzustellen. In den kommenden Jahren wird die Ausrichtung der PS und der Gewerkschaftsverbände im Klassenkampf darüber entscheiden, ob dieser Versuch erfolgreich ist. Es ist auch möglich, dass die PS ihren gesamten Einfluss verliert, sich mit anderen Kräften zusammenschließt oder ganz verschwindet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl PCF als auch PS immer noch Parteien der Arbeiter:innenklasse sind, auch wenn sie ihre Versprechen wiederholt verraten haben und obwohl sich ihre Politik, sobald sie an der Macht waren, als kompatibel und oft als Instrument für die Erhaltung des bürgerlichen Staates erwiesen hat: Sie sind, wie Lenin sie nannte, bürgerliche Arbeiter:innenparteien, die sich auf die Stimmen des Proletariats stützen, aber der Kapitalist:innenklasse dienen.

Wesen

Trotz ihres radikalen Anspruchs ist das Wesen von La France Insoumise ein anderes. Mélenchon will eindeutig mit der Tradition der Arbeiter:innenbewegung brechen. Inspiriert vom „linken“ Populismus, vor allem von den Theorien der „radikalen Demokratie“ von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, will er das gesamte französische Volk vereinen. Besonders deutlich wurde dies, auch auf symbolischer Ebene, in seinem Wahlkampf 2017, als er die rote Flagge und das Singen der Internationale durch die Trikolore und die Marseillaise ersetzte.

Auch wenn diese populistisch-nationalistische Ideologie während Mélenchons Präsidentschaftswahlkampf 2022 nicht so unverhohlen betont wurde, bildet sie doch eindeutig noch immer die Grundlage von LFI und NUPES. Von der Arbeiter:innenklasse oder der Arbeiter:innenbewegung ist nach wie vor keine Rede, stattdessen ist es „der Frühling des Volkes“. Die Botschaft ist einfach: Wählt Mélenchon und sobald er an der Regierung ist, wird er 650 Reformen umsetzen. Punkt. Für autonome Aktionen der Arbeiter:innenklasse, Kämpfe, Bewegungen, geschweige denn einen Bruch mit dem Kapitalismus bleibt kein Raum, nicht einmal auf rhetorischer Ebene.

Für Mélenchon beschränkt sich die gesamte politische Szene auf die Nationalversammlung. Die letzten fünf Jahre legen Zeugnis davon ab. Die LFI war im Parlament recht aktiv, wenn auch auf symbolischer Ebene, da Macron eine große Mehrheit besaß. Auf der Straße oder in den Bewegungen war die LFI jedoch nicht sehr sichtbar oder gar nicht vertreten. Die LFI, deren Aktivist:innenbasis wahrscheinlich kleiner ist als die der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) und sicherlich vernachlässigbar im Vergleich zur PCF, ist als Struktur von oben nach unten aufgebaut, die auf Wahlen und wenig anderes ausgerichtet ist.

Trotz der vielen linken Reformen, die im Programm der NUPES enthalten sind, darunter die Anhebung des Mindestlohns, die Festsetzung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre und massive Investitionen in den öffentlichen Sektor, wird nie erwähnt, was das Bündnis tun wird, wenn es keine parlamentarische Mehrheit erlangt. Von der Notwendigkeit des Widerstands und der Kämpfe in den Betrieben, einer sozialen Bewegung, ist nie die Rede. Richtigerweise fügt die PCF, aber nicht Mélenchon, diese Zeilen ihrer Unterstützungserklärung für die NUPES hinzu:

„Wir wissen natürlich, dass es nicht ausreicht, eine Wahl zu gewinnen, um die sozialen Siege zu erringen, die wir wollen. Um diese Veränderungen zu erreichen, bedarf es einer starken sozialen und populären Bewegung, die jetzt und überall in Frankreich aufgebaut werden muss. Unser Engagement in diesen Kämpfen ist daher entscheidend.“

Mélenchons Projekt ist sowohl falsch – da keine radikalen Veränderungen allein durch eine reformistische Regierung herbeigeführt werden können, geschweige denn durch eine Regierung, die mit Macron zusammenarbeitet – als auch gefährlich: Es zielt darauf ab, die Arbeiter:innenklasse in einem losen klassenübergreifenden Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum zu zerstreuen und sie ihrer wesentlichen Stärken zu berauben, was das Bewusstsein und die Organisation angeht. Das ist ein gewaltiger Schritt zurück, sogar gegenüber den Zeiten, in denen die SFIO und die PCF gegründet wurden. Es ist ein Rückzug aus der Klassenidentifikation und der Klassenunabhängigkeit, selbst in der trügerischen Form, wie sie von reformistischen Arbeiter:innenparteien aufrechterhalten wird.

NPA

Die NPA, ein Zusammenschluss von Tendenzen, die sich selbst als revolutionär betrachten und größtenteils der trotzkistischen Tradition entstammen, war in intensive Verhandlungen mit der NUPES verwickelt und stand kurz vor dem Eintritt in die Koalition. Die Hauptgründe für das letztendliche Scheitern lagen nicht in der politischen Charakterisierung der NUPES durch die NPA, sondern waren vor allem das Ergebnis eines Zusammenstoßes zwischen den opportunistischen Bestrebungen von LFI und NPA. Der LFI gelang es, die PS ins Boot zu holen, von der sie (richtigerweise) annahm, dass sie angesichts deren anhaltender Stärke sowohl im Parlament als auch in der Kommunalverwaltung mehr Unterstützung erhalten würde als durch die NPA. Daher boten sie den NPA-Kandidat:innen nur eine Handvoll weniger gewinnbarer Wahlkreise an. Die NPA verkündete prompt, dass sie die NUPES nicht unterstützen könne, da in ihr eine Partei vertreten sei, die keinen „Bruch“ mit dem Neoliberalismus vollzogen habe.

Trotz des Scheiterns dieser Vereinbarung ist die NPA in der Tat stark an der Unterstützung und dem Aufbau der NUPES-Kampagne im ganzen Land beteiligt, außer in den wenigen Gebieten, in denen sie ihre eigenen NPA-Kandidat:innen aufstellt. Der Opportunismus der NPA und das Fehlen einer ernsthaften Kritik an dem, was die NUPES wirklich repräsentiert, ist ein Zeichen für ihre beschämende politische Degeneration und könnte zu ihrem Zerfall führen.

Aus Sorge vor weiteren Angriffen der Macron-Regierung (insbesondere auf die Renten) werden viele Arbeiter:innen für die NUPES stimmen und sie als – wenn auch schwache und zweifelhafte – Waffe einsetzen, um Macron zu stoppen oder zumindest zu schwächen. Macron, der sicherlich von einer hohen Wahlenthaltung profitieren wird, da dies vor allem die Wähler:innen von RN (Le Pens Nationale Sammlung) und NUPES betreffen wird, spielt den Wahlkampf mit einem sehr langsamen Tempo und hält die Linie seiner Regierung bewusst im Unklaren. Die RN versucht lediglich, aus dem guten Abschneiden von Marine Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen Kapital zu schlagen, in der Hoffnung, dies auf eine große Gruppe von Abgeordneten in der Versammlung zu übertragen. Die aktivste Kraft im Wahlkampf ist daher die NUPES, die in den Arbeiter:innenvierteln systematisch Wahlwerbung betreibt. Kein Wunder also, dass die Umfragen für die NUPES etwa 30 % und eine beträchtliche Anzahl von Abgeordneten voraussagen, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass sie eine Mehrheit im Parlament erringen wird.

In dieser sehr verworrenen politischen Situation ist es wichtig, ein fortschrittliches Element im Klasseninstinkt vieler Arbeiter:innen und Immigrant:innen zu erkennen, die für die NUPES stimmen werden. Ja, die Arbeiter:innenklasse muss sich neu formieren, um bei den Wahlen und im Klassenkampf mit ihren eigenen Organisationen zu bestehen. Ihr Wille, sich gegen Macron und Le Pen zu stellen, ist legitim. Aber natürlich ist die daraus gezogene Schlussfolgerung falsch, denn die Unterstützung für reformistische Führer:innen wie die von PS und PCF kann nur zu Verrat und Entmutigung führen. Sie ist doppelt falsch, wenn sie die NUPES als Block unter der irreführenden Leitung von Mélenchon unterstützt.

Wir kritisieren daher die falsche Methode im Programm der NUPES scharf. Nein, es reicht bei weitem nicht aus, für die NUPES zu stimmen, damit die Reformen umgesetzt werden können. Im Gegenteil, die Arbeiter:innenklasse muss sich auf einen Gegenschlag einstellen, egal ob Macron oder NUPES die Oberhand gewinnen. Sie muss sich auf eine ernsthafte Konfrontation mit der französischen Bourgeoisie vorbereiten, wenn sie diese Klassenfeindin für die wirtschaftliche und ökologische Krise, die das kapitalistische System verursacht hat, bezahlen lassen will. Dies gilt umso mehr, als sich ein neuer globaler imperialistischer Krieg abzeichnet.

Wir kritisieren nachdrücklich die Unzulänglichkeiten des NUPES-Programms, insbesondere im Kampf gegen Rassismus und gegen die Stigmatisierung von Muslim:innen. Werden die NUPES-Abgeordneten das Verbot des Kopftuchs an Schulen aufheben? Wird NUPES die Grenzen für Migran:tinnen öffnen? Kein Wort davon in den 650 Erklärungen dieses Programms! Stattdessen liest man dubiose Versprechen wie „die Schaffung legaler und gesicherter Migrationsrouten“ oder sogar das, „die Polizei neu zu gründen, um das Recht auf Sicherheit zu garantieren“ und „dem Kauf französischer Militärausrüstung für die Armee Vorrang zu geben“.

Bei den kommenden Wahlen plädieren wir im ersten Wahlgang dafür, die NPA-Kandidat:innen dort zu wählen, wo sie aufgestellt worden sind, und die PCF-Kandidat:innen oder LO-Kandidat:innen anderswo kritisch zu unterstützen, da sie die aktivsten und klassenbewusstesten Sektoren der französischen Arbeiter:innenklasse vertreten. Im zweiten Wahlgang, in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Arbeiter:innenklasse mobilisieren wird, um Macron zu besiegen, unterstützen wir kritisch die Kandidat:innen der PCF und der PS im NUPES-Block.

Wir plädieren jedoch nachdrücklich dafür, dass die Arbeiter:innen dem Beispiel der Streikenden von 1936 folgen. Anstatt auf eine Regierung zu warten, die die Reformen des sozialistischen Führers Leon Blum umsetzt, streikten die Arbeiter:innen und besetzten die Fabriken. Das war es, was seiner Regierung wichtige soziale Reformen abtrotzte. Es folgten Wahlsiege und günstige Gesetze, was zeigt, dass schon die Androhung einer Revolution die stärkste Lokomotive für Reformen darstellt.




Russischer Krieg gegen die Ukraine – Teil 3: Was tun?

Alex Zora, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), Infomail 1189, 23. Mai 2022

Der folgende Beitrag wurde zuerst im Magazin FLAMMENDE veröffentlicht, das von unserer österreichischen Schwestersektion Arbeiter*innenstandpunkt herausgegeben wird und dessen erste Nummer im Mai 2022 erschien. Wir publizieren den Text in drei Teilen. Der erste behandelte die Entwicklung vom Maidan zum Krieg, der zweite beschäftigte sich mit dem Charakter des Krieges. Im dritten gehen wir auf die Aufgaben der Linken ein. Da er Text für eine österreichische Zeitschrift verfasst wurde, beziehen die Schlussfolgerungen auf dieses Land, weisen jedoch etliche Parallelen mit anderen westlichen imperialistischen Ländern auf.

Was tun?

Im Licht der Ereignisse der letzten Wochen und Monate ist nun vor allem die Frage relevant, wie denn eine fortschrittliche Positionierung aussehen kann. Als Internationalist:innen ist für uns natürlich nicht in erster Linie bedeutend, was in diesem oder jenem Land die dominanten Fragen sind, sondern was vom Standpunkt der globalen Arbeiter:innenklasse aus getan werden kann und soll. Das sollte natürlich nicht bedeuten, dass sich die konkreten Antworten in abstrakte Allgemeinsätze auflösen. Wichtig ist aber, dass nur eine Analyse, die das große Ganze miteinbezieht, die Totalität des globalen Kapitalismus, zu einer kohärenten, internationalistischen Antwort führen kann.

Wichtig ist dabei, den Konflikt nicht nur aus der Perspektive zu betrachten, dass es sich bei der Ukraine um ein nicht-imperialistisches Land handelt, welches vom viel mächtigeren russischen Imperialismus überfallen wird. Das ist zwar isoliert betrachtet richtig, blendet aber die globale Perspektive aus. Der Wirtschaftskrieg und die Militärhilfen sind nicht irrelevante Nebeneffekte, sondern zentraler Bestandteil der Auseinandersetzung.

Der Analyserahmen spielt eine zentrale Rolle zur Bewertung des Konfliktes und muss für eine widerspruchsfreie in diesem Fall notwendigerweise die Gesamtheit des globalen Kapitalismus umspannen. Um diesen Punkt drücken sich die Kräfte, die gegenteilig argumentieren. Man könnte die Situation – und eine begrenzte Zahl von (stalinistischen) Linken exerziert das – nicht in erster Linie als Krieg zwischen Russland und der Ukraine verstehen, sondern als innerukrainischen Konflikt, in dem die russischsprachigen Rebell:innen im Osten legitimen Widerstand gegen den (west)ukrainischen Nationalismus, die Unterdrückung der russischen Sprache, die „Ukrainisierungspolitik“ der Kiewer Regierung und den Antikommunismus leisten. Dabei würden diese „legitimen Rebell:innen“ auf die ebenso legitime Unterstützung durch eine ausländische Macht (in dem Fall Russland) zurückgreifen, so wie es eben auch die Kiewer Regierung tut. Jedem vernünftigen Menschen wäre dieser Bezugsrahmen aber richtigerweise zu eng. Ein begrenzter führt also notwendigerweise zu absurden politischen Schlussfolgerungen. Dasselbe ist der Fall, wenn man den Krieg alleine auf das Verhältnis Ukraine-Russland reduziert und den globalen Kontext ausblendet.

Die einzige Antwort aus internationalistischer Sicht kann deshalb nur beinhalten, dass weder Kiewer-Regierung noch russischer Imperialismus unter Putin eine progressive Antwort bieten können oder Unterstützung durch die Arbeiter:innenklasse bekommen sollten. Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich in diesem Konflikt einfach auf den Standpunkt der bürgerlich-staatlichen Neutralität zurückzieht, wie das zum Beispiel die KPÖ Steiermark vormacht. Wir verteidigen zwar alles, was Österreich daran hindert, sich imperialistischen Militärbündnissen anzuschließen, aber das bedeutet nicht, dass wir irgendwelche Illusionen in die österreichische Neutralität schüren wollen. Sie war immer schon scheinheilig. Österreich stand mit beiden Beinen im Lager des internationalen Kapitalismus und das „neutrale Österreich“ war einer der essenziellen Gründungsmythen, um die Arbeiter:innenbewegung (sozialdemokratische wie „kommunistische“) an den österreichischen Staat zu binden.

Wir sind nicht neutral gegenüber dem gerechtfertigten Widerstand in besetzten Gebieten wie Cherson. Aber wir sagen klar, dass ein solcher gegen die russische Aggression nichts mit einer Unterstützung der durch NATO-Waffen ausgerüsteten Regierung von Selenskyj zu tun hat. Überall wo sich die Menschen in der Ukraine direkt an der Basis gegen die russische Aggression verteidigen, müssen wir als Sozialist:innen dafür eintreten, dass sich ihre Gegenwehr unabhängig und eigenständig organisiert. Nur eine unabhängige Position der Arbeiter:innenklasse, gegen ukrainische Oligarch:innen und russischen Imperialismus, kann langfristig einen Ausweg aus der imperialistischen Abhängigkeit eröffnen.

Hier drängt sich natürlich die Frage auf, ob so ein „doktrinärer“ Zugang angesichts der russischen Aggression nicht irgendwie absurd und weltfremd sei. Natürlich ist es nicht einfach, angesichts der sich überstürzenden Ereignisse an einer prinzipienfesten Position festzuhalten. Aber als Linke/r ist man mit ähnlichen Situationen oft genug konfrontiert. Sollte man nicht lieber auf einen grünen Kapitalismus setzen, als die ganze Zeit über den Zusammenhang von Kapitalismus und Klimakrise zu schwadronieren, weil für eine Revolution womöglich keine Zeit mehr ist? Mit solchen oder ähnlichen Argumenten wird man oft konfrontiert. Hier würde wohl kaum ein/e Kommunist:in zögern und argumentieren, dass eigentlich alles, was nicht das Problem an der Wurzel angreift, weltfremd sei – obwohl es uns allen klar ist, dass eine sozialistische Weltrevolution aktuell alles andere als auf der Tagesordnung steht und wir uns schon mitten in der Klimakatastrophe befinden.

Ähnlich ging es auch den konsequent antimilitaristischen Sozialist:innen am Beginn des Ersten Weltkriegs. Über Nacht waren sie vollkommen von der Masse der Arbeiter:innenklasse isoliert, die eine Welle des nationalen Chauvinismus erfasste. In jedem kriegführenden Land des Ersten Weltkriegs gab es ein legitimes Interesse der jeweiligen Bevölkerung an Verteidigung vor fremder Invasion. In Trotzkis Worten: „die Massen [wollten] keine fremden Eroberer“. Der aber eigentlich zentrale Grund, worum der Krieg geführt wurde, lag aber darin, dem/r jeweiligen imperialistischen Gegner:in Land, Ressourcen und Märkte abzunehmen. Dieser Kriegszweck blieb in den ersten Monaten nach Ausbruch dem größten Teil der Klasse verschlossen. Erst nach mühsamen und kargen Jahren wurde der Masse der Arbeiter:innenklasse klar, dass die „Verteidigung des Vaterlandes“ nur leere Worte waren, um ihre Entbehrungen selber zu akzeptieren. Zu diesem Zeitpunkt machte sich die konsequente Haltung von Liebknecht, Luxemburg, Lenin und Trotzki bezahlt. Sie hatten in der Phase der chauvinistischen Welle standgehalten und einen revolutionären Antimilitarismus bewahrt. Die restliche Zweite Internationale stellte sich aber auf die Seite des eigenen Imperialismus und beging damit einen historischen Verrat an der globalen Arbeiter:innenklasse. Das waren die Anfänge der reformistischen und teils nicht einmal mehr linken Sozialdemokratie, wie wir sie heute kennen. In Zeiten der Militarisierung – noch dazu inmitten einer durch Medien und Politik angeheizten populären Stimmung von „Putin die Stirn bieten“ – werden Kommunist:innen immer gegen den Strom schwimmen müssen. Das macht diese Politik aber um nichts falscher. Zeitgleich müssen wir aber auch in der Praxis vorzeigen, was unsere Politik bewirken kann. Praktische Solidarität mit Geflüchteten (inklusive aller Deserteur:innen), Organisierung und Vernetzung der internationalen Antikriegsbewegung über Proteste und Aktionen gegen Waffenlieferungen sowie Unterstützung der fortschrittlichsten Kräfte der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse stehen auf der Tagesordnung.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine neue Phase der imperialistischen Weltordnung eingeläutet. Die meisten bürgerlichen Ökonom:innen und geopolitischen Expert:innen sind sich darüber im Klaren, dass die Globalisierung nun endgültig vorbei ist. Zwar wurden schon unter Trump erste Anzeichen dafür offensichtlich, dass der Kapitalismus in eine neue Periode eintreten würde, aber die aktuellen Ereignisse machen das noch einmal deutlicher. Die nächsten Jahre bringen vor allem eines mit sich – gefährliche und zunehmende Ungewissheit! Ein Krieg zwischen Großmächten, der vor ein paar Jahren noch absurd schien, ist aktuell so nahe wie seit Generationen nicht. Die Linke und Arbeiter:innenbewegung müssen sich darüber im Klaren sein, dass die kommenden Jahre große Veränderungen bringen werden. Das birgt nicht nur Gefahren, sondern bietet auch Chancen für eine grundlegende große Veränderung, Kriege wie auf Revolutionen.

Der Kampf in Österreich

Die Frage erschöpft sich natürlich nicht darin, wie sich Internationalist:innen zu Konflikten in anderen Ländern positionieren. Zentral wird vielmehr, was das für die politische Situation in Österreich bedeutet. Die reformistische Linke (wie die Sozialistische Jugend, KPÖ, Teile von LINKS) heben sich wenig vom politischen Mainstream ab. Es wird sich auf das „Völkerrecht“ berufen und es werden Sanktionen (wahlweise auch nur gegen russische Oligarch:innen) gefordert. Die KPÖ spricht sich in ihrer Erklärung des Bundesvorstandes von Anfang März zwar klar für eine Abrüstung aus, fordert aber gleichzeitig eine „unabhängige Europäische Sicherheits- und Friedensordnung“. In welchem Verhältnis diese zur EU stehen soll, bleibt vage. Statt Waffenlieferungen an die Ukraine fordert die Stellungnahme dann aber auch „Sanktionen gegen Russlands ökonomische und machtpolitische Basis“. Das wird zwar später auf das Vermögen von russischen Oligarch:innen in den westeuropäischen Wirtschaften bezogen, gibt aber nicht genauer an, ob damit auch die momentan tiefgreifendsten Sanktionen gegen Russland – die vor allem die Arbeiter:innenklasse treffen und in erster Linie Wirtschaftskrieg bedeuten – gerechtfertigt werden sollen. Natürlich weinen wir dem Vermögen russischer Oligarch:innen keine Träne nach, aber die unklare Position der KPÖ lässt doch viel zu wünschen übrig. Den größten Wirtschaftskrieg unserer Lebenszeit muss man klar als das benennen können, was er ist: nämlich eine deutliche innerimperialistische Zuspitzung sowie ein Angriff auf das Leben und den Lebensstandard von 140 Millionen Russ:innen, um die Interessen des westlichen Imperialismus durchzusetzen. Diejenigen, die das nicht können, verstehen nichts von der internationalen Solidarität der Arbeiter:innenklasse, die es jetzt braucht.

Ähnliche Positionen haben auch Teile von LINKS in den Bezirksvertretungen vorgelegt. In Neubau zum Beispiel wird in einer gemeinsamen Resolution gutgeheißen, „dass europäische und internationale Akteure diese Verurteilung sowohl durch klare Worte als auch durch Taten wie wirtschaftlichen Sanktionen zum Ausdruck bringen. Nur durch unsere geeinten Kräfte können wir den Frieden und die Freiheit in Europa schützen.“ Damit reiht man sich direkt in eine politische Front mit allen wesentlichen Teilen der österreichischen Bourgeoisie ein – nicht nur symbolisch, sondern ganz konkret: Der Resolutionsantrag wurde von Grünen, NEOS, SPÖ, ÖVP und eben auch LINKS angenommen.

Zwar wird nicht so weit gegangen die militärische Aufrüstung mit voranzutreiben, wie es die SPÖ tut, aber nichtsdestotrotz wird es hier nicht geschafft, eine eigenständige politische Position unabhängig von der „eigenen“ herrschenden Klasse und ihren Parteien zu ergreifen. Sozialistische Politik sieht definitiv anders aus.

Was es stattdessen braucht, ist:

  • Kompromissloser Kampf gegen die Militarisierung Österreichs und der EU! Keinen Cent für die westlich-imperialistischen Armeen! Nein zu jeder Form der Aufrüstung, Ausbau der Militärkooperation und EU-Armee! Die 10 Milliarden für das österreichische Bundesheer sollten stattdessen in Klima, Bildung, Gesundheit und Soziales investiert werden.
  • Konsequente Ablehnung des Wirtschaftskrieges gegen Russland! Hauptleidtragende ist und bleibt die große Mehrheit der russischen Bevölkerung. Stattdessen braucht es praktische Unterstützung der russischen Antikriegsbewegung.
  • Nein zu allen Waffenlieferungen – sowohl an Russland wie auch an die ukrainischen Streitkräfte der Regierung Selenskyj! Hier wird ausschließlich ein reaktionärer Stellvertreter:innenkrieg finanziert. Stattdessen braucht es die praktische Unterstützung aller Menschen, die sich nicht an diesem Krieg beteiligen wollen. Fluchthilfe für Deserteuer:innen auf beiden Seiten!
  • Für den sofortigen Abbruch aller Kooperationen Österreichs mit der NATO wie der „Partnerschaft für den Frieden“ oder dem „Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat“! Konsequente Ablehnung aller Überflugs- und Transittransportrouten über und durch Österreich! Gegen jegliche NATO-Osterweiterung!
  • Aufnahme aller Geflüchteten aus der Ukraine und von überall! Zurückweisung aller reaktionären Trennungen von „Vertriebenen“ und „Geflüchteten“! Offene Grenzen, sichere Fluchtrouten und Aufenthalts- sowie Arbeitsrecht für alle!

Im ersten Teil der Reihe haben wir uns mit der Entwicklung vom Maidan zum Krieg beschäftigt,

im zweiten Teil mit dem Titel „Kampf um Demokratie“ oder „Entnazifizierung“ mit dem Charakter des Krieges




Erklärung zum Antikrisenbündnis Hamburg (AKB-HH)

Gruppe ArbeiterInnenmacht Hamburg, Infomail 1168, 30. Oktober 2021

Die Initiative für ein Antikrisenbündnis in Hamburg entstand vor ca. einem Jahr im Oktober 2020. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland und der EU zugespitzt und war durch die Corona-Pandemie eskaliert. Gleichzeitig waren die Linke und die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland kaum sicht- und wahrnehmbar und schienen wie in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Die Straßenproteste wurden von den rechten oder zumindest stark nach rechts offenen und von Irrationalität sowie einem Hang zu Verschwörungstheorien geprägten Querdenken-Demos dominiert, die teilweise erhebliche Mobilisierungserfolge aufweisen konnten.

In dieser Situation war es vor allem angesichts der Tatenlosigkeit der großen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland, insbesondere der Gewerkschaften, aber auch der Linkspartei und natürlich auch der in der Großen Koalition regierenden SPD notwendig und richtig, die Initiative für ein Antikrisenbündnis zu starten. Für uns war das Bündnis von Anfang an ein Versuch, linke und progressive Kräfte zu sammeln, um mit Aktionen eine Mobilisierungsstärke zu entwickeln und dadurch vor allem auch Druck auf die größeren Organisationen auszuüben, ebenfalls aktiv zu werden. Wir gaben und geben uns nicht der Illusion hin oder verfolgten bzw. verfolgen die Absicht, linksradikale Bündnisse als Selbstzweck aufzubauen. Für uns steht die Bündnisarbeit in der Tradition der Einheitsfronttaktik, die darauf abzielt, angesichts der politischen Dominanz der ArbeiterInnenklasse durch reformistische Massenorganisationen gemeinsame Aktionen durchzuführen und größere Teile der Klasse in Bewegung zu bringen.

Davon waren und sind wir sicherlich weit entfernt. In dem Bündnis haben sich früh sehr unterschiedliche Vorstellungen über die notwendigen Inhalte, die Vorgehensweise und die Ausrichtung gezeigt. Einen ersten Bruch gab es bereits im Januar 2021, als nach der ersten gemeinsamen Kundgebung die GenossInnen des Jour Fixe – Gewerkschaftslinke Hamburg und des Blauen Montag ihren Austritt erklärt haben. Wir finden es dennoch richtig, dass wir damals den Weg in erste gemeinsame Aktionen in Form von Kundgebungen gegangen sind. Wenn wir nicht zur gemeinsamen Aktivität gekommen wären, hätte sich das Bündnis in den unbefriedigenden Grundsatzdiskussionen sehr viel schneller zerlegt. Dass die genannten Organisationen – und in der Folge auch weitere Individuen – damals bereits ausgetreten sind, war ein Fehler und hat das Bündnis geschwächt. Sie haben bis heute keinerlei alternative Handlungsoption entwickelt. Sie haben sich daher zu einer rein passiven Kritik an der bestehenden Initiative des Bündnisses entschieden, anstatt gemeinsam an einer Perspektive zu arbeiten, zumal die damals vorgebrachten Argumente einen Bruch nicht – oder zumindest noch nicht – notwendig gemacht hätten.

Die erste Kundgebung war sicherlich weit davon entfernt, unseren Ansprüchen zu genügen. Aber sie war immerhin ein erster Schritt und die Lage sah danach nicht grundlegend schlecht aus. Neue, vor allem jüngere Organisationen haben sich dem Bündnis angeschlossenen und einige Kontakte zu anderen Bündnissen konnten etabliert und ausgebaut werden.

Die folgenden Kundgebungen im März und April haben jedoch gezeigt, dass die Aktionen keine weitere Anziehungskraft entwickeln konnten. Sie stagnierten vielmehr in ihrer Größe. Auch die folgende Initiative zu einem weiteren Vernetzungstreffen war eher enttäuschend.

Vor diesem Hintergrund haben wir im Juni diskutiert, dass wir uns zunächst auf kleinere Aktionen (Infostände, Solidarität mit Arbeitskampfmaßnahmen) vor allem in Stadtteilen konzentrieren möchten, um darüber mittelfristig das Bündnis auch außerhalb der „Szene“ bekannter zu machen und eine Basis aufzubauen.

Das wurde leider nicht in die Tat umgesetzt. Stattdessen kam es im August zu einer unserer Meinung nach völlig unnötigen und politisch fatalen Wende hin zu noch mehr Aktionismus. Es wurde beschlossen, eine „After-Wahl-Demonstration“ direkt nach den Bundestagswahlen zu organisieren. Die politische Lage nach den Bundestagswahlen wurde dabei völlig falsch eingeschätzt. Ohne jegliche fundierte Grundlage wurde ein Protestpotential prognostiziert, das nach den Wahlen die Menschen aus Wut auf die Straße treiben würde. Die Entscheidung stand zudem in direktem Gegensatz zu unseren Erfahrungen mit den Kundgebungen und dem Beschluss, uns auf Stadtteil- und Streiksoliarbeit zu konzentrieren. Zwar wurden Hinweise zu Streikaktionen, wie jetzt zum ErzieherInnenstreik, hin und wieder versendet, sie erzielen aber nur dann eine Wirkung, wenn sie länger vorbereitet werden und uns eine Bindung an die jeweiligen Kämpfe ermöglichen. Kurz Flagge zeigen allein ändert an dem Außenseiterstatus des AKB nichts. Nicht nur die politische Lage, sondern auch die eigene Mobilisierungsfähigkeit wird entgegen eigenen Erfahrungen falsch eingeschätzt.

Diese Differenz in der Ausrichtung hatte sich auch bereits zuvor bei der Diskussion um einen allgemeinen Vorstellungsflyer des Bündnisses angedeutet. Während wir in früheren Texten noch bewusst Wert darauf gelegt haben, an bestehende Auseinandersetzungen anzuknüpfen und auch Menschen außerhalb der linken Szene anzusprechen, wurde mit der Wortwahl nunmehr völlig darauf abgezielt (ob bewusst oder unbewusst), bereits radikalisierte Menschen zu mobilisieren. Das zeugt von einem anderen Verständnis der Bündnisausrichtung. Die Texte haben auch inhaltlich unserer Auffassung nach stark an Qualität verloren.

Nicht nur der inhaltliche und taktische endgültige Schwenk zum Aktionismus war problematisch. Auch die Art und Weise der Entscheidungsfindung und der  Diskussion waren unserer Auffassung nach für ein Bündnis unangemessen. Die Entscheidung wurde auf einem Bündnistreffen in unserer Abwesenheit gefällt. Als wir anschließend Kritik daran geäußert und eine Diskussion darüber auf einem weiteren Treffen angeregt haben, wurde diese abgelehnt. Es wurde argumentiert, dass es einen „Konsens“ gegeben habe und die Entscheidung getroffen sei. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass neben uns noch zwei weitere Organisationen im Bündnis – attac und die MLPD – die Entscheidung für die Demo als falsch erachteten. Das war zu dem damaligen Zeitpunkt ein wesentlicher Teil des Bündnisses, das bereits auf schwachen Füßen stand. Wer in so einer Situation über den Widerspruch wesentlich beteiligter Organisationen derart hinweggeht, riskiert folgerichtig den Zusammenhalt des Bündnisses.

In der Folge litten auch die innere Kommunikation und Transparenz enorm. Die  Kommunikation lief fast nur noch über Telegram. Die Mitglieder des Bündnisses auf dem E-Mailverteiler wurden praktisch ausgeschlossen (und verfielen daraufhin logischerweise vermehrt in Passivität). Zu Treffen wurde nicht mehr rechtzeitig eingeladen, Protokolle wurden nur noch unregelmäßig geschrieben. So kann für uns keine Bündnisarbeit gelingen.

Wir halten die Initiative für eine Antikrisenbewegung nach wie vor für richtig und aktuell, auch wenn sich die politische Situation mittlerweile weiterentwickelt hat. Die Frage der Verteilung der Krisenkosten wird auch für eine neue Post-Merkel-Bundesregierung virulent werden und wir können mit Angriffen und Auseinandersetzungen rechnen. Auch vor dem Hintergrund der massiven Stimmenverluste der Linkspartei wird sich die Linke in Deutschland insgesamt neu sortieren und vorbereiten müssen. Die Vernetzung von kämpferischen Bündnissen und Orientierung auf bundesweite Aktionskonferenzen zu den Schwerpunkten des Klassenkampfes wird eine der wichtigsten Aufgaben sein. Dafür werden wir uns weiterhin engagieren. Aktuell sehen wir jedoch in dem verbliebenen AKB-HH keine Grundlage mehr dafür.

Zum Schluss möchten wir betonen, dass wir trotz der unterschiedlichen Auffassungen und der Entwicklungen in den letzten Monaten das Bündnis ohne Groll verlassen. Wir haben kein Interesse daran, persönliche Auseinandersetzungen zu führen. Wir hoffen vielmehr, dass wir auf der gemeinsamen Arbeit aufbauen und auch zukünftig zusammen in Hamburg aktiv werden können.




Mehr Personal – noch vor der Wahl!

Jürgen Roth, Infomail 1163, 16. September 2021

„Mehr Personal – noch vor der Wahl! TVöD – für alle an der Spree!“ Um 8 Uhr am Morgen des 16.9.2021 versammelten sich geschätzt 300 – 400 Streikende unter diesen lauthals skandierten Parolen vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Dieses historische Gebäude diente zu Kaisers Zeiten einem Teil des Preußischen Landtags als Sitz. Hier tagte auch der 1. Reichsrätekongress im Dezember 1918 und im dortigen Festsaal erfolgte die Gründung der KPD zur Jahreswende 2018/19. Nach einer kämpferischen Kundgebung und vielen Reden übers Megaphon zogen die Streikenden in einer kurzen Demonstration durch die Stadt.

Angebote?

Vivantes hat mittlerweile ein Angebot offeriert, das ver.di-Streikleiterin für den TVE (Tarifvertrag Entlastung), Meike Jäger, zwar als verhandelbar bezeichnete, es aber ablehnte, dafür den Streik auszusetzen. An diese Bedingung knüpft die kommunale Krankenhausführung jedoch die Aufnahme von Verhandlungen.

Nach 120 Tagen „Schweigen im Wald“ der „ArbeitgeberInnen“ bezeichnete Jäger dieses Junktim zu Recht als dreist. Das Angebot ist sehr vage gehalten. Man will Arbeits- und Ausbildungsbedingungen verbessern. Zu den gewerkschaftlichen Forderungen nach mehr Praxisanleitung für Azubis und personeller Mindestbesetzung bzw. Belastungsausgleich bei deren Unterschreitung findet sich kein Wort. Konkret ist nur vom Ende des Arbeitskräfteleasings die Rede. Das ist sicher begrüßenswert, weil die KollegInnen weniger Stress ausgesetzt sind, ständig neue Leute auf Station einzuweisen und anzulernen, und es sich gegen die Praxis der Leiharbeit richtet. Doch wenn diese Arbeitskräfte entfallen, droht die Gefahr, dass das Personal noch mehr zwischen verschiedenen Abteilungen umherspringen darf. Ohne verbindliche Personalbemessungsregelungen handelt es sich dabei also um einen vergifteten Köder.

Zum zweiten Thema neben Entlastung, der Angleichung der Einkommen und Bedingungen der Tochterunternehmen der beiden Klinikmütter (VSG im Fall von Vivantes und Labor Berlin auch bei der Charité), schlug Vivantes eine Angleichung bis 2028 (!) unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation der Häuser vor. Also wenig mehr als nichts. Auch nichts dazu, wie hoch Zulagen, Zuschläge und Weihnachtsgeld und die Angleichungsschritte in den Tabellen ausfallen sollen. Nichtsdestotrotz bietet ver.di am kommenden Samstag, wenn bei VSG/Labor Berlin nicht gestreikt wird, Verhandlungen an. Sollte man an diesem Tag vorwärtskommen, steht eine Aussetzung des Streiks für folgenden Montag im Raum.

Streik und Notfallversorgung

Seit Beginn der unbefristeten Arbeitsniederlegung laufen täglich neue Streikmeldungen aus verschiedenen Standorten beider Häuser ein, so dass sich mehr KollegInnen als erwartet beteiligen wollen. Ver.di sah sich gezwungen, bei Vivantes etliche wieder auf die Stationen und in die Funktionsabteilungen zurückzuschicken, da noch immer PatientInnen dort weilten bzw. neue aufgenommen wurden. Bei der Charité lief das Ganze gesitteter ab. Dort liegen seit 2015 genügend Erfahrungen mit dem Umgang solcher Situationen vor. Außerdem eskalierte Vivantes und beklagte laxes Umgehen mit der Notdienstabsicherung. Lt. Jäger stimmt das nicht. Zusätzliche KollegInnen aus Reihen der Streikwilligen würden abgestellt, wenn sie gebraucht würden.

Sie wies darauf hin, dass ihre Gewerkschaft deshalb eine Notdienstvereinbarung vorgelegt habe, die zu unterzeichnen aber die „ArbeitgeberInnen“ sich geweigert haben. Zudem warf sie die Frage auf, wieso solche Fälle in der Clearingstelle nicht schon geklärt wurden, bevor es zu solchen Engpässen kommen konnte. Ver.di könne belegen, wie viele Rettungsstellen wegen Personalmangels abgemeldet wurden und dass die Klinikleitung überdramatisiere, wenn sie von streikbedingter Gefährdung der Notfallversorgung in der Stadt spreche.

Wie weiter?

Der Streik bei Charité und Vivantes hat in der letzten Woche eine beachtliche Dynamik entwickelt. Das ist auch der Grund, warum die Klinikleitungen jetzt notdürftige Angebote aus dem Hut zaubern.

Es ist klar: Sie wollen dem Druck der Arbeitsniederlegung ausweichen und ihn brechen, um so zu verhindern, dass noch mehr Beschäftige ver.di beitreten und die Streikfront ausgeweitet wird. Darüber hinaus haben sich Einschüchterung und Repression gegenüber den Kämpfenden als Rohrkrepierer erwiesen. Statt den Streik zu brechen, trugen sie dazu bei, Wut und Entschlossenheit, aber auch Organisiertheit, Selbstbewusstsein und politische Klarheit zu steigern.

Daher auch das Junktim, dass der Streik für Verhandlungen „ausgesetzt“, also unterbrochen werden soll. Die Beschäftigten und die Streikleitungen sind gut beraten, das zurückzuweisen. Die Erfahrung zeigt, dass sich Arbeitskampfbewegungen nicht einfach „aussetzen“ und dann wieder anwerfen lassen. Vielmehr sollten die aktuelle Dynamik und die Woche vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus noch genutzt werden, um den Arbeitskampf weiter hochzufahren, um die Tarifrunde Entlastung und den Kampf bei den Töchtergesellschaften zeitgleich und koordiniert zu führen. Daher: Nein zum etwaigen Aussetzen des Arbeitskampfes! Darüber entscheiden sollen nicht Tarifkommissionen und Streikleitungen, sondern die Streikenden selbst!

Die Verhandlungen mit Vivantes und Charité sollten dabei nicht hinter verschlossenen Türen geführt werden, sondern öffentlich. So können sie alle Beschäftigen und die gesamte Öffentlichkeit direkt verfolgen, so können sie sich selbst ein Bild von den Angeboten von Vivantes und Charité machen. So können die Kämpfenden ihre Verhandlungskommission effektiv kontrollieren und starkmachen, damit sie nicht schwach wird. Denn nur die Streikenden selbst können und sollen nach Diskussion auf Vollversammlungen entscheiden, welchen Tarifvertrag sie gegebenenfalls anzunehmen bereit sind.




Grundzüge der aktuellen Weltlage, Teil 2

Martin Suchanek, Infomail 1156, 23. Juli 2021

Im ersten Teil des Artikels beschäftigten wir uns mit den Gründzügen der aktuellen internationalen politisch-ökonomischen Lage. Im 2. Teil des Textes werden uns mit Schlussfolgerungen für den Klassenkampf beschäftigen.

Klassenkampf

Die konjunkturelle Entwicklung wie auch die unterschiedlichen, vorherrschenden Konstellationen bürgerlicher Politik werden jedoch für die nächste Periode wichtige Auswirkungen auf den Klassenkampf in den verschiedenen Ländern zeitigen.

Natürlich geht es im Großen und Ganzen dabei immer darum, wer die Kosten der Krise, der Rettungspakete, der Coronapolitik trägt – und alle bürgerlichen Regierung werden natürlich versuchen, die Last auf die ArbeiterInnenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft und die Mittelschichten abzuwälzen, wie dies im Grunde schon während der Coronakrise der Fall war.

Aber aufgrund des konjunkturellen Aufschwungs in den USA und in etlichen europäischen Staaten werden die kurzfristigen Bedingungen andere sein als für große Teil der Massen in den Halbkolonien.

Die Extraprofite des imperialistischen Kapitals in den Metropolen sowie der aktuelle konjunkturelle Aufschwung erlauben auch einen gewissen Spielraum für gewerkschaftliche und soziale Umverteilungskämpfe. Hinzu kommt, dass die Gesundheitskrise in den Augen von Millionen deutlich machte, dass massive Investitionen, Verstaatlichungen und Neueinstellungen in diesem Bereich wie auch in anderen Sektoren nötig sind (Wohnung, Verkehr … ). Schließlich kommt hinzu, dass die US-DemokratInnen unter Biden auch mit dem Versprechen gewählt wurden, der Polarisierung der Gesellschaft durch  demokratische, antirassistische und soziale Reformen entgegenzuwirken. Ein ähnliches Versprechen beinhaltet auch der Green New Deal der EU.

Natürlich werden diese niemand geschenkt werden. Die bürgerlichen Regierungen werden diese unter dem Druck der Finanzmärkte und des Großkapitals weiter verwässern.

Für den Klassenkampf bedeutet es jedoch, dass RevolutionärInnen, kämpferische AktivistInnen in den Gewerkschaften, linken Parteien oder der radikalen Linken versuchen müssen, die konjunkturelle Lage und die Popularität allgemeiner politischer und sozialer Forderungen zu Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse zu nutzen. Forderungen nach einem Mindestlohn, dem Ausbau und der Verstaatlichung des Gesundheitswesens, der Kampf gegen Mietspekulation oder für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten beim sozialen und ökologischen Umbau unter ArbeiterInnenkontrolle usw. können ebenso wie solche nach vollen StaatsbürgerInnenrechten für MigrantInnen oder dem Recht auf Abtreibung wichtige Ausgangspunkte für die Bildung von Massenbewegungen abgeben, die in den Gewerkschaften und Betrieben verankert sind.

Zugleich werden wir natürlich auch in den imperialistischen Zentren massive Angriffe auf Jobs, eine Umstrukturierung der Industrie, Kürzungen infolge der Staatsverschuldung erleben.

In jedem Fall ist es unerlässlich, diese Themen zum Ausgangspunkt für einen gemeinsamen Kampf, für eine politische Bewegung zu nutzen, zumal selbst oben genannte Reformen nicht einfach zugestanden werden, sondern durch Massenaktionen, Demonstrationen, politische Streiks, Besetzungen erkämpft werden müssen.

In den meisten halbkolonialen Ländern gestaltet sich die Lage anders aufgrund ihrer anderen konjunkturellen Entwicklung. Sie wird von einer Dauerkrise der Wirtschaft, die Pandemie und auch ökologische Katastrophen geprägt sein.

Das heißt, dass in den halbkolonialen Ländern der Kampf für ein Sofortprogramm gegen die Krise und Pandemie eine zentrale Rolle spielen wird, das die verschiedenen ökonomischen und sozialen Aspekte umfasst.

Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass der Klassenkampf in diesen Ländern aufgrund der zugespitzten sozialen und politischen Lage eine weit explosivere Form annehmen wird – bis hin zu vorrevolutionären und revolutionären Situationen wie in Myanmar.

Aufgrund der Tendenzen zum Bonapartismus, zu autoritären, despotischen Herrschaftsformen, aber auch sozialen Unterdrückung von Frauen, LGBTIAQ-Personen oder von nationalen Minderheiten werden demokratische Fragen eine zentrale Rolle im Klassenkampf spielen, oft genug den Ausgangspunkt für landesweite Massenbewegungen verkörpern.

Die Verbindung von demokratischen, sozialen und wirtschaftlichen Forderungen zu einem Aktionsprogramm, dem Programm der permanenten Revolution, das demokratische Fragen mit dem Ringen um die sozialistische und internationale Revolution verbindet, wird von entscheidender Bedeutung für Erfolg und Misserfolg diese Bewegungen sein.

Widerstand

Die Bedeutung dieser Frage kann kaum unterschätzt werden, da die globale Defensive und der Vormarsch reaktionärer Kräfte auch bei vielen ArbeiterInnen und Linken die Vorstellung nährten, dass wir in der aktuellen Lage nur zwischen zwei bürgerlichen Lagern, zwischen dem der pseudoradikalen, populistischen Reaktion und dem der „demokratischen“ Mitte wählen könnten. Eine eigenständige Klassenpolitik scheint für viele nur als erträumtes Ziel in einer unbestimmten Zukunft. „Zuerst“ müssten wir die Übel des Rechtspopulismus und Bonapartismus, ja müssten wir Trump, Bolsonaro, Modi, Orbán, Le Pen, Putin oder das Pekinger Regime im Bündnis mit dem demokratischen Flügel der Bourgeoisie bekämpfen. „Realistisch“ wären allenfalls eine antineoliberale Reformpolitik oder eine linkere Version des Green New Deal. Eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses wäre nur im Bündnis mit einem Flügel der herrschenden Klasse möglich – sei es mit der liberalen Bourgeoisie oder mit den vorgeblich „sozialeren“ und „antiimperialistischen“ Großmächten wie China und Russland.

Aber alle diese Strategien führen in die Sackgasse. Sie ordnen die Interessen der ArbeiterInnenklasse und der unterdrückten Massen dem Interesse des einen oder anderen Flügels der Bourgeoisie unter.

Fatale Rolle der Bürokratie

Eine besonders erbärmliche Rolle spielen dabei die großen Apparate der ArbeiterInnenbewegung, die bürokratisierten, von oben kontrollierten Gewerkschaften, die reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenparteien wie auch linkspopulistische Regime und Bewegungen in den Ländern des globalen Südens.

Letztlich läuft die Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Sozialdemokratie – aber schließlich auch der Linksparteien – auf eine Politik der nationalen Einheit mit dem Kapital, auf Koalitionsregierungen und  SozialpartnerInnenschaft in den Betrieben hinaus. Unter bürokratischer Kontrolle können diese Organisationen, die trotz Mitgliederverlusten weiter Millionen und Abermillionen Lohnabhängige umfassen, ihr Potential nicht realisieren. Im Gegenteil, die bürokratischen Führungen fungieren als Hindernis, als Bremse, oft sogar als direkte GegnerInnen jeder Massenmobilisierung. Sie verfolgen nicht nur eine verfehlte Politik, sie verbreiten auch falsches Bewusstsein in der Klasse.

Eine Spielart dieser Abhängigkeit von den liberalen imperialistischen Mächten und Parteien ist der weit verbreitete Versuch, eine radikale Version der Sozialdemokratie wiederzubeleben, entweder durch die Gründung neuer Parteien auf der Grundlage eines radikalen keynesianischen Programms, das soziale Bewegungen mit Wahlkampf kombiniert, oder durch die versuchte Übernahme bürgerlich-liberaler oder tradierter sozialdemokratischer Parteien. Tatsächlich haben wir Ersteres im Fall von Syriza und Podemos scheitern sehen und Letzteres in Form des Corbynismus in der britischen Labour Party. Ehemalige stalinistische „Linksparteien“ haben lange mit der gleichen Methode experimentiert.

Heute sehen wir eine Mischung aus beidem im Fall der Demokratischen SozialistInnen von Amerika (DSA) und ihrem sogenannten „schmutzigen Bruch“ mit der Partei von Joe Biden und Hillary Clinton. IdeologInnen dieses Neoreformismus versuchen, einen seiner revolutionären Essenz entledigten Marxismus mit Hilfe eines wiederbelebten Luxemburgismus, Gramscianismus oder Kautskyianismus in ihre Politik zu inkorporieren. „TrotzkistInnen“, die sich dem anpassen, beschreiten einfach den Weg des ursprünglichen Revisionismus und Eurokommunismus und sind ein Teil des Problems, der ideologischen Verwirrung, nicht seiner Lösung.

Mobilisierungen

Trotz dieser mächtigen Hindernisse, trotz Pandemie und Krise, regte sich auch im letzten Jahr ein beeindruckender Widerstand auf der ganzen Welt. Die Revolution in Myanmar, die Streikbewegung der indischen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen machen beeindruckende Höhepunkte demokratischer und sozialer Kämpfe aus. In Lateinamerika erleben wir einen massiven Aufschwung der Klassenkämpfe und Polarisierung. Sie stellen die Frage, wie der Kampf um grundlegende demokratische und soziale Forderungen mit dem für die sozialistische Revolution verbunden werden kann. Sie zeigen: Es braucht ein Programm der permanenten Revolution!

In Belarus, im Libanon, in Nigeria und vielen anderen Ländern mobilisierten Massenbewegungen gegen reaktionäre Regime und die soziale Misere, sodass sich vorrevolutionäre Situationen und Krisen entwickelten. Die explosive Lage in Lateinamerika, im Nahen Osten, in Afrika und großen Teilen Asiens bedeutet, dass Massenkämpfe auch in der kommenden Periode weiterhin wahrscheinlich sind und zu revolutionären Situationen eskalieren können. Wie in den Arabischen Revolutionen nach 2011 stellt sich dann die Frage, wie diese Bewegungen zum revolutionären Sieg gelangen können.

In den imperialistischen Ländern wiederum – allen voran in den USA – mobilisierten riesige Massenbewegungen, allen voran Black Lives Matter, Millionen Menschen und inspirierten die rassistisch unterdrückte Jugend auf der ganzen Welt. Ähnliche Ansätze eines spontanen Internationalismus zeigen auch die Frauen*streikbewegung  und wichtige Teile der Umweltbewegung,  die beide selbst in der Pandemie  weltweit wieder Millionen mobilisierten. Auf der Ebene gewerkschaftlicher und betrieblicher Kämpfe erlebten wir Ansätze länderübergreifender, koordinierter Aktionen in einzelnen Konzernen wie z. B. bei Amazon.

Führungskrise

Doch trotz einer historischen Krise und drohender tiefer Einschnitte standen die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse v. a. in den imperialistischen Ländern oft am Rande dieser Bewegungen und Mobilisierungen. Die betrieblichen Abwehrkämpfe gegen Schließungen und Massenentlassungen waren zwar durchaus zahlreich, aber blieben in der Regel voneinander isoliert und unter fester Kontrolle von Gewerkschaftsbürokratie und betrieblichen FunktionärInnen.

Diese bremsende Stillhaltepolitik der reformistischen Apparate und Parteien erklärt auch, warum die ArbeiterInnenklasse in den meisten Bewegungen keine führende Rolle einnehmen konnte. Die Führung von Widerstandsbewegungen fiel dann fast unwillkürlich politisch kleinbürgerlichen Kräften und solchen Ideologien zu. Die Dominanz dieser Ideologien – z. B. Identitätspolitik, Intersektionalismus, Postkolonialismus, Feminismus, Linkspopulismus – in den Bewegungen der letzten Jahre ist selbst ein Resultat der vorherrschenden bürgerlichen Politik und des damit verbundenen verbürgerlichten Bewusstseins in der ArbeiterInnenklasse. Dass viele AktivistInnen in radikalen kleinbürgerlichen Theorien und Programmen eine Alternative erblicken, ist die zwangsläufige Strafe für die sozialpartnerschaftliche und sozialchauvinistische Politik der Gewerkschaftsbürokratien und reformistischen Parteien sowie die Duldung dieser Hoheit durch viele Kräfte, die sich links von ihnen wähnen.

AktivistInnen der kleinbürgerlich geführten Bewegungen können nur für eine revolutionäre ArbeiterInnenpolitik gewonnen werden, wenn RevolutionärInnen die Kämpfe um Befreiung ohne Wenn und Aber unterstützen, wenn sie ihre Kritik an deren Programmen und Theorien geduldig erklären und einen schonungslosen Kampf gegen die bürokratischen und reformistischen Führungen in der ArbeiterInnenklasse selbst führen.

Konkret heißt das, dass sie um die klassenkämpferische Erneuerung der Gewerkschaften kämpfen müssen und oppositionelle demokratische Basisbewegungen gegen die Bürokratie aufzubauen haben. Um deren Vormacht zu brechen, müssen sie Forderungen an eben diese Führungen stellen, ohne ihre Kritik zu verschweigen. Sie müssen für den Bruch aller ArbeiterInnenorganisationen mit der Bourgeoisie kämpfen. Das heißt in Ländern wie den USA, in der DSA für die konsequente Abkehr von der Demokratischen Partei und den Aufbau einer Massenpartei der ArbeiterInnenklasse einzutreten. Das heißt in anderen Ländern wie Deutschland, sich für die Schaffung einer neuen revolutionären ArbeiterInnenpartei zu engagieren.

Einheitsfront

In allen Fällen müssen RevolutionärInnen eine Einheitsfront aller Parteien, Organisationen und Bewegungen der ArbeiterInnenklasse sowie der Unterdrückten auf der Basis eines Aktionsprogramms gegen Krise, Pandemie, Umweltzerstörung, Rassismus und Sexismus vorschlagen. Ein solches Programm muss z. B. Forderungen gegen drohende Entlassungen, gegen Arbeitslosigkeit, Mietpreiserhöhungen und für den freien Zugang zu einem Gesundheitssystem für alle, für einen solidarischen Lockdown umfassen. Das bedeutet auch, das Privateigentum an den Produktionsmitteln in Frage zu stellen, indem wir z. B. die Enteignung der Pharmaindustrie und einen globalen Plan zur Produktion und kostenlosen Verteilung von Impfstoffen für alle fordern. Es geht um die entschädigungslose Enteignung aller privaten Konzerne im Gesundheitssektor unter ArbeiterInnenkontrolle und aller, die mit Massenentlassungen und Kürzungen drohen.

Diese und alle anderen großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen können nur gewonnen werden, wenn sie sich auf Massenmobilisierungen der ArbeiterInnenklasse stützen. Daher müssen alle ihre Organisationen dazu aufgefordert werden, sich am gemeinsamen Kampf zu beteiligen, um so die großen Massenorganisationen in Bewegung zu bringen und zugleich deren Führungen dem Test der Praxis auszusetzen.

Ein solcher Kampf erfordert demokratische Strukturen: Er muss sich auf Versammlungen in den Betrieben und Stadtteilen, auf gewählte Aktionskomitees und Ausschüsse stützen.  Schließlich muss eine Massenbewegung auch Selbstverteidigungsorgane aufbauen, die sie vor den Angriffen von StreikbrecherInnen, rechten Banden oder der Polizei schützen können.

Internationalismus und Internationale

Um den Widerstand auf kontinentaler und globaler Ebene zu verbinden, braucht es eine internationale Bewegung, eine Wiederbelebung der Sozialforen, die jedoch nicht nur Organe zur Diskussion, sondern beschlussfähige Koordinierungen des gemeinsames Kampfes sein sollen.

Aber dies alleine wird nicht reichen, denn notwendig ist eine politische Antwort auf die Führungskrise der ArbeiterInnenklasse selbst:  neue revolutionäre Parteien und eine neue, Fünfte Internationale, die sich auf ein Programm von Übergangsforderungen für die sozialistische Revolution stützen – eine Weltpartei, die eine wirklich internationale, globale Antwort auf die Dreifachkrise der Menschheit vertritt.




Debatte: Linke Gewerkschaftsarbeit – warum und wie?

Mattis Molde, Neue Internationale 249, September 249

Sollen Linke in den Gewerkschaften arbeiten? Mit welchem Ziel? Und mit welchen Methoden? Die Debatte darüber ist wieder hochgeschwappt und dafür gibt es gute Gründe. Erstens stellen sich viele Beschäftigte die Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt, Gewerkschaftsmitglied zu sein. Der Organisationsgrad ist seit Jahren im Niedergang und in den letzten Monaten hat sich der vor allem bei der IG Metall heftig beschleunigt. Die Führungen der DGB-Gewerkschaften rücken immer weiter nach rechts, immer näher an die Regierung und das Kapital heran. Sie sind praktisch Teil der Großen Koalition, Partnerinnen in einem nationalen Konsens, um die Corona-Pandemie und die Wirtschaftskrise so gut wie möglich zu überstehen – so gut wie möglich für „die Wirtschaft“, also für das deutsche Kapital!

Andererseits verschärft die Krise die Angriffe des Kapitals auf die ArbeiterInnenklasse und muss sie weiter zuspitzen. RassistInnen und NationalistInnen spielen die Begleitmusik, um die Klasse zu spalten. Also stellt sich die Frage für Linke: Wollen sie helfen, den Klassenkampf zu führen, oder zuschauen? Stellen sie dem nationalen Wahn eine internationalistische Klassenpolitik entgegen oder heben sie mahnend den moralischen Zeigefinger? Und was tun sie mit den real existierenden Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse, den Gewerkschaften?

Klassenbewusstsein

Den interessantesten Ansatz in der Debatte, die im letzten Jahr begann und im ak (analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis) geführt wurde, vertritt Christian Frings: „Kapitalismus funktioniert nur, weil die Realität der Ausbeutung, die Realität der Klassengesellschaft immer wieder hinter Formen der Gleichheit und Gerechtigkeit verschwindet und sich ein Schein von Harmonie einstellt. Karl Marx macht sich in seiner Kritik der politischen Ökonomie erdenkliche Mühe, nicht nur zu erklären, wie Ausbeutung funktioniert, sondern auch wie sie mit einer gewissen Zwangsläufigkeit unsichtbar gemacht und verschleiert wird. Dreh- und Angelpunkt dieser Verschleierung ist das Institut der Lohnarbeit. Ich trete als freier und gleicher Warenbesitzer auf den Arbeitsmarkt und verkaufe meine Ware, scheinbar die Arbeit. Dafür erhalte ich einen »gerechten« Lohn und alles ist gut. In Wirklichkeit, so Marx, habe ich aber meine Arbeitskraft, mein bloßes Vermögen, Arbeit verrichten zu können, verkauft. Und dieses Vermögen kostet nicht mehr, als es irgendwie am Leben zu erhalten, sprich, mich durchzufüttern. Das ist der Tauschwert meiner Ware. Ihr Gebrauchswert ist die lebendige Arbeit, das was ich dann unter den Anweisungen des Käufers meiner Ware tun muss – und aus diesem Gebrauchswert meiner Ware entspringt der Mehrwert. Die Schizophrenie von formaler Gleichheit und realer Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich also mit den Gleichheits- und Freiheitsillusionen des Warentauschs zur Deckung bringen. Schon der Begriff »Lohn« enthält diese Verschleierung, weil wir bei Lohn an »Bezahlung der Arbeit« denken.“ (ak 652, 16.9.2019:  https://www.akweb.de/bewegung/sozialpartnerschaft-ist-kein-betriebsunfall/)

Frings stellt dar, dass der rein gewerkschaftliche Kampf um den Preis der Ware Arbeitskraft notwendigerweise bürgerliches Bewusstsein erzeugt. Er weist darauf hin, dass der Maßstab des rein gewerkschaftlichen Kampfes, ob mein Lohn zu einem „guten Leben“ reicht, die Ausbeutung nicht erkennt. Er kombiniert dies in der Folge mit der richtigen Beobachtung der juristischen und politischen Integration der Gewerkschaften in den bürgerlichen Staat, vermittelt durch Tarifverträge und Sozialversicherung, und kommt zu dem Schluss, dass Gewerkschaften im Kapitalismus „halbstaatliche Organisationen“ seien, die eine „Ordnungs- und Befriedungsfunktion“ erfüllten und nicht „beliebig gestaltbar und reformierbar seien“.  Stattdessen sollten wir „einfach mit den ausbeuteten Menschen in der Gesellschaft zusammenkommen, die nur darauf warten, ihre Ausbeuter zu bekämpfen.“ Mit dieser Flucht in den Spontaneismus schüttet Frings dann leider das Kind der marxistischen Erkenntnis ins anarcho-syndikalistische Abwasser.

Sozialistisches Bewusstsein

Marx selbst hat das Dilemma angesprochen, dass der gewerkschaftliche Kampf zwar zur Bildung einer Klasse für sich im Kampf gegen eine andere Klasse, gegen die Bourgeoisie, die ArbeiterInnen ausbeutet, führt, aber damit noch nicht zu kommunistischem Bewusstsein, nämlich, dass es nicht nur um den Preis der Ware Arbeitskraft geht, sondern um die Aufhebung des Lohnsystems als solchem, der Ausbeutung durch Lohnarbeit.

„Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, das heißt zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ (K. Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, S. 152)

Als Sammelpunkte des alltäglichen Widerstands leisten die Gewerkschaften, indem sie gegen die UnternehmerInnen in ihrer Branche, ihren Betrieben einen Arbeitskampf durchführen, also praktische Dienste zur Entwicklung von elementarem, embryonalem Klassenbewusstsein, aber dies ist genauso wenig revolutionär wie das schon weiter entwickelte politische des Reformismus. Dieses erkennt zwar die Notwendigkeit einer politischen Vertretung der Gesamtklasse in Form einer ArbeiterInnenpartei an, aber nicht des gewaltsamen Sturzes der UnternehmerInnenklasse.

Wir sind völlig einig mit Christian Frings, dass die derzeitigen Gewerkschaften – nicht nur in Deutschland – ihren Zweck in diesem marxschen Sinne gänzlich verfehlen. Wir sind auch mit ihm einig, dass der gewerkschaftliche Kampf systemimmanentes, also bürgerliches Bewusstsein reproduziert. Aber das gilt auch für spontane Kämpfe, für die von Schichten der ArbeiterInnenklasse, die bisher von jeglicher gewerkschaftlicher Erfahrung und Organisation ausgeschlossen waren, und das gilt auch für all die netten kleinen syndikalistischen Organisationen, die glauben, dass sich aus der Spontanität des Kampfes gegen die AusbeuterInnen systemüberwindendes Bewusstsein entwickelt, genauso wie für diejenigen, die innerhalb der Gewerkschaften nur für eine „aktivere und kämpferischere“ Ausrichtung kämpfen, also fast alle Strömungen der „Gewerkschaftslinken“ der letzten Jahrzehnte.

Lohnkampf

Zugleich aber schüttet Frings das Kind mit dem Bade aus, da er ignoriert, dass der Kampf um den Arbeitslohn, also die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft, immer auch eine Elementarform des Klassenkampfes darstellt – selbst, wenn das Bewusstsein der ArbeiterInnen ein bürgerliches ist. Jeder ökonomische Kampf ist nämlich immer ein Kampf um die Höhe der Ausbeutungsrate (Arbeitslohn, Länge des Arbeitstags, Arbeitsbedingungen, -intensität) und damit um die Existenzbedingungen der ArbeiterInnenklasse und die Profite der UnternehmerInnen.

Auch wenn LohnarbeiterInnen und KapitalistInnen ihre Ansprüche auf Basis des Lohnarbeitsverhältnisses herleiten, so sind ihre Interessen entgegengesetzt. Eine Seite kann nur auf Kosten der anderen gewinnen, wie Marx im „Kapital“ zeigt:

„Man sieht: Von ganz elastischen Schranken abgesehn, ergibt sich aus der Natur des Warenaustausches selbst keine Grenze des Arbeitstags, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.“ (Marx, Das Kapital Band 1, MEW 23, S. 249)

Von dieser Gewaltgeschichte des Lohnarbeitsverhältnisses wollen bürgerliche ReformerInnen und ReformistInnen tunlichst nichts wissen. Sie halten sie allenfalls für einen Überrest „alter Zeiten“, als es noch keine SozialpartnerInnenschaft, Tarifrundenrituale usw. gab, als es im Kapitalismus noch „unzivilisiert“ zuging.

In Wirklichkeit stellen diese friedlicheren Formen der Konfliktaustragung nur einen institutionellen Überbau dar, der wie ein Alp auf der Klasse lastet, der aber auch selbst in jeder Krise unterminiert, auf die Probe gestellt wird. Je weniger Lohnabhängige hier – von den Ländern der sog. „Dritten Welt“ ganz zu schweigen – im sog. „Normalarbeitsverhältnis“ stehen, desto forscher trägt das Kapital seine Interessen vor, werden Union-Busting, prekäre Verhältnisse, Lohnraub zur „Normalität“.

Gerade Krisenperioden wie diese tendieren dazu, dass die ArbeiterInnen dazu getrieben werden, über die Grenzen des rein ökonomischen Kampfes hinauszugehen, da nur eine Antwort für die Gesamtklasse, also ein politischer Klassenkampf, die realen Probleme lösen kann. Die Lohnabhängigen werden, eben weil das Lohnarbeitsverhältnis ein widersprüchliches ist, weil der „gerechte“ Ausgleich zwischen den Klassen immer weniger funktioniert, auch auf politische Fragen gestoßen. Die Antworten entwickeln sie natürlich nicht spontan. Es ist vielmehr eine Kernaufgabe von RevolutionärInnen, diese in Gewerkschaften, Betriebe, Kämpfe in gewerkschaftlich organisierten oder nicht organisierten Bereichen zu tragen.

Genau dieser Aufgabe müssen sich KommunistInnen heute stellen. Frings weicht vor dieser zurück, ja er kapituliert vor ihr, indem er kommunistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit zu einer Unmöglichkeit erklärt.

Die Apparate und ihre Politik

Das hängt damit zusammen, dass er nirgendwo zwischen LohnarbeiterInnen und ArbeiterInnenbürokratie (Gewerkschaftsapparat, Betriebsratsspitzen der Großkonzerne) unterscheidet. Es reicht nämlich nicht aus, ein gleichermaßen „falsches“, im Lohnarbeitsverhältnis verhaftetes und von diesem reproduziertes Bewusstsein von Bürokratie und LohnarbeiterInnen zu konstatieren.

Die Gewerkschaftsbürokratie ist nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form falschen Bewusstseins. Wird sie zu einer Kaste, einer bürokratischen Struktur, entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch ein materielles Begehren, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen.

Sie beschränkt daher den Kampf bewusst auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Löhne, also rein gewerkschaftliche Ziele. Auch die Politik, die diesem entspringt, der politische Reformismus, stellt eine Form bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik dar. Ziel dieser Politik ist es, die Klasse an dieses System, an die Herrschaft der Bourgeoisie zu ketten. Diese Politik hat eine Trägerin, die Gewerkschaftsbürokratie.

Die Gewerkschaften sind also nicht untauglich für den „globalen Aufstand“ (Frings), weil sie groß, unbeweglich, nicht spontan, unpolitisch, nationalborniert, männlich-chauvinistisch sind, sondern sie haben diese Eigenschaften, weil sie von einer Kaste dominiert werden, deren politische Bestimmung es ist, die Gewerkschaften an das kapitalistische System zu binden. Frings hat recht, wenn er beschreibt, dass seitens der Bourgeoisie sehr bewusst die Sozialgesetzgebung, das Arbeitsrecht oder die Betriebsverfassung so ausgestaltet wurden und werden, dass die Gewerkschaftsbürokratie damit die Klasse fesseln kann. Er verweist auf Bismarck und seine Sozialgesetzgebung. Eben: Diese wurde genau deshalb eingeführt, weil ein Verbot von Gewerkschaften und der SPD nicht funktioniert hatte. Die Bourgeoisie musste ihre Strategie ändern: Wo sie die Organisationen der ArbeiterInnenklasse nicht unterdrücken kann, muss sie sie integrieren. Das ist die Rolle des Reformismus als Politik, die sich auf die ArbeiterInnen, v. a. diejenigen, die erkannt haben, dass sie sich als Partei gegen die gesamte herrschende Klasse organisieren müssen, stützt, um die Herrschaft der Bourgeoisie zu sichern.

Der Reformismus begegnet uns in SPD und Linkspartei, in Syriza, in der PT Brasiliens, in Rifondazione Comunista, in jedem hoffnungsvollen linken Politikprojekt und warum sollte das Kapital diese Taktik nicht bei Gewerkschaften anwenden, egal ob sie sich sozialistisch, kommunistisch, überparteilich oder sonst wie definieren?

Die Bürokratie

Frings, aber nicht nur er, begeht den Fehler, die Gewerkschaften mit den sie beherrschenden Bürokratien gleichzusetzen. Der „Doppelcharakter“ von reformistischen Gewerkschaften ist kein Mysterium oder „Strukturproblem“: Sozial sind sie Organisationen der ArbeiterInnenklasse, politisch geführt werden sie von einer Schicht, die die historischen Interessen der Bourgeoisie vertritt.

Der Verzicht auf gewerkschaftliche und politische Organisierung als Konsequenz ist nichts anderes als die Kapitulation vor der Bourgeoisie. Nötig ist der Kampf gegen den Reformismus und das ist ein politischer Kampf! Der Kampf gegen den „natürlichen“ Ökonomismus und Reformismus, der immer neu entsteht, wenn Schichten und Sektoren der ArbeiterInnenklasse in den Kampf gegen die AusbeuterInnen eintreten, muss allerdings anders geführt werden als der gegen den bewusst konterrevolutionären Reformismus der Gewerkschaftsbürokratie!

Der Kampf gegen die Bürokratie muss natürlich auch in der täglichen gewerkschaftlichen Praxis erfolgen. In jedem Konflikt geht es auch um:

  • Aktionen und Kampf statt Verhandlungen
  • Diskussion und Demokratie statt Diktate der Führungen
  • Einsatz auch für die Randbelegschaften statt Ausrichtung auf die ArbeiterInnenaristokratie
  • Die Interessen der Gesamtklasse und nicht von Privilegien für Sektoren
  • Solidarität mit anderen Kämpfen.

Es geht immer auch gegen Rassismus, Sozialchauvinismus und Nationalismus, gegen Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Jugend.

Klassenkämpferische Basisbewegung

Aber das ist nicht alles. Es ist völlig klar, dass die BürokratInnenkaste alle Vorteile der Zentralisierung und Organisierung für sich nutzt. Es ist also eine organisierte Bewegung gegen die Bürokratie nötig, die sich auf die Basis stützt und diese organisiert gegen das politische Monopol des Apparates. Das macht eine politische Bewusstseinsbildung nötig und das heißt letztlich, die KollegInnen für eine antikapitalistische, revolutionäre Perspektive zu gewinnen. Das ist kein Spaß, vor allem dort, wo die Bürokratie besonders hart zuschlägt, dort wo sie aus Sicht des Kapitals ihre wichtigste Aufgabe hat, in der Exportindustrie. Um so notwendiger ist ein organisierter Kampf.

In ihm spielt die Taktik eine große Rolle. Immer wenn der Apparat ein paar Schritte in Richtung Kampf geht, seine radikaleren Teile auf dem Vormarsch sind, die Belegschaften aus ihrer Passivität ausbrechen, in die sie gedrängt werden, müssen wir in dieser Bewegung vorne dabei sein, dürfen nicht passiv bleiben und nur vor dem nächsten Verrat warnen, sondern müssen Vorschläge machen, die die Massen in Bewegung befähigen, den kommenden Verrat zu bekämpfen. Sie müssen die Kontrolle über die Forderungen, die Aktionen und die Verhandlungen in die Hand bekommen. Also Aktionskomitees wählen, auf Vollversammlungen entscheiden, Verhandlungen öffentlich führen.

Die Aufgabe einer Basisbewegung ist es, die Alternative einer klassenkämpferischen Gewerkschaft in der Praxis zu zeigen und für eine Umgestaltung der alten Gewerkschaften zu kämpfen. Die Bürokratie ist als soziale Schicht an den Kapitalismus gebunden. Alle Privilegien müssen beendet werden, Bezahlung nach den Durchschnittseinkommen der Branche, raus aus den Aufsichtsräten, demokratische Wahlen auf allen Ebenen. Das kann zu heftigen Brüchen in den Gewerkschaften führen, zu Spaltungen und Ausschlüssen.

Aber was ist das für eine Vorstellung, dass der „globale Aufstand“, den Christian Frings möchte, eine hoch organisierte Struktur mit dominantem Einfluss auf potentiell kampfstarke Teile der Arbeiterinnenklasse unangetastet wirken lässt und stattdessen sich nur auf einen anderen Teil der Klasse stützt und diesen mit neuen, schwachen Organisationen oder gar gänzlich unorganisiert in den Kampf führt – gegen das Kapital, seinen Staat und seine „halbstaatlichen“ Gewerkschaften, die einen Teil der Klasse gegen den Kampf ausrichten werden?

Wer eine Alternative zum Kapitalismus will und nicht die Illusion hat, dass dies durch ein Wunder geschieht oder durch eine „neue Avantgarde whatever“, muss sich auch der Frage stellen, wie die Kernschichten des Proletariats aus der politischen und ideologischen Fessel befreit und für diese Alternative gewonnen werden können.