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Post: Guter Streik statt schlechter Verhandlungen! Das „Ergebnis“ muss abgelehnt werden!

Mattis Molde, Infomail 1216, 14. März 2023

In letzter Minute vor Beginn des Streiks hat sich die Verhandlungskommission nochmal auf eine Verhandlung eingelassen, zu welcher der Postvorstand eingeladen hatte – eine falsche, wenn auch nicht unvorhersehbare Entscheidung mit einem üblen Ergebnis.

Das Ergebnis

Ab April 2024 werden die Tabellenentgelte für alle Vollzeitbeschäftigten um monatlich 340 Euro erhöht. Das entspricht in den unteren drei Entgeltgruppen, in denen fast 90 Prozent der Tarifbeschäftigten eingruppiert sind, Entgeltsteigerungen von 11,0 bis 16,1 Prozent. Die Laufzeit beträgt allerdings 24 Monate (siehe: https://www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++3272f710-c01c-11ed-a2f8-001a4a160129).

Das heißt, dass von der Forderung 15 % für 12 Monate gerade etwa die Hälfte übrig geblieben ist. Dazu kommen Sonderzahlungen von insgesamt 3000 Euro, die – verteilt über 11 Monate – nochmal unter den 340 Euro pro Monat liegen, die die Postler:innen in einem Jahr bekommen sollen.

Die 3000 Euro sind steuerfrei. Das ist ein Trick. Er bringt den Beschäftigten kurzfristig mehr Cash, aber keine Punkte bei der Rente. Auf die 3000 Euro Sonderzahlung gibt es auch kein Urlaubs- oder Weihnachtsgeld. Die Firma aber spart richtig. Der Staat zahlt mit Steuerverzicht und zwar gewaltig. Wen werden die Sparmaßnahmen treffen? Die Bundeswehr oder die Sozialausgaben?

Das „Ergebnis“ liegt nicht nur ganz weit von der Forderung, es liegt auch deutlich unter der Inflation. Die Reallöhne würden noch weiter fallen. Zur gleichen Zeit macht der Konzern  Rekordgewinne. Die Aktionär:innen gewinnen doppelt: eine fette Dividende und steigende Aktienkurse.

Dieses Ergebnis wäre ein heftiger Ausverkauf. Jede Kollegin, jeder Kollege muss dagegen mit NEIN stimmen!

Was tun?

Aber das NEIN reicht nicht. Wir müssen uns fragen: Wer hat uns in diese gefährliche Situation gebracht? Eine Verhandlungsführung unter Andrea Kocsis, die uns ein „Ergebnis“ präsentiert, das kaum besser als das letzte Angebot ist, das sie selbst zu Recht zurückgewiesen hatte, wegen dessen die Verhandlungen für gescheitert erklärt worden waren.

Eine Verhandlungsführung, die mit neuen Verhandlungsgesprächen beginnt, nachdem die Entscheidung für Streik demokratisch und eindeutig gefallen war und die dieses demokratische Votum der Mitglieder kalt missachtet. Die jetzt mit diesem „Ergebnis“ eine erneute Urabstimmung veranlasst, die wieder über 75 % Ablehnung kommen muss, um mit einem Streik ein einigermaßen gutes Ergebnis zu erreichen.

Wenn Kocsis recht hat, dass das Votum für Streik den Bossen Sorge bereitet hat, dann kann sich jede:r an den Fingern abzählen, was ein Streik bewirken würde!

Kocsis hat mit diesem Manöver auch die Verhandlungsposition für jede/n Nachfolger:in geschwächt: Wenn die Bosse die ver.di-Chef:innen auch noch nach einer Urabstimmung an den Verhandlungstisch bringen können, dann werden sie zukünftig ihre Verhandlungs„angebote“ noch unverschämter gestalten. Zugleich hat Kocsis mit ihrem Manöver das Vertrauen in die Gewerkschaft tief erschüttert. Alle diejenigen, die an ihren Arbeitsplätzen für ver.di geworben, für den Tarifkampf mobilisiert haben und für ein Ja zum Streik können durch diese drohende Niederlage aus den eigenen Reihen enttäuscht und frustriert werden.

Schließlich bedeutet eine zweijährige Laufzeit auch, dass die Konzernzentrale der Post für die nächsten zwei Jahre die Friedenspflicht nutzen kann und wird (!), die nächsten Angriffe auf Beschäftigte und Kund:innen durchzuführen, also Umstrukturierungen, weitere Arbeitszeitverdichtungen, Ausdünnen von Filialen, aber auch Preiserhöhungen, um beispielsweise den Briefversand richtig profitabel zu machen. Für diese Auseinandersetzungen, die eigentlich mit dem Kampf für entschädigungslose Verstaatlichung der Post unter Arbeiter:innenkontrolle verbunden werden müssen, stehen die Belegschaften, aber auch die Masse der lohnabhängigen Kund:innen schlechter da. Ein bundesweiter unbefristeter Erzwingungsstreik könnte nicht nur ein weit besseres Ergebnis bringen, sondern auch Kampfstrukturen für die weiteren Auseinandersetzungen schaffen.

Deshalb muss eine breite Ablehnung des „Ergebnisses“ damit verbunden werden, die Basis zu stärken und die Gewerkschaft in die eigene Hand zu bekommen:

  • Organisiert Versammlungen, um das Ergebnis zu diskutieren! Falls der Streik doch kommt, müssen solche Versammlungen auch täglich einberufen werden, um den Erfolg im Streik zu sichern und die Manöver der Führung zu erkennen.

  • Wir brauchen Gewerkschaften, die Erfolge organisieren und keine Niederlagen! Wir brauchen überall Vertrauensleute und Betriebsgruppen, die nicht so sehr die Vorgaben „von oben“ umsetzen, sondern vor allem umgekehrt Rechenschaft von der Gewerkschaftsführung verlangen!

  • Dafür müssen wir uns in den Gewerkschaften als klassenkämpferische Opposition organisieren, um schnell und wirkungsvoll handeln zu können. So hätte diese letzte Verhandlung, die den Postbossen die große Chance liefert, vom Haken runterzukommen, an dem sie sich selbst aufgehängt hatten, nie zustandekommen dürfen. Massive Proteste hätten Kocsis und Co. in den Arm fallen müssen, mit dem sie den Bossen die Hand gereicht hat.

  • Für dieses Ziel müssen wir uns selbst organisieren! Wir, die Gruppe Arbeiter:innenmacht, kämpfen in der VKG mit vielen anderen dafür, dass sich alle, die kämpferische Gewerkschaften und dafür handeln wollen, zusammenschließen.



TVöD: der 8. März als Streiktag?

Anne Moll/Resa Ludivien, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Abgesehen von Berlin ist in keinem anderen Bundesland der Frauenkampftag ein Feiertag. Und zu feiern gibt’s auch nicht viel, schaut man sich die derzeitige TVöD-Runde an. Ein prädestinierter Streiktag also?

Was aus Clara Zetkins Frauentag wurde

Historisch gesehen ging es beim Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen zuerst um das Wahlrecht, um das gleiche Recht, sich zu organisieren und Gewerkschafts- wie Parteimitglied zu werden, um Zugang zur Universität, Gesundheitsschutz der arbeitenden Frauen und um das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Doch der Versuch seiner Vereinnahmung und Entpolitisierung ist auch nichts Neues. Immer wieder wird deutlich, dass die bürgerlichen Frauen, aber auch die Gewerkschaftsführung andere Forderungen im Sinn haben als Frauen aus der Arbeiter:innenklasse.

So versuchten 1994 Frauen in Stuttgart, den DGB von einem Frauenstreiktag zu überzeugen, bei dem auf die ungleiche Bezahlung und Doppelbelastung aufmerksam gemacht werden sollte. Trotz der Versuche des Vorstandes, die Aktionen als „Streittag“ zu verharmlosen, kam es zur Besetzung einer Kreuzung sowie zum Teil einer Teilnahme während der Arbeitszeit, sprich zu einem Streik. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, wie viel Mitverantwortung die Entschlossenheit der Basis trägt. Auch 29 Jahre später hat sich an der Situation von Frauen nur wenig geändert.

TVöD-Runde Bund und Kommunen: Wer streikt und was ist bis jetzt passiert?

Der 8. März 2023 fällt in Deutschland in eine spannende Zeit: Tarifauseinandersetzungen bei öffentlichen Betrieben, der Post, kommunalen Busunternehmen, im öffentlichen Dienst (TVöD-Runde), Streiks bei den Lehrer:innen in Berlin sind einige Beispiele dafür. Wir leben in Zeiten der Inflation. Sollten die geforderten 10,5 % durchgesetzt werden können, dann würden sie die aktuelle Preissteigerung wenigstens ausgleichen. Mindestens 500 Euro würden, vor allem für die Niedriglohngruppen, tatsächlich eine große Änderung bewirken und eine wichtige Signalwirkung ausstrahlen.

Das betrifft 1,6 Millionen Menschen, die nach TVöD bezahlt werden, d. h. diejenigen, die im öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden tätig sind. Das sind beispielsweise Arbeiter:innen in kommunalen Kitas, in Altenpflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern. Es gab viel Applaus, dass sie während der Pandemie weitergearbeitet haben, viele schöne Worte von Politiker:innen, dass sich die Arbeitssituation für Pflege- und Erziehungsberufe verbessern muss. Passiert ist bisher wenig. Gleichzeitig existiert ein Vorbild, wie erfolgreiche Streiks aussehen können: 2021 und 2022 erkämpfte die nordrhein-westfälische Krankenhausbewegung in wochenlangen Streiks den Tarifvertrag Entlastung.

Federführend für die derzeitige Verhandlungsrunde innerhalb des DGB ist ver.di. Die Mobilisierung läuft bereits seit letztem Jahr in Form von Mitgliederversammlungen und Vorbereitungen in den Betrieben. In Gewerkschaftskreisen hatte man zeitweise den 8. März ins Auge gefasst, um zu streiken. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass es sich um Bereiche handelt, in denen sehr viele Frauen arbeiten. Neben einer dauerhaften Überlastung und Unterfinanzierung dieser Sektoren sind Frauen und Migrant:innen strukturell schlechter bezahlt oder gar ohne Tarifverträge outgesourct – in Zeiten der Inflation ein tägliches Spiel mit dem Feuer.

Schaut man sich die Bereiche, zu denen auch Reinigung oder Behörden zählen, nochmal genauer an, so verwundert es nicht, dass zu den ursprünglichen Forderungen der Beschäftigten auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gehörte. Dazu zählen „utopische“ Wünsche wie Arbeitszeitverkürzung oder mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst. Doch das war den Gewerkschaften zu heiß. Der 8. März als Streiktag ist auch weg vom Fenster und man konnte sich im Oktober lediglich auf einen versöhnlichen Forderungskatalog einigen, welcher sich lediglich auf die Löhne bezieht. Ebenso offensichtlich ist die gezielte Schwächung des Streikes durch eine Teilmobilisierung. Warum alle zusammen mobilisieren, wenn man auch nur einzelne Sektoren wie die BSR (Stadtreinigung) in Berlin aufrufen kann? Und das mit dem Wissen, dass die Kolleg:innen am Limit sind, alles immer teurer wird, sodass sogar Butter, geschweige denn Gas- oder Mietpreise ein Luxusprodukt darstellen. Und das, nachdem nach Corona vor allem im Krankenhaus viele mit dem Gedanken spielen, ganz auszusteigen, und die Arbeit„geber“:innenseite auch diese niedlichen Forderungen noch herunterhandeln wird. Das ist Politik gegen die Arbeiter:innenklasse!

Frage dich mal, was deine Gewerkschaft für dich tun kann

Am 24.01.2023 fand die erste Verhandlungsrunde zum TVöD statt. Eine der Teilnehmer:innen aufseiten der Arbeit„geber“:innen war Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Diese hat wieder einmal gezeigt, dass diese sich zwar auf ihre „guten alten Zeiten“ als Arbeiter:innenpartei stützt, aber keineswegs Politik für die Arbeiter:innenklasse betreibt. Ergebnis: nächste Runde, denn es gab nichts zu „verhandeln“. Dafür hätten die Gemeinden und Kommunen ein Angebot unterbreiten müssen. Besonders interessant ist, dass die minimalen Forderungen der Gewerkschaften zu hoch und unrealistisch angesichts leerer Kassen ausfallen sollen. Doch wo bleiben dann Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz, sodass endlich mal die Reichen für die Krise bezahlen?

Diese Argumentation hat nicht nur etwas mit der aktuellen Situation zu tun: Sie hat System. Es gibt nur eine Möglichkeit, diesem zu entrinnen, nämlich, indem die Warn- in unbefristete Erzwingungsstreiks überführt werden. Daneben müssen Demonstrationen organisiert und Solidaritätsbündnisse geschlossen werden. Unsere Aufgabe als klassenkämpferische Gewerkschafter:innen und Revolutionär:innen liegt darin, dies voranzutreiben, Druck auf die Gewerkschaftsführung auszuüben, die Kämpfe zusammenzuführen und unter Kontrolle demokratisch gewählter, den Mitgliedern verantwortlicher Streikkomitees zu stellen.

Frauenkampftag, Streiktag – gemeinsam auf die Straße!

Es wird knapp in der Kasse. Schon allein, wenn wir nach dem Einkauf in unser Portemonnaie sehen. Die nächste Gasrechnung bereitet uns schlaflose Nächte. Wir sind es leid, dass alle die Krisen von Corona über Klima- und Energiekrise auf unseren Rücken ausgetragen werden! Lasst uns unseren Anteil zur Tilgung der Kosten und Ermöglichung eines anständigen Lebens erstreiken! Der Internationale Frauentag ist dafür wie geschaffen und ursprünglich als Kampftag gedacht. Diese Bedeutung müssen wir ihm zurückgeben. Bremen geht hier mit gutem Beispiel voran: Hier ist der Streik durch die ver.di-Mitglieder beschlossene Sache.

Dass er in Berlin zu einem Feiertag geriet, kann nur unter Berücksichtigung der wenigen Feiertage dort allgemein positiv bewertet werden. Es trägt parallel zur Entpolitisierung des Tages bei und das ist gewollt. Man mag es als Form der Transformation sehen, wenn sich die Regierenden eine zunächst kämpferische Thematik zu eigen machen und nach ihrem Gusto interpretieren. Dass es gerade von einer rot-rot-grünen Politik befürwortet wird, zeigt die tief verwurzelte Sozialpartnerschaft, die kein Interesse aufkommen lässt, tatsächlich an diesem Tag die Belange von Frauen wie schlechte Bezahlung, Sexismus am Arbeitsplatz oder geringere Aufstiegschancen zu thematisieren. Der Frauenkampftag ist kein Feiertag, kein Streittag, sondern Streiktag!

Es ist daher Aufgabe der Basis, die Gewerkschaftsführungen daran zu erinnern, wessen Interessen sie ursprünglich vertreten sollten, und dies zu erzwingen. Doch ein Streiktag reicht nicht. Die nordrhein-westfälische Krankenhausbewegung hat es vorgemacht. Es darf nicht nur um Geld, sondern muss auch um Entlastung und bessere Arbeitsbedingungen gehen. Dafür brauchen wir Streikkomitees in allen Betrieben.

  • Hinaus zum Frauenkampftag! Frauenkampftag ist Frauenstreiktag!

  • Regelmäßige Vollversammlungen, Wahl und Abwählbarkeit der Streikkomitees!

  • Volle Kampfkraft für 10,5 % jetzt und mindestens 500 Euro für alle!

  • Früheren Renteneintritt ermöglichen, Altersteilzeitregelung verlängern! Mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst!

  • Für eine Arbeitszeitverkürzung mit paralleler Einstellungsoffensive unter Kontrolle der Beschäftigten!

  • Finanzierung der Maßnahmen durch massive Besteuerung der Unternehmensgewinne und Vermögen!



„Die Pflege muss enteignet werden!“

Interview mit einem Pflegeazubi aus Leipzig, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Das Wort Pflegenotstand ist in aller Munde: Überall fehlt es an Pflegekräften und Fachpersonal, Löh-ne sind viel zu niedrig. Die Politik hat nichts weiter übrig als vermeintlich wertschätzende Worte, aber es brennt an allen Enden und Ecken. Aber nicht nur die festangestellten Pflegekräfte bekommen et-was von den Problemen mit, auch die Azubis spüren es am eigenen Leib. Daher habe ich mich mit D., 19 Jahre, aus Leipzig getroffen, welcher eine Ausbildung zur Pflegefachkraft in einem privaten Alten-pflegedienst in Leipzig absolviert. Das Interview führte Leonie Schmidt

Hallo D., warum hast du dich für die Ausbildung zur Pflegefachkraft entschieden und was sind deren Inhalte?

Ich habe mich dafür entschieden, weil ich Menschen helfen will und ich auch so sozialisiert wurde. Meine Eltern waren auch schon Pfleger:innen.

Die Ausbildung zur Pflegefachkraft dauert 3 Jahre. Da ist alles drin von der Grundpflege, wie man einen Menschen richtig pflegt, wie man mit ihm kommuniziert, wie man psychischen Support leistet. Dann geht es weiter zu den Medikamenten, zum Aufbau des menschlichen Körpers. Durch die Zu-sammenführung der Ausbildung ist es so, dass man echt viel Medizin, darunter Anatomie lernen muss. Und das ist natürlich auch ein riesiger Stress, der auf die Azubis zukommt. Von dir als Azubi wird verlangt, dass du 8 Stunden in der Schule sitzt und dann 8 Stunden zu Hause nochmal lernst bzw. dich auf der Arbeitsstelle nochmal hinsetzt und am besten noch Hausaufgaben machst, was einfach nicht möglich ist in den meisten Fällen. Und am Ende der Ausbildung bist du dann eine Pfle-gefachkraft, die Allrounderin ist und überall eingesetzt werden kann– und auch wird. Also man hat diesbezüglich keine Probleme später, wenn man nach einer Arbeitsstelle sucht.

Das klingt auf jeden Fall ziemlich interessant, aber auch anspruchsvoll. Es gibt ja sowieso schon aktuelle Probleme in der Pflege. Wie schlägt sich denn der Pflegenotstand auf deine Ausbildung nie-der?

Es ist definitiv der Personalmangel, der sich hier zeigt, also dass die Fach- und Führungskräfte total überlastet sind, Dienstpläne nicht geschlossen werden können. Wenn sich jemand krankmeldet, dann wird Druck gemacht. Jemand muss aus dem Urlaub oder freien Tag geholt werden. Und das sind dann meistens wir Azubis, zumindest war es bei mir so. Du wirst für die „Drecksarbeit“ einge-setzt, der Klassiker. Du lernst in den meisten Fällen nicht mal wirklich was bei den Aufgaben. Entwe-der hast du im betreuten Wohnen gar nichts zu tun oder im Krankenhaus richtig viel Stress, wo du den ganzen Tag rumläufst, Betten beziehst, Medikamente verteilst und so weiter. Auch Sachen, die du eigentlich noch gar nicht machen darfst wie Spritzen oder Infusionen vorbereiten und anhängen sind dann alles Aufgaben, die auf dich abgewälzt werden, weil die Fachkräfte das zeitlich nicht schaf-fen. Natürlich ist es auch ein großes Problem, dass du dauerhaft am Arbeiten bist. Du hast keine Frei-zeit. Du bist am Wochenende arbeiten, wenn deine Freunde feiern gehen. Du bist abends arbeiten, wenn deine Freunde zuhause sitzen und Serien schauen. Du hast nie Zeit, was einen natürlich auch psychisch total fertigmacht – vor allem in so einem jungen Alter. Dann hat man einfach keine Jugend, weil man die ganze Zeit nur auf der Arbeit ist oder lernt.

Die Azubis werden also wie überall als volle Arbeitskraft eingesetzt, aber weder ordentlich entlohnt noch ordentlich ausgebildet, was gerade in Kombination mit dem Pflegenotstand besonders heftig ist. Das ist natürlich ein Sache, die man ganz klar angehen muss. Und was gibt es für Probleme spezi-ell an deinem Arbeitsplatz?

Ein ganz großes Problem bei dem privaten Pflegedienst, wo ich meine Ausbildung mache, ist, dass es keine Kommunikation im Team gibt. Man bekommt erst Sachen mit, wenn es wirklich zu spät ist, bspw. bei einer Abmahnung. Es gibt keinen mentalen Support. Niemand fragt zum Beispiel, warum du zu spät gekommen bist, es dir schlecht geht oder du keine Motivation zeigst. Und das zweite sehr große Problem ist, dass es ein privater Pflegedienst ist, und das führt dazu, dass der Mensch dort eine Ressource ist, egal ob Arbeit„nehmer“:in oder Patient:in.  Beide Gruppen werden extrem ausge-beutet und nur der Profit steht im Vordergrund.

Gibt es bei deiner Ausbildungsstelle auch Fälle von Rassismus oder Sexismus?

Bei meiner Stelle, am Randgebiet von Leipzig, gibt es auch sehr viel alltäglichen Rassismus. Wir haben zum Beispiel einen Pflegeazubi, der ist super lieb, 27 Jahre alt und wohnt seit 7 Jahren in Deutsch-land. Er spricht perfekt Deutsch, hat vorher auch eine Sozialassistentenausbildung gemacht und da-nach eine zum Krankenpflegehelfer. Jetzt macht er gerade eine Ausbildung zur Pflegefachkraft und studiert nebenbei. Er hat so viele Jahre fürs Gesundheitssystem in Deutschland gearbeitet und immer noch keinen deutschen Pass. Von Patient:innen und auch von den Mitarbeiter:innen kommen oft dumme rassistische Kommentare, wenn er nicht da ist.

Und der alltägliche Sexismus von der älteren Generation, was man nun mal leider kennt, kommt auf jeden Fall auch vor. Es gibt hier viele kleinbürgerliche Rechte mit Freiwildtattoo und „Böhse Onkelz“-Sticker am Auto. Mehr habe ich so konkret nicht mitbekommen, aber man merkt diese Stimmung immer, wenn es um solche Themen geht.

Das klingt nach einer Situation und Arbeitsbedingungen, die so nicht hinnehmbar sind. Was denkst du, wo müssten wir im Arbeitskampf im Pflegebereich ansetzen?

Definitiv Pflege enteignen! Pflege darf nicht, egal in welchem System, privat sein. Es kann nicht sein, dass Menschen so ausgebeutet werden, dass ihre Gesundheit als Ressource angesehen wird. Ich denke, das wird es wahrscheinlich in jedem Bereich des Kapitalismus geben. Aber in der Pflege ist es natürlich nochmal was ganz anderes, wenn wirklich spezifisch damit Geld gemacht wird, dass Men-schen auf dich angewiesen sind. Und das sollte es nicht geben. Es sollte also alles unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse verstaatlicht werden, höhere Einheitslöhne und bessere Arbeitsbedingungen geben. Gerade die Ausbildung sollte attraktiver gemacht werden, besonders für junge Menschen. Und es sollte einfach viel mehr Support von der breiten Masse für diese Ausbildung geben, zum Bei-spiel Boni. Das Schulsystem sollte angepasst werden, dass man auch einfach mal Jugendliche/r sein kann während der Ausbildung. Wenn man zum Beispiel neben der Berufsschule arbeitet, sollte es angepasst werden, dass man nicht 12 – 13 Tage durcharbeiten darf. Gewerkschaftliche Arbeit, auch im Azubibereich, ist ein wichtiger Ansatz, um das zu erreichen.

Das klingt nach einer sehr sinnvollen Perspektive. Viel Kraft für den gemeinsamen Kampf und vielen Dank für das Gespräch!




Poststreik – die einzige Sprache, die sie kennen!

Helga Müller, Infomail 1215, 4. März 2023

Die Deutsche Post AG verweigert den Kolleg:innen einen Inflationsausgleich – trotz Milliardengewinnen. Daraufhin hat sich die ver.di-Tarifkommision für die Urabstimmung über einen Vollstreik entschieden. Die Abstimmung läuft bis zum 8. März. Mit einem klaren Ja ist zu rechnen – und damit steht die Tür offen, die Konzernleitung in die Knie zu zwingen: durch einen unbefristeten Durchsetzungsstreik gegen die Bedrohung der Post AG mit Auslagerung und der „Arbeitgeberverbände“ mit Verschärfung des Streikrechts!

Die Forderungen …

Wie bekannt hat sich die ver.di-Tarifkommission bei der Deutschen Post AG nach einer Mitgliederbefragung dazu entschieden, eine lineare Erhöhung der Gehälter von 15 %, eine Erhöhung der Ausbildungsvergütung für Azubis und Student:innen in der dualen Ausbildung von 200 Euro und eine Verlängerung der Postzulage für die noch 20.000 Kolleg:innen mit Beamtenstatus zu fordern.

Begründet wird das zum einen mit der schlechten Bezahlung der überwiegenden Mehrheit der Kolleg:innen. Von den 160.000 Tarifbeschäftigten bei der Deutschen Post AG sind 140.000 in den Entgeltgruppen 1 bis 3 eingruppiert, was einem Monatsbruttogrundgehalt zwischen 2.108 und 3.090 Euro entspricht (Angaben nach ver.di). Zum anderen mit den schlechter gewordenen Arbeitsbedingungen durch massiven Stellenabbau, ein drastisch ausgedünntes Filialnetz mit der Folge, dass die Kolleg:innen überbelastet sind durch die ständig wechselnden und größeren Zustellungsgebiete.

Die Inflation schlägt gerade bei diesen schlecht bezahlten Beschäftigten bei der Post – immerhin fast 90 % – besonders hart zu, denn diese müssen einen höheren Anteil ihres Gehalts für die höheren Preise bei Energie und Lebensmitteln ausgeben.

 … und Rekordgewinne

Auf der anderen Seite kann sich die Deutsche Post AG diese Erhöhung leicht leisten, da diese in zwei Jahren in Folge Rekordgewinne eingefahren hat: 2021 von 5,1 Milliarden und 2022 sogar 8,4 Milliarden Euro! Die Beschäftigten haben dies mit mieser Bezahlung – so betrug der Reallohnverlust laut ver.di allein im vergangenen Jahr 5,9 % (zit. nach nd-aktuell, 15.2.23: „Gewerkschaft Verdi im Superkampfjahr“) – und schlechter gewordenen Arbeitsbedingungen bezahlen dürfen!

Nach 3 Verhandlungsrunden und Warnstreiks, an denen sich über 100.000 Beschäftigte in den Brief- und Paketzustellzentren punktuell beteiligten, hatte der Postvorstand die Forderungen zunächst als realitätsfern und nicht umsetzbar bezeichnet und dann in der dritten Runde ein Angebot vorgelegt, das nach Angaben von ver.di sehr komplex ist, da steuer- und abgabenfreie Zahlungen mit tabellenwirksamen Festbeträgen kombiniert werden und daher individuell sehr unterschiedliche Auswirkungen zeitigen (Details s. hier: https://psl.verdi.de/tarifrunde2023/angebot). Diese liegen weit entfernt von den ver.di-Forderungen nach einem Inflationsausgleich. Nach ver.di-Berechnungen würde das Angebot lediglich eine durchschnittliche Tariferhöhung von 9,9 Prozent betragen und das auf eine Laufzeit von 2 Jahren gerechnet (Zit. nach nd-aktuell, 15.2.23: „Gewerkschaft Verdi im Superkampfjahr“)!

Urabstimmung

Vollkommen zu Recht hat die Tarifkommission dieses Tarifergebnis als völlig unzureichend bezeichnet und ihre Mitglieder zur Urabstimmung über einen unbefristeten Streik aufgerufen. 75 % müssen sich nun bis zum 8. März für den unbefristeten Streik entscheiden, damit es zu Durchsetzungsstreiks kommt.

Die Bedingungen dafür sind gut: Zum einen ist die Wut über die arrogante Haltung des Postvorstandes angesichts der Rekordgewinne in den letzten beiden Jahren und der immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen groß. Zum anderen ist die Notwendigkeit, einen realen Inflationsausgleich durchzusetzen, aufgrund der schlechten Bezahlung, die durch die galoppierende Inflation schnell aufgefressen wird, bei den Postbeschäftigten besonders dringlich! Obendrauf kommt dann auch noch die Androhung des Postvorstandes inmitten des Urabstimmungsverfahrens, noch mehr Betriebe und Bereiche zu noch schlechteren Arbeitsbedingungen auszugliedern und damit die Tarifbindung zu unterlaufen. Gerade damit haben die Kolleg:innen in den letzten Jahren genügend Erfahrung gemacht. Das führt sicherlich zu noch mehr Wut und Ärger unter ihnen.

Gut organisiert

Zudem sind sie gut organisiert: Der Organisationsgrad liegt insgesamt im Durchschnitt bei 70 % bundesweit, wobei es hier auch starke regionale Unterschiede gibt. Es gibt Bereiche, die bis zu 90 % organisiert sind, aber es gibt auch solche, wo der Organisationsgrad unter 50 % liegt – vor allem bei Dienststellen mit vielen Teilzeit- oder befristeten Beschäftigten. Alles in allem sind das aber gute Voraussetzungen, um auch einen Durchsetzungsstreik durchzuhalten.

Die Kampfkraft der 160.000 Beschäftigten bei der Post könnte zusätzlich verstärkt werden, da auch die 2,3 Millionen im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen gerade in Tarifverhandlungen stehen. Die dritte und vorerst letzte Verhandlung findet dort vom 27. – 29. März statt. Auch wenn sich die Kolleg:innen im öffentlichen Dienst noch in der Warnstreikphase befinden, könnten gemeinsame Streiks und Protestkundgebungen erfolgen. Solche haben bereits vor der dritten Tarifrunde bei der Post in mehreren Städten stattgefunden, die auch von den Kolleg:innen aus den beiden Bereichen sehr positiv aufgenommen wurden, zudem sich auch die öffentlichen Arbeit„geber“:innen stur stellen!

Diese Zusammenführung ist dringend nötig, denn zum einen werden voraussichtlich auch die Verhandlungsführer:innen aus Kommunen und Bund sich bis zur dritten und vorerst letzten Tarifverhandlung weigern, ein Angebot, das einen Inflationsausgleich beinhaltet, zu unterbreiten mit dem Hinweis auf angeblich leere Kassen – auch wenn mit einem Handstreich 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung lockergemacht wurden und es genügend Spielraum gäbe, die Gewinne von Unternehmen, die auch während der Pandemie und Energiekrise Profite eingefahren haben, abzuschöpfen. Dies wird den ver.di-Vorstand mit großer Wahrscheinlichkeit auch dazu nötigen, eine Urabstimmung abzuhalten – mit der Einschränkung, dass es hier vorher noch zu einem Schlichtungsverfahren zu kommen droht.

Streikrecht

Zum anderen droht nicht nur der Postvorstand mit neuen Angriffen. Die CDU-Mittelstandsvereinigung – also Unternehmerzusammenschlüsse – fordern bereits aufgrund der zweitägigen Warnstreiks bei mehreren Flughäfen eine Einschränkung des Streikrechts. „Das Streikrecht dürfe nicht missbraucht werden, um im ‚frühen Stadium von Tarifverhandlungen unverhältnismäßig Druck auszuüben und durch die Einbeziehung kritischer Infrastrukturen schweren Schaden auszurichten’, heißt es in einem Papier der Mittelstandsunion.“ (Zit. nach nd-aktuell, 20.2.23: „Das Kapital zeigt bei der Post & Co. seine Zähne gegen Streiks“)

Gegen diesen Angriff braucht es auch eine offensive Antwort von Seiten der Gewerkschaften! Die nach wie vor betriebene Sozialpartnerschaft mit Appellen an die Vernunft der Verhandlungsführer:innen durch die Gewerkschaftsführungen, die auch immer wieder bei den Verlautbarungen von ver.di sowohl bei der Tarifrunde Post als auch öffentlicher Dienst anklingen, wird die „Arbeitgeber:innen“ nicht weiter beeindrucken! Im Gegenteil, wenn wir uns nicht mit allen Mitteln gemeinsam wehren, droht das zu einer großen Niederlage der Gewerkschaftsbewegung zu führen. Nicht nur, dass dann viele enttäuschte Kolleg:innen, die für ihre Ziele gestreikt haben, die Gewerkschaftsbücher hinwerfen könnten, es würde auch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis noch weiter zugunsten des Kapitals verschieben!

Ein erster guter Ansatz, der mittlerweile in verschiedenen Bezirken – aber noch lange nicht in allen – existiert, sind gemeinsame Bezirkskampfleitungen, in denen die aktiven Kolleg:innen aus den verschiedenen Bereichen, die sich gerade in Tarifverhandlungen befinden, zusammenkommen und über gemeinsame Aktionen diskutieren. Diese müssen auch das Recht bekommen zu bestimmen, gemeinsame Streiks durchzuführen.

Konsequenzen aus den letzten Tarifrunden

Darüber hinaus müssen aber auch die Konsequenzen aus den letzten Tarifrunden gezogen werden, bei denen die Gewerkschaftsführungen auf unterschiedliche Art und Weise immer wieder faule Kompromisse mit den „Arbeitgebern:innen“ gefunden haben, weil sie nicht mit der Politik der Klassenzusammenarbeit brechen wollen und damit letztendlich den Wirtschaftsstandort Deutschland gegen die internationale Konkurrenz zu verteidigen versuchen.

Die streikenden Kolleg:innen, die ein wirkliches Interesse an der vollen Durchsetzung der Forderungen hegen, müssen die Entscheidung über den Fortgang der Kampfmaßnahmen erhalten. Dafür brauchen sie auch Einblick in den Stand der Verhandlungen und das Entscheidungsrecht darüber, wie der Streik fortgeführt wird. Einzelne Elemente der Streikdemokratie gab es in den beiden Krankenhausbewegungen in Berlin und NRW: Z. B. wurden die Tarifdelegierten oder -botschafter:innen über die Ergebnisse der Verhandlungen zeitnah informiert und konnten über den Fortgang mitentscheiden. Auch die streikenden Kolleg:innen wurden z. B. in der NRW-Krankenhausbewegung in Streikversammlungen über das letzte Tarifergebnis informiert, konnten es diskutieren und darüber entscheiden. Es hatte sich zwar eine Mehrheit dafür ausgesprochen, aber z. B. die Kolleg:innen in Düsseldorf stimmten nach einer längeren Diskussion gegen das Ergebnis!

Aber all dies beruhte auf einer „freiwilligen“ Entscheidung der Tarifkommission, über das Verhandlungsergebnis nicht ohne Befragung und Abstimmung unter den streikenden Kolleg:innen zu entscheiden. Letztendlich hatten aber immer noch die Gewerkschaftsfunktionär:innen das letzte Wort, was sich z. B. im „verfrühten“ Abschluss bei der Charité und Vivantes niederschlug und dazu führte, dass die Kolleg:innen der ausgelagerten Tochtergesellschaften am Schluss allein für die Anerkennung des TVöD in den Töchtern kämpfen mussten. (S. a.: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/04/vorlaeufige-bilanz-des-berliner-klinikstreiks-vor-der-entscheidung/ und https://arbeiterinnenmacht.de/2022/06/18/nrw-unikliniken-in-der-8-streikwoche-licht-und-schatten/; https://arbeiterinnenmacht.de/2022/07/21/streik-der-unikliniken-nrw-beendet/)

D. h. freiwillige Zusagen der Tarifkommissionen über eine engere Zusammenarbeit und Abstimmung unter den streikenden Kolleg:innen sind zwar positiv zu bewerten, reichen aber nicht aus. Was es braucht, sind Streikkomitees – wie sie an der Uniklinik Essen aufgebaut und praktiziert wurden –, bestehend aus Delegierten verschiedener Bereiche, die jederzeit abwählbar sein müssen und die Aufgabe haben, die Diskussion und Abstimmung über die Fortführung der Tarifrunde auf Streikversammlungen mit den streikenden Kolleg:innen zu organisieren. Solche Streikkomitees, mit Hilfe derer die streikenden Kolleg:innen selbst demokratisch entscheiden können, sind überall in allen Betrieben, Dienststellen oder Büros, aber auch auf lokaler, regionaler und letztendlich auch auf Bundesebene nötig, damit sie selbst ihren Kampf unter ihre eigene Kontrolle bekommen und damit der Sozialpartnerschaftspolitik der Führung funktionierende Strukturen entgegensetzen können.




„Mindestens 500 Euro monatlich ist die wichtigste Forderung!“

Interview mit einer Beschäftigten der Stuttgarter Stadtverwaltung, Infomail 1215, 28. Februar 2023

Die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes ist im vollen Gange und die ersten beiden Verhandlungsrunden wurden ergebnislos beendet. Um nicht nur die üblichen „Tarifrituale“ zu kommentieren, haben wir ein Interview mit einer Beschäftigten in der Stuttgarter Stadtverwaltung geführt, um auch Beschäftigten aus der Basis eine Stimme im Tarifkampf zu geben. Das Interview führte Christian Gebhardt.

GAM: Hallo, beschreib uns doch zunächst die Stimmung in deinem Betrieb. Spielt die Tarifrunde in Gesprächen eine Rolle oder geht sie bisher eher an den Kolleg:innen vorbei?

Mein persönlicher Eindruck ist, dass am Anfang während der Forderungsfindung die Tarifrunde kaum präsent bei den Kolleg:innen war. Doch nach der ersten Verhandlungsrunde wurde schon viel über die Forderungen gesprochen und diskutiert. Hier hat auch die Unterschriftensammlung einen positiven Effekt gehabt, um die Diskussionen in meinem Betrieb zu entfachen.

Nachdem die Forderung zu den 10,5 % und mind. 500 Euro von ver.di öffentlich gemacht wurde, begann eine bundesweite Unterschriftenaktion, um möglichst viele Kolleg:innen hinter die Forderungen zu sammeln. Unser Bezirk war hier bundesweit ziemlich weit vorne. Im Klinikum haben über 50 % der Belegschaft unterschrieben. Die über 11.000 gesammelten Unterschriften wurden dann öffentlichkeitswirksam an einem Streiktag dem Oberbürgermeister übergeben. Ich fand das insgesamt einen guten Auftakt für die Tarifrunde.

GAM: Die 500 Euro stellen vor allem für die unteren Tarifgruppen eine wichtige Forderung dar. Kommt diese bei den Kolleg:innen an?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass am Anfang nicht richtig verstanden wurde, worum es bei den 500 Euro geht. Nämlich um 500 Euro mehr für die Tabelle. Das bedeutet bei vielen sogar mehr als 15 % Lohnerhöhung. Ich habe auch den Eindruck, dass eben die Forderung nach den tabellenwirksamen 500 Euro die wichtigste Forderung für die Kolleg:innen ist und für die sie auch kämpfen wollen. Eine Kollegin – die selbst kein ver.di Mitglied ist – fand von Anfang an die 10,5 % zu wenig, da es dadurch keinen Inflationsausgleich der vergangenen Jahre geben würde. Zusätzlich hat sie aus Erfahrung auch wenig Vertrauen in ver.di, diese 10.5 % zu erreichen. Die 500 Euro sind da greifbarer.

GAM: Die Frage der Streiktaktik ist immer eine wichtige. Was plant ihr denn in den Streikversammlungen in Stuttgart für Aktionen?

Aus Sicht der Streikversammlung in der Stadtverwaltung sollen die Streiks einen möglichst großen wirtschaftlichen Schaden bei der Stadt anrichten, um Druck auf diese aufzubauen. Auch wenn nicht von vornherein alle Beschäftigten mobilisiert werden sollen, sprechen wir darüber, welche Bereiche gezielt bestreikt werden sollen, um Schaden zu verursachen. Das wäre dann zum Beispiel die Hauswirtschaft beim Jugendamt. Diese bereitet täglich Essen für unsere Kitas zu. Wenn diese streikt, muss alternativ teureres Essen für die Kinder besorgt werden. Ein weiteres Beispiel wären Streiks der Parküberwachung, da diese einen wirtschaftlichen Schaden für die Stadt anrichten, wenn dadurch für jeden Streiktag Tausende Euros für Falschparken flöten gehen. Eine große Außenwirkung auch auf die Privatwirtschaft hätten Streiks bei der KfZ-Zulassungsstelle. Wenn die dichtmacht, kann das auch Auswirkungen für Daimler und Porsche zeitigen, die ja ihren Sitz hier in Stuttgart haben.

GAM: Empfindest du diese Taktik als zielführend? Oder hast du andere Vorstellungen bezüglich der Streiktaktik?

Ich finde es gut, dass man darauf schaut, welche Bereiche einen finanziellen Schaden anrichten können. Wichtiger finde ich aber, dass alle Beschäftigten aus den verschiedenen Bereichen mobilisiert werden und auch streiken. Der Streik sollte ja auch dazu führen, dass sich möglichst viele Kolleg:innen organisieren, sich ver.di anschließen und auf der Straße die Forderungen mit erkämpfen.

Ich denke auch, dass wir die anstehenden Streiks, wie die der Post, aber auch andere Kämpfe wie den internationalen Frauentag oder den Global Climate Strike miteinander verbinden sollten. Dies war auch mal im Gespräch bei einer Streikversammlung. Es hieß, wenn die Post in den Erzwingungsstreik geht, könne man die Streiks verbinden. Ich wüsste nicht, was dagegen spricht, es schon vorher getan zu haben. Es ist ja nicht so, dass man den Kolleg:innen von der Post die Show stiehlt, sondern vielmehr, dass wir dieselben Interessen haben und unseren Kampf gemeinsam auf der Straße führen. Meiner Meinung nach sollte man das direkt von Anfang an verbinden, dann hätte man auch viel mehr Leute auf der Straße mit gleichen Interessen.

Allerdings ist es gut, dass die Beschäftigten der Straßenbahnen ihren Streik mit dem Global Climate Strike am 3. März verbinden und zusammen für eine bessere Finanzierung und Ausbau des ÖPNV auf die Straße gehen.

GAM: Gab es noch andere Bereiche, in denen ver.di der Debatte zur Zusammenführung der Streiks ausgewichen ist?

Ja, am internationalen Frauentag soll vor allem im Pflege-, Sozial- und Erziehungsdienst gestreikt werden. Also dort, wo überwiegend Frauen beschäftigt sind und schlecht bezahlt werden. Der Streik wird mit der großen 8.-März-Demonstration verbunden. Die Kollegen in männerdominierenden Bereichen wie Abfallwirtschaft oder Garten- und Friedhofsamt sahen auf Diskussionen in der Streikversammlung hier leider keinen Grund, am 8. März zu streiken, weil das Thema nichts mit ihnen zu tun hätte und sie daran zweifelten, für die Demonstration Kollegen mobilisieren zu können. Leider wurde auch hier nicht ausgiebig genug diskutiert und der Diskussion ausgewichen. Ich persönlich finde, dass dies sehr wohl was miteinander zu tun hat und sich männerdominierende Bereiche hier solidarisieren sollten, stellt die schlechte Bezahlung der weiblichen Kolleginnen im öffentlichen Dienst nicht nur eine Ungerechtigkeit dar, sondern werden diese von der Gegenseite auch als Lohndrückerinnen eingesetzt. Schon aus „egoistischen“ Gründen sollten sich männliche Kollegen hier solidarisch zeigen. Zusätzlich ist die schlechtere Bezahlung auch ein Ausdruck der Unterfinanzierung des öffentlichen Dienstes, was sich über Umwegen dann auch bei ihnen bemerkbar macht.

GAM: Gibt es intern eigentlich Gespräche über einen möglichen Erzwingungsstreik?

Hier in Stuttgart wurde sich zumindest rhetorisch von Anfang an darauf vorbereitet, in den Erzwingungsstreik zu gehen. Jedoch schiebt hier die Bürokratie die Verantwortung an uns Beschäftigte ab: nämlich inwieweit wir die Kolleg:innen mobilisiert bekommen. Auch wenn die Organisierung eines Streiks durch die Basis wichtig ist, sollte die Bürokratie hier nicht alles auf uns abwälzen. Ein Erzwingungsstreik sollte durch alle beteiligten Gewerkschaften geplant und unterstützt werden. Dafür haben wir zentrale Organe in unseren Gewerkschaften, die eine solche Koordinierung und Organisierung übernehmen sollten. An der Basis haben wir z. B. durch die Unterschriftensammlung gezeigt, wie viele Kolleg:innen wir für die Forderungen gewinnen können. Nun liegt es eigentlich an der Führung, den Erzwingungsstreik auf die Gleise zu setzen. Ich frage mich hier jedoch, warum dies nicht aktiver angegangen wird, obwohl zu Beginn mehrmals darüber gesprochen wurde. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Bürokratie eigentlich keinen Erzwingungsstreik möchte und diesen versucht zu verschleppen.

GAM: Einem Erzwingungsstreik steht ja das Schlichtungsabkommen von ver.di im Weg. Hier verpflichtet sich die Gewerkschaft, einer Schlichtung zuzustimmen, sollte die Gegenseite diese einleiten. Was hältst du von diesem Abkommen?

Ich halte von dem Abkommen nichts und finde es schädlich für die Mobilisierung der Beschäftigten. Dieses Abkommen sollte von ver.di aus gekündigt werden. Wir sind seit Monaten schon dabei, Kolleg:innen für die 10,5 %, aber mindestens 500  Euro zu gewinnen. Diese Schlichtung, welche ab 1. April einberufen werden kann, dauert einen Monat an und währenddessen herrscht Friedenspflicht. Das würde sich sicherlich nicht positiv auf die Mobilisierung auswirken. Das bedeutet, dass während der Schlichtung gar kein Druck durch Streiks auf die Arbeit„geber“:innenseite ausgeübt werden kann. Also ich gehe nicht davon aus, dass die Arbeit„geber“:innen“ auf unsere Forderungen zugehen werden. Ver.di darf aber ebenso wenig von unserer Forderung abrücken. Wir wollen wirklich nicht einen solchen Abschluss wie die IG Metall oder die IG BCE mit 2 Jahren Laufzeit und einem klaren Reallohnverlust. Würde ein solcher Abschluss im öffentlichen Dienst zustande kommen, wird das sicherlich zu Austritten führen.

GAM: Möchtest du unseren Leser:innen noch etwas mit auf den Weg geben?

Ich denke, für uns Beschäftigte ist es wichtig, dass wir auch Druck auf ver.di ausüben, damit unsere Forderungen durchgesetzt werden und wir zeigen, dass wir dafür auch in den Erzwingungsstreik gehen wollen und keinen Abschluss hinnehmen, der unsere Forderungen unterschreitet.




#wirfahrenzusammen: Streiks im Leipziger Nahverkehr

Niliam, Infomail 1214, 26. Februar 2023

Zweimal stand der ÖPNV Leipzigs in den letzten Tagen komplett still.

Am Mittwoch dem 22.02. fanden wie auch am Freitag dem 17.02. Warnstreiks statt. Nachdem letzte Woche alle vom TVöD (Tarifvertrag öffentlicher Dienst, unter ihn fällt auch Leipzigs Nahverkehr) betroffenen Beschäftigten streikten, waren es am Mittwoch ausschließlich die Beschäftigten der LVB (Leipziger Verkehrsbetriebe). Der für den Streik gewählte Tag war brisant: trafen doch RB Leipzig und Manchester City im Rahmen eines Champions League Spiels aufeinander. Tausende von Menschen und internationale Gäste waren zu erwarten. Ein erheblicher Reputationsverlust für die Stadt Leipzig war vorauszusehen.

Dies unterstreicht einmal mehr den Kampfeswillen der Beschäftigten, nach ihrer Forderung von 10,5% mehr Lohn, aber mindestens 500€ bei einer Laufzeit von 12 Monaten für die nächste Verhandlungsrunde Ende März. Wir zeigten uns im Rahmen der Kampagne #wirfahrenzusammen u.a. zusammen mit REVOLUTION an Streikposten in der Stadt und auf der Großkundgebung am Freitag mit den Streikenden solidarisch.

Auch wenn es sich nur um eine reine Lohntarifrunde handelt, müssen wir doch klarmachen, dass der Ausbau des ÖPNV dringend für eine Mobilitätswende gebraucht wird.

Während der Nahverkehr oft vernachlässigt, teuer und schlecht ausgebaut ist, wird immer noch auf klimaschädliche Fortbewegungsmittel gesetzt.

Wir fordern massive Investitionen in den Nahverkehr – für die Beschäftigten, für das Klima und für die Fahrgäste! Sachsen ist Schlusslicht, was die Bezahlung der Beschäftigten im ÖPNV angeht!

Urabstimmung für Erzwingungsstreiks jetzt!

Letzten Freitag waren wir bereits ab Streikbeginn um 3 Uhr morgens am Betriebshof Angerbrücke. Mit den Beschäftigten haben wir uns über die schlechten Arbeitsbedingungen sowie die bestehenden Ängste und Sorgen hinsichtlich der stark gestiegenen Verbraucherpreise ausgetauscht und darüber gesprochen, weshalb die Forderung der Tarifrunde das Mindeste ist, auf was sich eingelassen werden sollte. Sie durchzusetzen wird nur möglich, wenn die Verantwortlichen von ver.di schnell dazu getrieben werden, eine Urabstimmung für Erzwingungsstreiks durchzuführen.

Wichtig ist die gemeinsame Organisation im Arbeitskampf – der Klimaschutz steht nicht gegen die Arbeitsplätze, wie uns die Kapitalist:innen oft weis machen wollen. Die Klimabewegung kämpft mit den Beschäftigten für die gleichen Interessen!

Gemeinsam werden wir am 03.03. den globalen Klimastreik in Leipzig unterstützen.

Unsere Solidarität bedeutet auch Fahrgastgespräche zu führen und auf die berechtigten Belange der Streikenden aufmerksam zu machen. Der ÖPNV muss für eine klimaneutrale Zukunft zwingend ausgebaut werden. Mit Plakaten wurde an den Haltestellen darauf aufmerksam gemacht, weshalb die Busse und Bahnen still standen. Mit den Gäst:innen haben wir über die Gründe des Streiks gesprochen und wie berechtigt und wichtig die Unterstützung dieser ist – höhere Löhne dürfen nicht durch Ticketpreise ausgeglichen werden! Im Gegenteil fordern wir einen kostenlosen Nahverkehr, der durch die Besteuerung der Gewinne von VW und Co. finanziert wird.

Am Freitagvormittag kamen rund 2.000 Beschäftigte auf die Kundgebung der Gewerkschaft ver.di. Das Bündnis #wirfahrenzusammen hielt einen Redebeitrag über den gemeinsamen Kampf von Klimaschutz und den Forderungen für den Tarifvertrag. Die Masse zog nach weiteren Redebeiträgen einmal ums Leipziger Rathaus und machte OB Burkhard Jung deutlich klar: „Zusammen geht mehr“ und dass die vergangenen und zukünftigen Reallohnverluste zwingend aufgefangen werden müssen!

Die Arbeitgeberseite hat ein erstes Angebot vorgelegt, welches nicht als solches bezeichnet werden kann. Ihr Vorschlag: Eine Lohnerhöhung von drei Prozent zum 1. Oktober 2023, sowie eine weitere lineare Erhöhung der Entgelte um zwei Prozent zum 1. Juni 2024. Statt eines monatlichen Mindestbetrags mit sozialer Komponente bieten die Arbeitgeber zwei einmalige Inflationsausgleichszahlungen an: 1.500 Euro im Mai 2023 und erneut 1.000 Euro im Januar 2024. Für Nachwuchskräfte sollen die Einmalzahlungen 750 Euro bzw. 500 Euro betragen.

Fallen wir nicht darauf rein! Mit Einmalzahlungen und Verlängerung der Dauer des Tarifvertrages versuchen die Arbeitgeber eine wirkliche Verbesserung vorzutäuschen. Diese bedeuten aber weiterhin Reallohnverluste, welche nicht hinnehmbar sind. Auch wenn ver.di das Angebot sicher nicht annimmt, heißt es wachsam sein! Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Tarifkommission auf einen faulen Kompromiss einlässt.

  • Verkehrswende heißt gute Arbeitsbedingungen für Nahverkehrsarbeiter:innen!

  • Macht Stunk – die ver.di-Verantwortlichen müssen zur Einleitung der Urabstimmung gezwungen werden! Kündigt die Schichtungsklausel!

  • Für einen Streik in den Händen der Beschäftigten: Organisiert Euch selbst im Betrieb, wählt ein Streik- und Aktionskomitee, fordert öffentliche Verhandlungen sowie eine direkte Wähl- und Abwählbarkeit der Tarifkommission!

  • Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive!



Volle Mobilisierung für 10,5 %/500 Euro! Erzwingungsstreik!

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe Arbeiter:innenmacht zur Tarifrunde im Öffentlichen Dienst, Infomail 1214, 21. Februar 2023

Die „Arbeitgeber“verbände lehnen unsere Forderung ab. Angebot haben sie bis jetzt keines vorgelegt. Sie „wissen“ nur eins: unsere Forderung sei „wirtschaftlich nicht verkraftbar“. Wir sagen: 8 % Inflation und die Reallohnverluste der letzten Jahre sind für uns nicht verkraftbar!

Nach den Coronajahren, in denen wir mit Einmalzahlungen abgespeist wurden, stehen wir nun massiven Preissteigerungen gegenüber, die gerade bei Heizung, Energie und Lebensmitteln noch über der offiziellen Inflationsrate liegen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht.

Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. Wenn wir unsere Forderungen durchsetzen, einen Abschluss wollen, der über der Inflationsrate liegt, dann werden Warnstreiks nicht reichen. Wir müssen uns auf eine politische Kraftprobe mit Bund und Kommunen einstellen, die nicht nur von den Regierungen, sondern auch von der bürgerlichen Presse und vom Kapital in allen Branchen unterstützt werden. Daher sollten wir uns nicht auf monatelange Rituale und Verhandlungen einlassen, sondern möglichst schnell die Urabstimmung einleiten und einen landesweiten Erzwingungsstreik aller Beschäftigten vorbereiten und durchführen.

Keine faulen Kompromisse! Nein zur Mogelpackung Einmalzahlung!

Unsere Gewerkschaften wie auch die Tarifkommission müssen Einmalzahlungen weiter eine Absage erteilen und unsere Forderungen nach 10,5 % mehr Lohn, aber mind. 500 Euro bei einer Laufzeit von 12 Monaten ohne Wenn und Aber vertreten.

Jedoch wenn wir die Tarifrunden der IG Metall oder IGBCE anschauen, müssen wir wachsam sein. Dort wurden Einmalzahlungen vereinbart. Im Gegenzug wurden die Lohnforderungen zurückgeschraubt sowie einer längeren Laufzeit zugestimmt. Bei der IG Metall wurde die hohe Streikbereitschaft nicht genutzt. Das Ergebnis für die Beschäftigten: schon wieder Reallohnverlust. Solche Mogelpackungen brauchen wir nicht.

Natürlich ist die Einmalzahlung für den Moment hilfreich. Aber der geht vorüber, die Inflation bleibt. Auch auf die Rente wird sie nicht angerechnet und die Arbeit„geber“:innen sparen die Krankenkassenbeiträge auf Kosten des Gesundheitswesens.

Tarifrunde von unten!

Eine der Lehren, die wir aus diesen Tarifrunden ableiten können: Wir können uns als Voraussetzung für einen Erfolg nicht auf den Gewerkschaftsapparat verlassen! Die Vorbereitungen rund um die Warnstreiks müssen genutzt werden, um Mitglieder zu gewinnen wie auch Mobilisierungsstrukturen in den Betrieben und Einrichtungen aufzubauen.

Die beiden Krankenhausbewegungen in Berlin und Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass ein systematischer Gewinn von Mitgliedern wie auch erfolgreiche Tarifkämpfe selbst in Bereichen der Pflege möglich sind, die noch vor Jahren von ver.di als nicht streikfähig angesehen wurden.

Ob Gesundheitswesen, Bildung oder Verwaltung, ob Beschäftigte bei Bund oder Kommunen: Wir müssen alle zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen! Wie die Kolleg:innen in den Krankenhausbewegungen müssen wir unsere Forderungen selbst aufstellen und die Tarifkommission muss ständig die Mitglieder informieren. Dafür sind Streik- oder Streikdelegiertenversammlungen da!

Streikversammlungen als Kampfmittel!

Gute Beispiele stellen hier Anträge zur Aufkündigung der Schlichtungsvereinbarung dar. Ein solcher wurde auf einer Berliner Arbeitsstreikversammlung mit großer Mehrheit angenommen. Von der Aufstellung der Forderungen bis hin zur Streikführung und Entscheidung, wann der Streik zu Ende ist, müssen wir selbst bestimmen und kontrollieren. Die Uniklinik Essen kann hier als positives Beispiel für uns dienen. Dort wurden Delegierte aus allen Abteilungen in Streikkomitees gewählt und auf Streikversammlungen zusammengeführt. Diese diskutierten die jeweiligen Verhandlungen und beschlossen die weiteren Schritte des Arbeitskampfes wie auch seine Finanzierung. Die Delegierten waren gegenüber den Streikversammlungen rechenschaftspflichtig. Auf solchen regelmäßigen Streikversammlungen diskutieren dann die nach Tarif bezahlten Kolleg:innen den weiteren Weg zur Durchsetzung unserer Forderungen.

Weitergehende Forderungen

Hier können wir dann auch Forderungen diskutieren und beschließen, die über die derzeitigen Vorschläge für die Tarifrunde hinausgehen wie z. B. die starke Besteuerung großer Unternehmen und DAX-Konzerne, die auch während der Pandemie oder Energiekrise ihre Taschen gefüllt haben oder weiter füllen. Geld ist genug da! Deshalb können wir auch genauso gut die Wiedereinführung der Vermögens- wie Einführung einer Übergewinnsteuer in unsere Forderungen mit aufnehmen.

Ein Verweis wie in der ver.di-Tarifbroschüre, dass die finanzielle Situation der Kommunen gar nicht so schlecht sei, reicht hier nicht aus. Wichtiger ist hier, die Offenlegung der öffentlichen Finanzen und aller Verträge zur Auslagerung öffentlicher Dienste zu fordern. Nur so können wir und die Bevölkerung wirklich die Vorschläge der Gegenseite bewerten. Zusätzlich sollten wir auch jetzt schon Forderungen diskutieren, wie dem Personalmangel entgegengesteuert werden kann. Er ist in Krankenhäusern ebenso bekannt wie eklatant und stellt sich im Erzieher:innen- und Bildungsbereich sowie den sozialen Diensten nicht anders dar. Ein Element hierfür liefert sicherlich eine bessere Bezahlung. Wichtig ist darüber hinaus aber auch die Entlastung durch Einstellung zusätzlichen Personals. Der Kampf darf hier nicht auf einzelne Bundesländer und unabhängige Tarifverträge aufgeteilt werden. Hierfür benötigen wir unsere gesammelte Schlagkraft.

Vom Warnstreik zum unbefristeten Streik!

Diese wird von den Gewerkschaftsführungen auch in der derzeitigen Tarifrunde nicht ausgeschöpft. Die bisher durchgeführten Aktionen, Aktionstage und zeitlich versetzte Warnstreik können nur erste Schritte setzen. Aber sie reichen nicht. Wir müssen aber weitergehen und die volle Kampfkraft möglichst rasch entfalten.

Auch wenn es durchaus Sinn macht, einzelne Themen an unterschiedlichen Streikaktionstagen in den Vordergrund zu stellen, ist es unverständlich, warum nicht zu allen Warnstreiktagen die volle Belegschaft zum Streik mobilisiert werden soll. Dadurch kann in der breiten Mitgliedschaft darüber diskutiert werden, wie die unterschiedlichen Bereiche (Pflege, Bildung, Nahverkehr, Klimaschutz etc.) gemeinsam gedacht und verknüpft werden sollen.

  • Einzelne Streiktage reichen nicht! Schluss mit der Zersplitterung! Gemeinsame Aktionen mit Post, Bahn und allen anderen Kämpfen! Aufbau von Unterstützungskomitees, um die Öffentlichkeit zu informieren!

  • Wir brauchen einen Erzwingungsstreik! Vorbereitung und Einleitung der Urabstimmung anstatt monatelanger Verhandlungsrituale oder gar Schlichtung!

  • Für gläserne Tarifverhandlungen! Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden, keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!

  • Regelmäßige Streikversammlungen in allen Betrieben und Abteilungen! Wahl und Abwählbarkeit der Streikleitungen durch die Mitglieder!

Kündigt das Schlichtungsverfahren!

Wir dürfen darüber hinaus nicht zulassen, dass die Gegenseite über den Weg des Schlichtungsverfahrens den Streik aushebeln kann. Es gibt zwischen ver.di und dem Arbeit„geber“:innenverband ein Schlichtungsabkommen. Wenn eine der beiden Parteien eine Schlichtung einleiten will, ist das für beide Seiten zwingend. Während der Schlichtung herrscht Friedenspflicht. Nach dem Scheitern dieses Verfahrens könnte zwar die Urabstimmung eingeleitet werden. Aber aller Erfahrung zufolge ist nach einer längeren Phase der Friedenspflicht der Schwung raus und es wird kaum noch möglich sein, die Kolleg:innen zu mobilisieren.

Deswegen stellt in allen Gremien Anträge, dass dieses Schlichtungsabkommen, das nur der Arbeit„geber“:innenseite nützt, von ver.di sofort gekündigt werden muss! Anstatt Energie in ein Schlichtungsverfahren zu stecken, sollten wir diese lieber in die Organisierung eines flächendeckenden Vollstreiks aller Kolleg:innen investieren!

https://vernetzung.org/schlichtung-ist-kein-hebel-sondern-ein-knebel/




Warum stellen wir nur Lohnforderungen?

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe Arbeiter:innenmacht zur Tarifrunde im Öffentlichen Dienst, Infomail 1214, 21. Februar 2023

10,5 % mehr Lohn für alle, mindestens aber 500 Euro mehr pro Monat bei einer Laufzeit von 12 Monaten und Erhöhung der Ausbildungsvergütung sind die Hauptforderungen der diesjährigen TVöD-Runde bei Bund und Kommunen.

Sollten die Ziele erreicht werden, würden sie nicht nur in Hinblick auf die Inflationsraten eine längst überfällige Verbesserung für alle darstellen, sondern gäben auch ein wichtiges Signal für alle anderen Lohnabhängigen. Dennoch kann durchaus die Frage gestellt werden, warum nicht Forderungen mit aufgenommen wurden, die über Lohnerhöhungen hinausgehen?

Die Vorbereitung unserer Tarifrunde begann schon vor der Sommerpause 2022 und durchaus vielversprechend: Ver.di organisierte bundesweit Treffen unter der Mitgliedschaft, um ihr die obigen Forderungen mitzuteilen. Die klare Absage an Einmalzahlungen wie auch die hohen Lohnforderungen waren vor allem Auswirkung innergewerkschaftlichen Drucks:

1) Ver.di möchte ihrem Mitgliederverlust entgegenwirken, indem sie ihren Mitgliedern zu zeigen versucht, dass sie sie ernst nimmt.

2) Die großen Bewegungen der Krankenhausbeschäftigten in Berlin und NRW, die erst 2021 und 2022 für einen Tarifvertrag Entlastung gekämpft haben, zeigten, dass es möglich ist, im Bereich der Gesundheitsversorgung – wenn nötig auch wochenlang – Streiks durchzuführen. Das hat nicht nur zu einem Zuwachs von ver.di-Mitgliedern geführt, sondern auch eine hohe Erwartungshaltung unter der Belegschaft geschaffen, dass sie gut organisiert Kämpfe gewinnen kann.

3) Die Inflation und die hohen Energiekosten üben ebenfalls Druck auf die Mitgliedschaft und dadurch vermittelt auf die Tarifkommission aus. Diese muss dafür sorgen, dass die Löhne ihrer Mitgliedschaft für deren Lebenshaltungskosten reichen.

Trotzdem wurden neben finanziellen Aspekten auch von den Beschäftigten immer wieder Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen genannt, die in einem weiteren Punkt, der Druck aufbaut, wirken: gegen Personalmangel! Die Entlastungsfrage für die Beschäftigten in Krankenhäusern, Kindertagesstätten, Reinigungsfirmen, bei Behörden, usw. wurde durch verschiedene Forderungen deutlich wie z. B.:

  • Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!

  • Früheren Renteneintritt ermöglichen, Altersteilzeitregelung verlängern!

  • Mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst!

Die Begründung der Tarifkommission, solche Forderungen nicht in die für diese Tarifrunde zu integrieren, lautete, dass es damit zu einem gegenseitigen Ausspielen der Forderungen käme. Besonders die Entlastungsfrage soll laut ver.di anschließend in den Bundesländern einzeln aufgegriffen werden, wo es dazu noch keine Tarifverträge gibt. Dies stellt aber eine unbefriedigende Entscheidung der Tarifkommission dar. Diese kam somit dem Bedürfnis der Belegschaften nicht nach, auch Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen aufzustellen, um alte Kolleg:innen im Beruf zu halten und ihn attraktiver für neue zu gestalten. Beides kann unserer Meinung nach nicht getrennt und sollte dadurch in Streikversammlungen angesprochen und kritisch diskutiert werden.




Vollen Support an die junge GEW Berlin!

REVOLUTION, Infomail 1213, 8. Februar 2023

Der Berliner Ableger der Gewerkschaftsjugend der Bildungsgewerkschaft GEW hat sich mit einem offenen Brief an ihren Landesvorstand gewandt, um einen Erzwingungsstreik zu organisieren. Nach mittlerweile 8 Warnstreiks und 0 Gesprächsbereitschaft seitens des grünen Finanzsenators Daniel Wesener wollen sie den Druck auf den Senat dadurch erhöhen, dass die Verhandlungen für gescheitert erklärt werden, eine Urabstimmung eingeleitet und zu einem unbefristeten Streik aufgerufen wird, der erst aufhört, wenn das Ziel erreicht ist. Unsere Lehrer:innen kämpfen dabei für einen Tarifvertrag-Gesundheit, dessen Ziel es ist, überfüllten Klassen zu verkleinern. Für sie heißt das: weniger Stress und Arbeitsbelastung. Für uns heißt das: besser Lernen, mehr Zeit und weniger genervte Burn-Out-Mathelehrer. Lasst uns diese Kämpfe verbinden! Wie das genau funktionieren soll, erfahrt ihr in unserer neuen Schüler:innenzeitung oder auf unserer Homepage. Außerdem findet hier den offenen Brief der jungen GEW zum Nachlesen. Streik in der Schule, Uni und Betrieb: Das ist unsere Antwort auf ihre Politik!

Im Folgenden spiegeln wir den offenen Brief:

Erzwingungsstreik jetzt

Wir fordern den Landesvorstand auf, die Verhandlungen um den Tarifvertrag-Gesundheit mit dem Berliner Senat für gescheitert zu erklären. Wir, die streikenden Lehrer:innen, wollen selbst Einfluss auf die Frage nehmen, wie unser Arbeitskampf geführt wird. Der LV möge deshalb alle nötigen Schritte für eine Abstimmung über einen Erzwingungsstreik einleiten. Wir streiken, bis wir unseren Tarifvertrag haben!

Begründung

Die Arbeitsbelastung in den überfüllten Klassen unserer Schulen ist unzumutbar. Während die Schüler:innenzahlen 2023 weiter ansteigen werden, fehlen noch immer rund 1.000 Kolleg:innen in Berlin. Noch immer hat der Senat keinerlei Schritte unternommen, um diesen Mangel zu beheben.

Die Untätigkeit des Berliner Senats hat uns zum Handeln gezwungen. Mit unserem Kampf für einen Tarifvertrag-Gesundheit möchten wir die Arbeitsbelastung für uns alle durch eine gesetzliche Verankerung von kleineren Klassengrößen verringern. So waren wir im vergangenen Jahr mit ganzen sieben Warnstreiks auf der Straße. Wir waren viele und wir waren laut. Auch der Landeselternausschuss hat sich unseren Forderungen angeschlossen. Und trotzdem lehnt der grüne Finanzsenator Daniel Wesener bis heute ab, überhaupt mit uns zu sprechen. Wir finden: Jetzt reicht’s! Wir finden, dass wir mehr Druck machen müssen, um den Senat endlich von seiner Blockadehaltung abzubringen. Wir finden, dass wir einen Erzwingungsstreik zur Durchsetzung unserer Forderungen brauchen.

Während der Senat unsere monatlichen Warnstreiks noch teilweise ignorieren konnte, kann die Bildungsverwaltung bei einem Erzwingungsstreik nicht mehr den Kopf in den Sand stecken und Augen und Ohren vor uns verschließen. Ein Erzwingungsstreik ist unser verfassungsmäßig geschütztes Recht nach gescheiterten Tarifverhandlungen den Druck auf den Arbeitgeber zu erhöhen. Wir fordern deshalb unsere Verhandlungsführer:innen Anne Albers (Leiterin des Vorstandsbereichs Beamten-, Angestellten- und Tarifpolitik) und Udo Mertens (Leiter des Vorstandsbereichs Beamten-, Angestellten- und Tarifpolitik) auf, der Wahrheit ins Auge zu sehen: Erkennt, dass es keine Verhandlungen geben wird, wenn wir den Druck nicht erhöhen! Erklärt die Verhandlungen für gescheitert! Auf mehreren Personalversammlungen hat uns Udo versprochen, im kommenden Jahr die „Daumenschrauben anzuziehen“. Udo, halt dich an dein Versprechen und leite eine Urabstimmung für einen Erzwingungsstreik ein!

Wir lassen uns nicht lähmen von der Verzögerungs- und Hinhaltetaktik des Senats. Wir wollen unseren Tarifvertrag, denn unter den gegebenen Umständen, weiß kaum jemand von uns, wie wir diesen Job, den wir doch alle eigentlich irgendwo auch lieben, die nächsten zehn Jahre weiter machen sollen. Lasst uns deshalb gemeinsam das Thema Bildung auf die Tagesordnung des Berliner Wahlkampfes setzen!

Dafür wollen wir nun endlich „die Daumenschrauben anziehen“. Wir fordern den GEW-Landesvorstand mit diesen Unterschriften dazu auf, alle notwendigen Schritte für einen Erzwingungsstreik in die Wege zu leiten und diesen aktiv zu organisieren. Natürlich freuen wir uns auch über Solidarität von Kolleg:innen aus anderen Bundesländern, denn die Frage von kleineren Klassen betrifft nicht nur Berlin.




Personalmangel an Schulen: Mehrarbeit und Yoga sollen es richten

Christian Gebhardt, Infomail 1212, 4. Februar 2023

Die Katze ist aus dem Sack: Zu viele Schüler:innen treffen auf zu wenig Lehrkräfte. Es herrscht Lehrkräftemangel an unseren Schulen. Laut dem Berater:innengremium „Ständige Wissenschaftliche Kommission“ (SWK) der Kultusminister:innenkonferenz (KMK) fehlen jetzt schon 12.000 Stellen und in den kommenden Jahren soll diese Lücke jährlich um etwa 1.600 Lehrer:innen ansteigen.

Diese Lage ist der KMK nicht erst seit heute bewusst. Und natürlich nimmt jede:r Beschäftigte:r in einer Bildungseinrichtung schon lange das zunehmende Problem wahr. Jedoch sind die oben angesprochenen Zahlen der KMK mit Vorsicht zu genießen. Studien des Bildungswissenschaftlers Prof. Dr. Klaus Klemm, die er im Auftrag unterschiedlicher Organisationen wie z. B. der GEW oder des VBE (Verband Bildung und Erziehung) durchgeführt hat, sprechen eher dafür, dass die KMK ein stark geschöntes Bild zeichnet und mit einer weitaus größeren Lücke bis 2030 zu rechnen ist.

Das dahinter liegende Problem zeichnet sich wie folgt: Geburtenschwache Jahrgänge nehmen in den kommenden Jahren ihr Studium auf, während geburtenstärkere eingeschult werden – eine größere Schüler:innenschaft steht einer kleineren Anzahl an potentiell neuen Lehrer:innen gegenüber. Die Zunahme der Schüler:innenzahlen durch Migration von Geflüchteten verstärkt diesen Effekt noch. Hier wird zwar gerne nach einem Sündenbock gesucht, doch den alleinigen Auslöser für das Problem stellt diese bei weitem nicht dar.

Laut Klemm basieren seine Berechnungen wie die der KMK auf einer ähnlichen Annahme des Anstiegs der Schüler:innenzahl bis 2030 sowie ähnlicher Zahlen der notwendigen Stellen. Interessant wird es aber, wenn ein Fokus darauf gerichtet wird, wie sich das Neuangebot frisch ausgebildeter Lehrkräfte bis 2030 entwickelt. Die KMK geht hier von einer konstant bleibenden Zahl aus. Klemm prognostiziert im Gegensatz dazu ein Sinken der Anzahl jährlich neu ausgebildeter Lehrkräfte. Dies begründet er durch den Verweis auf die oben schon angesprochenen geburtenschwachen Jahrgänge, die in den kommenden Jahren ihr Studium beginnen werden. Weniger potenzielle Lehramtsstudierende bedeuten auch eine geringere Anzahl an Neulehrkräften. Die Rechnung der KMK beschreibt er in diesem Punkt als schlicht unseriös.

Durch diese unterschiedliche Herangehensweise sieht Klemm im Gegensatz zum KMK für 2030 einen Lehrkräftemangel von 81.000 voraus (480 % mehr als die KMK). Wichtig anzumerken bleibt, dass diese Zahl notwendig ist, um nur den derzeitigen Status quo aufrechtzuerhalten.

Um bildungspolitische Ziele wie Inklusion, Ganztagsausbau, zusätzliche Betreuung geflüchteter Jugendlicher zu gewährleisten oder die durch Corona entstandenen Lernrückstände aufzuholen, werden noch viel mehr neue Lehrkräfte benötigt. Die wirkliche Zahl beläuft sich laut Klemm daher bis 2030 somit auf weit über 100.000 Fehlstellen, möchte man diese ausgerufenen Ziele auch wirklich erreichen.

Problem erkannt, Problem gebannt?

Nach den obigen Ausführungen können wir schon einmal festhalten, dass die KMK das Problem nicht erkennen, sondern politisch kleinreden und leugnen möchte. Auch bei dessen Lösung sieht es nicht besser aus.

Am 27. Januar 2023 stellte die KMK die Vorschläge der SWK vor. Darin wird u. a. Folgendes vorgeschlagen:

  • Die Möglichkeit der Teilzeit soll eingeschränkt werden.

  • Die zu unterrichtenden Unterrichtsstunden pro Woche (Deputat) sollen befristet erhöht werden.

  • Auslandsabschlüsse sollen einfacher anerkannt werden, um ausländische Lehrer:innen schneller einsetzen zu können.

  • Pensionierte Lehrer:innen sollen aus dem Ruhestand geholt werden.

  • Mithilfe des Fernunterrichts soll eine Lehrkraft nicht nur eine Klasse, sondern mehrere gleichzeitig unterrichten.

Die Vorschläge wurden richtigerweise von der Vorsitzenden der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern, als „Ausdruck einer Hilflosigkeit“ sowie als „blanker Hohn“ bezeichnet. Sie weist auch darauf hin, dass u. a. die GEW schon seit Jahren auf die Schönrechnerei der KMK aufmerksam macht. Passiert sei aber nichts. Die GEW verweist auf ihre „15 Punkte gegen den Lehrkräftemangel“, die sie zur Diskussion stellt.

In diesem Artikel können wir nicht näher auf alle Punkte des „15-Punkte-Programms“ eingehen. Die Strategie der GEW geht jedoch über ein Anbieten von Diskussionen und Verhandlungen nicht hinaus. Im Grunde ist das überhaupt keine Strategie, sondern nur eine Form des Vermeidens einer offenen Konfrontation mit der KMK. Das Problem soll eher mitverwaltet und „gemeinsam überwunden“ werden, anstatt die Interessen der Beschäftigten darzustellen und offensiv gegenüber der KMK zu vertreten und durchzusetzen.

Was könnte die GEW anders machen?

Einer der Punkte, die die GEW als Lösung vorschlägt ist u. a.:

„Um ausgebildete Lehrkräfte an den Schulen zu halten, müssen die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte verbessert und damit attraktiver werden (Senkung der Arbeitszeit, kleinere Klassen, mehr Ausgleichsstunden, besserer Gesundheitsschutz, höhere Altersermäßigung, Unterstützungssysteme für Lehrkräfte wie Team-Coaching und Supervision usw.).“

Diese Forderungen finden sich nicht umsonst unter „Punkt 1“ ihrer Liste! Sie stellen zentrale Fragen dar, durch den der Lehrer:innenberuf attraktiver gestaltet werden kann, um so Kolleg:innen im Beruf zu halten und junge Leute für diesen zu begeistern. Leider widerspricht der Vorschlag der KMK fast allen Forderungen. Dies verdeutlicht, dass hier kein Kompromiss auszuhandeln ist. Es muss sich vonseiten der GEW auf eine langanhaltende Auseinandersetzung und Angriffe auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Schulen und darüber hinaus eingestellt werden.

Für die GEW spielt daher der Kampf um einen „Tarifvertrag Gesundheitsschutz“ und für „kleinere Klassen“ in Berlin eine nicht zu unterschätzende Vorreiterrolle! Dieser wird um eine der zentralen Fragen ausgefochten: Wer holt die Kohlen aus dem Feuer? Die Beschäftigten durch Mehrarbeit und schlechtere Arbeitsbedingungen – und infolgedessen auch die Schüler:innen und Eltern – oder werden Verbesserungen erkämpft und durchgesetzt, die die Krise im Sinne der Beschäftigen, Schüler:innen und Eltern lösen?

Um diesen Kampf aber zu gewinnen, muss die GEW in Berlin ihre Streikstrategie ändern. Die bisherigen eintägigen Warnstreiks haben gezeigt, dass sie nicht ausreichen, um den Senat zum Umdenken zu bewegen. Sie sollte die Gespräche für gescheitert erklären, die Organisation sowie Durchführung eines unbefristeten Erzwingungsstreiks einleiten und ihre Kampfkraft zusammen mit den Kolleg:innen im öffentlichen Dienst, bei der Post und im Nahverkehr auf der Straße vereinigen. Hier können wir positiv auf die Initiative der Jungen GEW Berlin verweisen, die richtigerweise eine Unterschriftenliste gestartet hat, indem sie den Vorstand der GEW Berlin dazu aufruft, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären sowie die notwendigen Vorbereitungen und Durchführung eines Erzwingungsstreiks einzuleiten (https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSdDESQdkzQGP6lqAFjbYToI6ylV8LGk9bOyqpJxw-qDr137eQ/viewform).

Bundesweite Solidaritätskampagne für die Berliner Kolleg:innen!

Die GEW bundesweit muss aber nicht nur zuschauen, was in Berlin passiert, sondern sollte schnellstmöglich damit beginnen, den Kampf ihres Berliner Landesverbandes voll zu unterstützen. Sie sollte eine Solidaritätskampagne initiieren, in der sie Lehrkräfte, Schüler:innen und Eltern in Solidarität mit dem Berliner Tarifkampf sammelt. Neben dem Aussprechen von Solidarität sollte sie auch darauf abzielen, politischen Druck aufzubauen, indem sie die SPD und LINKE dazu aufruft, ihre Blockadehaltung zu durchbrechen. Hierbei sollte sich gezielt auf diese beiden Parteien fokussiert werden, sind es doch gerade die SPD und LINKE, die am meisten in den Gewerkschaften verankert sind und somit durch eine gewerkschaftliche Initiative erreicht und unter Druck gesetzt werden können. Zusätzlich stellen Parteien wie die CDU oder FDP gewerkschaftsfeindliche Parteien dar, von denen nichts zu erwarten ist. Hier sollte keine politisch diffuse Kampagne gefahren werden, in der Hoffnung ein paar mehr Solidaritätsstimmen zu bekommen. Aus einer klassenkämpferischen Gewerkschaftspolitik muss hier eine Klassenlinie gezogen werden und die CDU bzw. FDP stehen hier auf der anderen Seite.

Eine solche Solidaritätskampagne könnte in zweierlei Hinsicht nützlich sein. Erstens könnte sie dazu führen, exemplarisch in einem Bundesland „Kleinere Klassen“ tariflich festzuschreiben. Zweitens könnte sie auch als Ansatzpunkt fungieren, um diese Forderung in einer bundesweiten Initiative zu kanalisieren und mit weiteren Forderungen des „15-Punkte-Plans“ zu verbinden. Diese bundesweite Initiative sollte diese Forderungen als Bestandteil der kommenden Tarifverhandlungen rund um den „Tarifvertrag der Länder“ (TV-L) vorschlagen und diese in die Tarifverhandlungen integrieren.

So hätten alle Kolleg:innen im Bildungsbereich, ob Schule oder Kita, die Chance, nicht nur in Berlin, sondern bundesweit zusammen mit unseren Schüler:innen und ihren Eltern auf die Straße zu gehen und der KMK ein klares „Nein“ auf ihre Vorschläge entgegenzurufen. Wir haben die Krise nicht verursacht! Wir werden auch nicht dafür geradestehen!