Die Kriegsziele des westlichen Imperialismus in der Ukraine

Dave Stockton, Infomail 1191, 16. Juni

Die Weltlage im Jahr 2022 ist durch mehrere Krisen gekennzeichnet – die unmittelbarste und in ihren globalen Folgen weitreichendste ist der Krieg in der Ukraine, der die Aufrüstung, die Ausweitung der NATO, des weltweit größten kriegführenden Bündnisses, und damit die globale Hegemonie der USA massiv vorangetrieben hat, gepaart mit einer globalen Nahrungsmittelkrise.

Zu diesen Faktoren, die die globalisierte Weltwirtschaft destabilisieren und fragmentieren, kommen noch die Schließungen und Unterbrechungen der internationalen Lieferketten infolge der Covid-Pandemie in den letzten zwei Jahren sowie das Versagen von COP26, des Klimagipfels in Glasgow, etwas gegen die drohende Klimakatastrophe zu unternehmen, das sich in der zunehmenden Serie von Dürren, Überschwemmungen und Waldbränden manifestiert.

Jede dieser Krisen hat ihre Wurzeln im kapitalistischen Profitsystem und im Wirtschaftskrieg zwischen den Großmächten, der sich in Sanktionsregimen und Blockaden ausdrückt. Diese Faktoren sowie die zerstörerischen regionalen Kriege in Syrien, im Jemen, am Horn von Afrika und jetzt in der Ukraine sind alle Ausdruck der höchsten Stufe des Kapitalismus – des Imperialismus.

Die Erweiterung der NATO

In den Jahren 1989 – 1991 hätte man meinen können, dass mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Wiedervereinigung Deutschlands die Aufgabe der Nordatlantischen Paktorganisation NATO, wie sie von ihren Gründer:innen definiert wurde, abgeschlossen sei. In der Tat stellte Russland in den folgenden 10 Jahren – nach einem massiven Rückgang seines Bruttoinlandsproduktes und dem Ausscheiden der drei baltischen Staaten, der Ukraine und Georgiens – trotz seiner Kriege in Tschetschenien kaum eine Bedrohung für die NATO-Staaten dar.

Unter US-amerikanischem Druck wuchs das Bündnis jedoch weiter und nahm Polen, die Tschechische Republik und Ungarn auf, während Boris Jelzins und später Wladimir Putins Vorschläge, auch Russland beitreten zu lassen oder das Bündnis durch einen gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag zu ersetzen, abgelehnt wurden.

Die Interventionen der NATO auf dem Balkan und ihre spätere Beteiligung an Amerikas Kriegen im Nahen Osten zeigten, dass sie weit davon entfernt war, ein defensives oder friedliches Bündnis darzustellen. In der Zwischenzeit erholte sich Russland dank der steigenden Öl- und Gaspreise von seiner Demütigung und begann, sein „Recht“, als „Großmacht“ behandelt zu werden, wieder geltend zu machen und diese Macht im Nahen Osten zu demonstrieren.

Prorussische und sogar neutrale Regime wurden von den so genannten „farbigen Revolutionen“ in Georgien (2003) und der Ukraine (2004) getroffen. Diese hatten zwar echte innenpolitische Ursachen in der Unzufriedenheit mit den oligarchischen Regimen, aber US-Diplomat:innen und „Nichtregierungsorganisationen“ spielten eine offensichtliche Rolle. Diese Putsche zeigten die Gefahr eines ähnlichen Schicksals für Putins zunehmend autoritäres bonapartistisches Regime auf, insbesondere als der Boom der Öl- und Gaspreise mit der Rezession zu Ende ging.

Russischer Imperialismus

Angesichts der wiederholten Weigerung der USA, das kapitalistische Russland mit demselben Respekt zu behandeln wie die Sowjetunion, obwohl es den USA und ihren Verbündeten bei der Besetzung Afghanistans im Jahr 2001 logistisch geholfen hatte, versuchte Wladimir Putin ab 2008, sein Prestige mit Nachdruck wiederherzustellen.

Russland ist mit seiner herrschenden Klasse von milliardenschweren Oligarch:innen, die sich auf einen Rentierkapitalismus stützen, sowie mit der von der Sowjetunion geerbten und von Putin entwickelten Raumfahrt-, Nuklear- und Waffentechnologieindustrie wirtschaftlich in den imperialistischen Club aufgestiegen. Putins Regime beschnitt die unabhängige Macht der Oligarch:innen und stellte die staatliche Kontrolle über strategische Industrien wieder her.

Im Jahr 2008 reagierte Putin auf die prowestliche Ausrichtung Georgiens mit einem kurzen, aber entschiedenen Einmarsch in die autonomen Regionen Abchasien und Südossetien. Dies bildete das Muster für seine Interventionen im Jahr 2014, als der prorussische ukrainische Präsident Janukowytsch durch den Maidan-Putsch gestürzt wurde, was die Einnahme der Krim und das Eingreifen russischer Streitkräfte zur Unterstützung der Separatist:innen in den Gebieten Luhansk und Donezk zur Folge hatte.

Die Invasion der Ukraine

Beim Maidan-Putsch von Dezember 2013 bis Februar 2014 wurde der gewählte prorussische Präsident Wiktor Janukowytsch von einer Allianz aus ukrainischen Neoliberalen, rechtsextremen Nationalist:innen und Faschist:innen mit Hilfe von US-Diplomat:innen und Nichtregierungsorganisationen gestürzt. Auf diese Weise wurde die Ukraine aus der Umlaufbahn Putins in die der NATO gebracht und zu einer Halbkolonie des Westens, die unter wirtschaftlicher Kontrolle des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union steht und Waffen und Ausbildung durch die NATO erhält.

Als Reaktion darauf beschlagnahmte Putin die Krim mit ihrem riesigen Marinestützpunkt und unterstützte – zunächst etwas widerwillig – eine De-facto-Abtrennung von Teilen von Luhansk und Donezk, die von den nationalistischen Maßnahmen des neuen Regimes in Kiew und den von Faschist:innen begangenen Gräueltaten entfremdet waren.

Die russische Invasion am 24. Februar dieses Jahres hat die Situation noch verschärft. Die Gräueltaten, die wir in Falludscha und Aleppo gesehen haben, sehen wir jetzt in Butscha, einem Vorort von Kiew, und die Verwüstung von Mariupol als Ergebnis eines dreimonatigen erbarmungslosen Bombardements, bei dem 95 Prozent der Stadt zerstört wurden und Tausende ums Leben kamen. Dies wiederholt sich nun in anderen Städten in den östlichen Provinzen Luhansk und Donezk.

Die Flucht von fünf Millionen Flüchtlingen über die Westgrenzen der Ukraine und die Vertreibung von über sieben Millionen Menschen innerhalb des Landes zeigen das Ausmaß der Zerstörung. Dies ist der Krieg einer imperialistischen Macht, die die Souveränität einer Nation verletzt, die nach Ansicht des russischen Diktators kein Recht hat zu existieren.

Auch wenn Putin und sein Regime die unmittelbaren Aggressor:innen sind, so haben doch die Handlungen der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und insbesondere seit 2013 diesen Krieg ebenfalls provoziert. Zusätzlich zu den Übergriffen der NATO auf Osteuropa haben die USA und andere westliche Länder die Ukraine seit 2014 mit Raketensystemen und kleinen Drohnen bewaffnet, die in der Lage sind, russische Panzer auszuschalten, sowie mit Boden-Luft-Raketen, um russische Flugzeuge abzuschießen, und ihre Streitkräfte für eine asymmetrische Kriegsführung umgeschult.

Allein die USA haben der Ukraine in diesem Zeitraum mehr als 2,5 Mrd. US-Dollar an Militärhilfe zur Verfügung gestellt und seit Februar weitere 3 Mrd. an Rüstungsgütern, darunter 1.400 Stinger-Flugabwehrraketen und 5.100 Javelin-Panzerabwehrraketen sowie Mi-17-Hubschrauber, Patrouillenboote, Langstreckenartillerie, Radarsysteme zur Drohnenabwehr und Küstenschutzschiffe. Am 19. Mai brachte Präsident Biden einen Gesetzentwurf ein, der der Ukraine weitere 40 Mrd. US-Dollar an Unterstützung verspricht.

Washingtons Ziel ist es nicht nur, Russland strategisch zu schwächen, sondern auch seine Vorherrschaft über die eigenen Verbündeten, wie Deutschland und Frankreich in Europa, und die untergeordneten Länder in der ganzen Welt zu behaupten. Der Beweis, dass sich niemand mit den USA anlegt und ungeschoren davonkommt, ist eine Lektion, die sich vor allem an den strategischen Rivalen China unter Xi Jinping richtet.

Der neue Kalte Krieg

Teil dieser Strategie ist die Rückkehr zur Politik des Kalten Krieges gegenüber Russland, die in der beispiellos harten Sanktionsblockade gegen dieses Land zum Ausdruck kommt. Als Reaktion darauf hat es die ukrainischen Getreideexporte über Odessa blockiert, was zu einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit geführt hat. Russland hat eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug für die Aufhebung der Blockade gefordert. Unterdessen drohen die NATO-Länder unter Führung Großbritanniens mit der Entsendung von Kriegsschiffen, um den Hafen zu öffnen, wobei es zu einem direkten Zusammenstoß mit der russischen Marine kommen könnte.

Die US-Strategie besteht in der Ausweitung der NATO auf ganz Skandinavien, kombiniert mit dem Aufbau eines NATO-Äquivalents im asiatisch-pazifischen Raum, einer von den USA dominierten Allianz für die Konfrontation mit China. Sie versuchen, den „unaufhaltsamen Aufstieg“ Chinas zu verhindern, den sie in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts unterstützt haben. Doch als China, das den Kapitalismus wiederhergestellt hat, wenn auch unter einer vermeintlich kommunistischen Partei, sich zu einer eigenständigen imperialistischen „Großmacht“ entwickelte, drohte dies, ein „zweites amerikanisches Jahrhundert“ zu beenden.

Aus diesem Grund haben die USA unter Barack Obama und Hillary Clinton eine „Hinwendung zu Asien“ angekündigt. Dies wurde durch Trumps chaotische Präsidentschaft etwas unterbrochen, aber Joe Biden hat die Strategie seines  Vorgängers von der Demokratischen Partei noch einmal aufgegriffen. Zusammen mit Australien und dem Vereinigten Königreich hat er AUKUS gegründet, einen Pakt zur Lieferung von Atom-U-Booten an Australien.

Biden ist auch dabei, die so genannte Quad (den vierseitigen Sicherheitsdialog) – Australien, Japan, Indien und die USA – sowie den Indo-Pazifischen Wirtschaftsrahmen aufzuwerten. Washington bemüht sich intensiv darum, Indien enger in sein System einzubinden, obwohl Premierminister Narendra Modi sich weigert, sich den Sanktionen gegen Russland, einem wichtigen Waffenlieferanten Indiens, anzuschließen. Bidens Versprechen, Taiwan im Falle eines Angriffs durch China militärisch zu verteidigen, basiert auf diesem neuen Militärbündnis, das gerade im Entstehen ist.

Deutschland, das sich lange Zeit dem Druck der USA widersetzte, seine Verteidigungsausgaben auf das NATO-Niveau von 2 % zu erhöhen, das sich zunächst weigerte, das Nord-Stream-2-Pipeline-Abkommen aufzugeben, und weiterhin auf russische Gas- und Öllieferungen angewiesen ist, sieht sich nun gezwungen, seine Militärausgaben massiv zu erhöhen und sich um Treibstofflieferungen aus Quellen in oder nahe den USA und ihren Verbündeten im Nahen Osten zu bemühen.

All dies wurde unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz erreicht, dessen Partei lange Zeit die Fortsetzung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland als Teil einer größeren Autonomie der EU gegenüber Washington verteidigt hat, ein Ziel, das Frankreich noch unverblümter verfolgt. Diese Politik liegt nun in Trümmern, ebenso wie die jahrhundertelange Neutralität Finnlands und Schwedens.

Das Ziel der USA und ihrer Verbündeten bildet nicht die Befreiung der Ukraine oder der Schutz der Demokratie in Taiwan, sondern Putin und Xi Jinping davon abzuhalten, Amerika und seine untergeordneten Verbündeten und Halbkolonien in der ganzen Welt in Schwierigkeiten zu bringen.

Krieg und Revolution

Die Schrecken und das Elend, die durch Putins Invasion verursacht wurden, und das wirtschaftliche Chaos, das durch die Antwort der NATO droht, werfen die Frage auf, wie ein solcher Krieg beendet werden kann. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hat verschiedentlich angedeutet, dass ein Waffenstillstand und sogar eine Friedensregelung möglich sein könnten, einschließlich des Verzichts des Landes auf einen NATO-Beitritt im Gegenzug zu einer gesamteuropäischen Verteidigungsregelung, aber Sprecher:innen der USA sowie der Druck von ukrainischen Rechtsnationalist:innen und Faschist:innen schlossen dies schnell aus.

Sicher ist, dass keiner der Kombattanten, ob Putin, Selenskyj, Biden, Johnson oder die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen der EU, diesen Krieg auf eine Weise lösen wird, die eine stabile und dauerhafte Regelung für die Völker in der Region gewährleistet. Auf keine/n von ihnen ist Verlass, wenn es darum geht, eine demokratische und dauerhafte Lösung zu suchen oder anzubieten.

Seit über einem Jahrzehnt sind wir in eine neue Periode der innerimperialistischen Rivalität eingetreten, des Afghanistan- und Irakkrieges sowie der anderen Interventionen im Kampf gegen den Terror.

Außerdem endete die Boomphase der Globalisierung mit dem Einbruch von 2008. Die Senkung der Zinssätze auf nahezu null in den 2010er Jahren, um den Aufschwung zu fördern, führte nicht zu einer Rückkehr zu ernsthaftem Wachstum. Jetzt heizen selbst vorsichtige Erhöhungen der Zentralbankzinsen eine Inflation ohne Wirtschaftswachstum (Stagflation) an. Der Krieg und die Sanktionen könnten durchaus eine ausgewachsene Rezession auslösen.

Die Politik der Arbeiter:innenbewegungen aller Länder gegenüber dem aktuellen Konflikt sollte derjenigen entsprechen, die revolutionäre Sozialist:innen wie Karl Liebknecht und Lenin während des Ersten Weltkriegs verfolgten: Der Hauptfeind steht im eigenen Land! In den westlichen Ländern müssen wir uns gegen alle weiteren militärischen Interventionen und den Anspruch des Westens wenden, eine gerechtere oder demokratischere Version des Kapitalismus zu vertreten, im Gegensatz zu den autoritären Regimen von Putin oder Xi. Die jahrhundertelange globale Unterdrückung durch unsere eigenen kapitalistischen Oberherr:innen, die sich bis in die Gegenwart erstreckt, entlarvt solche Behauptungen als völlig haltlos.

Heute kämpfen wir für den Abzug aller russischen Streitkräfte aus der Ukraine, die Beendigung des G7-Sanktionsregimes und der russischen Blockade der ukrainischen Häfen, die Auflösung sowohl der NATO als auch der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) und dafür, den Krieg in der Ukraine in eine Revolution gegen die Herrscher:innen beider Länder zu verwandeln und den Weg zu den sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa zu öffnen.




Russischer Krieg gegen die Ukraine – Teil 3: Was tun?

Alex Zora, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), Infomail 1189, 23. Mai 2022

Der folgende Beitrag wurde zuerst im Magazin FLAMMENDE veröffentlicht, das von unserer österreichischen Schwestersektion Arbeiter*innenstandpunkt herausgegeben wird und dessen erste Nummer im Mai 2022 erschien. Wir publizieren den Text in drei Teilen. Der erste behandelte die Entwicklung vom Maidan zum Krieg, der zweite beschäftigte sich mit dem Charakter des Krieges. Im dritten gehen wir auf die Aufgaben der Linken ein. Da er Text für eine österreichische Zeitschrift verfasst wurde, beziehen die Schlussfolgerungen auf dieses Land, weisen jedoch etliche Parallelen mit anderen westlichen imperialistischen Ländern auf.

Was tun?

Im Licht der Ereignisse der letzten Wochen und Monate ist nun vor allem die Frage relevant, wie denn eine fortschrittliche Positionierung aussehen kann. Als Internationalist:innen ist für uns natürlich nicht in erster Linie bedeutend, was in diesem oder jenem Land die dominanten Fragen sind, sondern was vom Standpunkt der globalen Arbeiter:innenklasse aus getan werden kann und soll. Das sollte natürlich nicht bedeuten, dass sich die konkreten Antworten in abstrakte Allgemeinsätze auflösen. Wichtig ist aber, dass nur eine Analyse, die das große Ganze miteinbezieht, die Totalität des globalen Kapitalismus, zu einer kohärenten, internationalistischen Antwort führen kann.

Wichtig ist dabei, den Konflikt nicht nur aus der Perspektive zu betrachten, dass es sich bei der Ukraine um ein nicht-imperialistisches Land handelt, welches vom viel mächtigeren russischen Imperialismus überfallen wird. Das ist zwar isoliert betrachtet richtig, blendet aber die globale Perspektive aus. Der Wirtschaftskrieg und die Militärhilfen sind nicht irrelevante Nebeneffekte, sondern zentraler Bestandteil der Auseinandersetzung.

Der Analyserahmen spielt eine zentrale Rolle zur Bewertung des Konfliktes und muss für eine widerspruchsfreie in diesem Fall notwendigerweise die Gesamtheit des globalen Kapitalismus umspannen. Um diesen Punkt drücken sich die Kräfte, die gegenteilig argumentieren. Man könnte die Situation – und eine begrenzte Zahl von (stalinistischen) Linken exerziert das – nicht in erster Linie als Krieg zwischen Russland und der Ukraine verstehen, sondern als innerukrainischen Konflikt, in dem die russischsprachigen Rebell:innen im Osten legitimen Widerstand gegen den (west)ukrainischen Nationalismus, die Unterdrückung der russischen Sprache, die „Ukrainisierungspolitik“ der Kiewer Regierung und den Antikommunismus leisten. Dabei würden diese „legitimen Rebell:innen“ auf die ebenso legitime Unterstützung durch eine ausländische Macht (in dem Fall Russland) zurückgreifen, so wie es eben auch die Kiewer Regierung tut. Jedem vernünftigen Menschen wäre dieser Bezugsrahmen aber richtigerweise zu eng. Ein begrenzter führt also notwendigerweise zu absurden politischen Schlussfolgerungen. Dasselbe ist der Fall, wenn man den Krieg alleine auf das Verhältnis Ukraine-Russland reduziert und den globalen Kontext ausblendet.

Die einzige Antwort aus internationalistischer Sicht kann deshalb nur beinhalten, dass weder Kiewer-Regierung noch russischer Imperialismus unter Putin eine progressive Antwort bieten können oder Unterstützung durch die Arbeiter:innenklasse bekommen sollten. Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich in diesem Konflikt einfach auf den Standpunkt der bürgerlich-staatlichen Neutralität zurückzieht, wie das zum Beispiel die KPÖ Steiermark vormacht. Wir verteidigen zwar alles, was Österreich daran hindert, sich imperialistischen Militärbündnissen anzuschließen, aber das bedeutet nicht, dass wir irgendwelche Illusionen in die österreichische Neutralität schüren wollen. Sie war immer schon scheinheilig. Österreich stand mit beiden Beinen im Lager des internationalen Kapitalismus und das „neutrale Österreich“ war einer der essenziellen Gründungsmythen, um die Arbeiter:innenbewegung (sozialdemokratische wie „kommunistische“) an den österreichischen Staat zu binden.

Wir sind nicht neutral gegenüber dem gerechtfertigten Widerstand in besetzten Gebieten wie Cherson. Aber wir sagen klar, dass ein solcher gegen die russische Aggression nichts mit einer Unterstützung der durch NATO-Waffen ausgerüsteten Regierung von Selenskyj zu tun hat. Überall wo sich die Menschen in der Ukraine direkt an der Basis gegen die russische Aggression verteidigen, müssen wir als Sozialist:innen dafür eintreten, dass sich ihre Gegenwehr unabhängig und eigenständig organisiert. Nur eine unabhängige Position der Arbeiter:innenklasse, gegen ukrainische Oligarch:innen und russischen Imperialismus, kann langfristig einen Ausweg aus der imperialistischen Abhängigkeit eröffnen.

Hier drängt sich natürlich die Frage auf, ob so ein „doktrinärer“ Zugang angesichts der russischen Aggression nicht irgendwie absurd und weltfremd sei. Natürlich ist es nicht einfach, angesichts der sich überstürzenden Ereignisse an einer prinzipienfesten Position festzuhalten. Aber als Linke/r ist man mit ähnlichen Situationen oft genug konfrontiert. Sollte man nicht lieber auf einen grünen Kapitalismus setzen, als die ganze Zeit über den Zusammenhang von Kapitalismus und Klimakrise zu schwadronieren, weil für eine Revolution womöglich keine Zeit mehr ist? Mit solchen oder ähnlichen Argumenten wird man oft konfrontiert. Hier würde wohl kaum ein/e Kommunist:in zögern und argumentieren, dass eigentlich alles, was nicht das Problem an der Wurzel angreift, weltfremd sei – obwohl es uns allen klar ist, dass eine sozialistische Weltrevolution aktuell alles andere als auf der Tagesordnung steht und wir uns schon mitten in der Klimakatastrophe befinden.

Ähnlich ging es auch den konsequent antimilitaristischen Sozialist:innen am Beginn des Ersten Weltkriegs. Über Nacht waren sie vollkommen von der Masse der Arbeiter:innenklasse isoliert, die eine Welle des nationalen Chauvinismus erfasste. In jedem kriegführenden Land des Ersten Weltkriegs gab es ein legitimes Interesse der jeweiligen Bevölkerung an Verteidigung vor fremder Invasion. In Trotzkis Worten: „die Massen [wollten] keine fremden Eroberer“. Der aber eigentlich zentrale Grund, worum der Krieg geführt wurde, lag aber darin, dem/r jeweiligen imperialistischen Gegner:in Land, Ressourcen und Märkte abzunehmen. Dieser Kriegszweck blieb in den ersten Monaten nach Ausbruch dem größten Teil der Klasse verschlossen. Erst nach mühsamen und kargen Jahren wurde der Masse der Arbeiter:innenklasse klar, dass die „Verteidigung des Vaterlandes“ nur leere Worte waren, um ihre Entbehrungen selber zu akzeptieren. Zu diesem Zeitpunkt machte sich die konsequente Haltung von Liebknecht, Luxemburg, Lenin und Trotzki bezahlt. Sie hatten in der Phase der chauvinistischen Welle standgehalten und einen revolutionären Antimilitarismus bewahrt. Die restliche Zweite Internationale stellte sich aber auf die Seite des eigenen Imperialismus und beging damit einen historischen Verrat an der globalen Arbeiter:innenklasse. Das waren die Anfänge der reformistischen und teils nicht einmal mehr linken Sozialdemokratie, wie wir sie heute kennen. In Zeiten der Militarisierung – noch dazu inmitten einer durch Medien und Politik angeheizten populären Stimmung von „Putin die Stirn bieten“ – werden Kommunist:innen immer gegen den Strom schwimmen müssen. Das macht diese Politik aber um nichts falscher. Zeitgleich müssen wir aber auch in der Praxis vorzeigen, was unsere Politik bewirken kann. Praktische Solidarität mit Geflüchteten (inklusive aller Deserteur:innen), Organisierung und Vernetzung der internationalen Antikriegsbewegung über Proteste und Aktionen gegen Waffenlieferungen sowie Unterstützung der fortschrittlichsten Kräfte der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse stehen auf der Tagesordnung.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine neue Phase der imperialistischen Weltordnung eingeläutet. Die meisten bürgerlichen Ökonom:innen und geopolitischen Expert:innen sind sich darüber im Klaren, dass die Globalisierung nun endgültig vorbei ist. Zwar wurden schon unter Trump erste Anzeichen dafür offensichtlich, dass der Kapitalismus in eine neue Periode eintreten würde, aber die aktuellen Ereignisse machen das noch einmal deutlicher. Die nächsten Jahre bringen vor allem eines mit sich – gefährliche und zunehmende Ungewissheit! Ein Krieg zwischen Großmächten, der vor ein paar Jahren noch absurd schien, ist aktuell so nahe wie seit Generationen nicht. Die Linke und Arbeiter:innenbewegung müssen sich darüber im Klaren sein, dass die kommenden Jahre große Veränderungen bringen werden. Das birgt nicht nur Gefahren, sondern bietet auch Chancen für eine grundlegende große Veränderung, Kriege wie auf Revolutionen.

Der Kampf in Österreich

Die Frage erschöpft sich natürlich nicht darin, wie sich Internationalist:innen zu Konflikten in anderen Ländern positionieren. Zentral wird vielmehr, was das für die politische Situation in Österreich bedeutet. Die reformistische Linke (wie die Sozialistische Jugend, KPÖ, Teile von LINKS) heben sich wenig vom politischen Mainstream ab. Es wird sich auf das „Völkerrecht“ berufen und es werden Sanktionen (wahlweise auch nur gegen russische Oligarch:innen) gefordert. Die KPÖ spricht sich in ihrer Erklärung des Bundesvorstandes von Anfang März zwar klar für eine Abrüstung aus, fordert aber gleichzeitig eine „unabhängige Europäische Sicherheits- und Friedensordnung“. In welchem Verhältnis diese zur EU stehen soll, bleibt vage. Statt Waffenlieferungen an die Ukraine fordert die Stellungnahme dann aber auch „Sanktionen gegen Russlands ökonomische und machtpolitische Basis“. Das wird zwar später auf das Vermögen von russischen Oligarch:innen in den westeuropäischen Wirtschaften bezogen, gibt aber nicht genauer an, ob damit auch die momentan tiefgreifendsten Sanktionen gegen Russland – die vor allem die Arbeiter:innenklasse treffen und in erster Linie Wirtschaftskrieg bedeuten – gerechtfertigt werden sollen. Natürlich weinen wir dem Vermögen russischer Oligarch:innen keine Träne nach, aber die unklare Position der KPÖ lässt doch viel zu wünschen übrig. Den größten Wirtschaftskrieg unserer Lebenszeit muss man klar als das benennen können, was er ist: nämlich eine deutliche innerimperialistische Zuspitzung sowie ein Angriff auf das Leben und den Lebensstandard von 140 Millionen Russ:innen, um die Interessen des westlichen Imperialismus durchzusetzen. Diejenigen, die das nicht können, verstehen nichts von der internationalen Solidarität der Arbeiter:innenklasse, die es jetzt braucht.

Ähnliche Positionen haben auch Teile von LINKS in den Bezirksvertretungen vorgelegt. In Neubau zum Beispiel wird in einer gemeinsamen Resolution gutgeheißen, „dass europäische und internationale Akteure diese Verurteilung sowohl durch klare Worte als auch durch Taten wie wirtschaftlichen Sanktionen zum Ausdruck bringen. Nur durch unsere geeinten Kräfte können wir den Frieden und die Freiheit in Europa schützen.“ Damit reiht man sich direkt in eine politische Front mit allen wesentlichen Teilen der österreichischen Bourgeoisie ein – nicht nur symbolisch, sondern ganz konkret: Der Resolutionsantrag wurde von Grünen, NEOS, SPÖ, ÖVP und eben auch LINKS angenommen.

Zwar wird nicht so weit gegangen die militärische Aufrüstung mit voranzutreiben, wie es die SPÖ tut, aber nichtsdestotrotz wird es hier nicht geschafft, eine eigenständige politische Position unabhängig von der „eigenen“ herrschenden Klasse und ihren Parteien zu ergreifen. Sozialistische Politik sieht definitiv anders aus.

Was es stattdessen braucht, ist:

  • Kompromissloser Kampf gegen die Militarisierung Österreichs und der EU! Keinen Cent für die westlich-imperialistischen Armeen! Nein zu jeder Form der Aufrüstung, Ausbau der Militärkooperation und EU-Armee! Die 10 Milliarden für das österreichische Bundesheer sollten stattdessen in Klima, Bildung, Gesundheit und Soziales investiert werden.
  • Konsequente Ablehnung des Wirtschaftskrieges gegen Russland! Hauptleidtragende ist und bleibt die große Mehrheit der russischen Bevölkerung. Stattdessen braucht es praktische Unterstützung der russischen Antikriegsbewegung.
  • Nein zu allen Waffenlieferungen – sowohl an Russland wie auch an die ukrainischen Streitkräfte der Regierung Selenskyj! Hier wird ausschließlich ein reaktionärer Stellvertreter:innenkrieg finanziert. Stattdessen braucht es die praktische Unterstützung aller Menschen, die sich nicht an diesem Krieg beteiligen wollen. Fluchthilfe für Deserteuer:innen auf beiden Seiten!
  • Für den sofortigen Abbruch aller Kooperationen Österreichs mit der NATO wie der „Partnerschaft für den Frieden“ oder dem „Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat“! Konsequente Ablehnung aller Überflugs- und Transittransportrouten über und durch Österreich! Gegen jegliche NATO-Osterweiterung!
  • Aufnahme aller Geflüchteten aus der Ukraine und von überall! Zurückweisung aller reaktionären Trennungen von „Vertriebenen“ und „Geflüchteten“! Offene Grenzen, sichere Fluchtrouten und Aufenthalts- sowie Arbeitsrecht für alle!

Im ersten Teil der Reihe haben wir uns mit der Entwicklung vom Maidan zum Krieg beschäftigt,

im zweiten Teil mit dem Titel „Kampf um Demokratie“ oder „Entnazifizierung“ mit dem Charakter des Krieges




Der Krieg um die Ukraine: Nationale Verteidigung oder imperialistischer Krieg?

Markus Lehner, Neue Internationale 264, Mai 2022

Bei aller Ablehnung der imperialistischen Aggression, die der russische Angriff Ende Februar auf die Ukraine darstellt, müssen sich Marxist:innen tiefer gehende Fragen nach dem Hintergrund des Konflikts stellen, deren Beantwortung auch eine langfristige Klassenperspektive zur Lösung der zugrundeliegenden Widersprüche eröffnet. Wie auch der Bundeskanzler verkündete, handelt es sich beim Ukrainekrieg um eine „Zeitenwende“ wie einst bei dem Fall der Berliner Mauer oder dem 11. September 2001.

Zeitenwende und Ideologisierung

US-Präsident Biden erklärte kürzlich in Warschau, dass es sich um den Auftakt für einen langen, weltweiten Krieg „für Demokratie und westliche Werte“ handelt. Dieses „Narrativ“ wird in den westlichen Medien denn auch täglich durch Berichte über barbarische russische Kriegsführung und heldenhaften ukrainischen Widerstand „für unsere Sache“ wiederholt. Jede Relativierung dieser Sicht oder selbst eine zu zögerliche Parteinahme für die Sache der „Vaterlandsverteidigung“ der Ukraine geraten sofort zum Verdachtsfall des „Appeasements“ oder gar des verräterischen Kapitulantentums. Russland, noch vor wenigen Jahren ein G 20-„Partner“, der in die Entwicklung des globalen Kapitalismus durch seinen Rohstoffreichtum und große  Finanzmagnat:innen eingebunden war, wird plötzlich zum „totalitären System“, das mit seinem Großmachtstreben Freiheit und Weltfrieden bedroht. Die NATO dagegen sei ein „reines Verteidigungsbündnis“, das nur aufgrund der gerechtfertigten Besorgnisse der osteuropäischen Länder und des Baltikums seine Militärmacht immer näher an die Grenzen der russischen Föderation ausgedehnt habe.

Diese Ideologisierung des NATO-Russland-Konflikts und Verharmlosung der Sprengkraft der Annäherung der Ukraine an EU und NATO in ihrer Bedeutung für die Entstehung des Krieges ergibt sich letztlich aus der Verschleierung des tatsächlichen Charakters des „Westens“ und seiner „Werte“. Diese sind die großen Kapitale (Monopole) in Nordamerika, Britannien, den zentralen EU-Staaten, Japan und Australien – Staaten, die etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung umfassen, aber bis zu 80 % der weltweiten Vermögen auf sich vereinigen.

Dieser Reichtum begründet eine bestimmte „Liberalität“ und ein Regime, das es erlaubt, soziale und ökologische Widersprüche aufgrund der Extraprofite zumindest kleiner zu halten. Diese werden insbesondere durch ein globales Ausbeutungsregime erzielt, das immer noch am besten durch den Begriff Imperialismus beschrieben und verstanden werden kann. Nur die Form der Aufteilung der Welt hat sich vom Kolonialismus zu einem komplexen Netzwerk aus Halbkolonien und ihrer Kontrolle durch Kapitalströme, internationale Finanz-, Wirtschafts- und Politikinstitutionen gewandelt. In diesem Zusammenhang spielt insbesondere die militärische Supermacht der USA und ihrer Bündnisse die Rolle der „Verteidigung“ genau dieser „Werte“ordnung.

Neue Player

Seit den 1990er Jahren sind in dieser globalen Ordnung mindestens zwei neue Player aufgetaucht: China und Russland. Insbesondere China war entscheidend dafür, dass die Überakkumulationskrise des alten US-geführten Imperialismus zeitweise überwunden werden und eine mit „Globalisierung“ bezeichnete Aufschwungperiode einsetzen konnte. Der grundlegende Widerspruch dieser Periode war, dass sie einerseits die Profitraten auch der „westlichen“ Imperialist:innen wieder stabilisierte, aber andererseits die bisherige Hegemonin USA gegenüber ihren Konkurrent:innen weiter schwächte (industriell, im Welthandel, institutionell etc.). Durch die Auswirkungen der großen Rezession 2008/2009 geriet selbst die Profitentwicklung in den USA durch wachsende Verschuldungsprobleme und schwache Außenhandelsentwicklung immer schlechter.

Der weitere Aufstieg Chinas und instabilere politische Verhältnisse in den USA führten zu einer Abkehr Letzterer von der Politik der Globalisierung und einer immer mehr konfrontativen Politik gegenüber Russland und China. Wie Lenin es in seiner Schrift zum Imperialismus darstellt: Die Aufteilung der Welt durch die großen Monopole, die sich nur in der Politik der Großmächte spiegelt, führt durch die „tektonische“ Verschiebung der ökonomischen Verhältnisse irgendwann zu einer Zuspitzung der Widersprüche im imperialistischen System, die sich nur noch „mit Gewalt“ lösen lässt. Was immer die politischen Akteur:innen vor 1914 oder 1939 erreichen wollten oder ihre „demokratischen“ oder „totalitären“ Absichten waren – es waren letztlich die enormen Widersprüche und Krisen der bestehenden „Weltordnung“, die sie in einen Krieg um die Neuaufteilung und -ordnung der Welt zwangen. Nicht die Absichten der politischen Führungen sind das Entscheidende, sondern ob die einzige Klasse, die dieser kapitalistischen Weltunordnung ein Ende bereiten kann – die Arbeiter:innenklasse – dieser Entwicklung mit Entschiedenheit entgegentritt.

Zuspitzung

Die Zuspitzung rund um die Ukraine seit den 1990er Jahren kann nur in diesem Zusammenhang verstanden werden. Wie der Balkan vor 1914 hat sich der Konflikt um die Ukraine schon lange als Pulverfass an der Lunte für einen imperialistischen Krieg entwickelt. Sowohl durch den Charakter als Vielvölkerstaat mit einer großen russischsprachigen Minderheit im Süden und Osten als auch durch die fortbestehenden Verbindungen ihrer Ökonomie mit Russland hatte sich die Ukraine nach 1991 zunächst in Abhängigkeit vom sich neu etablierenden russischen Imperialismus befunden – was sich auch in einem fragilen System aus west- und ostukrainischen politischen Kräften und Oligarch:innen dargestellt hat. Dagegen hatte sich insbesondere in der Westukraine eine starke nationalistische (bis rechtsextreme) politische Bewegung herausgebildet, die einer „prowestlichen“ Orientierung im Bruch mit der russischen Dominanz zum Durchbruch verhelfen wollte. Dies führte letztlich zum Bürgerkrieg, als wegen der Frage der EU-Assoziation durch die „Maidan-Bewegung“ das den bisherigen Kompromiss repräsentierende Regime Janukowytsch 2014 gestürzt wurde. Die Annexion der Krim und die Abtrennung der Volksrepubliken Luhansk und Donezk waren die Folge. Während die Führung der EU um Deutschland und Frankreich den Konflikt durch einen „Ausgleich“, in den Abkommen von Minsk, zu entschärfen suchte, waren die USA und die nationalistische Führung in Kiew von Anfang an gegen einen solchen neuen Kompromiss mit Moskau oder den Vertreter:innen der russischen Minderheit – und führten den Krieg auf eingefrorenen Frontlinien seitdem unvermindert fort.

Warum kam es zu einer solch offensichtlichen Differenz zwischen den USA und im Gefolge auch Britannien und dem Rest der EU? Für Letztere war eine Einbindung Russlands, seines enormen Rohstoffpotentials und seiner militärischen Kapazitäten immer schon eine Option, um eine gewisse unabhängigere Rolle gegenüber der schwächer werdenden US-Hegemonin zu erlangen. Die EU-Politik ging davon aus, dass sich der Ukrainekonflikt ähnlich wie derjenige in Jugoslawien auf der Ebene von Abkommen und Handelsbeziehungen einfrieren lassen könnte, damit sich die Spannungen zu Russland letztlich in Grenzen halten würden. Für die USA war dagegen die Ukraine ein strategischer Angriffspunkt auf das russisch-chinesische Bündnis, das sie seit langem als gefährlichen Hauptkonkurrenten in der Weltordnung ausgemacht haben. Aufgrund der schlechten Performance der ukrainischen Armee 2014 begannen die USA und Britannien daher seit 2016 mit dem systematischen Aufbau einer schlagkräftigen ukrainischen Streitmacht. Die Ukraine, ein Land das seit 2015 praktisch bankrott ist, hochverschuldet und unter Schuldenregime von IWF-Pakten dahinvegetiert, gibt jährlich einen Großteil ihrer Einnahmen für Militärausgaben aus und erhielt dazu noch jährlich Militärhilfe aus dem Westen in Milliardenhöhe (allein von Anfang des Jahres bis zum Beginn des Krieges waren es noch mal Güter im Wert von 5 Milliarden US-Dollar). Damit konnten nicht nur wichtige Waffensysteme (Drohnen, Raketen, panzerbrechende Waffen, Luftabwehr etc.) mit entsprechender Ausbildung verbreitet werden, sondern es wurde auch eine Infrastruktur der Unterstützung geschaffen, von der Kommunikation über die Aufklärung (Satellitensysteme) bis zur strategisch-taktischen Führung.

Innerimperialistische Zuspitzung

Damit wird auch klar, dass sich der Krieg in der Ukraine wesentlich von solchen imperialistischer Armeen gegen diejenigen einer Halbkolonie, wie etwa USA gegen Irak oder UK gegen Argentinien, unterscheidet. Es steht hier nicht die hilflose, waffentechnisch hoffnungslos unterlegene Armee einer Halbkolonie einem tausendfach militärtechnisch überlegenen Imperialismus gegenüber. Es handelt sich vielmehr um eine vom westlichen Imperialismus systematisch auf diesen Krieg vorbereitete und hochgerüstete, die für die Interessen ihrer Geldgeber:innen zu kämpfen hat. Mit Kriegsausbruch hat sich ihre Unterstützung nochmals vervielfacht. Dies nicht nur in Bezug auf Waffenlieferungen, sondern auch Aufklärung, Ausbildung, strategische Beratung und ökonomische Hilfe.

Wenn der deutsche Bundeskanzler sagt, er wisse nicht, ab wann Waffenlieferungen ein Land zur Kriegspartei machen, so bringt er darin unbewusst zum Ausdruck, dass rein formelle Kriterien zur Frage, ob die NATO-Länder bereits im Krieg seien (oder das erst der Fall ist, wenn z. B. ukrainische Jets von NATO-Flugplätzen starten), nicht ausreichen. De facto sind die NATO-Staaten längst Kriegspartei und eindeutig in die ukrainische Kriegsführung eingebunden. Der einzige Grund, warum die Ukraine hier „stellvertretend“ handelt, ist natürlich die Gefahr einer Ausweitung des Krieges zu einer direkten NATO-Russland-Konfrontation, die auch den Einsatz von Nuklearwaffen mit einbeziehen könnte.

Die Art und Weise, in der im herrschenden Demokratie-Kriegsnarrativ inzwischen die Gefahr eines Nuklearkrieges heruntergespielt wird, dient dazu, ein immer offensiveres und direkteres Eingreifen in der Ukraine zu rechtfertigen – letztlich mit dem Ziel, sie so weit hochzurüsten und mehr oder weniger offen einzugreifen, um Russland militärisch und politisch zu besiegen. Natürlich kann auch ein begrenzter innerimperialistischer Krieg nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Die Logik der Ausweitung der Kriegshandlungen ist aber im aktuellen Konflikt direkt angelegt.

Die Eskalationsstrategie der ukrainischen Führung samt ihrer Unterstützer:innen im Pentagon macht eine solche Zuspitzung wahrscheinlicher – einschließlich der Gefahr der Ausweitung zu einem Dritten Weltkrieg. Auch in diesem Sinn ist dieser Krieg nicht einfach als isolierter russisch-ukrainischer Konflikt zu betrachten. Ähnlich wie in Serbien 1914 ist der Weg vom Regionalkonflikt zum Weltkrieg hier ein sehr kurzer. Und so wie die Linken in der Zweiten Internationale damals müssen wir der Frage der Abwendung eines solchen verheerenden Weltkrieges eindeutig höheres Gewicht einräumen als der Frage der Verteidigung der angegriffenen Halbkolonie – weswegen wir auch eindeutig gegen Waffenlieferungen an die ukrainische Armee Stellung beziehen und für ihre Verhinderung eintreten.

Ökonomischer Krieg

Zusätzlich hat die innerimperialistische Zuspitzung der Situation auch einen unmittelbar ökonomischen Aspekt. Die Wirtschaftssanktionen des Westens (Ausschluss aus SWIFT, Einfrieren der internationalen Devisenreserven der russischen Zentralbank, Aussetzen der Aktivitäten westlicher Konzerne in Russland, weitreichende Handelseinschränkungen etc.) sind tatsächlich von einem historisch noch nie gesehenen Ausmaß (nicht einmal in den bisherigen Weltkriegen so umfangreich). Sie sind derart gravierend, dass einige Wirtschaftszeitungen auch in den USA rätselten, ob zuerst Russland oder der Westen unter ihren ökonomischen Auswirkungen schwere Krisen erleiden würde. Darauf deutet auch eine gewichtige Ausnahme hin: Die Öl- und Gaslieferungen aus Russland wurden nicht gestoppt, sondern angeblich werden diese nur langfristig reduziert.

Tatsächlich würden insbesondere zentrale EU-Ökonomien durch ein solches Embargo wohl innerhalb kurzer Zeit durch die Last der ohnehin schon hohen Energiepreise vollends in schwere Rezessionen rutschen. Klarerweise sind die USA wesentlich weniger von diesem Problem betroffen und drängen so, auch mithilfe ihrer Verbündeten in der Ukraine und in Osteuropa, umso stärker auf eine Energiewende zu ihren Gunsten. Viel mehr wird aber mit der Sanktionspolitik und der „Neuaufteilung der Märkte“ auch China getroffen. Es hat sich zwar wie Indien nicht direkt der Sanktionspolitik angeschlossen, aber agiert angesichts der Furcht vor sekundären Sanktionen vorsichtig. China fürchtet den Verlust von hohem Investment in der Ukraine und der EU und eine wachsende Tendenz zur Umorientierung der westlichen Lieferketten weg von chinesischem Kapitaleinfluss. Andererseits muss China aufgrund seines Energie- und Rohstoffbedarfs wie auch in der Konkurrenzsituation zu den USA notwendigerweise eine weitere Ausdehnung seines Russlandgeschäfts betreiben. Für es birgt ein Zusammenbruch des russischen Regimes enorme Risiken, ja könnte sich als politische Katastrophe  erweisen. Daher wird es Putin und sein Herrschaftssystem vielmehr stützen müssen, selbst wenn Peking die Politik Moskaus als Abenteurertum betrachten mag. Angesichts der ökonomischen und politischen Krisenentwicklung in China selbst ist daher die Gefahr einer Ausweitung des interimperialistischen Konflikts auch auf diese asiatische Supermacht durchaus möglich (Stichwort Südchinesisches Meer).

Selbstbestimmung, Krieg und Imperialismus

Wie Lenin es in seinen Schriften zur nationalen Frage in der imperialistischen Epoche beschrieben hat: Einerseits ist mit der Aufteilung der Welt unter die Großmächte das Zeitalter der „Vaterlandsverteidigung“ in den entwickelten kapitalistischen Nationen zu Ende – ein Krieg zwischen imperialistischen Mächten ist ein räuberischer, menschenverachtender um die Wahrung von Einflusssphären und Profite, ganz gleich wer Angreifer:in oder Verteidiger:in ist.

Andererseits erscheint der Kampf um demokratische und nationale Selbstbestimmung für die (neo-)kolonisierten restlichen Länder dieser Welt im Verhältnis zu diesen Großmächten umso wichtiger zu werden. Gegenüber der Okkupation durch eine imperialistische Macht hat eine angegriffene (Halb-)Kolonie daher sehr wohl das Recht auf Selbstverteidigung und muss dafür auch dann unterstützt werden, wenn es keine fortschrittliche Führung der Verteidigung gibt.

Wie Lenin aber klarmacht, stehen diese Fragen von imperialistischem Krieg und nationaler Selbstverteidigung in einem dialektischen Spannungsverhältnis. In der imperialistischen Epoche stellen das Kapital und seine Bewegungsgesetze eine globale Totalität dar. Sie bestimmen daher auch die Bewegungsform dieses Widerspruchs. In jedem Kampf einer unterdrückten Nation gegen einen Imperialismus kommen natürlich Elemente vor, in denen die unterdrückte Nation von einem/r imperialistischen Konkurrent:in unterstützt wird. Selbst für den Irak gab es ja eine gewisse Stärkung durch Russland (auch mit ungenügenden Waffen) gegenüber dem US-Imperialismus. Aber dies stellte einen untergeordneten, unwesentlichen Aspekt dar.

Andererseits sind imperialistische Kriege durchzogen von nationalen Befreiungskriegen (Serbien im Ersten Weltkrieg ist nur eines von vielen Beispielen). Auch geht oft das eine in das andere über – so auch z. B. in Bürgerkriege oder antikoloniale Kämpfe während und nach dem Ende der letzten beiden Weltkriege. Die Frage der Gewichtung des imperialistischen oder nationalen Charakters eines Krieges entscheidet sich letztlich durch die konkrete Weltlage bzw. die Geschichte des Konflikts darin.

Fazit

Wie wir dargestellt haben, bildet im heutigen Krieg die Ukraine einen zentralen Ort konkurrierender imperialistischer Mächte um die Neuaufteilung der Welt. Es handelt sich daher nicht nur, ja nicht einmal im Kern um den Überfall einer imperialistischen Macht (Russland) auf eine Halbkolonie (Ukraine), sondern die Einflussnahme der NATO-Staaten bildet selbst ein wesentliches Moment des Krieges. Der innerimperialistische Konflikt – einschließlich der Gefahr eines Weltkriegs – sind so vorherrschend, dass die Frage der Verteidigung der Ukraine gegen Russland in den Hintergrund gerät. Dies heißt nicht, dass wir den ukrainischen Arbeiter:innen sagen, dass sie die Hände in den Schoß legen und auf die Kapitulation der Ukraine  warten bzw. deren Niederlage sogar betreiben sollten. Wo es möglich ist, unabhängig von ihrer reaktionären proimperialistischen Führung Widerstand gegen die Okkupation zu leisten, ist dieser natürlich gerechtfertigt, insbesondere um die Übergriffe welcher Armee auch immer zu bekämpfen. Auch müsste antimilitaristische Arbeit in der Armee oder den regionalen Verteidigungsverbänden geleistet werden, um so die Basis für die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg zu legen.

Entscheidend ist aber auch der Aufbau einer Antikriegsbewegung sowohl im Westen wie in Russland – mit dem Ziel des Sturzes der imperialistischen Kriegstreiber:innen auf allen Seiten, der Umwandlung des Krieges in einen Klassenkrieg gegen die „eigene“ Bourgeoisie. Nur das kann letztlich das Schlachten in der Ukraine und die Bedrohung durch einen neuen Weltkrieg stoppen!




Der Krieg in der Ukraine und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, 7. März 2022, Infomail 1181, 9. März 2022

Der russische Einmarsch in die Ukraine hat eine neue Etappe im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten eingeleitet. Der Krieg um die Kontrolle der Ukraine ist der jüngste und schärfste Ausdruck dieses Konflikts, der die Welt mit einem dritten Weltkrieg zwischen den imperialistischen Staaten und ihren Bündnissen bedroht.

Putins Angriff auf die Ukraine, seine Leugnung der Nationalität und Souveränität dieses Landes, bestätigt voll und ganz den imperialistischen und räuberischen Charakter des Staates und der herrschenden Klasse, der er vorsteht. Die Politik der NATO-Verbündeten, insbesondere der Vereinigten Staaten, die Ukraine in die EU und die NATO zu ziehen, hat Putin den Vorwand, wenn auch nicht die Rechtfertigung, geliefert, die Ukraine anzugreifen.

Die Darstellung des Krieges in den westlichen Medien als Fortsetzung eines langen Krieges Russlands gegen die Ukraine, der 2014 begann, ist völlig falsch. Der Sturz des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch war ein Versuch des US- und EU-Imperialismus, mit Hilfe pro-europäischer ukrainischer Oligarch:innen und Ultranationalist:innen die Ukraine endgültig in die Sphäre der westlichen imperialistischen Ausbeutung zu überführen. Dies löste eine Reaktion Russlands zur Verteidigung seiner imperialistischen Interessen aus – die Annexion der Krim, um seinen Marinestützpunkt im Schwarzen Meer zu sichern, und die Unterstützung einer separatistischen Rebellion mit dem Ziel, ein Veto gegen den Beitritt der Ukraine zur EU und NATO einzulegen.

Die Frage, wer den ersten Schuss abgefeuert hat oder wessen Aktionen „defensiv“ oder „aggressiv“ sind, ist nicht entscheidend für die Bestimmung des wesentlichen Charakters des Konflikts: ein von Putin offen und vom Westen verdeckt geführter Kampf darum, welche Imperialist:innen in der Ukraine herrschen werden. Der Konflikt ging und geht nicht darum, ob die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, sondern ob sie eine Halbkolonie Russlands oder der NATO-Imperialist:innen sein soll. Kurzum, die Ukraine ist heute der europäische Schauplatz des Kampfes zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten um die Aufteilung und Neuaufteilung der Welt. Und sie hat eine neue Phase dieses Kampfes eröffnet, indem sie die Bildung von kriegführenden Blöcken beschleunigt hat, die leicht in einen direkten militärischen Konflikt, d. h. einen zwischenimperialistischen Krieg, münden könnte.

Die USA und die ukrainischen Nationalist:innen haben systematisch jede Verhandlungslösung vereitelt, da sie auf einen eventuellen Beitritt des Landes zur NATO setzten. In der Zwischenzeit hat die NATO das Land mit massiver militärischer Hilfe und Ausbildung versorgt – was die lächerliche Behauptung widerlegt, dass „die NATO nicht in den Konflikt verwickelt ist“. Diese Aktionen sind Teil eines Prozesses der Einkreisung Russlands durch das westliche imperialistische Bündnis. Seit 1991 haben die USA wiederholt und systematisch versucht, Russland aus der NATO oder einem alternativen europäischen Sicherheitssystem auszuschließen. Sie haben dies nicht nur mit dem langfristigen Ziel getan, die eurasische Macht zu zerschlagen, sondern auch, um die Entwicklung eines unabhängigen europäischen Imperialismus unter der Führung Frankreichs und Deutschlands zu behindern. Mit dem Krieg und einer beispiellosen Runde von Sanktionen haben sie die Aussicht auf eine Neuausrichtung mit Russland unter Putin, die von Teilen der deutschen und europäischen herrschenden Klassen befürwortet wird, begraben. Dies wird die Hegemonie der USA über die NATO und ihre imperialistischen Verbündeten zumindest kurzfristig stärken, aber auch als Vorwand für die Militarisierung und Aufrüstung der westeuropäischen Mächte auf eigene Rechnung dienen.

Die ukrainischen Machthaber:innen waren weder bloße Zuschauer:innen in dieser Rivalität der Großmächte um das Schicksal ihres Landes, noch sind sie Verfechter:innen der „Demokratie“. Das Regime nach 2014 wurde durch einen reaktionären Sturz Janukowytschs im Auftrag der USA an die Macht gebracht, der von rechtsextremen und faschistischen Milizen angeführt wurde. Indem sie die verfassungsmäßige Neutralität des Landes durch ein Bekenntnis zur NATO-Mitgliedschaft ersetzt, den östlichen Regionen das demokratische Selbstbestimmungsrecht verweigert und auf der Rückgabe der Krim besteht – unabhängig von den Wünschen der Bevölkerung –, kämpft die führende Fraktion der ukrainischen herrschenden Klasse nicht für die nationale Souveränität, sondern für das Recht, die ukrainischen Arbeiter:innen unbehelligt von den von Russland unterstützten Rival:innen auszubeuten, an der gemeinsamen Ausplünderung der europäischen Arbeiter:innen durch die Architektur der Europäischen Union teilzuhaben und dies unter der Deckung des nuklearen Schutzschirms der NATO zu tun.

Die Taktik in der Ukraine

Putins imperialistische, großrussisch-chauvinistische Verweigerung des Rechts der Ukraine auf Unabhängigkeit, seine Invasion und sein Versuch, ein Klientelregime zu installieren, wenn nicht sogar Teile des Landes zu besetzen und zu annektieren, führt jedoch dazu, dass große Teile der ukrainischen Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen sich der Besetzung widersetzen und ihre Städte verteidigen wollen.

Diese berechtigte Antwort auf die nationale Unterdrückung, die ein Haupthindernis für den Vormarsch der russischen Truppen darstellt, verdient die Unterstützung der Revolutionär:innen. Die ukrainischen Massen haben das Recht, sich und ihr Land gegen die russische Besatzung zu verteidigen. Aber das ist nicht dasselbe wie die Unterstützung der reaktionären Kriegsziele der ukrainischen Bourgeoisie, einschließlich der Einheit der Ukraine ohne Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts ihrer Minderheiten sowie der Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Union.

Deshalb darf die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine kein Vertrauen in eine Regierung setzen, die den Beitritt zum Kriegsbündnis der NATO zum Ziel hat. Sie sollte daran arbeiten, die größtmögliche politische Unabhängigkeit von der Regierung, von der herrschenden Klasse der Oligarch:innen und den NATO-Imperialist:innen zu erlangen. Das Ziel muss sein, die Kräfte der Arbeiter:innenklasse in den Widerstand einzubinden, Organe unter der Kontrolle der Massen zu schaffen, mit dem Endziel, die Kräfte zu bilden, die diese Regierung stürzen können.

Sowohl der großrussische als auch der ukrainische Nationalchauvinismus sind reaktionäre politische Linien, die die räuberische Ausbeutung und Verelendung sowohl der ukrainischen als auch der russischen Arbeiter:innenklasse vertiefen würden. Sie ziehen die Völker Europas in eine katastrophale militärische Konfrontation zwischen den atomaren Großmächten hinein. Die Strategie und Taktik einer proletarischen Verteidigung gegen die russische Besatzung muss daher dieser drohenden Gefahr eines globalen Krieges zwischen Russland und der NATO Rechnung tragen. Sie darf auf keinen Fall zu einer bloßen Hilfstruppe der westlichen Imperialist:innen werden, wie es die Regierung Selenskyj anstrebt.

Die ukrainische Bourgeoisie in Form ihres Staates, ihrer Regierung und ihrer Armee kann den Kampf für echte Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit der Ukraine nicht anführen, denn ihre Politik ist das genaue Gegenteil: Sie macht die Ukraine militärisch, wirtschaftlich und politisch vom europäischen und nordamerikanischen Kapitalismus abhängig!

Aus diesen Gründen ist die Parole „Verteidigung der Ukraine“, losgelöst von der Frage, welche Klasseninteressen verteidigt werden, in Wirklichkeit eine Aufforderung an die NATO-Mächte, ihre neue Klientin noch energischer zu unterstützen. Die ukrainische Selbstbestimmung kann nicht durch einen Sieg der ukrainischen Bourgeoisie errungen werden, der ihren Würgegriff über die ukrainischen Arbeiter:innen verstärken würde, sondern nur durch den Abzug der russischen Truppen, die Auflösung des NATO-Bündnisses, die Enteignung der ukrainischen Oligarch:innen und den Kampf für die sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa, denen sich jedes Land anschließen kann, wenn es dies will.

Wir treten für eine Politik der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse und des Widerstands ein. Diese besteht in erster Linie in der Bewaffnung der Arbeiter:innen, ihrer Organisation in Selbstverteidigungsmilizen in den Betrieben und Stadtvierteln, die unabhängig vom Generalstab der Armee oder der rechtsextremen Nationalgarde sind, in Sabotage und Betriebsstörungen der Besatzung, in Agitation und Propaganda, um den Betrug aufzudecken, dass die Oligarch:innen der Ukraine das Vaterland verteidigen, indem sie es dem europäischen Imperialismus schenken, und vor allem in der Solidarisierung mit ihren russischen Klassengenoss:innen, um die Lügen, die den russischen Truppen erzählt werden, zu untergraben und sie für den Widerstand gegen Putin zu gewinnen.

Unser Ziel ist es, die imperialistische Kriegstreiberei in einen Klassenkrieg zu verwandeln, der die Niederschlagung des russischen Angriffs und den Sturz des bonapartistischen Regimes von Putin zum Ziel hat, aber auch die Pro-NATO-Ambitionen von Selenskyj zu verhindern und sein Marionettenregime zu stürzen. Wir kämpfen dafür, diese reaktionäre „Verteidigung des Vaterlandes“ in einen fortschrittlichen Kampf für eine unabhängige sozialistische Ukraine umzuwandeln, die auf der freiwilligen Vereinigung aller ihrer Bewohner:innen beruht.

Revolutionärer Defätismus

Revolutionär:innen in Russland, Europa und den USA müssen deutlich machen, dass sie in dem Kampf zwischen Russland und den NATO-Mächten um die Neuaufteilung der Welt keine der beiden Seiten unterstützen dürfen. Sie müssen eine Politik des revolutionären Defätismus verfolgen. Ihr Hauptfeind ist nicht der eine oder andere imperialistische Konkurrent, der Hauptfeind steht im eigenen Land! Ihr Hauptziel ist es, zu verhindern, dass der Kampf um die Ukraine zum Auslöser eines offenen globalen Krieges zwischen den imperialistischen Mächten wird. Der Einmarsch Russlands, die Sanktionen, die Russland vom Weltmarkt abschneiden sollen, die Waffenlieferungen und die Aufrufe und ernsthaften Vorbereitungen zur Luftunterstützung der Ukraine (z. B. durch polnische Flugzeuge, die an die Ukraine ausgeliefert werden und die Nutzung polnischer Flugplätze erlauben) sind alles Schritte in diese Richtung.

Revolutionär:innen müssen deutlich machen, dass der Kampf zwischen Russland und den NATO-Mächten um die Neuaufteilung der Welt diesem seinen übergeordneten und prägenden Charakter verleiht. Wir sind nicht nur Zeug:innen eines weiteren brutalen Angriffs eines imperialistischen Landes auf eine Halbkolonie, auch nicht nur eines weiteren Stellvertreterkrieges. Die Brisanz des Krieges wird vielmehr dadurch bestimmt, dass die Erschütterungen, die er in Gang gesetzt hat, zu einem zwischenimperialistischen Krieg zu führen drohen. Und das gilt es zu verhindern. Deshalb muss die Arbeiter:innenklasse in einem Konflikt zwischen ihnen eine revolutionär-defätistische Position gegenüber beiden einnehmen, insbesondere in den imperialistischen Kriegsländern. Ihr Hauptfeind ist nicht einer der beiden imperialistischen Konkurrent:innen, sondern der Hauptfeind ist die herrschende Klasse im eigenen Land!

In Russland heißt das, für die Niederlage des russischen Imperialismus bei seinem Versuch, die Ukraine zu erobern, zu kämpfen, die sofortige Beendigung des Krieges und den Abzug aller russischen Truppen zu fordern. Angesichts des diktatorischen Charakters des Putin-Regimes wird der Kampf für demokratische Rechte, für das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit, für die Freilassung Tausender politischer Gefangener ein Schlüssel, oft ein Ausgangspunkt des Kampfes sein. Er muss mit dem Ziel verbinden werden zu verhindern, dass Putin und sein Regime die Arbeiter:innen für das durch die Sanktionen verursachte Elend, für Betriebsschließungen, Inflation und die Kriegstreiberei selbst bezahlen lassen. Eine solcher Auseinandersetzung muss in den Betrieben verwurzelt sein und den Kampf gegen den Krieg mit dem dagegen verbinden, dass die Arbeiter:innen dafür bezahlen müssen, mit Massenstreiks, der Blockade von Transportwegen für Waffen und dem Kampf für die Enteignung der Oligarch:innen und der Reichen unter Arbeiter:innenkontrolle. Kurz gesagt, es bedeutet, den imperialistischen Krieg in einen Klassenkampf zu verwandeln, um das Putin-Regime und den russischen Kapitalismus durch eine Arbeiter:innenregierung zu stürzen.

In den imperialistischen Staaten der NAT0 wenden wir uns gegen die Kriegstreiberei, die massive Aufrüstungspolitik des deutschen Imperialismus, die Forderung nach einer eigenen Atommacht EU, die schnelle Stationierung von NATO-Truppen an den russischen Grenzen, die Forderung Japans nach Atomwaffen auf seinem Territorium und alle Versuche, direkt oder indirekt eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten. Wir lehnen alle Waffenlieferungen der NATO-Mächte an die Ukraine und andere militärische Unterstützung ab. Wir lehnen alle Wirtschaftssanktionen ab. Im Rahmen des Kampfes für die Neuaufteilung der Welt sind zivile Zwangsmittel entweder eine Fortsetzung des Krieges oder ein Vorspiel zu noch zerstörerischerem, militärischem Zwang, zu einer umfassenden imperialistischen militärischen Konfrontation.

Die Parteien der Arbeiter:innenklasse, die Gewerkschaften und die Linke müssen jede „nationale“ Einheit mit den westlichen Regierungen im Namen ihrer gefälschten „Demokratie“ ablehnen. Sie müssen gegen alle reaktionären Gesetze, alle Waffenlieferungen kämpfen, sich auf den Straßen und an den Arbeitsplätzen allen Sanktionen widersetzen, die von „unserer“ Bourgeoisie verhängt werden. Die Abgeordneten der Arbeiter:innenklasse in den Parlamenten müssen die Heuchelei der herrschenden Klasse in den bürgerlich demokratischen Institutionen anprangern. Eine echte Antikriegsbewegung und echte Solidarität mit fortschrittlichen Kräften in der Ukraine muss den wahren, imperialistischen Charakter der westlichen „Unterstützung für die Ukraine“ aufdecken. Revolutionär:innen müssen bereit sein, gegen einen Strom von Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus unter diesem Deckmantel anzuschwimmen. Revolutionäre und internationalistische Organisationen müssen den Sozialpazifismus der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen oder sogar linken Parteien entlarven, die zur Aufrüstung der NATO aufrufen, die Sanktionen gegen Russland fordern. Es zeigt sich, dass die Pazifist:innen von gestern schnell zu Sozialchauvinist:innen werden, zu Verteidiger:innen „ihres“ kapitalistischen Staates.

Die Revolutionär:innen müssen jedoch unterscheiden zwischen den Illusionen der Massen, die ein von der russischen Armee bombardiertes Volk unterstützen wollen, und dem sozialen Pazifismus der reformistischen Führer:innen, die sich in imperialistische Patriot:innen und sogar Kriegstreiber:innen verwandeln. Sie müssen letztere als Unterstützer:innen der Bourgeoisie entlarven. Gleichzeitig müssen sie den Massen geduldig den wahren Charakter des Krieges erklären, sie zum Kampf gegen die Militarisierung ihres eigenen Imperialismus auffordern und dagegen, sie für die Kosten dieser „Sicherheit“ und „Freiheit“ aufkommen zu lassen. Sie müssen für den Aufbau einer internationalistischen Antikriegsbewegung kämpfen, die den Kampf gegen die Kriegsgefahr in einen gegen die Kapitalist:innenklasse verwandelt.




Stoppt den Krieg in der Ukraine!

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1179, 24. Februar 2022

Die Liga für die Fünfte Internationale verurteilt den Angriff russischer Luft- und Landstreitkräfte auf die Ukraine sowie die Leugnung ihres Rechts auf Unabhängigkeit als souveräner Staat durch Wladimir Putin.

Seine Behauptung, er verteidige die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine und die Sicherheit Russlands gegenüber der NATO, ist ein gigantischer Betrug. Nicht weniger betrügerisch sind jedoch die Behauptungen der NATO-Verbündeten, sie würden ausschließlich zur Verteidigung der Demokratie und der nationalen Souveränität handeln. Wie Putin verfolgen auch sie ihre eigenen imperialistischen Interessen. Kurz gesagt, die Invasion in der Ukraine ist in erster Linie ein zwischenimperialistischer Konflikt.

Putins brutales Vorgehen steht im Einklang mit dem Vorgehen der russischen Streitkräfte in Syrien zur Stabilisierung des mörderischen Assad-Regimes sowie der Ermordung von Oppositionellen und der Unterdrückung von Massenprotesten im eigenen Land und seiner Förderung rechtsextremer Parteien und autoritärer Regierungen in der EU. Kurz gesagt, es sind die Aktionen einer imperialistischen Macht, die im Konflikt mit den imperialistischen Mächten USA und EU steht.

Wir verurteilen auch die Rolle der NATO bei der Förderung dieser Krise, deren Wurzeln in der Erhaltung und Ausweitung dieses Bündnisses des Kalten Krieges nach dem Zusammenbruch der UdSSR und ihrem Vordringen bis an die Grenzen der Russischen Föderation unter Verletzung wiederholter mündlicher Zusicherungen an die aufeinanderfolgenden russischen Präsidenten liegen.

Darüber hinaus griff sie in die ursprünglich legitimen demokratischen Volksbewegungen gegen die korrupten Oligarchenregime in den verbleibenden Staaten des „nahen Auslands“ der Russischen Föderation ein. Ziel war es, die prorussischen durch antirussische Regime zu ersetzen, indem man sie in die sogenannten farbigen Revolutionen verwandelte. Dies musste früher oder später zu einem Rückschlag des russischen Imperialismus führen, sobald er sich stark genug fühlte.

Dies war die Strategie aller mit den USA verbündeten imperialistischen Großmächte. Washingtons Politik der Ablehnung der russischen Forderungen nach einer Garantie, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt, zielte jedoch auch auf die Bestrebungen Frankreichs und Deutschlands ab, eine größere wirtschaftliche und militärische Autonomie von der transatlantischen Supermacht zu erlangen. Sie sind nun die großen Verlierer:innen, da ihre diplomatische Lösung zunichtegemacht wurde und Deutschland gezwungen ist, die Inbetriebnahme der Nordstream-2-Gaspipeline auszusetzen.

Das Ziel bestand darin, sie innerhalb der NATO, die selbst ein als Schutz verherrlichtes amerikanisches Spektakel ist, unterzuordnen und zu zwingen, den von Washington diktierten und durchgesetzten Sanktionen zuzustimmen, wie ruinös dies auch für ihre eigenen Volkswirtschaften wäre.

Dass der NATO-Imperialismus dies unter der Flagge der Demokratie, der Menschenrechte und der Selbstbestimmung der Völker tut, war und ist eine grausame Täuschung. Eine solche stellt auch die Behauptung der Ukraine dar, sie verteidige lediglich ihr Recht auf Selbstbestimmung, denn seit 2014 kämpft sie dafür, den östlichen Regionen des Landes (und der Krim) das gleiche Recht zu verweigern, einschließlich des Rechts, ihre eigene Sprache zu verwenden und frei zu entscheiden, ob sie innerhalb der Grenzen eines Staates leben wollen oder nicht, der durch die Akzeptanz einer ethnisch westukrainischen nationalen Identität definiert ist.

Putins chauvinistisches Abenteuer hat US-Präsident Joe Biden und seinen NATO-Verbündeten den perfekten Vorwand geliefert, um die Hysterie des Kalten Krieges zu verstärken und die unverfrorenen sozialimperialistischen Kräfte innerhalb der weltweiten Arbeiter:innenbewegung zu ermutigen, sei es in den sozialdemokratischen und Labourparteien oder Gewerkschaftsbewegungen.

Ebenso sind alle Kräfte aus der stalinistischen Tradition, die Putins Handlungen entschuldigen und seine Forderungen nach einer „Einflusssphäre“ oder einer „Sicherheitszone“ rechtfertigen, weit davon entfernt, eine Politik zu verfolgen, die auf Internationalismus und Opposition gegen jeglichen Imperialismus beruht. Zu glauben, dass der Feind unseres Feindes unser Freund sein muss, ist der Gipfel der Torheit. In Wirklichkeit sind unsere einzigen Verbündeten die Arbeiter:innen in allen Ländern, die ihre eigenen Herrscher:innen bekämpfen und die Hand der Solidarität über die Frontlinien des Konflikts hinweg ausstrecken.

Der chinesische Imperialismus steht als globaler wirtschaftlicher und damit letztlich auch militärischer Rivale der USA wirtschaftlich mehrere Kategorien über Russland. Obamas, Trumps und Bidens Schwenk nach Asien und ihr „Putin ist der neue Hitler“-Narrativ in Europa haben China unweigerlich näher an Russland herangeführt. Dies ist jedoch nicht auf Xi Jinpings und Putins Herausforderungen für „unsere Werte“ zurückzuführen, sondern auf ihre wirtschaftliche und geostrategische Rivalität mit den USA. Pekings brutale und rassistische Verfolgung der Uigur:innen in Xinjiang und der Demokratieaktivist:innen in Hongkong ist eine Warnung, dass China es nicht zulassen wird, von den USA isoliert oder auf Sparflamme gehalten zu werden.

Aus all diesen Gründen müssen die Arbeiter:innenklasse und die fortschrittliche Bewegung in der ganzen Welt davon abgehalten werden, in diesem zwischenimperialistischen Konflikt Partei für eine Seite zu ergreifen. In den alten imperialistischen Kernländern ist die Behauptung, die Demokratie zu verteidigen, lediglich ein zynischer Trick, um das „Recht“ dieser Staaten zu verteidigen, die Welt auszuplündern. In Russland und China ist es ein Schritt zur Ablösung der alten Imperialist:innen und zur Unterwerfung der großen Mehrheit der Menschheit unter neue Machthaber:innen, die es neuen Milliardär:innen ermöglichen, auf Kosten ihrer eigenen Arbeiter:innen und der verarmten Mehrheit der Menschheit zu gedeihen.

Wesentlich für eine korrekte Haltung in dieser Frage ist Karl Liebknechts Losung aus dem Ersten Imperialistischen Krieg: Der Hauptfeind steht im eigenen Land, was für die USA, ihre NATO-Verbündeten sowie für Russland und China gleichermaßen gilt.

  • Sofortiger Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine! Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit und Staatlichkeit durch Moskau!
  • Keine Unterstützung für westliche Wirtschaftssanktionen gegen Russland! Für Arbeiter:innenaktionen, um die Lieferungen von Waffen und Munition an alle Kriegstreiber:innen zu stoppen, solange die Aggression andauert!
  • Abzug aller NATO-Berater:innen aus der Ukraine und der Seestreitkräfte der Westmächte aus dem Schwarzen Meer!
  • Für das Recht der Regionen Donezk, Luhansk und Krim auf demokratische Selbstbestimmung, einschließlich der Optionen der Autonomie innerhalb der Ukraine, der Unabhängigkeit oder des Beitritts zu Russland!
  • Auflösung von NATO und Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit!
  • Stoppt den den Marsch über einen neuen Kalten Krieg in Richtung eines globalen zwischenimperialistischen Krieges!
  • Für eine neue globale Bewegung gegen imperialistische Kriege und Aufrüstung und für die Umleitung der enormen technischen und wissenschaftlichen Ressourcen, die dafür aufgewendet werden, um die brennenden Probleme der Klimakatastrophe, der Armut, des Hungers und der Krankheiten zu lösen!
  • Für einen internationalen Zusammenschluss von Parteien der Arbeiter:innenklasse, die gegen Kapitalismus und Imperialismus und für den Sozialismus kämpfen – eine Fünfte Internationale, die die fortschrittliche Arbeit der ersten vier Internationalen fortsetzt.



NATO, USA, EU, Russland, Ukraine: Ein Propagandakrieg und seine Hintergründe

Frederik Haber, Neue Internationale 262, Februar 2022

Revolutionäre KommunistInnen dürfen sich von der Propaganda der Herrschenden nicht beeindrucken lassen, schon gar nicht von den FührerInnen der imperialistischen Länder, also denen, die in der Lage sind, andere Länder zu unterdrücken und auszubeuten, sei es auf politischem, wirtschaftlichem oder militärischem Wege. Deren ganzes Bestreben ist einzig und allein darauf ausgerichtet, dies besser zu machen als ihre KonkurrentInnen.

Ganz besonders gilt es, die Lügen der Herrschenden im eigenen Land zu entlarven. Die Tatsache, dass linke wie rechte bürgerliche Medien, von der TAZ über den Spiegel bis zu FAZ und WELT, die gleiche Stoßrichtung einschlagen und die gleiche Wortwahl nutzen, belegt nicht deren Wahrheitsgehalt, sondern vielmehr die Entschlossenheit des Imperialismus – in diesem Falle des deutschen.

Lügen und Verfälschungen

Zu den billigen Lügen gehört, dass die (vermeintlichen) Truppenbewegungen Russlands berichtet werden, die der NATO nicht. Zum Beispiel die Tagesschau am 22. Dezember 2021: „Angesichts der russischen Truppenbewegung an der Grenze zur Ukraine hat die NATO offenbar mit einer ersten konkreten militärischen Maßnahme reagiert. Die Einsatzbereitschaft der schnellen Eingreiftruppe sei erhöht worden, berichtet die ‚Welt‘ unter Berufung eines ranghohen NATO-Diplomaten.“

Das ist gelogen. Es war nicht die „erste“ Maßnahme: Schon Anfang Dezember hatte sich die NATO zu einer Konferenz in Riga getroffen und bei der Gelegenheit das erste von 5 geplanten Manövern in Lettland abgehalten. Von wegen „einer ersten konkreten militärischen Maßnahme“! Es war die NATO, die mit „Truppenbewegungen an der Grenze“ schon Wochen vorher angefangen hatte. Genauso wie es Bilder der US-Geheimdienste gibt, die Reihen von LKWs in irgendwelchen Wäldern zeigen, gibt es übrigens solche von NATO-Ausrüstung, die in den Wäldern Polens und Norwegens stehen soll und dies vermutlich auch tut. Und auch das nicht erst seit dem 22. Dezember.

Die Frage, die auf der Hand liegt, lautet: Warum sollte Putin eigentlich in die Ukraine einmarschieren wollen? In der Propaganda wird diese nicht nur nicht beantwortet. Sie wird von den Medien offensichtlich bewusst nicht einmal gestellt. Stattdessen wird suggeriert, das habe er schon immer wollen, er habe ja 2014 die Krim annektiert und die „SeparatistInnen“ unterstützt. Die Welt hat offensichtlich erst 2014 begonnen, sich zu drehen.

Medien, PolitikerInnen und Militärs reden nicht davon, wie es zur „Separation“ in der Ostukraine kam und wie zur Annexion der Krim. Die propagandistischen Halb- und Viertelwahrheiten bestärken die Vermutung, dass es in der aktuellen geostrategischen Auseinandersetzung unter anderem genau um dieses Land geht, genauer gesagt, um die Bereinigung der Lage in der Ostukraine.

Der Putsch von 2014 …

Ende 2013 entstand eine diffuse Protestbewegung in der Ukraine, damals wie heute eines der ärmsten Länder Europas. Losgetreten wurde sie von rechten AktivistInnen und prowestlichen NGOs, die eine Neuauflage der „orangenen Revolution“ von 2004 wollten, die einen neoliberalen prowestlichen Präsidenten ins Amt gehievt hatte, der dies aber bei den nächsten Wahlen wieder verlor. Die Regierung in Kiew reagierte brutal auf diese Versuche und ihre Brutalität entfachte echte Massenproteste, die auch soziale Fragen aufwarfen. Diese Bewegung richtete sich natürlich gegen die damalige Regierung und den Staatspräsidenten Janukowitsch (Janukowytsch). Der zentrale Platz in Kiew wurde besetzt und gab der Bewegung den Namen: Maidan. Sehr schnell übernahmen nationalistische, rechtsradikale und faschistische Kräfte die Führung dieser Aktionen.

Die Bewegung wurde politisch rechts ausgerichtet. Soziale Forderungen wurden marginalisiert und allenfalls in einer populistisch-rechten Form verbreitet. Ansonsten dominierten Hoffnungen in die EU als freien Markt, der individuellen Aufstieg ermögliche. Die breite Solidarisierung ging zurück, aber rechte politische Strukturen etablierten sich vor allem im Westen des Landes.

Es gelang dem Maidan mit Provokationen und viel Unterstützung seitens der USA, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 5 Mrd. US-Dollar in die Schlacht um die Ukraine geworfen hatten, aber auch der BRD und ihrem Schlepptau in der EU, die politisch schwache Regierung Janukowitsch zu stürzen. Ein zentraler Konfliktpunkt war deren Zögern gewesen, einen Vertrag mit der EU zu ratifizieren, der dieser weitgehende Ausbeutungsmöglichkeiten sichern sollte. Russland wollte dagegen die Ukraine weiter als seinen Satelliten halten und offerierte seinerseits günstige Kredite.

Nach der Machtergreifung versuchte die neue Regierung, ihr Programm aggressiv durchzusetzen. Um den Staatshaushalt und den Krieg gegen den Osten zu sichern, brauchte sie Kredite vom IWF und Hilfsgelder von EU und USA. Mit der EU wurde das Assoziierungsabkommen in zwei Schritten beschlossen. Die sozialen Kosten für diese Maßnahmen mussten die lohnabhängigen und bäuerlichen Massen tragen – und zwar nicht nur im Osten.

Zugleich verfolgte die Kiewer Regierung einen aggressiven Kurs, um ihre Machtansprüche im Osten des Landes durchzusetzen: Nationalistische Sprachpolitik, d. h. das Verbot der russischen Sprache, Ersetzen von GouverneurInnen, Legitimierung der neuen Regierung durch Putsch der „neuen“ Parlamentsmehrheit und über Aktionen auf der Straße.

Nach der Machtergreifung des „Maidan“ wurden alle jene Linke, die sich gegen die Regierung und die FaschistInnen wehrten, brutal angegriffen. Die Kommunistische Partei der Ukraine und sozialistische Organisationen wie Borotba wurden verboten. Am 26. Juni 2014 griff der faschistische „Rechte Sektor“ z. B. eine Gewerkschaftsversammlung brutal an – die Polizei schaute zu. Diese Repression gegen Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen setzt sich fort. Vor kurzem wurden 5 Sender verboten, die nicht genügend regierungskonform waren – was bei den demokratischen westlichen Medien ebenfalls keine Kritik hervorrief.

 … und die Gegenbewegung

Der Maidan war nie eine landesweite Bewegung und das Gros der ArbeiterInnenklasse verhielt sich ihr gegenüber reserviert – aus verständlichen Gründen. Der ukrainische Nationalismus bildete von Beginn an den ideologische Kitt des Maidan, was notwendigerweise die russischsprachige Bevölkerung v. a. im Osten und Süden des Landes abstoßen musste.

Es entstand eine Gegenbewegung im Osten, die sich erstens gegen den ukrainischen Nationalismus und die Unterdrückung der russischen Sprache wandte, gegen den Terror der FaschistInnen, aber auch richtig verstand, dass eine Ukraine unter dem EU-Imperialismus ihre Industrie und den Bergbau im Osten sowie die Werften am Schwarzen Meer zerschlagen bekommen, also dasselbe Schicksal wie auch andere EU-Neuzugänge erleiden würde.

Dagegen versprach die Fortsetzung der engen industriellen Arbeitsteilung mit Russland der Industrie wenn auch keine goldene Zukunft, so doch ihren Fortbestand.

Diese Gegenbewegung führte auf der Krim zu einer Volksabstimmung für den Anschluss an Russland mit einer Mehrheit von 96,7 % bei einer Wahlbeteiligung von über 80 %. Gleichzeitig besetzten russische Truppen ohne Abzeichen dort alle Schaltstellen der Macht.

Die Ukraine und die UNO halten den Anschluss der Krim für illegal, den Putsch in Kiew und die Absetzung des Parlaments der Krim durch die Kiewer Regierung dagegen für legal. (Bemerkenswerterweise halten sie das vergleichbare Vorgehen bei der Abspaltung des Kosovo von Serbien für legal, während Russland dies wiederum als völkerrechtswidrig einstuft.)

Donbass

Die demokratische Volksbewegung im Osten akzeptierte die Absetzung ihrer gewählten lokalen Vertretungen durch die Putschregierung nicht. Sie fürchteten zu Recht die Pogrome der NationalistInnen zu einer Zeit, als die „Demokratin“ Timoschenko (Tymoschenko) davon sprach, „alle Russen eigenhändig auszurotten“.

Es kam zu Besetzungen von Rathäusern in fast allen Städten im Osten und Südosten. In den meisten gelang es Regierungstruppen, Polizei und FaschistInnen, den Aufstand niederzuschlagen. In Lugansk (Luhansk) und Donezk konnten sich die Aufständischen halten.

In den folgenden Kämpfen gab es um die 10.000 Tote auf beiden Seiten, darunter auch viele Opfer aus der Zivilbevölkerung durch die Regierungskräfte. Dem schrecklichen Pogrom in Odessa fielen mindestens 43 Menschen zum Opfer. Täter waren Killertrupps, die in enger Verbindung zur Putschregierung in Kiew standen. Sie griffen ein Camp der Volksbewegung an, viele flüchteten von dort ins Gewerkschaftshaus. Die FaschistInnen legten Feuer, Menschen verbrannten oder wurden erschlagen. Weder Feuerwehr noch Polizei griffen ein.

Lugansk und Donezk konstituierten sich als „Volksrepubliken“. Sie konnten der scheinbaren Übermacht Kiews trotzen, aus mehreren Gründen: Die Wehrpflichtigenarmee der Regierung war für einen Bürgerkrieg untauglich, viele desertierten. Es musste erst eine Elitetruppe, die Nationalgarde, aufgebaut werden. Die faschistischen Einheiten auf Seiten der Regierung, die von ukrainischen OligarchInnen und aus internationalen Quellen finanziert wurden, provozierten mit ihrem Vorgehen eher Widerstand. Es gab viele Freiwillige aus Russland, aber auch aus anderen Ländern, und militärisches Material, mindestens mit Wohlwollen der russischen Regierung geliefert.

Minsker Abkommen

Als sich die Fronten einigermaßen verfestigt hatten, wurde unter Merkels Führung ein Waffenstillstand vereinbart. Beteiligt waren daran die ukrainische Zentralregierung, die Volksrepubliken, Russland und Frankreich sowie die OSZE. In zwei Abkommen wurde der militärische Status quo festgeschrieben, der bis zum Schluss noch verändert werden sollte: Die Regierung wollte den Flughafen Donezk erobern, die Aufständischen versuchten, Mariupol zurückzugewinnen, und waren letztlich erfolgreich bei der Einkesselung der Regierungstruppen bei Debalzewo (Debalzewe). Die drohende Niederlage dort hatte letztlich zum Einlenken von Kiew geführt.

Neben der Festschreibung des Status quo gab es vage Formulierungen für die Zukunft, die beiden Bürgerkriegsparteien erlaubten, das Gesicht zu wahren, die aber nicht umgesetzt werden konnten.

Die Jahre seit dem Minsker Abkommen haben zugleich auch die Verhältnisse im Donbass verändert. 2014/15 gab es in den Volksrepubliken durchaus auch linke, fortschrittliche Initiativen. Die Verstaatlichung von Bergwerken und Industrie wurde diskutiert und teilweise umgesetzt, landwirtschaftliche Kooperativen entstanden – teilweise aus militärischem und wirtschaftlichem Zwang, teilweise mit kleinbürgerlich-linken ideologischen Ansätzen. Heute sind diese linken Initiativen erlahmt und zerstört, einige der linkspopulistischen Führer wie Mozgowoi (Mozgovoy) und Bednow („Batman“) wurden ermordet. In den Republiken selbst gibt es wohl Fragen, wie es weitergeht, und um diese auch Konflikte zwischen den jeweiligen AnführerInnen.

2014 verzichtete die Russische Föderation auf eine direkte, staatliche Integration der Ostukraine, auch wenn sie militärisch leicht möglich gewesen wäre. Das hatte einerseits mit den damals unsicheren inneren Verhältnissen zu tun. Andererseits dient der unsichere Status der Donbassrepubliken als diplomatisches Faustpfand. Für Putin und den russischen Imperialismus stellen sie Kleingeld im Kampf um die Neuordnung der Region dar.

USA gegen Deutschland

Neben dem Bürgerkrieg innerhalb der Ukraine und dem globalen Konflikt USA gegen Russland gab es eine dritte Front – innerhalb des westlichen Bündnisses. Der deutsche Imperialismus und in seinem Gefolge die EU wollten zwar die Assoziierung der Ukraine, so wie sie das auch sonst in Osteuropa getan hatten: Überschwemmung des Warenmarktes, Integration in die Arbeitsteilung, (Stilllegung großer Teile der Industrie, Aufkauf der interessanten „Kerne“, „verlängerte Werkbank“ zu Niedriglöhnen), Arbeitskräftereservoir. Die Ukraine ist zusätzlich besonders begehrt für ihre großen, z. T. sehr fruchtbaren landwirtschaftlichen Flächen, auf die die deutsche Agrarindustrie gierig schielt.

Aber Deutschland strebte und strebt durchaus gute Beziehungen mit Russland auf wirtschaftlicher Ebene an: Öl und Gas importieren, Maschinen und Autos exportieren. Kurz vor der Ukrainekrise 2014 waren die EU und Russland fast so weit, das Visa-Regime gegenseitig zu erleichtern.

Der US-Imperialismus hegte und hegt andere Interessen. Seine wirtschaftlichen Beziehungen sind sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland schwach. Ihm geht es darum, die militärische Macht Russlands zu brechen, zu verhindern, dass der russische Imperialismus ihm an allen möglichen Ecken der Welt in die Quere kommt.

Zweitens sind die EU und Deutschland auch KonkurrentInnen der USA. Die Störung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland ist diesen mindestens genauso wichtig. Heute zeigt das der Kampf der USA gegen „Nordstream 2“. Es war immer auch in ihrem Interesse, die EU uneinig zu halten – oder besser gesagt – es dem französischen und deutschen Imperialismus so schwer wie möglich zu machen, die EU nicht nur wirtschaftlich zu dominieren, sondern auch zu einem eigenständigen imperialistischen Block zu formieren. Konflikte in Osteuropa sind immer geeignet, die baltischen Länder, Polen oder Ungarn gegen Deutschland und die EU zu mobilisieren.

2014 in Kiew stellte sich dieser Konflikt so dar: Die BRD hatte mit dem damaligen Außenminister Steinmeier eine gemeinsame Übergangsregierung unter Einschluss Janukowitschs und der „MaidansprecherInnen“ vereinbart. Die USA forderten die rechtsnationalistischen und faschistischen Banden des „Rechten Sektors“ zum Sturm auf das Parlament auf. Janukowitsch floh. Berühmt wurden die (abgehörten) Worte der US-Beauftragen Victoria Nuland in diesem Zusammenhang: „Fuck the EU“.

Die Minsker Abkommen als Versuch Deutschlands, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren, wurden von den USA immer abgelehnt. Nuland damals: „Sie fürchten sich vor Schäden für ihre Wirtschaft, Gegensanktionen der Russen“ und „Wir können gegen die Europäer kämpfen, rhetorisch gegen sie kämpfen … “

Heute wird diese Front z. B. sichtbar, wenn CDU-Chef Merz feststellt, dass eine Einstellung des internationalen Überweisungssystems „SWIFT“ keinesfalls geeignet für Sanktionen sei. Darüber hinaus zeigen sich die inneren Gegensätze der EU letztlich auch in inneren Konflikten der herrschenden Klasse, in Regierung wie in der parlamentarischen Opposition. Die FPD und die Grünen markieren dabei die größten, pro-US-amerikanischen Kriegstreiberinnen, während v. a. die SPD, aber auch CDU/CSU – siehe nur Söders Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine – gespalten sind.

Während die ArbeiterInnenklasse im großen globalen Kampf zwischen der US/NATO-geführten westlichen Allianz unter Einschluss Deutschlands und der EU einerseits und Russlands mit China im Rücken andererseits keine Seite unterstützen darf, stellen die verschiedenen Flügel innerhalb des deutschen politischen Establishments nur unterschiedliche strategische Orientierungen innerhalb der herrschenden Klasse dar.

Die ArbeiterInnenklasse und die Linke sollten vielmehr diese inneren Widersprüche nutzen, um eine schlagkräftige Antikriegsbewegung auf die Beine zu stellen. Frei nach dem Motto von Karl Liebknecht: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!




Die Gefahr eines Krieges um die Ukraine

Internationales Exekutivkomitee, Liga für die Fünfte Internationale, Montag, 24. Januar 2022, Infomail 1176, 26. Januar 2022

Zum ersten Mal seit den 1990er Jahren werden in Europa wieder die Kriegstrommeln gerührt. Es geht um den eskalierenden Konflikt zwischen Russland und der NATO um die Ukraine. Die westlichen Medien geben Wladimir Putin und Russland, das über 100.000 SoldatInnen an den Grenzen der Ukraine mobilisiert hat, die Schuld daran. Putins „militärische Manöver“ zielen darauf ab, seine Forderungen an die USA und ihre NATO-Verbündeten zu untermauern, dass die Ukraine niemals der NATO beitreten darf und die Truppen und Raketensysteme der Westmächte, die derzeit auf dem Gebiet der drei baltischen Staaten und Polens usw. stationiert sind, abgezogen werden müssen.

Putins Drohung mit einer Invasion, ganz zu schweigen von einer tatsächlichen, muss von allen SozialistInnen und DemokratInnen verurteilt werden. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass sie in Europa und Nordamerika die Aktionen der NATO-Mächte in diesem Konflikt, ob real oder potenziell, unterstützen sollten. Im Gegenteil. Der amerikanische Präsident, die britische Regierung, NATO und EU drohen mit Sanktionen, die auf eine lähmende Wirtschaftsblockade Russlands hinauslaufen, was selbst zu einem Vorspiel für Kriegshandlungen werden könnte. Gleichzeitig liefern sie große Mengen an Waffen und militärischer Ausrüstung an die ukrainische Regierung.

Diese Regierung selbst ist kein hilfloses Opfer der russischen Aggression, sondern eine provokante Handlangerin der USA und der NATO, die die Ukraine zu ihrer Frontlinie machen und als halbkolonialen Besitz in die EU integrieren möchten. Das nationalistische, prowestliche Regime in Kiew ruft zu Waffen auf, um die Donbassregion (Donezbecken) zurückzuerobern. Da dies unmöglich wäre, wenn Russland bereit wäre, militärisch zu „intervenieren“, hoffen sie, dass der Druck der USA, der NATO und der EU, der Wirtschaftssanktionen mit der Erweiterung der NATO kombiniert, Putin zum Einlenken bewegen könnte. Auf der anderen Seite sind die Donbass„republiken“ Vasallinnen des russischen Imperialismus und werden von diesem kontrolliert. Auch wenn keine der beiden Seiten wirklich einen direkten bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der NATO will, spielen beide mit dem Feuer, denn die Gefahr eines Krieges zwischen den beiden stärksten Atommächten der Welt ist sehr real.

Russlands Wiederaufleben

Für Russland waren die 1990er Jahre ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Verwüstung, vergleichbar mit der Großen Depression der 1930er Jahre, die auf den Zusammenbruch der UdSSR und ihrer Planwirtschaft zurückzuführen war und durch die neoliberale „Schocktherapie“ noch verschlimmert wurde. Die unbarmherzige Osterweiterung der NATO und die von den USA offen angezettelten „Farbrevolutionen“ zur Schaffung moskaufeindlicher Nachbarregime führten zu einer unvermeidlichen Reaktion unter Wladimir Putin. Russland verwandelte sich erneut in einen Gegner der USA, in einen neuen Imperialismus. Deutschland und andere EU-Mächte hingegen versuchten, Russland als strategischen wirtschaftlichen Verbündeten zu umwerben, sehr zum Leidwesen der USA.

Der Kampf um die Ukraine war dabei ein Schlüsselfaktor. Die Euromaidan-Bewegung führte zu einem reaktionären Putsch, der von rechtsgerichteten und faschistischen Milizen angeführt und von Washington unterstützt wurde, wodurch sich das Kräfteverhältnis verschob. Die USA wurden zur dominierenden Macht in der Ukraine und versuchten, die EU-Länder über die NATO in einen neuen Kalten Krieg hineinzuziehen, wobei sie Staaten wie Polen und die baltischen Länder als Verbündete nutzten. Innerhalb der Ukraine hatte der Widerstand gegen die faschistischen Kräfte im Donbass und auf der Krim zunächst einen progressiven Charakter, der sich jedoch änderte, je mehr er unter die Kontrolle des russischen Imperialismus geriet. Heute ist der Konflikt in der Ukraine vor allem ein Stellvertreterkonflikt, auch wenn der Westen als Verteidiger der ukrainischen Demokratie und Russland als Aggressor auftritt.

Nach dem Maidan, dem Bürgerkrieg im Donbass und der Eingemeindung der Krim durch Russland wurden die Fronten durch das Minsker Abkommen faktisch eingefroren, was für Russland erträglich war, auch wenn es den Verlust des größten Teils seines Einflusses in der Ukraine bedeutete, und für die EU günstig, weil es den Sieg der USA einschränkte.

Heute geben beide Seiten vor, sich im Namen der nationalen Sicherheit und Unabhängigkeit gegen die Aggression zu wehren. In Wirklichkeit ist die Ukraine nur ein Zankapfel in einem viel größeren und gefährlicheren globalen Kampf. Beide Seiten setzen ihre eigenen geostrategischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen durch in einem Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den USA und der EU auf der einen Seite, also den alten imperialistischen Mächten, und den neuen, Russland und China, auf der anderen.

Ein Einmarsch Putins in die Ukraine, die Bombardierung Kiews und die Auslösung eines umfassenden Landkriegs wäre ein unglaublicher Akt der Selbstbeschädigung, eine groteske Fehlkalkulation. Ohne einen unwahrscheinlichen schnellen Sieg würde dies nicht nur lähmende Sanktionen nach sich ziehen, sondern nach einem anfänglichen chauvinistischen Rausch auch zu großen sozialen Umwälzungen in Russland selbst führen, die Putin und seinen OligarchInnenkreis zu Fall bringen könnten. Darüber hinaus bergen all diese Drohungen und Gegendrohungen in einer Zeit der sich verschärfenden zwischenimperialistischen Rivalität wie der jetzigen globale Gefahren. Man denke nur an die möglichen Auswirkungen auf die Situation rund um Taiwan, wo Kampfflugzeuge und Flottillen von Kriegsschiffen bereits die Hoheitsgewässer überfliegen und durchqueren.

Der neue Rüstungswettlauf, die Aufrüstung, die Mobilisierung der Bevölkerung mit nationalistischen oder demokratischen Parolen, die von der Presse, dem Rundfunk und den sozialen Medien gefördert werden, tragen alle ihre eigene Logik, die den Konflikt verschärft. Putin versucht ganz offensichtlich, seine Popularität im eigenen Land zu steigern, indem er Russlands Ansehen als Großmacht wiederherstellt und sich dem „Club“ mit den USA und China anschließt. Auch Biden versucht zu beweisen, dass die USA als Weltpolizist zurück sind, indem er europäische und asiatische Verbündete um sich schart, indem er den NATO-Schutzwall erweitert und ein Äquivalent in Asien aufbaut.

Ein sekundäres Ziel der USA (und Großbritanniens) besteht darin, die beiden Großmächte innerhalb der Europäischen Union, Deutschland und Frankreich, in ihrem Streben nach mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zu schwächen. Die Tatsache, dass Biden sie bei seinem Blitzabzug aus Afghanistan nicht konsultiert, Frankreichs U-Boot-Vertrag mit Australien gekündigt, den AUKUS-Pakt auf den Weg gebracht hat und klar darauf abzielt, die russische Gaspipeline Nord Stream 2 nach Europa zu sabotieren, unterstreicht dies alles.

Die USA setzen die neue deutsche Regierung unter Druck, um den Gasvertrag zu beenden oder sogar den Ausschluss Russlands aus dem globalen elektronischen Zahlungssystem SWIFT, das seinen Sitz in Belgien hat, zu erreichen. Dies würde Europa auf den internationalen Märkten ins Chaos stürzen, während es die USA weit weniger tangieren würde. Hier zeigt sich die fast diktatorische Macht, die Washington immer noch über die Weltwirtschaft ausübt, was es bisher nur in kleinerem Maßstab im Iran, in Kuba und Venezuela gezeigt hat.

Wenn solche Ultimaten und Drohungen einander entgegengeschleudert werden, und sei es nur, um den Gegner zu einem demütigenden Einlenken zu bewegen, ist die Gefahr einer Fehlkalkulation und eines bewaffneten Konflikts sehr groß. Wenn nicht dieses, dann das nächste Mal wird der/die „SiegerIn“ ermutigt, weitere Siege zu erringen, und die Besiegten werden die erste Gelegenheit zur Rache nutzen.

Wir sollten uns daran erinnern, dass solche Krisen die Jahrzehnte vor den beiden Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt haben. Eine tatsächliche Invasion Russlands in der Ukraine, selbst an ihren östlichen Grenzen, würde nicht nur weiteres Leid für die ukrainische Bevölkerung bedeuten, sondern auch die Gefahr einer Eskalation zu einem direkten Zusammenstoß zwischen den imperialistischen Mächten selbst erhöhen.

Die Kriegsdrohung stoppen

Wie sollten also SozialistInnen und die ArbeiterInnenbewegung weltweit reagieren? Im „Westen“ schweigen die rechten Führungen der Sozialdemokratie und Gewerkschaften entweder oder plappern die Positionen der NATO-Regierungen nach. Da sie ihre eigenen Regierungen durch die Brille der „Demokratie“ sehen, betrachten sie Russland und China als autoritäre, diktatorische Mächte, die kleine Nationen angreifen. Für sie rechtfertigt dies den Sozialpatriotismus, wie 1914 oder 1939 oder in den vielen realen bewaffneten Auseinandersetzungen des so genannten Kalten Krieges. Während einige reformistische FührerInnen in Europa in stiller Opposition zum Krieg stehen, weil sie eine andere imperialistische Ausrichtung ihrer Länder, d. h. eine engere Beziehung zu Russland, vorziehen würden, sind in Deutschland die einflussreichsten der angeblich linksgerichteten grünen Parteien, wie die Liberalen, zu ausgesprochenen Russophobinnen geworden.

Was ist mit jenen Teilen der weltweiten ArbeiterInnenbewegung, die aus der „kommunistischen“ (stalinistischen) Tradition kommen und ein höheres Maß an Feindseligkeit gegenüber ihren „eigenen“ Regierungen pflegen, die sie als die einzigen imperialistischen Mächte betrachten? Sie schieben die Schuld für jeden potenziellen Konflikt allein den USA und der NATO in die Schuhe. Auch wenn sie Russland und China nicht mehr als „sozialistisches Lager“ sehen, neigen sie dazu, sie zumindest als Gegengewicht zum Imperialismus zu betrachten, das nicht mit den eigentlichen Bösewichten gleichgesetzt werden darf.

Die Position der RevolutionärInnen in allen Ländern sollte sein, dass es sich um einen Konflikt zwischen imperialistischen Mächten und Blöcken handelt und die Ausdehnung der NATO nach Osteuropa nach dem totalen Zusammenbruch des „Kommunismus“ selbst ein Akt der Aggression war. Sie hat einmal mehr gezeigt, dass die Priorität der so genannten „demokratischen“ Imperialismen nicht in der Bildung wirklich unabhängiger Staaten lag, sondern darin, die zuvor von Sowjetrussland dominierten Länder in ihr eigenes System von Halbkolonien zu zerren.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion lösten Gorbatschow und Jelzin auch den Warschauer Pakt auf und plädierten entweder für den Beitritt zur NATO oder für deren Auflösung. Obwohl es aus Sicht der WeltarbeiterInnenklasse keine Invasion in der Ukraine rechtfertigt, ist Russlands historische „Staatsräson“ Anlass genug, um über die Anwesenheit von Raketen und Truppen der NATO an seinen Grenzen beunruhigt zu sein. Es sei daran erinnert, dass die Vereinigten Staaten die Welt 1962 an den Rand eines Atomkriegs brachten, als sie auf die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba reagierten.

Die USA, geschützt durch zwei riesige Ozeane, fühlen sich unverwundbar und daher in der Lage, sich in alle anderen Kontinente einzumischen und dort Kriegssituationen zu schaffen, um ihr „manifestes Schicksal“ der Weltherrschaft zu verfolgen. Gegenwärtig zielt dies in erster Linie auf China ab, doch hegen die USA ähnliche Ambitionen in Bezug auf Russland, dessen eigenes Wiedererstarken ihre Schwäche in Syrien offenbart hat.

Sicherlich existiert für Russland keine Rechtfertigung für eine Invasion in der Ukraine, und revolutionäre SozialistInnen sollten jede derartige Aktion unmissverständlich verurteilen. Der ukrainische Widerstand gegen eine solche Aggression kann jedoch nicht losgelöst von dem gesamten innerimperialistischen Konflikt beurteilt werden. Ihr eigenes Vorgehen gegen die russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine im Jahr 2014, ihre Entschlossenheit, der NATO beizutreten, und ihre wiederholten Versuche, eine NATO-Intervention zu provozieren, bestätigen, dass die Ukraine ein Werkzeug des „westlichen“ Imperialismus darstellt.

SozialistInnen sollten nicht nur die Ausweitung der NATO verurteilen, sondern auch ihre Existenz selbst. Die USA und ihre Verbündeten haben eine Reihe von farbigen Revolutionen (einschließlich des Euromaidan) unterstützt, um prowestliche Regime im nahen Ausland Russlands zu etablieren, die potenziell zu Militärbasen für sie werden könnten.

Es ist daher keine Überraschung, dass Putin, der sich durch den Niedergang der Vereinigten Staaten und die unberechenbare Politik ihres Präsidenten, Amerika wieder groß zu machen, ermächtigt fühlt, versucht, Moskaus Position im „nahen Ausland“ wiederherzustellen. Wir unterstützen keine der beiden rivalisierenden imperialistischen Anmaßungen. Sie drohen, ihre Völker und die Osteuropas, ganz Europas und sogar der ganzen Welt in eine unvorhersehbare und brutale Reihe von Konflikten zu ziehen.

Die Frage, welche Seite die anfängliche Aggressorin verkörpert, entscheidet nicht über den politischen Standpunkt, der einzunehmen ist. Vielmehr geht es darum, den Kampf gegen die Kriegstreiberei auf beiden Seiten mit den Mitteln des Klassenkampfes zu führen, indem der zwischenimperialistische Charakter des Konflikts aufgedeckt und die Unterstützung des einen oder anderen Lagers mit der Begründung, das eine kämpfe für die Demokratie und das andere gegen den Imperialismus, abgelehnt wird.

Die ArbeiterInnenklasse in Europa, Russland und den USA muss sich gegen all diese Kriegszüge und Hetze mobilisieren, um den Rückzug aller russischen Truppen von den Grenzen der Ukraine zu fordern und ebenso aller westlichen Waffen, Kriegsmaterial und Personal aus der Ukraine, den baltischen Staaten, Polen usw. Wir müssen die Auflösung sowohl der NATO als auch der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit fordern und uns allen bestehenden oder angedrohten Wirtschaftssanktionen widersetzen.

Wir rufen die ArbeiterInnen- und Friedensbewegungen Europas, Amerikas und Russlands auf, auf die Straße zu gehen und ein Ende aller Kriegsvorbereitungen und der massiven Erhöhung der Rüstungsausgaben zu fordern, die die Taschen der milliardenschweren WaffenherstellerInnen und OligarchInnen füllen, während es den einfachen arbeitenden Menschen an angemessenen Wohnungen und Gesundheitsversorgung fehlt.

An die Putins, die Xis, die Bidens oder die FührerInnen der EU und Großbritanniens zu appellieren, sich von imperialistischen Tigern in pazifistische Lämmer zu verwandeln, wäre jedoch vollkommen aussichtslos. Letztendlich kann nur die ArbeiterInnenklasse der Kriegsgefahr, einschließlich der eines Dritten Weltkriegs, ein Ende setzen. Die ArbeiterInnen in Russland und den OVKS-Staaten wie Kasachstan müssen sich mobilisieren, um ihre autokratischen Herrscher zu stürzen und sich mit ihren KlassengenossInnen in Europa und Amerika zu verbinden.

Ein erster Schritt besteht heute in allen Ländern in der Mobilisierung von Millionen von Menschen auf der Straße, wie wir es 2003 getan haben, um die Kriegshetze zu stoppen. Aber wir müssen aus diesen Mobilisierungen lernen und dürfen es nicht bei ein paar Tagen des Protests belassen, sondern müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um die KriegstreiberInnen zu vertreiben und die Macht in die Hände der arbeitenden Menschen weltweit zu legen. Diese dringenden Aufgaben zeigen einmal mehr, wie notwendig es ist, dass die ArbeiterInnenbewegungen zusammenkommen, um die Grundlagen für eine neue, Fünfte Internationale zu schaffen.




Ukraine nach der Parlamentswahl: Neues Personal für alte Probleme

Paul Neumann, Infomail 1064, 6. August 2019

Nach der Präsidentenwahl im April 2019 hat Wolodymyr
Selenskyj auch die vorgezogenen Parlamentswahlen am 21. Juli 2019 mit der
absoluten Mehrheit der Sitze in der Rada (Parlament) für sich und seine neue
Partei Sluha Narodu (Russisch: Sluga Naroda; Deutsch: Dienerin des Volkes)
entscheiden können. Da Selenskyj in der alten Rada keine Basis zum Regieren
hatte, war die vorzeitige Neuwahl nur folgerichtig. Auf diesem Stimmenergebnis will
er den angekündigten tiefgehenden Wandel der ukrainischen Gesellschaft durchziehen,
ohne auf parlamentarische Hindernisse zu stoßen oder auf quertreibende
KoalitionspartnerInnen Rücksicht nehmen zu müssen.

Das jedenfalls erwartet nun nicht nur die Mehrheit der
ukrainischen BürgerInnen. Auch die FreundInnen und FörderInnen der
„unabhängigen“ Ukraine im Westen hoffen, wenn auch mit einiger Skepsis, auf
einen „Neustart“. Neben allen Vorbehalten gegenüber Selenskyj und seiner
Fähigkeit zum Wandel steht nach übereinstimmendem Dafürhalten westlicher
KommentatorInnen zumindest eine Siegerin schon fest: die Demokratie. Dass der
Amtswechsel „friedlich“, ohne Massenschlägerei in der Rada über die Bühne
gegangen ist, gilt schon als Erfolg.

Die Wahl

Auf jeden Fall ist dem öffentlichen Vernehmen nach der erste
wichtige Schritt in die richtige Richtung getan. Selenskyj konnte mit seiner
neuen Partei 43,16 % der Stimmen und somit 124 Mandate erringen. Zudem
gewann Sluha Narodu 130 Direktwahlkreise und erhielt so insgesamt 254 von 424
Sitzen in der neuen Rada. Da fast 20 % der abgegebenen Stimmen auf
Kleinparteien fielen, die an der Fünfprozent-Hürde scheiterten, reichten die 43 %
für eine satte absolute Mehrheit aus.

Mit weitem Abstand zweitstärkste Partei wurde die von
Russland unterstützte „Oppositionsplattform“ um den ehemaligen
Stellvertretenden Ministerpräsiden Jurij Bojko und den ehemaligen Leiter der
Präsidialadministration unter Leonid Kutschma, Wiktor Medwedtschuk. Sie errang
13,1 % der Stimmen und 43 Sitze in der neuen Obersten Rada. In den
offiziellen Wahlergebnissen sind auch die Regionen Donezk und Luhansk (Lugansk)
aufgeführt. Hier wird jeweils die „Oppositionsplattform“ als Wahlsiegerin
aufgeführt, mit 43,4 % in Donezk und 49,8 % in Luhansk. Allerdings wurden
diese Ergebnisse nicht in das offizielle Ergebnis übernommen und Abgeordnete
aus diesen Regionen sind nicht in der Rada vertreten.

Den dritten Platz mit 8,2 % (plus 2,5 % = 300.000
Stimmen) und 26 Sitzen belegte die frühere Ministerpräsidentin und jetzige
„Gasprinzessin“ Julija Tymoschenko (Julia Timoschenko) mit ihrer
Vaterlandspartei, dicht gefolgt mit 8,1 % (minus 13,7 % = 2,3 Mil.
Stimmen) und 25 Sitzen von der Partei Europäischer Solidarität von Ex-Präsident
Poroschenko. Überraschend schaffte es auch die neue Holos-Partei (Deutsch:
Stimme) des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk mit 5,8 % und 20
Abgeordneten in die neue Rada.

Bemerkenswert ist, dass die „Vereinigung aller
nationalistischer und neofaschistischer Parteien“ wie Swoboda (Deutsch: Freiheit)
nur 4,3 % der Stimmen errang und an der Fünfprozent-Hürde scheiterte. Die
Stimmenzahl dieser Kräfte sank von 1,1 Mil. auf 315.560.

Die Wahlbeteiligung lag bei nur 49,1 % und damit noch 3 %
unter jener der letzten Wahl im Oktober 2014, was auf eine tiefe
Demoralisierung großer Wählerschichten deutet.

Selenskyjs Programm

Neben der Bekämpfung der vielzitierten Korruption musste
Selenskyj an erster Stelle eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation
versprechen. Sein Programm dazu ist allerdings eher stichwortartig und nebulös.
Von einer „Neuen Wirtschaftsstrategie“, von der „Demonopolisierung der
Schlüsselindustrien“, Entbürokratisierung, weiteren Privatisierungen,
Vereinfachung des Steuersystems, Förderung von Forschung und Wissenschaft ist
die Rede. (Siehe: https://sluga-narodu.com/program)

Kann man sich eine „Demonopolisierung von
Schlüsselindustrien“ ohne Enteignung der Oligarchie vorstellen? Wer soll das
beschließen und durchsetzen? Weitere „Privatisierungen“, die der Westen
einfordert, werden neben den OligarchInnen, die man ja gerade nicht weiter
stärken will, nur finanzstarke ausländische KapitalgeberInnen finanzieren
können. Fördert das die nationale Wirtschaftsbasis? Die Kosten für Forschung
und Wissenschaft als Grundlage einer konkurrenzfähigen Industrie werden heute auf
100 Milliarden Euro geschätzt – für moderne Universitäten und Institute,
IngenieurInnen, Ausstattung und akademisches Personal. Doch woher will die
Ukraine die Ressourcen nehmen, wenn gleichzeitig die bestehenden
Eigentumsverhältnisse und die Wirtschaftsordnung unangetastet bleiben?

Permanente Krise seit 2014 – als Ergebnis des westlichen
Zugriffs

Seit dem Zugriff des Westens auf die Ukraine im Zusammenhang
mit der rechten Majdan-Bewegung 2013/2014 und der putschartigen Regierungsübernahme
durch den „Schokoladenoligarchen“ Poroschenko und dem damit vollzogenen
politischen und ökonomischen Bruch mit Russland ging es wirtschaftlich steil
bergab. Das Land wurde faktisch gespalten. Der seit 2014 andauernde Bürgerkrieg
im Donbas (Russsisch: Donbass; Deutsch: Donezbecken)  hat nicht nur tausenden UkrainerInnen auf beiden Seiten das
Leben gekostet, sondern die Wirtschaft noch weiter zerstört. Lag 2013 das Bruttoinlandsprodukt
(BIP) pro Kopf bei ca. 4.000 US-Dollar, so ist es bis 2018 auf 2.960 US-Dollar
gesunken. Damit befindet sich das Land auf dem Niveau von Laos, den Philippinen
und Ägypten. In Europa weist nur die Republik Moldau (Moldawien) ein geringeres
BIP pro Kopf auf.

Die Hinwendung zu EU und USA hat bisher kaum Früchte
getragen. Im Gegenteil, die Folgen sind fatal: Über 3 Millionen Menschen haben
die Ukraine dauerhaft verlassen und ca. 9 Millionen arbeiten zumindest zeitweise
im Ausland, davon 1,5 Millionen im benachbarten Polen. Die
Auslandsinvestitionen lagen 2018 bei bescheidenen 800 Millionen US-Dollar. Das
bisherige Einbindungsprogramm in die EU ist vollkommen gescheitert. Das muss
auch die EU-Kommission eingestehen. Deshalb pflegt sie inzwischen diplomatische
Redewendungen in der Art, dass die „Reformen nachhaltiger und glaubwürdiger“
gestaltet werden müssten.

Die Auslandschulden betragen ca. 130 Milliarden US-Dollar,
nicht eingerechnet die unzähligen Milliarden an Sonderkrediten für die
Modernisierung der ukrainischen Armee, um die Aufrechterhaltung der Front im
Osten gegen die russlandfreundlichen Milizen der Regionen Donezk und Luhansk
(Donbas) zu gewährleisten. Die Militärförderung bildet zugleich die Grundlage
für eine strategische Etappe im Aufbau einer weiteren NATO-Basis gegen Russland
und China.

De facto ist die Ukraine bankrott und zahlungsunfähig. Ihre
Zahlungsfähigkeit wird nur mit weiteren Krediten der westlichen Regierungen aus
politischen Gründen aufrechterhalten. Damit steckt sie zugleich fest in der
Schuldenfalle, dem Würgegriff westlicher Staaten und des internationalen
Finanzkapitals.

Dieser Würgegriff bestimmt im Wesentlichen den Handlungsrahmen
von Präsident Selenskyj für sein Modernisierungsprogramm von Wirtschaft und
Gesellschaft, verbunden mit den bekannten „Sparprogrammen“ bei Renten, Löhnen,
Gesundheitswesen und anderem „Sozial-Klimbim“ auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung.
Auch wenn Selenskyj in seinem Wahlprogramm höhere Renten und den Ausbau des
Gesundheitswesens versprochen hat, wird er kaum die Mittel gegen den Widerstand
der westlichen GläubigerInnen aufbringen können.

Außerdem befinden sich die faschistischen und
halb-faschistischen Kräfte trotz Wahlschlappe weiter in Lauerstellung.
Rassistische Angriffe, Morde und Übergriffe sind weit verbreitet. Als 2018
Nazi-Banden ein Roma-Lager überfielen und mehrere Männer, Frauen und Kinder
totschlugen, war das den hiesigen Medien nur eine Randnotiz auf den hinteren
Seiten wert. Westliche JournalistInnen gaben sich auffallend große Mühe, diese Folgen
westlicher Politik zu ignorieren.

Am 18. Juni absolvierte Selenskyj seinen Antrittsbesuch als
neuer ukrainischer Präsident in Berlin. Brav gab er gegenüber Kanzlerin Merkel
sein Treuebekenntnis zu Marktwirtschaft, EU und NATO ab und forderte schärfere
Sanktionen gegenüber Russland. Anschließend teilte ihm der Vorsitzende des Ost-Ausschusses
der deutschen Wirtschaft, Wolfgang Büchele, mit, was in der Ukraine zu
geschehen habe: „Wichtig ist aus Sicht von Investoren besonders ein
durchsetzungsfähiges unabhängiges Justizsystem.“ Und „ein verlässlicher
Rechtsrahmen und eine Gleichbehandlung von in- und ausländischen Investoren ist
die Grundlage für eine vertiefte Zusammenarbeit.“

Damit sind die Eckpunkte des Programms von Selenskyj
weitgehend abgesteckt. Es hat die Infrastruktur für westliche Investitionen
deutlich zu verbessern. Wenn Selenskyj seinen Auftrag erledigen und
Investitionen erfolgen sollten, steht der Platz der Ukraine in der
internationalen Arbeitsteilung schon fest: als weiteres halbkoloniales Billiglohnland
in der Kette der verlängerten Werkbänke der deutschen/EU-Industrien in der
Einflussregion in (Süd-)Osteuropa. Das alleine ist die kapitalistische
Perspektive für die Ukraine.

Bedenken hegt die deutsche bürgerliche Öffentlichkeit auch,
ob die Mehrheiten in der Rada für die notwendigen Gesetzes- und
Verfassungsänderungen zur Durchsetzung der Reformen überhaupt zustande kommen,
zumal für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittel-Mehrheit notwendig ist.
Auch an der Haltung zu seinem Haus-Oligarchen Kolomojskyj (Kolomoiski) aus Dnipro
(Dnepropetrowsk) will SPIEGEL online „Selenskyi mit seinen Reformversprechen“
testen.

Ebenfalls sickern schon Gerüchte durch, dass sich die nun
überflüssigen Abgeordneten der abgewählten Parteien längst in der neuen Partei
Sluha Narodu eingenistet haben und ihre Saläre weiterhin von diversen
OligarchInnen beziehen (DLR, 22.7.2019). Das alte System ist zäh und widerborstig
und ist nicht gewillt sich einfach abwählen zu lassen, solange die Interessen,
die es tragen, noch lebendig sind.

In Russland hat die Wahl in der Ukraine eine große
Aufmerksamkeit erfahren. Am Wahltag berichtete das russische Staatsfernsehen
den ganzen Tag live. Die staatstragenden KommentatorInnen gaben das Interesse
des russischen Staates vor: Russland ist zu Gesprächen mit Selenskyj bereit.
Außer über die Krim, deren Eingliederung von zentraler strategischer Bedeutung
für Russland ist, könne über alle Themen gesprochen werden. Vorstellbar ist,
dass der Krieg im Donbas beendet werden kann, wenn der Westen die Sanktionen
gegen Russland aufhebt.

Perspektive – Kampf für die Interessen der ArbeiterInnenklasse

Auch die ukrainische ArbeiterInnenklasse wird bald ihre
Illusionen in den Westen ganz praktisch verlieren. Besonders die führenden
Länder des westlichen Imperialismus können ihre eigenen Profitraten nur noch
aufrechterhalten, wenn sie weiter und weiter halb-koloniale Länder und Regionen
in ihre Produktionsketten einbinden. Der einzige Maßstab dabei ist: billiger
produzieren.

Selbst wenn die Investitionen in die Ukraine doch noch
kommen sollten, so zeigt ein Blick nach Bulgarien und Rumänien, welche Zukunft
damit verbunden wäre. All die versprochenen Reformen und der Kampf gegen die
Korruption, die als westliche Rezepturen gepriesen und eingefordert und den Menschen
als Heilmittel für ihre jämmerliche Existenz gepredigt werden, drücken nur die
Interessen des internationalen Kapitals und der ukrainischen Eliten aus. Es
geht alleine um die Optimierung der Ausbeutung dieser Länder für die
imperialistischen Mächte und eine korrupte nationale politische und ökonomische
Elite sowie um deren geostrategische Einbindung im Kampf um die Neuaufteilung
der Welt.

Dagegen muss sich heute die ArbeiterInnenklasse vorbereiten
und rüsten durch den gemeinsamen Kampf gegen die Kürzung der Löhne und Renten,
gegen Einsparungen im Gesundheitswesen, gegen Erhöhung der Energiekosten und
Mieten, für die Verstaatlichung von Monopolen, Banken, die Energiewirtschaft
unter ArbeiterInnenkontrolle, gegen jegliche Privatisierungen, gegen Aufrüstung,
mittels Selbstverteidigung gegen faschistische Angriffe.

Einen entscheidenden Punkt stellt dabei der Kampf gegen die
weitere Kriegsmobilisierung gegen den Osten der Ukraine dar – wie umgekehrt
gegen die Dominanz des russischen Imperialismus im Donbas. Dieser erfordert
freilich den Bruch mit allen bürgerlichen Kräften – nicht nur mit Selenskyj und
den pro-westlichen Parteien, sondern auch mit der pro-russischen „Opposition“.
Nur auf dieser Basis es möglich, eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei in der Ukraine
aufzubauen und die politische Krise der Klasse zu überwinden.




Ukraine nach den Präsidentschaftswahlen: Land vor dem Abgrund

Paul Neumann, Neue Internationale 237, Mai 2019

Präsident Poroschenko hat
auch die Stichwahl am 22. April 2019 haushoch verloren. Es erging ihm wie allen
„HoffnungsträgerInnen“ des Westens vor ihm seit der Unabhängigkeit 1991. Mit
fast 74 % der Stimmen siegte Wolodymyr Selenskyj, der „Comedian“, der in einer
TV-Serie den wackeren Präsidenten im Kampf gegen die um sich greifende
Korruption im Lande spielt. Das Wahlergebnis spiegelt vor allem die
Enttäuschung aller Schichten der ukrainischen Gesellschaft über die
wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung im Land wider.

Poroschenkos Niedergang

Die Wahl Poroschenkos 2014
war die Folge des Putsches vom 22. Februar 2014 unter Führung der ultrarechten
Maidan-Bewegung, gestützt von den USA und der EU, gegen den damaligen
Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch. Dieser hatte sich geweigert, ein bereits
ausgehandeltes Kooperationsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Getragen
wurde die anschließende Wahl Poroschenkos von der nationalistischen Euphorie
der Maidan-Bewegung, die eine rosige Perspektive für die Ukraine im Bündnis mit
den USA und der EU versprach.

Davon sind heute nur die
versteinerte Spaltung des Landes und ein perspektivloser Krieg im Osten der
Ukraine übrig geblieben. Poroschenko war nicht in der Lage, auch nur eines der
Probleme zu lösen, die durch die nationalistische Maidan-Bewegung und den
umfassenden Zugriff des Westens auf das Land erst geschaffen oder verschärft
wurden. Weder konnte er die Spaltung des Landes überwinden noch eine neue
ökonomische Perspektive für die Ukraine schaffen. Im Gegenteil, das Land sitzt
heute fest im Würgegriff der Staatsverschuldung von westlichen Staaten und IWF,
die der Ukraine den Stellvertreterkrieg gegen Russland auf Kredit finanzieren
und als GläubigerInnen die Bedingungen diktieren.

Ökonomischer Niedergang

Die Illusionen in den
Westen, der wirtschaftliche Prosperität und eine „anständige“ Demokratie
versprach, sind ersatzlos geplatzt. Das BIP von 2017 (112,5 Mrd. USD) liegt
deutlich unter dem von 2014 (133,5 Mrd. USD). Trotz der Umstellung
industrieller Normen weg vom russischen zum europäischen System sind
Investitionen weitgehend ausgeblieben, während ökonomische Verbindungen zum
russischen Markt politisch zerstört wurden, mit einer Ausnahme: Die Einnahmen
durch die russischen Öl- und Gas-Pipelines durch die Ukraine nach Westeuropa
bilden nach wie vor den größten Posten im Staatshaushalt. Aber auch diese
werden mit der Fertigstellung der neuen Pipeline „Nord Stream 2“ weitgehend wegbrechen.

Westliche InvestorInnen und
BankerInnen haben das Land zwar nach dem Maidan besucht und auf lohnende
Investitionen begutachtet, sind aber meist wieder unverrichteter Dinge
abgefahren, weil lohnende Geschäfte in einem günstigen Investitionsklima kaum
gefunden wurden. Mit Ausnahme der fruchtbaren „schwarzen Böden“ in der Ukraine,
die schon auf der Liste der Kriegsziele des Deutschen Kaiserreiches standen,
die sich US- und EU-Agrarkonzerne nun ganz „friedlich“ mit der Macht ihrer
Kapitale „angeeignet“ haben, wurde wenig Profitables gefunden. Diese „schwarzen
Böden“ ernähren heute nicht mehr die Menschen in der Ukraine, sondern
produzieren für den Weltmarkt. Ökonomisch betrachtet, hat es die Ukraine nicht
einmal in den Status einer verlängerten Werkbank der deutschen Exportindustrie
geschafft, wie Polen oder Ungarn. Auch die mit der Westausrichtung versprochene
EU-Mitgliedschaft rückte in weite Ferne.

Wofür steht Selenskyj?

Wolodymyr Selenskyj
repräsentiert trotz seines überwältigenden Wahlergebnisses von 74 % vor
allem  sich selbst. Er hat bisher
kein Programm vorgelegt, mit dem er den ausgemachten Übeln der ukrainischen
Gesellschaft zu Leibe rücken will. Und auch kein/e WählerIn hat ein solches
Programm im Wahlkampf von ihm eingefordert. Die Illusionen der Menschen sind
auf Selenskyj projiziert worden – sei es als Akt der Resignation oder der
Abrechnung mit Poroschenko. Selenskyjs größter Pluspunkt ist, dass er nicht zur
alten korrupten Polit-Elite der Ukraine gehört. Auf der letzten großen
Wahlveranstaltung am 19. April im Kiewer Olympiastadion, im Duell mit
Poroschenko, hat er lediglich von sich gegeben, dass er die Westbindung
beabsichtigt aufrechtzuerhalten, kriminelle OligarchInnen hinter Gittern und
die korrupte Oberstaatsanwaltschaft sowie die Führungen von Polizei und Militär
auswechseln will. Weiter will er mit Putin über die Beendigung des Krieges im
Osten und die Krim sprechen und über alle großen Fragen beabsichtigt er,
Volksabstimmungen durchzuführen. Das scheint sein ganzes Programm zu sein.

Tatsächlich verfügt er
nicht einmal über eine politische Basis in der Rada, dem ukrainischen
Parlament, weil seine Partei „Sluga Naroda“ (Diener des Volkes) erst vor einem
Jahr gegründet wurde. Auch hier fragt es sich, auf welcher politischen und
sozialen Basis hat sich diese konstituiert? Welche Klasseninteressen drückt sie
aus? Wird sie nicht in der ersten ernsthaften politischen Auseinandersetzung
genauso schnell zerbrechen, wie sie sich gegen Poroschenko gefunden hat? Selbst
wenn Selenskyj die nationalen Wahlen vom Herbst 2019 vorziehen und er mit einer
Mehrheit seiner Abgeordneten in der Rada sitzen sollte, was sogar möglich
erscheint, sind seine parlamentarischen Möglichkeiten sehr begrenzt – wie die
seines Vorgängers Poroschenko. Er bleibt ein Gefangener des ukrainischen
Politsystems und der Abhängigkeit von den imperialistischen Mächten. Den
„OligarchInnen-Kapitalismus“ wird er kaum mit 2/3-Mehrheit und Volksabstimmung
beseitigen können.

Selenskyj präsentierte sich
als wackerer bürgerlicher Demokrat, mit ein bisschen Mut zu lästern über „die
da oben“, aber ohne Vorstellung von einer besseren Welt und die Mittel, diese
zu erreichen. Sein Kniefall bei der ukrainischen Nationalhymne in Kiewer
Olympiastation lässt eher vermuten, dass sein Herz auch für die nationale Sache
schlägt. Als Medienunternehmer und Filmproduzent gehört er zudem auch zur
nationalen Elite und ist eng mit dem Oligarchen Kolomojskyj verbunden, dem  unter Poroschenko die Kontrolle des Öl-
und Gaskonzerns Ukrnafta entzogen wurde. Er blieb jedoch Eigentümer eines
Medienimperiums, darunter auch des Kanals „1plus1“, das Selenskyjs „Diener des
Volkes“, namensgebende Show für dessen Partei, ausstrahlte.

Der Hauptvorwurf gegen
Poroschenko wie schon gegen seine Vorgänger lautet, er habe die Korruption
nicht in den Griff bekommen oder, noch schlimmer, sie nicht ernsthaft bekämpfen
wollen oder sei ihr selbst verfallen. Alle vorstellbaren Facetten der
Korruption beherrschen seit Jahren die Diskussion in und über die Ukraine.
Während US-Präsident Trump das Land eher als ein Nebenthema behandelt, hat sein
Vorgänger Obama es über seinen Vize Biden sehr intensiv betreuen lassen und in
dutzenden Vorsprachen bei Poroschenko ein konsequenteres Durchgreifen gegen
Korruption und besonders die Unabhängigkeit der Justiz eingefordert –
allerdings ohne nachhaltiges Resultat. Das wirft die Frage nach den sozialen
Ursachen der Korruption auf.

OligarchInnen-Demokratie…

Die Korruption ist im
Allgemeinen eine unvermeidliche Erscheinungsform der kapitalistischen Konkurrenz.
Doch in der Ukraine und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat sie eine
weitere soziale Wurzel und eine andere Qualität. Sie entspringt den besonderen
ökonomischen und sozialen Bedingungen der Entstehung und Entwicklung dieser
Staaten hin zum Kapitalismus. Die Umwandlung von Industrie, Handel und
Landwirtschaft in eine kapitalistische Produktionsweise bedeutete in erster
Linie die Aufhebung des staatlichen Gemeineigentums durch umfassende
Privatisierung. Die Wirtschaft dieser Länder bestand durchweg aus
Großbetrieben, Kombinaten und LPGen/Kolchosen und wurde an FunktionärInnen des
alten Staats-, Partei- und Wirtschaftsapparates für einen Appel und ein Ei
verscherbelt.

So entstand eine kleine
Schicht von Superreichen, die sog. OligarchInnen. Sie verfügten damit über viel
Privatbesitz und Geld, aber noch nicht über Kapital und keine konkurrenzfähige
Maschinerie, um produktiv auf dem Weltmarkt mithalten zu können. Sie waren in
diesem Sinne noch keine KapitalistInnen, die ihr Geld produktiv einsetzten konnten
zum Zwecke seiner Vermehrung. Mit der Privatisierung der ehemals
verstaatlichten Produktionsmittel an eine kleine Schicht von „OligarchInnen“,
der sich nur langsam entwickelnden Verwertung des Geldes zu Kapital, entstanden
auch keine in sich abgestufte Kapitalisten- und erst recht keine breiteren
ökonomisch verankerten Mittelkassen.

Monopole entstanden nicht
aus der Konkurrenz und der Kapitalakkumulation über eine längere Periode,
sondern aus der parasitären Aneignung und Plünderung des ehemaligen Staatseigentums.

Damit fehlte die
gesellschaftliche Basis für eine bürgerliche Demokratie im westlichen Sinn, mit
Gewaltenteilung und Rechtsstaat und dem anderen Zubehör, auf das ihre
FreundInnen im Westen so stolz sind. Die Aufgabe des Staates ist es, diese
Gesellschaftsverhältnisse mit seinen Machtmitteln (Recht, Justiz, Polizei,
Militär) zu sichern und die Konkurrenz der verschiedenen konkurrierenden
Kapitalfraktionen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung zu regeln. In der
Ukraine – und in anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – wurde der Staat
faktisch zum Privatbesitz der OligarchInnen, die ihrerseits zwischen den
imperialistischen Blöcken (USA, Russland, EU) lavieren mussten. Die Parlamente
waren und sind hohle, inhaltsleere Gebilde und wurden zur leichten Beute der
einzigen wirklichen HerrInnen in diesen Ländern, der OligarchInnen. Sie kauften
im wahrsten Sinne des Wortes die demokratische Hülle für ihre Interessen mit
Haut und Haaren.

Diese innere Struktur, vor
allem aber der geo-strategische Kampf um die Ukraine, die de facto Spaltung des
Landes bilden die Ursache dafür, dass die Investitionen aus dem Westen
ausblieben – und wohl auch ausbleiben werden.

Autoritarismus

Zugleich bilden sie die
Grundlage dafür, dass solche Länder immer zu autoritären und bonapartistischen
Herrschaftsformen drängen. Nach dem blutigen Putsch des Maidan, Jahren des
Niedergangs haben sich freilich alle „respektablen“ Kräfte des Landes politisch
so weit erschöpft, dass ein „Comedian“ anstelle des Oligarchen trat.

Die ArbeiterInnenklasse
wurde nach dem reaktionären Sieg des Maidan praktisch als politische und
gewerkschaftliche Bewegung gebrochen, die Linke marginalisiert, verfolgt und zu
einem beträchtlichen Teil aus dem Land vertrieben.

Die bürgerlichen und
kleinbürgerlichen – bis hin zu faschistischen und halbfaschistischen – Parteien
entpuppten sich wieder einmal als Anhängsel konkurrierender
OligarchInnen-Fraktionen. Hinzu kommt, dass Rechtsextremismus und
Ultra-Nationalismus selbst vor dem Problem standen, ihre nationalistischen
Versprechungen – die Rückeroberung des Donbass oder gar der Krim – nicht
einlösen zu können. Die Kriegstreiberei entpuppte sich für viele als
Selbstmordkommando. So bleibt nur der Ruf nach NATO-Schutz und westlicher
Wirtschaftshilfe, nach Aufrüstung und Investitionen – letztlich nach stärkerer
Abhängigkeit – einerseits und nach einer „Verhandlungslösung“ mit Putin
andererseits.

Sicher ist heute nur, dass
auch Selenskyj ein Gefangener des OligarchInnen-Systems sein wird – selbst wenn
er versuchen mag, sich einen gewissen Schein von Unabhängigkeit zu geben, und
mit mehr oder minder kosmetischen Maßnahmen gegen die Korruption vorgehen mag.
Wie oft in dieser Lage verspricht auch er eine „ExpertInnenregierung“, die
unabhängig von den verschiedenen Kapitalfraktionen sein soll. Die deutsche
Bundesregierung, die Adenauerstiftung der CDU, die EU und auch die USA werden
sicher bereit sein, solche „ExpertInnen“ zu „beraten“ – in ihrem Interesse,
versteht sich. Zu einer Lösung der grundlegenden Probleme der Ukraine wird
freilich auch Selenskyj angesichts des Kampfes um Einflusssphären zwischen den
Großmächten nicht in der Lage sein.

Ausweg

Die Ironie der Situation
besteht darin, dass der einzige Ausweg für die Ukraine darin läge, das gesamte
OligarchInnen-System zu zerschlagen, die privatisierten Unternehmen unter
ArbeiterInnenkontrolle zu enteignen, die Schulden zu streichen und die
Wirtschaft gemäß eines demokratischen Plans zu reorganisieren. Dies würde
jedoch nicht nur den Bruch mit der Oligarchie, sondern auch mit der
Marktwirtschaft und die Unabhängigkeit von allen imperialistischen Mächten
erfordern.

Dazu ist jedoch nur eine
gesellschaftliche Kraft in der Lage: die ArbeiterInnenklasse. Der Kampf gegen
das zunehmende Elend durch kapitalistische Krise, OligarchInnen-Willkür und
IWF-Spardiktate, zur Verteidigung ihrer Lebensgrundlage, für demokratische
Rechte, die Beendigung des Kriegs (einschließlich der Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechtes für Krim und Donbass) kann, ja muss den Ausgangspunkt
für den Wiederaufbau der ArbeiterInnenbewegung, von Gewerkschaften und einer
revolutionären ArbeiterInnenpartei in der Ukraine bilden.




Die Ukraine und RIOs Unverständnis revolutionärer Politik

Franz Ickstatt, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Nicht dass alle schriftlichen Ergüsse linker Gruppierungen über die Lage in der Ukraine von hoher Bedeutung wären. Die große Schande des Großteils der deutschen, ja der weltweiten Linken bleibt die faktische politische Unterordnung unter den westlichen Imperialismus, vorzugsweise ihren „eigenen“. Ergänzt wird dies durch die neutralistische Position eines weiteren großen Teils der Linken, dessen Passivität letztlich auch den Imperialisten dient.

Zu solchen Neutralisten gehört zum Beispiel die MLPD, die u.a. den „Abzug aller fremden Panzer“ fordert, was nur als Entwaffnung des legitimen Widerstandes im Osten gegen den Krieg der Kiewer Regierung interpretiert werden kann. Auch sonst verweigert die MLPD die Solidarität mit der Bewegung in der Ostukraine, ruft aber zu Solidarität mit „den Linken“ in der Ukraine auf. Konkret meint sie damit die KSDR, ein Mitglied ihrer internationalen Strömung ICOR. Unter AktivistInnen aus dem Land ist diese Gruppe allerdings völlig unbekannt, dem Rest der Welt sowieso. Sie führt ein politisches Leben nur auf den Seiten der MLPD und des ICOR. Es gibt von dieser Gruppe keinerlei Veröffentlichungen, lediglich ein einziges Interview in der Roten Fahne. Die Solidarität der MLPD beläuft sich in der Praxis darauf, ihr eigenes potemkinsches Dörfchen in der Ukraine zu basteln.

Which side are you on?

Würde die MLPD in der Praxis auf der richtigen Seite stehen – wie es die DKP tut, trotz falscher Begründung (1) – könnte dies zumindest in Deutschland zu einer erheblich besseren Mobilisierung gegen die Politik des deutschen Imperialismus beitragen. So bleibt der Hauptfeind im eigenen Land von der MLPD in dieser Frage unbehelligt.

Gleiches gilt auch für RIO. Diese Gruppe könnte zwar zahlenmäßig deutlich weniger zu einer Mobilisierung beitragen als die MLPD, aber sie hat zum Thema mehr – wenn auch mehr in sich Widersprüchliches – verfasst. Im Aufruf der internationalen Strömung der MLPD, der ICOR, wird der Konflikt in der Ukraine als „Stellvertreterkrieg“ bezeichnet, werden die gegenläufigen Interessen der russischen und westlichen Imperialisten benannt und wird dann zur Ostukraine selbst nur gesagt: „Wenn auch die NATO der Hauptaggressor ist, heißt das nicht, dass sich revolutionäre Organisationen auf die Seite des russischen Imperialismus stellen oder die Gebiete Donezk und Lugansk als ‚befreite Gebiete‘ ansehen können. Es ist sehr auffällig, wie nicht nur Kiew, sondern auch Putin mit Faschisten zusammenarbeitet.“ (2) Dürftiger geht’s wohl nicht mehr.

Anders RIO. Im Gegensatz zu ihrer internationalen Strömung „Trotzkistische Fraktion“, die auf ihrer Web-Seite zuletzt im September 2014 eine Stellungnahme veröffentlichte (3), präsentierte RIO in ihrem Blatt „Klasse gegen Klasse“ Nr. 9 nicht nur eine Analyse der Lage in der Ukraine (Stand September 2014) (4), sondern auch eine Auseinandersetzung mit anderen Linken unter dem Titel „Debatte: Muss man das „kleinere Übel“ unterstützen?“ (5). Dem ging ein erster Artikel im August 2014 voraus (6). Jetzt folgte eine Polemik „Verwirrung und Verzweiflung“ (7), der sich auch mit Positionen anderer linker Gruppen, vor allem aber unserer Stellungnahme sowie der von Borotba befasst.

Aber auch schon in „Debatte: Muss man das „kleinere Übel“ unterstützen?“ ging das Feuer in diese Richtung. Gehen wir über die völlig frei erfundene Behauptung des Autoren Wladek Flakin hinweg, dass die kritisierten Organisationen – seien es diejenigen, die die Maidan-Bewegung, oder jene, die die Bewegung im Osten unterstützen – dies mit der Begründung des „kleineren Übels“ täten. Das tun sie definitiv nicht. Stellen wir der unzureichende Kritik an den Maidan-Unterstützern wohlwollend die Bewertung „stets bemüht“ aus und widmen uns dann dem Teil, der sich mit den von ihm so bezeichneten „AntifaschistInnen“ auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung ist mehr als doppelt so lang wie die andere mit den Maidan-„DemokratInnen“ und offensichtlich der Hauptzweck des Artikels.

Während hier komplett das (ex-)stalinistische/reformistische Lager, z.B. die DKP, unerwähnt und somit unkritisiert bleibt, schreibt Flakin einiges über Borotba, die er einmal als „stalinistisch“ bezeichnet und dann der Vertretung „nationalistischer Positionen“ beschuldigt. Belegen kann er weder das eine noch das andere. Dann folgt eine Auseinandersetzung mit der Jalta-Konferenz, die Anfang Juli 2014 auf der Krim stattgefunden hat. Sie wurde organisiert von einem gewissen Anpilogow, der als russischer Nationalist bezeichnet wird. Er soll dann auch einen Monat später eine Konferenz mit verschiedenen Nationalisten und gar Faschisten aus Europa organisiert haben. Damit habe er „Linke und Rechtsextreme für die gleiche Front mobilisiert“.

Unserem Genossen Brenner, der an der Konferenz in Jalta teilgenommen hatte, wird dabei „eine defensive Verteidigung seiner Position“ und der „Zusammenarbeit mit rechtsextremen ‚AntifaschistInnen’“ nachgesagt. In der Fußnote distanziert sich Flakin zwar von der „sozialimperialistischen AWL“, die diese „Fakten zusammengetragen habe“, aber sie seien „schwer zu widerlegen“. Das ist dann der Fall, wenn man politische Analyse durch eine linke Version der Klatschspalten der Regenbogenpresse ersetzt: Wer hat mit wem getanzt, getrunken oder gar geknutscht?

Revolutionäre MarxistInnen unterscheiden sich aber von OpportunistInnen aller Art auch und vor allem in ihrer Methode.

Wer mit wem oder wer für was?

Unserem Genossen eine „Zusammenarbeit mit Rechtsextremen“ zu unterstellen, ist eine schlichte Lüge der AWL (Alliance for Workers‘ Liberty; britische rechtszentristische Organisation). Der Besuch einer Konferenz ist noch lange keine Zusammenarbeit, schon gar nicht, wenn diese nicht mal anwesend sind. Auch wenn Anpilogow selbst ein Rechtsextremer wäre, wäre er einer der sehr seltenen Rechtsextremen, die für Linke Konferenzen organisieren. Hinzu kommt, dass Anpilogow zwar bei der Konferenz anwesend war, die maßgebliche Person bei der Organisierung jedoch Boris Kagarlitzki war, ein international bekannter russischer Linker.

Aber mal unterstellt, es wäre bekannt gewesen, dass Anpilogow nach der Konferenz der Linken eine ebensolche der Rechten organisieren würde, dann stellt sich die Frage doch so: „Dürfen Linke auf Konferenzen gehen, die von dubiosen, möglicherweise nationalistischen Personen oder Organisationen organisiert werden?“

In der gleichen Ausgabe ihrer Zeitung berichten andere GenossInnen von RIO von ihrem Besuch auf der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ver.di organisierten Konferenz „Erneuerung durch Streik“ in Hannover und erklären, dass dies „eine gute Gelegenheit zur Vernetzung“ gewesen sei, „die es sonst selten gibt“ (8). Unabhängig von und im Widerspruch zu ihrem schönen Namen organisiert diese Stiftung aber auch Veranstaltungen mit übelsten Zionisten und anderen Nationalisten und Rassisten sowie UnterstützerInnen des deutschen und US-Imperialismus, was RIO vermutlich genauso sieht wie wir.

Die Frage, ob eine Teilnahme an einer Konferenz sinnvoll und legitim ist, beantwortet hier RIO aber offensichtlich ganz anders. Die Tatsache, dass einer der Hauptredner in Hannover das IG Metall-Vorstandsmitglied Urban war, der als Mitglied der Linken die entsprechende Rhetorik beherrscht, der in der Praxis aber die ganze rechte korporatistische Standort-Deutschland-Politik dieser Gewerkschaft einschließlich der Unterstützung für den Angriff auf das Streikrecht durch die Bundesregierung mitträgt, ist den RIO-GenossInnen keine Erwähnung wert – was schade ist – und kein Grund für sie, nicht nach Hannover zu gehen -was korrekt ist.

Zu Recht kritisiert RIO übrigens, dass in Hannover die Verabschiedung einer Resolution zur Flüchtlingsfrage verhindert worden ist. Es gab nur eine zur Verteidigung des Streikrechts. Auf der Jalta-Konferenz, der bis dahin einzigen „Gelegenheit zur Vernetzung“ der Linken, die die Bewegung im Osten unterstützen, gab es anders als in Hannover eine gemeinsame Schlusserklärung. Diese würden wir als Mischung von reformistischen und linkspopulistischen Ideen charakterisieren. Mit anderen Worten, diese Erklärung und damit die Konferenz hat mit den Positionen der Rechtsextremen, die sich ein paar Wochen später in Jalta versammelten, politisch aber auch gar nichts gemeinsam! Und das ist auch noch für jedeN überprüfbar – im Unterschied zu Konferenzen, die ohne Erklärung zu Ende gehen. Zweitens gibt eine Erklärung immer die Möglichkeit, inhaltliche Kritik zu üben und Gegenvorschläge zu formulieren – auch für Flakin oder die AWL. Es ist aber bemerkenswert, dass alle Kritiker der Konferenz von Jalta mit keinem Wort auf deren Hinhalt eingehen – obwohl der Text seit langem in verschiedenen Sprachen, darunter auch in deutscher Übersetzung vorliegt (9).

In den Texten wird einfach politische Analyse und Kritik durch Kolportage ersetzt, um so davon abzulenken, dass RIO die Verteidigung des Donbas gegen die Angriffe der ukranischen Armee und faschistischer Milizen neuerdings rundweg ablehnt. Diese Vermutung bestätigt sich mit dem Artikel, den Alexej Geworkian im Mai 2015 für RIO verfasste (10) und der sich erneut vor allem auf unsere Position sowie auf BOROTBA konzentriert. Wir werden zeigen, dass die Methoden RIOs weiterhin zentristisch sind und ihre Politik ebenfalls. RIOs Abkehr von revolutionärer Methodik und Programmatik läuft aber letztlich auf die Unterstützung der westlichen Imperialisten hinaus.

RIOs Zentrismus: Linksradikale Worte – passive Praxis

Die grundlegenden Fehler von RIO in der Ukrainefrage haben wir bereits in Auseinandersetzung mit ihrem Artikel vom August 2014 ausführlich analysiert.

„Waren die beiden Seiten zuerst noch ‚qualitativ‘ ungleich, sind wenige Zeilen später ‚beide Seiten gleichermaßen reaktionär.‘

Um die Verwirrung perfekt zu machen, heißt es gegen Ende des Artikels: ‚Vor dem Hintergrund der notwendigen Verteidigung gegen militärische Angriffe muss ein sozialistisches Programm entwickelt werden.‘  Das heißt aber für jeden klar denkenden Menschen nichts anderes, als dass sich die Arbeiterklasse auf einer Seite im Konflikt positionieren soll/muss – ansonsten ist ja die Verteidigung einer Seite gegen Angriffe vollkommen sinnfrei.

Die ganze Verwirrung kommt daher, dass RIO die Bewegung im Osten einmal als reaktionär definiert, weil die Führung eine Volksfront ist. An anderer Stelle sieht sich die Gruppe aber wieder genötigt anzuerkennen, dass ein Teil der Bewegung im Osten und auch die ‚Volksrepubliken‘ qualitativ verschieden von der Kiewer Seite wären.

Das Problem ist an sich leicht zu lösen. Als RevolutionärInnen unterscheiden wir auch in Donezk und Lugansk zwischen der sozialen Basis, den Zielen und Potenzen einer Bewegung und einer reaktionären Führung. Trotz des reaktionären Charakters der Spitzen der ‚Volksrepubliken‘ müssen RevolutionärInnen diese gegen die Angriffe der Reaktion verteidigen. Wir bekämpfen diese Führungen dabei immer auch politisch und treten für den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei ein – aber wir tun dies auf eine Art und Weise, die den Sieg gegen die Kiewer Reaktion herbeiführen soll. Und das heißt im Bürgerkrieg, um die Führung in der militärischen Verteidigung zu kämpfen.“ (11)

Die zentristische Methode führt RIO dabei zu folgenden Fehlern:

  • In der Analyse der Kräfte im Osten unterschätzt RIO völlig den Einfluss der ArbeiterInnenklasse und untersucht nicht das Verhältnis zwischen örtlichen Kräften und den Zielen Moskaus.
  • In der Frage, ob es sich in erster Linie um einen Bürgerkrieg oder um einen Krieg zwischen Russland und Moskau handelt, gibt es ständige Schwankungen; in der Tendenz neigt RIO aber zu letzterem.
  • Die mangelhafte Bestimmung der Bewegung der ArbeiterInnenklasse führt dazu, keine Taktiken für die Klasse vorzuschlagen, höchstens die radikal klingende, aber im Bürgerkrieg völlig untaugliche Forderung nach einem Generalstreik.
  • So endet RIO in Passivität und konzentriert ihre Angriffe auf die Kräfte, die politisch am effektivsten im Osten eingreifen bzw. diesen Kampf verteidigen, wie z.B. Borotba und die Liga für die Fünfte Internationale.

Wir werden diese Fehler im Einzelnen anhand der Aussagen RIOs analysieren und darstellen.

Der Unterschied zu RIO

Den Fehler, aus einer halb-richtigen Analyse die ganz falschen Schlüsse zu ziehen, setzte RIO in der Herbst-Nummer 2015 ihres Magazins fort. Die „Igitt, was für Leute!“-Geste, die aus Flakins Artikel strömt und der er entweder selbst unterliegt („schwer zu widerlegen“) oder mit der er hofft, andere in die Irre führen zu können, hat ihre Grundlage aber in einem Unverständnis revolutionärer Taktik, das neben RIO auch andere Zentristen teilen, ja es ist für sich genommen ebenfalls ein Kennzeichen dieses Schwankens zwischen Revolution und Reform.

RIO nimmt eine „neutrale“ Position im Ukraine-Konflikt ein und damit zugleich eine untätige. Sie erklärt den ArbeiterInnen, dass sie sich unabhängig organisieren müssten. Da sie dies aber – in den Augen RIOs – nicht tun, steht RIO weiterhin mit erhobenem Zeigefinger am Rande des Geschehens, zu dem sie selbst sagen: „Der BürgerInnenkrieg in der Ukraine ruft die größten geopolitischen Spannungen seit dem Ende des kalten Krieges hervor.“

Wir dagegen suchen nach den Punkten, wo die ArbeiterInnenklasse tätig wird. Wir suchen die Klassenfronten. RIO versucht schon das wegzureden, indem sie uns unterstellt, wir würden das „kleinere Übel“ (Flakin) oder die „fortschrittliche Seite“ (Geworkian) suchen.

Damit soll offenkundig Suggestion an die Stelle einer konkreten Einschätzung der konkreten Situation treten. Eine Niederlage des Widerstandes im Osten, der Volksrepubliken, würde trotz des reaktionären Charakters der Führungen einem Sieg des Regimes der Oligarchen gleichkommen. Er wäre ein entscheidender Schlag gegen die ArbeiterInnenklasse, gegen alle unterdrückten Schichten in der Ukraine. Wahrscheinlich würde er mit einer Pogromstimmung gegen die „Separatistenkämp-ferInnen“ einhergehen wie auch gegen die Kommunistische Partie und linke Organisationen wie Borotba. Die faschistischen und nationalistischen Bataillone, große Teile der Nationalgarde, ja auch der Armee würden sich von brutalen Massakern kaum abhalten lassen.

All das stellt eine besonders brutale und abscheuliche Form der Festigung der Klassenherrschaft der ukrainischen Bourgeoisie, der Festigung ihrer Kontrolle über das Land dar – eine für große Teile des Proletariats im unmittelbaren Sinn vernichtende Niederlage. Ein solcher Sieg würde selbstverständlich auch die Eigentumsfrage usw. im Donbass „lösen“. Für revolutionäre KommunistInnen ist daher ihre Pflicht, den Klassencharakter des Konflikts und der beteiligten Kräfte, nicht nur die Ideologien von Parteien zu untersuchen. Daraus ergibt sich, welchen Platz die ArbeiterInnenklasse in einem Konflikt einnehmen muss. Gibt es eine „fortschrittliche Seite“ in einem Bürgerkrieg, so ist es die Pflicht des Proletariats, diese trotz all ihrer Schwächen gegen die Reaktion zu unterstützen.

RIO ersetzt diese Aufgabe durch die für sich genommen immer richtige Wahrheit, dass sich die Klasse „unabhängig“ organisieren müsse. Diese Erkenntnis verkommt jedoch zur reinen Abstraktion, wenn sie nicht mit der realen Auseinandersetzung vermittelt wird, wenn hinter allgemeinen Formeln geleugnet wird, dass der Widerstand im Osten einen fortschrittlichen Charakter hat. Es bedeutet nichts anderes, als das Proletariat in Stich zu lassen.

Die Klassenfronten in der Ukraine sind die Klassenfronten in Europa

RIO hält umso hartnäckiger an ihrer falschen Einschätzung fest, je klarer die Klassenfronten im Donbass werden. Dass diese offener zu Tage treten, ist allerdings nicht den passiven Ultimaten von RIO zu verdanken.

  • Mit Bombardierung der Zechen im Osten wurde die Masse der Bergleute erst in den Streik getrieben und dann an die Front. Sie bilden die Hauptstütze der „Roten Kosaken“. Das war nicht immer so. Vor dem Bürgerkrieg war der Vorsitzende ihrer Gewerkschaft, der Unabhängigen Gewerkschaft NPGU, für Julia Timoschenkos Vaterlandspartei im Parlament. In Donezk selbst hatte sich die Gewerkschaft gespalten, die Mehrheit wird schon länger von Michail Krylenko vertreten. Unbestreitbar hat hier auch eine Radikalisierung nach links stattgefunden.
  • Ein zweiter Konfliktpunkt ist die Frage der Fabriken und Minen, die von der Kiewer Regierung oder den Oligarchen aufgegeben oder bombardiert wurden. Die Janukowytsch-Leute, russische Nationalisten und Putin-Agenten wollen sie unter die Kontrolle russischer Oligarchen bringen. Die ArbeiterInnen haben offensichtlich andere Absichten. Sogar die „Unabhängige Bewegung Noworossija“, eine kleinbürgerlich-populistische Vereinigung, drückt dies in ihrer programmatischen Erklärung aus: „Großes Eigentum, industrielles und finanzielles Vermögen sollen dem Staat gehören. Der Nationalrat setzt sich zusammen aus Delegierten aus Räten von nationalen und Arbeitskollektiven und soll die höchste gesetzgebende Körperschaft von Noworossija werden.“ Ein offensichtliches Zugeständnis an die Arbeiterklasse.
  • Drittens geht es um die Verteilung der Hilfsgüter: Bestimmt die Administration aus prorussischen Janukowytsch-Leuten oder bestimmen die kämpfenden Einheiten? Diese stellen oft die progressiveren Elemente. Einige treten für Komitees der Bevölkerung ein. Ende des Jahres 2014 gab es zunehmend Konflikte um diese Frage. Etliche Kommandeure der „Roten Kosaken“ griffen das Staatsoberhaupt der „Volksrepublik Lugansk“, Plotnitzki, an, weil er zu wenig für die Bevölkerung täte und Material für sich abzweige. Dieser seinerseits beschuldigte Alexander Bednow, den populären Verteidiger der Stadt in den Augustkämpfen, der Unterschlagung und der Folter von ZivilistInnen. Dies geschah, nachdem Bednow unter nicht geklärten Umständen mit einigen seiner Leute durch eine (vermutlich russische) Spezialeinheit liquidiert worden war.
  • Viertens traten diese Konflikte auch bei den Wahlen im November zutage, bei denen in Donezk die KP an der Kandidatur gehindert wurde, ebenso wie Bednow in der Volksrepublik Lugansk. Genauso stellt die Gefangennahme von 4 Mitgliedern von BOROTBA Ende 2014 einen Beweis für die sich vertiefenden Konflikte im Osten dar. Die Freilassung nach zwei Wochen beweist aber auch das Gewicht der linken Kräfte.
  • Fünftens ist auch der Aufbau von explizit linken Kampfverbänden einerseits etwas, was keine Entsprechung in den Kiewer Truppen findet und andererseits ein Beweis, dass sich die linken Kräfte verstärken konnten. Herausragendes Beispiel ist die „Gespenster“-Brigade des legendären Kommandanten Alexander Mosgowoj. Innerhalb der Brigade gibt es ein Kommunistisches Bataillon, ein sehr internationalistisches Bataillon, in dem KommunistInnen aus vielen Ländern unter roten Fahnen kämpfen. Er organisierte auch eine politische Abteilung zur Schulung der Kämpferinnen und zur Produktion von linker Propaganda. Er warb SozialistInnen und KommunistInnen für diese Posten an.

RIO braucht im Ukraine-Konflikt keine Taktik, weil sie diese durch Allgemein-plätze ersetzt und die reale Bewegung ignoriert.

Einheitsfronttaktik im Bürgerkrieg ist zwar etwas anderes als Einheitsfronttaktik in Gewerkschaften. In jenen sind unsere Gegner/potentiellen Verbündeten meist ReformistInnen, die sich immerhin auf ArbeiterInnenbewegung und Streik beziehen, wie z.B. die Linkspartei-Mitglieder auf der Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Bürgerkrieg hat man es dagegen oft auch mit nationalen und nationalistischen Positionen und Konflikten zu tun, wie generell der Bürgerkrieg „verworrener“ ist, weil er eine höhere Form des Klassenkampfes darstellt als der gewerkschaftliche Kampf. Im Bürgerkrieg werden alle Schichten der Gesellschaft in Bewegung gesetzt, alles wird umgeworfen im Kampf um die politische Macht.

Die grundlegende Herangehensweise ist jedoch auch von zwei zentralen Gemeinsamkeiten gekennzeichnet. Sowohl in gewerkschaftlichen wie politischen Klassenkämpfen sind RevolutionärInnen gezwungen, zeitweilige Bündnisse mit nicht-revolutionären Kräften einzugehen. Die Basis dafür besteht in der Verfolgung gleicher Ziele gegen einen gemeinsamen Gegner. Zugleich müssen solche Bündnisse immer mit der strikten Unabhängigkeit der revolutionären Organisation verbunden sein, also ihrem Recht/ihrer Möglichkeit, jederzeit auch Kritik am „Partner“ zu üben. Zweifellos werden daher in vielen Fällen (ob nun in gewerkschaftlichen Kämpfen wie auch im Bürgerkrieg) Einheitsfronten nicht zustande kommen trotz der Anwendung der Taktik der Einheitsfront, also der Forderung an andere, trotz fundamentaler politischer Differenzen den Kampf gemeinsam zu führen.

Die Ablehnung der Einheitsfront oder ihr Nicht-Zustandekommen ändert dabei nichts daran, dass ein fortschrittlicher Kampf weiter unterstützt werden muss.

Hinzu kommt, dass in Bürgerkriegen – und nicht nur dort – soziale Fragen oft die Form von demokratischen oder nationalen Konflikten annehmen. Soziale Forderungen verbergen sich hinter nationalen oder demokratischen Forderungen. Das entspringt aus der einfachen Tatsache, dass die Bourgeoisie zum Zwecke der Ausbeutung von Klassen, die viel zahlreicher an Menschen sind als die ihre, diese auch unterdrücken muss. Gegen diese Unterdrückung begehren dann die in ihren demokratischen und nationalen Rechten Unterdrückten auf. Der soziale Konflikt, die Ausbeutung, erscheint untergeordnet. Die Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen – auch wenn die Klassenkämpfe die Form von Kriegen und Bürgerkriegen annehmen. Trotzki präzisierte diese Aussage des Kommunistischen Manifestes noch: „Der Sektierer ignoriert einfach, dass der nationale Kampf, als eine der verworrensten und unübersichtlichsten, aber zugleich äußerst wichtigen Formen des Klassenkampfes, nicht durch bloßen Verweis auf die künftige Weltrevolution entschieden werden kann.“ (12) Als ob er RIOs Erklärungen zur Ukraine gelesen hätte!

Es ist also vollkommen sektiererisch, wenn man in einem Bürgerkrieg nicht Partei ergreift, obwohl man erkennt, dass die eine Seite einen berechtigten Kampf führt – nur weil die Klassenfrage noch nicht offen zu Tage liegt. Es ist zentrale Aufgabe jeder ArbeiterInnenorganisation, der ArbeiterInnenklasse zu helfen, den Klasseninhalt durch ihren eigenen Kampf sichtbar zu machen!

Welche Taktiken dann für revolutionäre Organisationen in Bürgerkriegen zulässig sind, werden wir weiter unten erläutern. Wir müssen uns noch damit befassen, dass RIO den Bürgerkrieg in der Ukraine zu einem Krieg umdeutet.

Imperialistischer Krieg und/oder Bürgerkrieg

RIO weicht einer wirklichen Analyse der kämpfenden Kräfte in der Ost-Ukraine auch dadurch aus, dass kurzerhand alles in den Volksrepubliken als von Russland gelenkt und kontrolliert dargestellt wird.

Dann erklärt Geworkian, dass RevolutionärInnen in einem Konflikt zwischen Imperialisten keine Partei ergreifen dürfen. Zugleich charakterisiert RIO aber die Russische Föderation als entwickelten Kapitalismus, lehnt es aber ab, dabei von einer imperialistischen Macht zu sprechen. Würde Geworkian seine eigenen Gedanken ernst nehmen, so müsste er sich die Frage stellen, wer hier eigentlich stellvertretend für wen agiert? Um einen imperialistischen Stellvertreterkrieg kann es sich ja schlecht handeln, wenn eine Seite gar keine imperialistische Macht darstellt.

Mit seinen „allgemeinen“ Erwägungen erspart sich Geworkian aber vor allem eine konkrete Analyse. Er unterstellt, dass der Krieg ein „imperialistischer auf beiden Seiten“ wäre, ohne das überhaupt zu untersuchen. Dabei ist genau das die Frage.

Der vorherrschende Charakter dieses Konflikts ist welcher? Handelt Kiew mit seiner Armee einschließlich der faschistischen und nationalistischen Paramilitärs als reine Schachfigur der USA und der EU oder verfolgt es eigene Interessen? Das eine muss das andere nicht ausschließen und sicher hatte der Maidan das Überlaufen der Mehrheit der ukrainischen Bourgeoisie ins westliche Lager zum Ergebnis. Der Hauptaspekt des Krieges ist aber ein sozialer und interner Konflikt: die ukrainische Regierung und ihre Hilfstruppen kämpfen mit der Waffe in der Hand für ein brutales Sparprogramm, für die Abwälzung der exorbitanten Krisenlasten auf die Massen, was natürlich auch im Interesse der EU, der USA und des IWF geschieht. Die arbeitenden Massen im Ostteil des Landes bekämpfen das, teilweise unter Waffen stehend. Es handelt sich also von beiden Seiten vorwiegend um einen Bürgerkrieg: zum einen, weil Russland nicht Kriegspartei ist, zum anderen, weil die Kiewer Regierung nicht überwiegend als Stellvertreterin des Westens agiert.

Wenn Kiew lediglich eine westliche Marionette wäre und Moskau die Volksrepubliken wirklich kontrollieren würde, dann hätte der Krieg einen anderen Charakter und ein anderes Ziel – die Schwächung Russlands bzw. deren Verhinderung – und nähme einen anderen Verlauf, wenn die westlichen Imperialisten ihre Kiewer Marionetten militärisch lenken würden.

Es handelt sich aber auch nicht in erster Linie um einen militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Das ukrainische Bürgertum führt vielmehr einen Bürgerkrieg gegen seine ArbeiterInnenklasse. Im Falle einer Invasion Russlands müsste die ukrainische ArbeiterInnenklasse einen Zweifrontenkrieg gegen zwei gleich große Übel führen, sofern der Charakter des Konflikts sich nicht z.B. in einen gegen nationale Unterdrückung durch Russland änderte und die ukrainische Bourgeoisie den sozialen Bürgerkrieg zurückstellen müsste. Diese Situation könnte z.B. im Vorfeld einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Russland und der EU sowie deren Verbündeten eintreten, wenn Russland die gesamte Ukraine annektierte, die damit das Schicksal z.B. Tschetscheniens teilen müsste. Eine Invasion der Ostukraine durch Russland könnte hingegen von der Mehrheit der dortigen Bevölkerung durchaus nicht als nationale Unterdrückung empfunden werden, wie das Beispiel der Krim zeigt, sondern sogar als „Befreiung“ aufgefasst werden (Noworossija). Nichtsdestotrotz müsste dann die ostukrainische ArbeiterInnenschaft sowohl Kiews wie Moskaus Truppen bekämpfen, denn beide Seiten würden mit den dort, in den Volksrepubliken, erkämpften proletarischen Errungenschaften, Milizen, Betriebsbesetzungen und -übernahmen wie Räteansätzen, gründlich aufräumen, die ohne Wenn und Aber als Faustpfande einer kommenden ArbeiterInnenrevolution verteidigt werden müssen, auch wenn in diesem Kriegsszenario der Bürgerkrieg einen untergeordneten Charakter angenommen hätte und der Krieg Russlands gegen die Ukraine in den Vordergrund gerückt wäre. Vor allem: wenn es sich aber nach wie vor um einen Bürgerkrieg handelt, kommen „RevolutionärInnen“ doch in arge Not, ihre Passivität zu rechtfertigen.

Auch wenn der Bürgerkrieg das dominierende Element in einem Konflikt ist, mischen sich die Imperialisten natürlich ein. Vielen Linken reicht der Hinweis auf imperialistische Einmischung, um Bürgerkriegsfronten zu entscheiden, wenn auch meistens falsch. So wurden von vielen Linken die Revolutionen und Bürgerkriege in Libyen und Syrien kurzerhand zu Projekten des US-Imperialismus erklärt und die Rebellen und revolutionären Kräfte zu seinen Marionetten. Aber im Zeitalter des Imperialismus gibt es keinen und kann es auch keinen Bürgerkrieg geben, den Imperialisten nicht für ihre Konkurrenz-Konflikte nutzen. Ein Bürgerkrieg hört aber weder im Nahen Osten noch in der Ukraine auf, ein Bürgerkrieg zu sein, nur weil sich Imperialisten einmischen. Der spanische Bürgerkrieg blieb eben von Anfang bis Ende ein solcher, obwohl sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien „einmischten“ – wie auch der degenerierte Arbeiterstaat UdSSR. Beide Lager – auch das Francos – agierten deshalb aber nicht schon überwiegend als verlängerter militärischer Arm ihrer imperialistischen Unterstützer.

Nebelkerzen

Noch ist also das dominierende Element der Bürgerkrieg. Wer kämpft denn da auf der Seite des Ostens? Geworkian unterstellt uns: „Die GAM scheint Borotbas Analyse geteilt zu haben, dass in der Ostukraine so etwas wie eine anfängliche soziale Revolution vonstattenging, die auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zielte. Hierzu ließ sie sich von der sowjetischen Nostalgie der russischen NationalistInnen mitreißen, die ihre Scheinparlamente gern ‚Sowjets‘ nennen. Doch diese Volksrepubliken entstanden und entwickelten sich unter direkter Führung des kapitalistischen russischen Staates. Auch ein Programm von ‚Verstaatlichung‘ beschränkt sich auf die Notwendigkeiten der Kriegsführung und des Aufbaus einer pro-russischen Enklave wie Transnistrien/ Pridnestrowien – wo Verstaatlichungen die angeschlagene kapitalistische Marktwirtschaft am Laufen halten.“ (13)

Wenn es eine „direkte Führung“ der „Volksrepubliken“ durch den russischen Staat gegeben hätte, wären sie eben keine „Volksrepubliken“ geworden. Transnistrien oder Nord-Ossetien nennen sich nicht Volksrepubliken, gerade weil der direkte russische Einfluss dort so etwas nicht will. Im Unterschied zur Krim – und auch die wurde nicht einfach annektiert – sind Lugansk und Donezk auch kein Bestandteil Russlands geworden. Ein Neu-Russland als Teil der Russischen Föderation ist eher ein Albtraum für Putin und ausgesprochen nicht seine Absicht.

Das, was uns Geworkian unterstellt, war nie unsere Analyse und Geworkian weiß das. Acht von dreizehn Verweisen in seinem Artikel beziehen sich auf GAM bzw. NAO. Er kennt also unsere Artikel. Der Maidan und die Übergriffe der neuen Regierung provozierten einen „Anti-Maidan“ im Osten, eine Massenbewegung, die Zehntausende auf die Straße brachte. Wir sind hingefahren und haben uns das angeschaut. Wir wollten wissen, wie die soziale Zusammensetzung ist, welche Parteien politisch dominieren, wofür die Bewegung kämpft, haben also dieselben Kriterien als Maßstab angelegt, mit denen wir den Maidan be- und verurteilt haben. Schon damals war klar, dass russisch-nationalistische Kräfte dort Einfluss suchen, dass es sich aber um eine Massenbewegung handelt, die vor allem aus der Arbeiterklasse besteht.

Wir haben diese Bewegung weiterverfolgt und untersucht. So haben sich z.B. größere Teile der Bergarbeiter erst später angeschlossen. Wir haben untersucht, ob und wie sich Forderungen der Klasse in diesem Bürgerkrieg ausdrücken.

Anders RIO heute. Während Baran Serhad im August 2014 noch eine differenziertere, wenn auch in sich widersprüchliche Analyse versuchte (14), ist für Geworkian nur noch ein „BürgerInnenkrieg zwischen reaktionären Banden“ zu sehen.

Wo ist denn eigentlich die Arbeiterklasse im Donbass geblieben? Während Serhad noch feststellte, dass es Demonstrationen dieser gegen die „Antiterror-Operation“ gegeben habe, tauchen ArbeiterInnen bei Geworkian real nicht mehr auf. Sind die alle geflohen? Sitzen die zu Hause rum wie RIO und kritisieren diejenigen, die kämpfen?

Bemerkenswert ist, dass Serhad noch analysierte: „Diese sogenannten Milizen stützen sich auf Arbeitslose, bankrottes Kleinbürgertum, NationalistInnen aus Russland, Armeekräfte und SondereinsatzpolizistInnen der alten Regierung. Doch von einem konkreten russischen militärischen Einsatz wie auf der Krim kann in der Ostukraine nicht die Rede sein.“ (15) Während Geworkian schreibt: „ … der ‚antifaschistische Widerstand‘ in der Ostukraine, der russische Militärs, GeheimdienstlerInnen, BürokratInnen und SöldnerInnen sowie einheimische KapitalistInnen umfasst,…“. (16) Die Arbeitslosen, also immerhin ein Teil der Arbeiterklasse, sind plötzlich verschwunden, dafür kämpfen die einheimischen KapitalistInnen. Und der „konkrete russische Einsatz“, den Serhad noch explizit ausschloss, ist bei Geworkian durch die „russischen Militärs“ dann gegeben.

Das wirkliche Problem, wie die ArbeiterInnenklasse, die im Süd-/Osten der Ukraine eben im Verbund mit anderen Kräften kämpft, sich in diesem Kampf als eigene Kraft formieren und ausdrücken kann, wird von RIO jetzt dadurch erledigt, dass sie einfach nicht mehr vorkommt.

Damit sich die ArbeiterInnenklasse aber unabhängig organisieren kann – was natürlich eine notwendige Voraussetzung für revolutionäres Handeln der Klasse ist – müssen RevolutionärInnen in die Kämpfe eingreifen, in denen die Klasse und vor allem ihre Avantgarde für ihre Interessen kämpfen, auch wenn sie dies nicht mit offenem Banner tun.

Serhad schlug vor einem Jahr noch vor: „Um die Unabhängigkeit von der Bourgeoisie zu schaffen, ist gerade in den Volksrepubliken die Bildung von ArbeiterInnenräten in Fabriken nötig, die sowohl die Funktion von Kampforganen haben als auch die Funktion der Verwaltung auf der lokalen und regionalen Ebene.“ (17) Für Geworkian haben aber Schritte, die in diese Richtung gehen, nichts mit der Klasse zu tun: „Auch ein Programm von ‚Verstaatlichung‘ beschränkt sich auf die Notwendigkeiten der Kriegsführung…“. (18)

Wir als GAM aber stellen klar, dass die Übernahme und Kontrolle von Betrieben durch ArbeiterInnen in der Ostukraine natürlich deren Willen und Kraft zeigt und dass hier eine revolutionäre Politik ansetzen kann und muss. Dass diese Entwicklung auch aus der Not des Krieges geboren wurde, sagt weniger über die Lage im Osten der Ukraine aus als über das Unverständnis von RIO für reale Klassenkämpfe. Historisch betrachtet wurden Maßnahmen wie Verstaatlichungen oft aus der Notwendigkeit anderer politischer Ziele geboren.

Diese Übernahmen von Fabriken und Kolchosen müssen ergänzt werden durch ein Programm zur Enteignung aller (auch der russischen) Oligarchen und der Errichtung von ArbeiterInnenkontrolle und Räten. Sie sind in der Tat ein hervorragender Beleg für die Notwendigkeit und die Durchführbarkeit eines solchen Programms – so wie die von der Trotzkistischen Fraktion unterstützte Besetzung und Weiterführung der Keramikfabrik Zanon in Neuquén ein Ansatz für ein entsprechendes Programm für Argentinien ist, obwohl sie selbst nur aus der ökonomischen Notwendigkeit der ArbeiterInnen geboren wurden, die in der Krise 2001 nicht arbeitslos werden wollten.

Aber selbst wenn die Verstaatlichung von Fabriken im Donbass aus dem Besitz von Oligarchen rein aus militärischer Logik durchgeführt würde, wie Geworkian behauptet: Seit wann lehnen wir eigentlich Verstaatlichungen ab, wenn sie vom ideellen Gesamtkapitalisten, dem bürgerlichen Staat, durchgeführt werden? Die Forderung aus dem Übergangsprogramm nach „Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle und entschädigungslose Enteignung der FabrikbesitzerInnen“ verlangt diese explizit dann, wenn der bürgerliche Staat noch existiert. Im ArbeiterInnenstaat wäre diese Forderung überflüssig. Trotzki kritisierte übrigens gerade das republikanische Spanien dafür, dass die Regierung nicht genügend Anstrengungen zum Aufbau einer eigenen Kriegsindustrie unternommen habe.

Wir wissen auch sehr gut, was Räte sind und fallen bestimmt nicht auf nostalgische Begriffsverwendung rein, wie Geworkian behauptet: „Hierzu ließ sie sich von der sowjetischen Nostalgie der russischen NationalistInnen mitreißen, die ihre Scheinparlamente gern ‚Sowjets‘ nennen.“ Im Unterschied zu RIO überlegen wir uns aber auch, warum russische NationalistInnen in Russland ihre Scheinparlamente nicht „Sowjets“ nennen, russische NationalistInnen – und eben auch andere politischen Kräfte – im Donbass aber von „Volksrepubliken“ und „Sowjets“ reden, überlegen, ob das was mit ArbeiterInnenklasse zu tun hat und wie diese ihren Klassenkampf aus seiner verdeckten Form befreien kann.

Die ArbeiterInnenklasse kann sich nur auf der Basis ihres Kampfes unabhängig organisieren. RIO lehnt es de facto ab, der ArbeiterInnenklasse zu helfen, sich aus ihrer „Unterordnung unter bürgerliche“ Kräfte zu befreien, wenn sie den realen, fortschrittlichen Kampf der Klasse ignoriert bzw. desavouiert.

Taktiken im Bürgerkrieg

Mit solcher Vernebelung und Verdrehung glaubt RIO es sich auch weiterhin leisten zu können, die Taktiken zu verleumden, die der Klasse helfen, sich zu formieren. Die Verteidigung gegen das reaktionäre bürgerliche Regime ist aus demokratischen (Recht auf eigene Sprache und gegen nationale Unterdrückung) wie aus sozialen Gründen (gegen die Verelendungsprogramme des IWF und die Ausbeutung durch Oligarchen) völlig berechtigt. Natürlich ist auch der Widerstand gegen die Faschisten nicht nur berechtigt, sondern völlig notwendig, wenn die Arbeiterklasse eigene Organisationen aufbauen bzw. verteidigen will.

In diesem Kampf können Organisationen der ArbeiterInnenklasse – oder diejenigen, die solche aufbauen wollen – eine militärische Front mit anderen, auch mit bürgerlichen, Kräften bilden. Linke dürfen natürlich nicht sich dem bürgerlichen „Antifaschismus“ oder jeder anderen bürgerlichen Politik unterordnen. Es ist völlig klar, dass trotz dieser gemeinsamen militärischen Front es massive politische Konflikte gibt und geben muss, je stärker die Linke wird – wenn auch RIO diese im Donbass gerne ignoriert, um ihr Zerrbild aufrechtzuerhalten.

So schreibt Geworkian : „Gleichzeitig will sie (die GAM) mit SoldatInnen der russischen Armee in einer ‚militärischen Front‘ zusammenstehen, und zwar gegen den Faschismus. Für MarxistInnen ist es eine Frage grundlegender Prinzipien, konsequent gegen den Imperialismus zu kämpfen. Eine solche ‚Einheitsfront‘ (Volksfront) mit einer imperialistischen Macht kann nur Verrat an den Interessen der Unterdrückten bedeuten – auch und gerade im Namen der ‚Demokratie‘ oder des ‚Antifaschismus‘.“

Halten wir zunächst fest: es kämpft im Donbass nach wie vor nicht die russische Armee, was – wie oben gesagt – die Lage ändern würde. Von einer „Einheitsfront mit einer imperialistischen Macht“ kann also keine Rede sein (mal abgesehen davon, dass RIO und ihre Internationale ansonsten gern erklären, dass Russland keine imperialistische Macht wäre). Eine solche war z.B. Stalins Weltkriegspolitik oder der Burgfrieden der sozialdemokratischen Parteien mit „ihren“ Imperialismen.

Nicht jede Einheitsfront mit Bürgerlichen ist allerdings Klassenverrat und umgekehrt nicht jedes klassenverräterische Bündnis mit der Bourgeoisie eine Volksfront. Letztere ist eine Regierung aus opportunistischen ArbeiterInnenparteien und offen bürgerlichen Parteien, Einzelpersonen oder Institutionen (Militär) in einer (vor-)revolutionären Situation oder Periode. Eine Einheitsfront selbst mit dem Bürgertum (oder Teilen davon) kann wiederum völlig legitim sein (19). Wir würden unter 3 Bedingungen Einheitsfronten eingehen: gemeinsame Ziele; Aktions- und Bewegungsfreiheit, Freiheit von Kritik und Propaganda; keine Vermischung der Fahnen oder gemeinsame Aufrufe außer zum Zwecke unmittelbarer Mobilisierung. Wir würden aber immer für die Linie der ArbeiterInnenbeinheitsfront eintreten, also z.B. in einem Anti-Nazi-Bündnis, in dem auch die GRÜNEN und Kirchen sitzen, für physische Konfrontation und Selbstverteidigung der ArbeiterInnenorganisationen, was eine direkte Konfrontation mit den bürgerlichen Kräften in einem solchen Bündnis bedeuten würde.

Kommt keine Einheitsfront zustande, weil auch nur eines der o.a. 3 Kriterien nicht erfüllbar ist, können trotzdem zeitweilige Absprachen durchaus sinnvoll sein, um die Widersprüche im Lager des Feindes auszunutzen: z.B. mit der Résistance im besetzten Frankreich während des 2. Weltkriegs, obwohl TrotzkistInnen schon allein deren Ziel (Niederlage Deutschlands, Sieg Frankreichs)  nicht teilten, sondern im Konflikt Deutschland gegen Frankreich für revolutionären Defaitismus eintraten. Man merkt RIO deutlich an, dass ihr „Trotzkismus“ deutlich kindisch-sektiererische Züge annimmt, die Prinzipien aus einer Reihe auswendig gelernter Formeln bestehen. So läuft jede Tuchfühlung mit nichtproletarischen Kräften oder rückständigen ArbeiterInnenmassen Gefahr, als Verrat verteufelt zu werden.

Armer Trotzki

Geworkian versucht sogar Trotzki zu ent-trotzkisieren: „Wir bedauern, dass die GAM heute schlussfolgert, eine ‚Verteidigung der Volksfrontregierung gegen Franco‘ sei in Spanien notwendig gewesen. Damals haben die RevolutionärInnen in einer Front mit den SoldatInnen der Republik gegen die faschistischen Truppen gestanden – aber im Rahmen dessen dafür argumentiert, die bürgerliche Republik durch eine Räterepublik zu ersetzen. Als die ArbeiterInnen Barcelonas im Mai 1937 gegen diese repressive bürgerliche Regierung einen Aufstand begannen, standen die TrotzkistInnen mit ihnen auf den Barrikaden – eine „Verteidigung der Volksfront” war das sicher nicht, eben nur eine Verteidigung der Bastionen der ArbeiterInnen, um den Sturz der Volksfront zum frühstmöglichen Zeitpunkt vorzubereiten. Die wirkliche Lehre Trotzkis aus dem spanischen BürgerInnenkrieg ist also tatsächlich ‚1:1′ auf den ukrainischen zu übernehmen: Nur die politische Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse gegen jeden bürgerlichen Pseudo-Antifaschismus kann den Sieg gegen den Faschismus bringen.“ (20)

Interessant schon mal, dass es für RIO in Spanien möglich war, „in einer Front“ mit Kämpfern für eine bürgerliche Republik zu stehen und gleichzeitig für revolutionäre Ziele zu argumentieren – was sie für die Ukraine bestreiten.

Aber dann lügt sich Geworkian einiges in die Tasche: Die „RevolutionärInnen“ in Spanien waren nur zum Teil in eigenen Truppen aufgestellt (CNT/FAI, POUM). Der überwältigende Teil der klassenbewussten ArbeiterInnen einschließlich der Sozialdemokraten und Stalinisten kämpfte in den Truppen der Republik. Es ist aber schlechterdings unmöglich, mit den Truppen der Republik zu kämpfen, ohne diese zu verteidigen. Deshalb verbanden Trotzki und die RevolutionärInnen im Bürgerkrieg die Verteidigung der Republik mit dem Kampf für die Revolution. Was Trotzki bekämpfte, war die Unterordnung der revolutionären Ziele unter diese Republik und ihre Verteidigung, wie sie von Zentristen der POUM und den Stalinisten vertreten wurde. Das ist genau der Weg, wie RevolutionärInnen in einen Bürgerkrieg eingreifen, der auf beiden Seiten von bürgerlichen Kräften geführt wird, in dem die Arbeiterklasse aber auf der einen Seite kämpft.

Geworkian beschreibt die Taktik der Revolutionäre in Spanien wie folgt: „Sie haben zwar in der ersten Reihe gegen Francos Schergen gekämpft, behielten aber dabei ihre völlige politische Unabhängigkeit von der bürgerlichen Republik und bereiteten den Kampf für eine ArbeiterInnenregierung vor.“ (21) Die politische Unabhängigkeit behält man in einer gemeinsamen Front mit bürgerlichen Kräften, indem die revolutionären Ziele und Forderungen eben nicht untergeordnet oder zurückgestellt werden. So dass für alle nachvollziehbar ist, wenn die gemeinsame Front aufgelöst werden kann und muss, weil der Weg zur Revolution, zur ArbeiterInnenregierung beschritten werden kann bzw. die revolutionären Errungenschaften gegen die bürgerliche Regierung verteidigt werden müssen, die man zuvor noch gegen die Faschisten unterstützte.

Natürlich ist die Situation dann klarer, wenn sich die RevolutionärInnen und die Bürgerlichen gegenüberstehen. Klar, Genosse Geworkian, dass ihr „1937 mit den TrotzkistInnen gemeinsam auf den Barrikaden Barcelonas gestanden“ (22) hättet. Fein, und vorher? Erkläre uns doch, ob RevolutionärInnen in den Gegenden in der spanischen republikanischen Armee kämpften, wo eine Teilnahme an anarchistischen oder POUM-Milizen unmöglich war, weil es keine gab. „In der ersten Reihe gegen Francos Schergen“ schreibt Geworkian. Der „ersten Reihe“ von was?: der gemeinsamen Front zur Verteidigung der Republik natürlich! Da hilft alles RIO-Schamanentum nichts, weder die Geschichte noch diese grundlegende bolschewistische Taktik kann Geworkian wegzaubern. RIOs Methode zur Bewahrung ihrer unbefleckten Unabhängigkeit aber hätte auch in Spanien ein weitgehendes Raushalten aus dem Bürgerkrieg bedeutet!

Wir bedauern, dass RIO dies nicht mal verstehen will, wenn es Trotzki erklärt. Zum Glück stellen Kriege höchste Anforderungen an Programme, Strategien und Taktiken von Linken, so dass sich hier wie nirgendwo anders ihr wahrer Gehalt zeigt: der eines zusammenhängenden Systems von Handlungsanleitungen, die jederzeit auf der Höhe sich möglicherweise rasch verändernder Situationen stehen oder der einer nachgekauten dünnen Bettelsuppe leerer Phrasen und Beschwörungsformeln hinter der „trotzkistischen“ Fassade.

Die Unabhängigkeit der Klasse erkämpfen

Um der Klasse und den Linken zu helfen, die von RIO so beschworene „Unabhängigkeit“ zu erreichen, ist natürlich nötig, dass sich linke, ja revolutionäre Programmatik entwickelt und mit der Klasse bzw. ihrer Avantgarde verbindet. Neben der – sicher schwierigen – direkten Intervention in die Kämpfe sind dazu die Debatten mit den Kräften nötig, die das tun.

Dazu war die schon erwähnte Konferenz in Jalta die wichtigste Gelegenheit im letzten Jahr. Dieses Jahres gab es eine Konferenz zum Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus, die am 9./10. Mai 2015  in Lugansk und Altschewsk stattfand. Eingeladen hatte die KP von Lugansk (23), gekommen waren 177 Delegierte von 31  kommunistischen und sozialistischen Organisationen aus 17 Ländern. Wohl die bisher größte internationale linke Konferenz auf dem Boden der Ukraine. Nachdem die Regierung von Lugansk sie verbieten wollte, lud Mosgowoj die Konferenz nach Altschewsk ein. Ihre Beteiligung an der Demonstration und das Konzert von Banda Bassotti, einer antifaschistischen italienischen Band, wurden von der Bevölkerung gefeiert.

Geworkian gefällt sich darin, Mosgowoj mit dem Verweis auf seine Religiosität und seinen Sexismus zu erledigen. Wir kritisieren das eine wie das andere. Wir halten aber fest, dass er ein heftiger Kritiker der Regierungsorgane war, für einen ukraine-weiten Kampf gegen die Oligarchen aufrief und kommunistische Propaganda in seinem „Gespenster“-Bataillon nicht nur zuließ, sondern ausdrücklich förderte.

Klassenkämpfe und Bürgerkriege können sprunghafte Radikalisierungen nach links bewirken, was auch zu Widersprüchlichkeiten bei den KämpferInnen führen kann. Sie können auch zur politischen Degeneration nach rechts führen. Wie das Beispiel RIO zeigt, erzeugt aber auch dieser Prozess Widersprüchlichkeiten.

Geworkian ist nicht nur ignorant, sondern fälscht auch. Während sein Genosse Flakin noch feststellte, dass die Jalta-Konferenz von jemand organisiert wurde, der später auch mit Rechten zusammenarbeitete, erklärt jener: „Richard Brenner, führendes Mitglied der Liga für die Fünfte Internationale (L5I, internationale Strömung der GAM), ließ sich zuerst zur Teilnahme an einer von Rechtsextremen organisierten Konferenz und dort noch zur Unterstützung von ‚Neurussland‘ hinreißen, wie wir bereits kritisiert haben.“ Wir haben oben dazu genug geschrieben. Bemerkenswert ist hier nur, dass bei Flakin unser Genosse noch auf einer Konferenz von Linken war, jetzt wird der Eindruck erweckt, da seien Rechtsextreme gewesen.

Solidarität mit BOROTBA!

Die von RIO – wie von den meisten anderen Zentristen angefeindete und oftmals verleumdete – Organisation BOROTBA hat sicher politische Schwächen. So verteidigen, ja glorifizieren die BorotbistInnen ihre programmatische Schwäche, die sich im Fehlen von Analysen zeigt und darin, dass zum Beispiel den programmatischen Erklärungen der Jalta-Konferenz keine eigenen Losungen gegenübergestellt werden. Leninzitate auf Facebook können das nicht ersetzen. Historisch hat das natürlich seine Ursache in der Entstehungsweise von BOROTBA, der Sammlung von GenossInnen unterschiedlicher Überzeugungen auf aktivistischer Grundlage. Der Verzicht darauf, revolutionär-marxistische Programmatik zu entwickeln – was natürlich im Bürgerkrieg nicht die einfachste Aufgabe ist –  kann in der Zukunft noch zu größeren Schwankungen führen als bisher.

So hat BOROTBA die völlig richtige militärische Allianz mit verschiedenen nationalistischen Kräften im Donbass mit einem gewissen Verzicht auf politische Kritik verbunden. Sie haben also die gleiche falsche, zentristische Auffassung von Bündnispolitik wie RIO – nämlich dass ein militärisches Bündnis zugleich auch eine gewisse politische Partnerschaft beinhaltet -, aber sie ziehen den umgekehrten Schluss. Damit stehen sie zwar im Kampf auf der richtigen Seite und haben die Möglichkeit – anders als RIO – in den Klassenkampf einzugreifen. Sie tun das auch, wenn auch zu sehr mit dem Fokus auf Aktion, zu wenig auf politische Propaganda. Ohne diese wird aber das politische Bewusstsein der Klasse, das sich derzeit vor allem in vagem „Linkssein“, im Bezugnehmen auf die Sowjetunion und im antifaschistischen und anti-oligarchischen Kampf ausdrückt, sich nicht auf die Höhe der Aufgaben heben können.

Eine Sache ist es, im Bürgerkrieg verlassene Fabriken oder landwirtschaftliche Betriebe zu besetzen und unter eigener Kontrolle zu führen wie die Kolchose in Altschewsk, eine andere aber, diese dann auch politisch zu verteidigen. Das verlangt danach, den bürgerlichen Parlamenten und Verwaltungen, sei es im Donbass oder der ganzen Ukraine, Arbeiterräte und Milizen entgegenzusetzen, um die Macht der Oligarchen zu brechen und in Richtung Revolution zu marschieren.

Diese unzureichenden Angriffe auf die russischen Nationalisten berechtigen aber keineswegs dazu, BOROTBA selbst als nationalistisch zu bezeichnen, genauso wie die unzureichende Aufarbeitung des Stalinismus in der Organisation als Ganzes dazu berechtigt, BOROTBA als stalinistisch zu titulieren. Solche Logik – angewandt auf RIO, Flakin und Geworkian – würde diese als Agenten des US- oder EU-Imperialismus oder des Kiewer Regimes abqualifizieren. Dagegen würden wir sie genauso in Schutz nehmen.

Aber offensichtlich ist es das wichtigste Anliegen RIOs, jegliche Handlungsper-spektive und praktische Solidarität zu verbauen. Das gipfelt in ihren ständigen Angriffen auf und Verleumdungen gegen BOROTBA, die sich von denen ukrainischer Nationalisten wie der LINKEN OPPOSITION oder zu den Faschisten übergelaufenen Anarchisten inhaltlich nicht unterscheiden. Geworkian aber versucht dabei jetzt, uns zu instrumentalisieren:

„In diesem Zusammenhang kritisiert die GAM erstmalig auch Borotba, weil diese auf ‘eine ausreichende politische Kritik an [den NationalistInnen im Osten] verzichtet’. Ist Borotba erst Anfang dieses Jahres so geworden – oder warum bekam die Gruppe vorher die politische Unterstützung der GAM?“ (24)

Dazu stellen wir fest, dass wir weiter solidarisch mit BOROTBA zusammenarbeiten. Die Tatsache, dass wir ihre Kritik an den NationalistInnen – die selbst Geworkian nicht leugnet – für nicht ausreichend halten, steht dem überhaupt nicht entgegen. Wir, wie die GenossInnen von BOROTBA, betrachten das als eine solidarische Kritik.

Im Bürgerkrieg in der Ukraine sind Tausende gestorben, darunter etliche linke KämpferInnen. Andere sind im Exil oder im Gefängnis. Europa ist hart an die Grenze eines Krieges gerutscht. Das Mindeste, was Linke in Europa angesichts dieses Dramas tun können und müssen, ist, neben der Organisierung von Solidarität die aufgeworfenen Fragen zu klären. Einige Strömungen haben sich in der Ukraine-Frage völlig disqualifiziert und desavouiert.

So der überwiegende Rest der ukrainischen Linken, vor allem die „Linke Opposition“, die in sich nicht weniger uneinheitlich ist als BOROTBA. Alle diese Figuren haben ihre Anpassung an die verschiedenen bürgerlichen Kräfte, die den Maidan dominierten, danach konsequent fortgesetzt bis dahin, die Angriffe der Armee auf den Osten und die Aktionen der Faschisten in Odessa zu rechtfertigen.

In allen Ländern gibt es Linke, die solches Anschmieren an Reaktion und Konterrevolution gutheißen und selbst praktizieren. Mit diesen Kräften werden die deutschen wie alle anderen Imperialisten nicht zu bekämpfen sein. Sie stehen auf deren Seite.

Die Neutralisten, die Schwankenden, die Verwirrten – vor allem auch RIO – sollten sich den Problemen ernsthaft stellen und auch die eigene Methodik überprüfen.

Das Vorgehen von RIO, von den ArbeiterInnen im Donbass zu fordern, dass sie sich erst einmal klassenmäßig organisieren und am besten gleich die Führung der Volksrepubliken übernehmen müssten, ist schlicht ultimatistisch. Wie immer geht linker Radikalismus Hand in Hand mit Opportunismus, in diesem Fall gegenüber der deutschen Bourgeoisie und ihrer Politik wie gegenüber den Maidan-Linken, die angefangen von libertären und anarchistischen KleinbürgerInnen über den rechten Flügel der „Trotzkistischen Familie“ (Mehrheit der „Vierten Internationale“, SAV/CWI, Marx21/IST, AWL,…) bis hin zu den Grünen reichen. Dabei dürfte die Anpassung an die „Trotzkisten“ für RIO der Hauptbeweggrund sein.

Was immer aber ihre Beweggründe sein mögen, je klarer die Klassenfronten werden, desto abenteuerlicher, unmarxistischer und inkonsistenter wird RIOs Position zur Ukraine-Frage. Verwirrung und Verzweiflung liegen ganz auf ihrer Seite.

Endnoten

(1) In den Reihen der DKP gibt es unterschiedliche Begründungsmuster; manche sehen Russland als den „besseren“ Imperialismus an, andere als kapitalistisch, aber nicht imperialistisch, manche scheinen noch in alten Ost-West-Reflexen verhaftet. Überwiegend sehen aber auch sie den Konflikt als vor allem einen zwischen den westlichen Imperialisten und Russland und unterschätzen die Dimension des Bürgerkrieges, die für uns bis heute das dominierende Element ist.

(2) http://www.icor.info/2015-1/aufruf-der-icor-zum-antikriegstag-2015

(3) Die Trotzkistische Fraktion hat übrigens auch nicht die Artikel RIOs übersetzt oder auf ihrer internationalen Seite veröffentlicht.

(4) http://www.klassegegenklasse.org/nach-dem-waffenstillstand/

(5) http://www.klassegegenklasse.org/debatte-muss-man-das-kleinere-ubel-unterstutzen/

(6) http://www.klassegegenklasse.org/die-reaktion-herrscht-in-der-ukraine/

(7) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(8) http://www.klassegegenklasse.org/erneuerung-von-oben/

(9) Die Erklärung von Jalta, http://kai-ehlers.de/texte/thesen/2014-07-16-erklaerung-von-jalta. Zur inhaltlichen Auseinandersetzung und Kritik der Erklärung siehe auch: Dave Stockton, A populist, not a communist manifesto, http://www.workerspower.co.uk/2014/09/ukrain-yalta-conference-manifest

(10) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(11) Martin Suchanek: „Die Ukraine und die Verwirrung des trotzkistischen Zentrismus“, RM 46, Oktober 2014, S. 175/176

(12) Trotzki, Die Unabhängigkeit der Ukraine und die sektiererischen Wirrköpfe, In: Trotzki Schriften 1.2., Rasch und Röhring, Hamburg 1988, S. 1246

(13) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(14) http://www.klassegegenklasse.org/die-reaktion-herrscht-in-der-ukraine/

(15) Ebenda

(16) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(17) http://www.klassegegenklasse.org/die-reaktion-herrscht-in-der-ukraine/

(18) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(19) BRKI, Thesen zur anti-imperialistischen Einheitsfront, RM 36, S. 77 – 84

(20) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(21) Ebenda

(22) Ebenda

(23) Die KP von Lugansk hat die sich neu formiert aus Mitgliedern der KP der Ukraine, die in einem hilflosen Versuch, der Repression zu entfliehen, alle ihre des „Separatismus“ verdächtigen Mitglieder ausgeschlossen hat.

(24) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/