Vorwort

Redaktion, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Vor 30 Jahren,
am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer – und mit ihr nicht nur ein Symbol
der Nachkriegsordnung. Mit ihr ging der Zusammenbruch des gesamten Ostblocks,
des ökonomischen und politischen Systems des „real existierenden Sozialismus“
einher.

Diese Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“ widmet sich der Entstehung wie dem Zusammenbruch dieser Gesellschaftsordnung einerseits, der Todeskrise und dem Untergang der DDR andererseits.

Der Untergang
dieses Staatensystem stellt eine historische Zäsur dar, die, wenn auch nicht in
ihrer Tragweite und ihrem konkreten Verlauf, auch den ZeitgenossInnen damals
durchaus bewusst war. Die bürokratische Herrschaft der „kommunistischen“
Parteien Osteuropas und der Sowjetunion stürzte aufgrund des Drucks des Weltimperialismus,
ihrer inneren Widersprüche und einer vor allem von den Lohnabhängigen und der
Intelligenz getragenen Massenbewegung zusammen. Das eröffnete kurzzeitig die
Möglichkeit einer politisch-revolutionären, fortschrittlichen Umgestaltung.
Diese stellte den einzigen möglichen geschichtlich progressiven Ausgang der
Ereignisse dar. Doch ihre Chancen waren schon damals aufgrund der Zerstörung
proletarischen Klassenbewusstseins und des kleinbürgerlichen Charakters der
Opposition – alles selbst Folgen von Jahrzehnten bürokratischer Herrschaft –
und der politischen Passivität und Perspektivlosigkeit der westlichen
ArbeiterInnenbewegung angesichts dieser Umwälzungen gering. Die wenigen,
anti-stalinistischen linken und subjektiv revolutionären Kräfte erwiesen sich
als zu schwach und oft auch als politisch zu unklar.

Die bürgerliche
Konterrevolution ergriff somit die Initiative und innerhalb weniger Jahre
wurden die Länder in den kapitalistischen Weltmarkt reintegriert. Anstelle der
bürokratischen Planung traten die Gesetze des Marktes und der Konkurrenz.
Litten die Massen zuvor an einem Mangel an Konsumgütern, so fehlte es nun an
Arbeit und Einkommen. Ein industrieller, ökonomischer und sozialer Kahlschlag
ging notwendigerweise mit der Restauration des Kapitalismus einher – eine
historische Niederlage. Die demokratische Konterrevolution triumphierte, auch
wenn sie längst nicht das „Ende der Geschichte“ einläutete, sondern vielmehr
den Weg frei machte für eine Expansion des Weltmarktes, die neo-liberale
Durchdringung der Ökonomie. Doch seinen eigenen Widersprüchen entkam der
Kapitalismus nicht – spätestens seit der großen Krise ist der Kampf um die
Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten neu entbrannt.

Die Ereignisse
von 1989 legten auch dafür einen Grundstein, als die politische
Nachkriegsordnung zerbrach.

Die Beiträge in diesem „Revolutionären Marxismus“ sind zum größten Teil Veröffentlichungen älteren Materials, das mittlerweile jedoch vergriffen ist. Die Artikel „Die verratene Revolution. Trotzkis Stalinismus-Analyse“, „Die Expansion des Stalinismus nach 1945“ und „Der Zusammenbruch des Stalinismus“ erschienen ursprünglich als Nummer 32 des „Revolutionären Marxismus“ im Winter 2001/2002. 2009 wurden sie, gemeinsam mit Trotzkis Artikel „Bolschewismus und Stalinismus“ aus dem Jahr 1937 veröffentlicht.

Wir publizieren die Texte hier erneut ohne weitere Überarbeitung, weil sie
nach wie vor unsere Position zusammenfassen. Unter anderem wird darin,
anknüpfend an Trotzkis Theorie und Verständnis des Stalinismus, deutlich
gemacht, dass ein materialistisch gefasster Stalinismus-Begriff für ein
Verständnis der Herrschaftsform einer bürokratischen Kaste in einer
Übergangsgesellschaft unerlässlich ist. Darauf zu verzichten, läuft entweder
auf einen mehr oder minder impressionistischen Begriff des Stalinismus oder auf
dessen Apologie hinaus.

Der zweite Teil der Texte ist der Geschichte und dem Zusammenbruch der DDR gewidmet. Es geht uns dort, wie auch in den anderen Beiträgen, nicht darum, ein akkurates und detailliertes Geschichtsbild zu zeichnen, sondern vielmehr um ein Verständnis der Entwicklung dieser Gesellschaft, ihrer inneren Widersprüche, der Ursachen ihrer Entstehung wie ihres Zusammenbruchs und der politischen Schlussfolgerungen daraus. Die Texte „Entstehung und Untergang der DDR“, „Planungsmangel und Mangelplanung“ wurden zuerst 1999 im „Revolutionären Marxismus“ Nr. 29 veröffentlicht. Der Text „Die nationale Frage in der DDR“ ist ein Auszug aus einer Resolution der „Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale“, der Vorläuferorganisation der „Liga für die Fünfte Internationale“, vom 21. November 1989. Die anderen Texte – „SED Gründung: Fusion und Verwirrung“ (erstmals veröffentlicht in Arbeitermacht 41, Mai 1996), „Vom Regen in die Traufe. Proletarische Frauen vom DDR-Stalinismus zum BRD-Kapitalismus“ (erstmals veröffentlicht in Revolutionärer Marxismus 26, 1998) und „War die DDR ein Unrechtsstaat?“ (Neue Internationale 143, Oktober 2009) – beschäftigen sich mit wichtigen Fragen der Entstehung und Entwicklung der DDR, der Restauration des Kapitalismus und der Ideologie des siegreichen Westens.

Nur der Artikel „30 Jahre danach“ wurde neu für diesen RM verfasst und behandelt die Ursachen und Folgen der ausbleibenden „sozialen Einheit“.

Wir haben uns in dieser Ausgabe des RM bewusst auf die Analyse des
Stalinismus wie auf die DDR und ihren Untergang konzentriert. Die
politisch-ökonomische Analyse des nach der Wiedervereinigung erstarkten
deutschen Imperialismus, der Weltwirtschaft, der imperialistischen Krise wie
der EU findet sich in anderen Ausgaben des „Revolutionären Marxismus“, auf die
wir die LeserInnen an dieser Stelle verweisen wollen.

Hier nur so viel: Der Aufstieg des deutschen Imperialismus zu einer, wenn
nicht der zentralen Führungsmacht der EU wäre unmöglich gewesen ohne den
Zusammenbruch der DDR und des gesamten Ostblocks. Dieser historische Sieg
ermöglichte nicht nur die Expansion auf ein größeres Territorium, es
ermöglichte dem deutschen Kapital und Staat auch, Fesseln der Nachkriegsordnung
„friedlich“ abzustreifen. 30 Jahre danach verfängt er sich allerdings auch in
die Widersprüche dieser Ordnung, was sich nicht zuletzt an der Krise
bürgerlicher Politik, in einem Wandel des Parteiensystems usw. ablesen lässt.
Mit der ökonomischen Krise 2007/2008 trat auch die kapitalistische
Globalisierung in eine Krisenperiode, die sich aktuell zuspitzt. Ähnlich wie
vor 1989 bewegen wir uns rasch auf einen neuen Wendepunkt der globalen Ordnung
zu.

Als revolutionäre KommunistInnen stehen wir in unversöhnlicher
GegnerInnenschaft zum Kapitalismus. Doch dem Zusammenbruch der stalinistischen
Herrschaft trauen wir deswegen längst nicht nach. Dessen innere Widersprüche
haben jene MarxistInnen, die in der Tradition der Linken Opposition und des
Trotzkismus stehen, allemal klarer, besser und treffender auf den Punkt
gebracht als alle bürgerlichen, sozialdemokratischen oder anarchistischen
KritikerInnen. Die ApologetInnen dieser Herrschaft und der reaktionären Doktrin
des „Sozialismus in einem Land“ freilich weigern sich bis heute, den
arbeiterInnenfeindlichen, bürokratischen und antisozialistischen Charakter
dieses Regimes anzuerkennen. Dies ist keineswegs bloß eine historische Frage.

Wenn die kommende Krise die Frage nach einer Systemalternative erneut
aufwirft, müssen RevolutionärInnen auch darlegen können, was ihre Alternative,
ihr Programm, ihre Vorstellung von Sozialismus, Kommunismus und Übergangsgesellschaft,
also der „Diktatur des Proletariats“ von den untergegangenen Formen
bürokratischer Herrschaft unterscheidet. Daher wollen wir mit diesem RM nicht
nur zum Verständnis der Stalinismus, seiner Ursachen und seines wohlverdienten
Untergangs beitragen – wir wollen vor allem auch dazu beisteuern, dass ein
erneuerter Marxismus und eine neue revolutionäre Internationale nur auf Basis
eines konsequenten theoretischen, methodischen, politischen wie praktischen
Bruchs mit dem Stalinismus zu haben sind.




November 1989 – 30 Jahre danach

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Dass die
sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen „Ost“ und „West“ auch 30
Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer nicht angeglichen sind, sollte
KapitalismuskritikerInnen eigentlich nicht verwundern.

Nach drei Jahrzehnten
eines vereinigten, imperialistischen Deutschland klingen die
Einheitsversprechungen bürgerlicher PolitikerInnen aller Couleur nicht nur
abgedroschen und hohl. Sie hören sich auch an wie ein ständiges Replay. Das
Ausbleiben „sozialer Einheit“, die weiterhin klaffende Lücke bei Einkommen,
Arbeitszeiten, Lebensperspektive … wurden 1999 ebenso wie 2009 beklagt – und
„baldige“ Angleichung versprochen. In Wirklichkeit blieb diese aus – und wird
es auch weiter bleiben.

Reproduktion
sozialer Ungleichheit

Hier nur einige
Zahlen (1), die den Unterschied zwischen Ost und West belegen:

  • 2018 mussten die Arbeiter„nehmer“Innen in den alten Bundesländern im Schnitt 1295 Arbeitsstunden arbeiten, im Osten (inklusive West-Berlin) 1351 Stunden, also 56 Stunden länger.
  • Die Jahres-Bruttolöhne je Beschäftigten lagen im Westen bei 36.088 Euro, in den neuen Ländern bei 31.242 Euro, was einen Unterschied von knapp 4.900 Euro ausmacht.
  • Diese Ungleichheit wird auch bei den tariflich Beschäftigten reproduziert. So hatten  2018 im Westen 8 Prozent dieser eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden, im Osten 40 Prozent.
  • Mindestlöhne und Renten, die selbst das geringere Lohn- und Einkommensniveau widerspiegeln, klaffen weiter auseinander.

Die Spaltung des
Arbeitsmarktes hält also auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung an. Und das,
obwohl sich im Westen die prekären und atypischen Arbeitsverhältnisse
(Befristung, Teilzeitarbeit unter 20 Stunden, geringfügige Beschäftigung und
Leiharbeit) unter anderem aufgrund der Hartz-Gesetze und Agenda 2010 sogar noch
schneller ausgedehnt haben als im Osten. In den „alten Bundesländern“ betrug
2017 deren Anteil an der gesamten Erwerbstätigkeit 24 % gegenüber 18 %
im Osten (2).

Den Hintergrund
dafür bildet jedoch die deutlich höhere Arbeitslosigkeit in den neuen
Bundesländern. Dort lag sie Ende 2018 bei 7,6 % gegenüber 5,3 % im
Westen.

Von 1991 bis
2017 wanderten außerdem 3.681.649 von Ost nach West ab, was fast einem Viertel
der Bevölkerung der ehemaligen DDR entspricht. Dem stehen zwar 2.451.176 Zuzüge
aus dem Westen entgegen (3). Die Wellen der innerdeutschen Migration
entsprechen jedoch der Zerstörung der ostdeutschen Industrie und der geringen
Arbeitsmarktperspektiven, gerade für besser ausgebildete Menschen. Die
Migration von West nach Ost ging außerdem auch mit einer massiven Verschärfung
der Unterschiede innerhalb der neuen Bundesländer einher. Einigen
„erfolgreichen“ städtischen Regionen steht der fortgesetzte Abstieg der meisten
ländlichen und kleinstädtischen Gebiete, bis zum Verlassen ganzer Dörfer
entgegen.

Die Ungleichheit
zwischen Ost und West drückt sich daher keineswegs nur auf dem Arbeitsmarkt
aus, sondern insbesondere auch beim Vergleich einzelner Regionen. So zeigt z. B.
der „Teilhabeatlas Deutschland“ (4), dass sich in den neuen Bundesländern die
„abgehängten Regionen“ konzentrieren. Diese zeichnen sich durch einen hohen
Anteil an Hartz-IV-EmpfängerInnen (darunter auch viele „AufstockerInnen“),
geringere kommunale Steuereinnahmen, besonders geringes jährliches durchschnittliches
Haushaltseinkommen (Medianwert für 2017: 19.100 Euro), geringe Lebenserwartung,
Abwanderung (2017 noch immer mehr als 10 Prozent!), schlechter digitaler
Anbindung und überdurchschnittlicher Entfernung zu Versorgungseinrichtungen
(Krankenhaus, Behörden, …) aus.

Darin spiegelt
sich wider, dass in den neuen Bundesländern die schlechter entlohnten,
perspektivloseren und länger arbeitenden Teile der ArbeiterInnenklasse
überdurchschnittlich vertreten sind. Aber auch die Herausbildung und
Reproduktion des KleinbürgerInnentums, des Kleinkapitals wie der lohnabhängigen
Mittelschichten – also allen jener Klassen, die bürgerliche Demokratie und
freie Marktwirtschaft tragen – verläuft ungleicher, unsicherer, verglichen mit
dem Westen geradezu prekär.

Kapitalistische
Wiedervereinigung

Hintergrund der
sozialen Ungleichheit und damit ungleicher Lebensbedingungen bilden
selbstredend nicht „Mentalitätsunterschiede“, sondern vielmehr die Ergebnisse
der kapitalistischen Wiedervereinigung, zu denen eben auch gehört, dass dem
Wirtschaftsgebiet der ehemaligen DDR ein spezifischer Platz im Rahmen eines
schon bestehenden bundesdeutschen gesellschaftlichen Gesamtkapitals zugewiesen
wurde.

Nach der
kapitalistischen Wiedervereinigung erlebte die DDR-Ökonomie einen drastischen Niedergang
und Ruin, dessen Ausmaß für Friedenszeiten ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig
war und ist.

Zwischen 1990
und 1992 wurden zwei Drittel der ostdeutschen Industrie zerstört und zwar unter
Aufsichtung und Lenkung der Treuhand-Anstalt, einer Staatsholding, die die
Privatisierung der DDR-Ökonomie überwachen sollte.

Ende 1992 waren
nur noch 750.000 Menschen in der ehemaligen DDR-Industrie beschäftigt, etwa ein
Viertel des Beschäftigungsstandes zur Zeit der Wiedervereinigung. Auch die
landwirtschaftliche Produktion sank von 1989 bis 1992 auf rund die Hälfte. Von
9,8 Millionen Beschäftigten der DDR-Wirtschaft wurden rund 4 Million
„freigesetzt“, arbeitslos, in Kurzarbeit gesetzt oder verschwanden vom
Arbeitsmarkt (RentnerInnen; Abwanderung in den Westen, die in dieser Zeit ihren
Höhepunkt erreichte; Rückgang der Erwerbstätigkeit von Frauen). (5)

Zugleich stiegen
die Preise für Konsumgüter und Mieten dramatisch, so dass die Auswirkungen des
für kleinere SparerInnen günstigen Umtauschkurses von Ost-Mark zu D-Mark (1:1)
im Zuge der Währungsreform rasch verpufften. Umgekehrt begünstigte die
Währungsreform 1990 die Aneignung der ostdeutschen Ökonomie durch das
westdeutsche Kapital.

Der Umtauschkurs
bedeutete erstens, dass die Schulden der DDR-Unternehmen in D-Mark neu bewertet
wurden, darunter auch Kosten, die in einer kapitalistischen Ökonomie erst gar
nicht in den einzelbetrieblichen Bilanzen aufgeschienen wären (z. B.
betriebliche Sozialleistungen). Im degenerierten ArbeiterInnenstaat DDR gab es
im Unterschied zum Westen bezogen keine klare Trennung staatlicher/kommunaler
und betrieblicher Schulden/Kosten (und dies war auch nicht unbedingt
erforderlich). Nun erschienen diese Aufgaben und deren Kosten als
Verlustbringerinnen in den betrieblichen Bilanzen.

Zweitens wog die
Neubewertung des Anlagevermögens der ostdeutschen Industrie, Landwirtschaft und
Dienstleistungsunternehmen (Handel, …) besonders schwer. Das veraltete, lange
nicht erneuerte fixe Kapital wurde jetzt mit den westdeutschen,
fortgeschrittenen Kapitalien verglichen und neu bewertet. Das Anlagevermögen
wurde somit über Nacht weit mehr entwertet, als es der Umtauschrelation
größerer Geldvermögen (1:2) entsprach, so dass die Schuldenrate der
DDR-Betriebe massiv anwuchs. Sie waren als Konkurrentinnen damit mehr oder
minder aus dem Feld geschlagen.

Das Übrige
erledigte die Treuhand. Sie verkauft die DDR-Betriebe unter Wert, v. a. an die
westdeutsche Konkurrenz. Da es keine DDR-Bourgeoisie gab, wanderte in kurzer
Zeit alles, was profitabel erschien, in die Hände der bundesdeutschen
KapitalistInnenklasse. Ursprünglich sollte die Privatisierung der ostdeutschen
Ökonomie und deren Restrukturierung durch Verkaufserlöse finanziert werden.
Doch das westliche Kapital wollte für die DDR-Unternehmen nicht zahlen, sondern
für seinen „Dienst“ noch belohnt werden.

Daher übernahm
die Treuhand und über diese der Staat den größten Teil der Schulden. Bis Ende
1992 waren so 8.000 von 40.000 DDR- Betrieben auf diese Weise verkauft, genauer
verscherbelt worden.

Die Filetstücke
eigneten sich die „rettenden“ Konzerne zuerst an, sei es, um neue
wirtschaftliche „Inseln“ zu schaffen, sei es, um unliebsame Konkurrenz zu
übernehmen und auszuschalten. Diese Übernahme großer Teile einer
Volkswirtschaft wurde dem Kapital auch noch durch Milliarden-Subventionen
vergoldet. So erhielt Carl Zeiss für die Übernahme von Carl Zeiss Jena 3,5
Milliarden DM, die Bremer Vulkan-Werft 6,2 Milliarden für die Übernahme
ostdeutscher Werften. Lufthansa konnte gegen den Widerstand von Betriebsrat und
Gewerkschaft die Abfertigung am Flughafen Schönefeld übernehmen usw. usf.

Diese Übernahme
der DDR- Volkswirtschaft spiegelt sich bis heute in der Rolle der ostdeutschen Ökonomie
im Rahmen des Gesamtkapitals der Bundesrepublik wider:

  • Die Produktivität lag 2017 in den neuen Ländern (einschließlich Berlin) bei durchschnittlich 82 Prozent des Westniveaus.
  • 93 Prozent der Großkonzerne sind immer noch im Westen angesiedelt. (6)

Die Kapitalakkumulation
im Osten bleibt bis heute abhängig von den Erfordernissen der Konzernzentralen
im Westen, von einem in der Bundesrepublik entstandenen und von dort geprägten
nationalen Gesamtkapital. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, wo die massive
Vernichtung von Kapital günstige Akkumulationsbedingungen für das Gesamtkapital
und damit für einen kapitalistischen Aufschwung legte, der über mehrere Zyklen
bis Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre anhielt, brach der „Osten“ vor dem
Hintergrund struktureller Überakkumulation des Kapitals zusammen.

Interessant war
er als Markt für (westdeutsche) Produkte und als Reservoir zusätzlicher,
billiger und qualifizierter Arbeitskräfte. Als Investitionsstandort spielte er
jedoch nur für einzelne Branchen und somit für die Schaffung einzelner
„Wachstumsregionen“ eine Rolle. Eine „aufholende“ Entwicklung, gleiche
Bedingungen zwischen „Ost“ und „West“ waren vom Standpunkt der ökonomischen
Interessen der herrschenden Klasse nie vorgesehen.

Polarisierung
und soziale Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung

Das Geheimnis
das Aufstiegs der AfD gerade im Osten muss zweifellos vor dem Hintergrund der
ökonomischen und sozialen Lage in den neuen Bundesländern verstanden werden.
Aber nicht in einer mechanischen Weise, sondern im Wechselverhältnis von
sozialer Entwicklung und Klassenkämpfen. Allein die jahrelange starke Stellung
von PDS/Linkspartei unter den Erwerbslosen, aber auch den Mittelschichten im
Osten zeigt, dass es nicht einfach Armut, Benachteiligung oder gar eine
angeblich besonders autoritär geprägte DDR-Identität waren, die per se die
Menschen zur AfD oder zur extremen bis hin zur faschistischen Rechten treiben.

Die
kapitalistische Wiedervereinigung, wiewohl aus einer legitimen,
kleinbürgerlich-demokratischen Massenbewegung gegen die DDR-Bürokratie
entstanden, stellte für die ArbeiterInnenklasse in ganz Deutschland eine
historische Niederlage dar. Sie stärkte den Imperialismus, die soziale,
wirtschaftliche und globale Stellung des „eigenen“ Kapitals ungemein. Die
soziale Konterrevolution im Osten, also die Vernichtung des ArbeiterInnenstaates
DDR, wurde jedoch in einer bürgerlich-demokratischen Form vollzogen, was nicht
zuletzt auch die Einbindung der Massen erleichterte – trotz einer enormen
Zerstörung der ökonomischen Basis der ehemaligen DDR.

Die
gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Niederlage waren jedoch in den neuen und
alten Bundesländern höchst unterschiedlich. Die Klassenstruktur (und
-zusammenarbeit) des BRD-Kapitalismus wurde im Westen nur schrittweise
umgemodelt, in der DDR wurde das gesamte soziale und ökonomische Gefüge abrupt,
sprunghaft zerstört. Der Kapitalismus war nicht zuletzt aufgrund der massiven
Zerstörung der ostdeutschen Industrie immer instabiler als im Westen und daher
auch die Klassenstruktur.

Noch in den
ersten Jahren nach der Wende artikulierte sich das in dreifacher Weise. Erstens
und am wichtigsten in Form der Demobilisierung einer Massenbewegung. Die
Millionen, die in der DDR auf die Straße gegangen waren und die SED-Herrschaft
zum Einsturz gebracht hatten, wurden über Wahlen, Parlamentarismus und die Versprechungen
der „sozialen Marktwirtschaft“ befriedet, später durch deren Auswirkungen
frustriert und auf Trab gehalten.

In dieser Lage
artikulierte sich auf der Rechten eine Welle rassistischer Gewalt und
faschistischer Organisierung, die sich in pogromartigen Mobs wie in Rostock
oder Hoyerswerda, Anschlägen auf Asylsuchende und MigrantInnen manifestierte
(und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen). Die deutsche Regierung
vermochte es, der rechten Hetze, Rassismus und Faschismus den Wind aus den Segeln
zu nehmen, indem sie selbst das Asylrecht mit Zustimmung der „oppositionellen“
SPD durch den sog. „Asylkompromiss“, der von Lafontaine mit ausgehandelt worden
war, beschnitt. Anders als heute fanden die Rechten damals keinen
politisch-organisatorischen Widerhall unter Fraktionen des deutschen Kapitals.
Mittelschichten und KleinbürgerInnentum befürworteten eine
konservativ-rassistische Regierungspolitik, die Nazis und rechten Straßenbanden
blieben letztlich auf eine relativ kleine Minderheit beschränkt.

Ein wichtige
Faktor für diese Entwicklung bestand zweifellos darin, dass es nicht nur rechte
Reaktionen auf die Wiedervereinigung gab, sondern auch wichtige, lange
andauernde, wenn auch letztlich isolierte Abwehrkämpfe. So besetzten rund 500
BergarbeiterInnen der von der Schließung durch die Treuhand bedrohten
Kali-Grube in Bischofferode (Thüringen) im Sommer 1993 den Betrieb bei
laufender Produktion, rund 100 traten in Hungerstreik. Dieser Kampf zog sich
über mehrere Monate hin. Ende 1993 wurde der Bergbau zwar geschlossen.
Entscheidend ist jedoch, dass Bischofferode durchaus für eine Schicht von
Beschäftigten stand, die mit Mitteln des Kampfes gegen Schließungen,
Entlassungen und Verarmung ankämpften.

In den 1990er
Jahren vermochte im Wesentlichen die PDS, diese Schichten für sich zu gewinnen.
Sie wurde zur Partei der „Ausgegrenzten“, der Arbeitslosen und konnte sich so
im Osten eine Massenbasis erhalten bzw. aufbauen. Als reformistische Partei war
die PDS auch damals eher eine der „KümmererInnen“ denn der KämpferInnen. Sie
konnte jedoch über eine solidarische Präsenz zahlreiche Massen- und
Vorfeldorganisationen (Volkssolidarität, …) an sich binden und ihnen einen
elektoralen Ausdruck verschaffen. Die Tatsache, dass die PDS damals noch von
den etablierten politischen Parteien des bundesrepublikanischen Systems
ausgegrenzt, als „rote Socken“ diffamiert wurde, stärkte eigentlich die
Glaubwürdigkeit der Partei in den Augen vieler.

In diesem
Zusammenhang darf darüber hinaus nicht vergessen werden, dass sich teilweise
auch die Gewerkschaften und selbst die SPD (z. B. in Form von
sozialpolitischen Galionsfiguren wie Regine Hildebrandt) als „natürliche“
gewerkschaftliche, soziale und politische Vertretung darstellten.

Bis Ende der
1990er Jahre waren die Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse – insbesondere auch
der Erwerbslosen – auf eine Abkehr von der konservativ-liberalen Koalition und
auf eine „soziale Wende“ im Grunde an die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien
SPD und PDS geknüpft.

Doch die
politische Lage und das Verhältnis von ArbeiterInnenklasse (wie auch großer
Teile der lohnabhängigen Mittelschichten) zu diesen Parteien wandelte sich in
der ersten Hälfte des Jahrtausends.

Rot-Grün
lancierte mit Agenda 2010 und Hartz-Gesetzen einen strategischen Angriff auf die
Lohnabhängigen, ein Programm, das mit den Montagsdemonstrationen vor allem im
Osten eine Massenbewegung hervorbrachte, aus der später die WASG entstand (und
in deren Folge die Fusion mit der PDS zur Linkspartei).

Die Montagsdemos
entstanden im Sommer 2003 und breiteten sich in Windeseile zu einer
Massenbewegung aus, die vor allem von höher qualifizierten Arbeitslosen,
ehemaligen FacharbeiterInnen, IngenieurInnen getragen wurde. Diese Bewegung
wurde jedoch von der Sozialdemokratie wie auch von den sozialdemokratisch
geführten DGB-Gewerkschaften bekämpft. Dadurch wurde deren Ausweitung in den
Westen, vor allem aber die Verbindung von Montagsdemos und politischen
Massenstreiks verhindert. Der DGB sah sich zwar selbst gezwungen, 2004 gegen
die Agenda-Gesetze Massendemonstrationen zu organisieren, weil er die
Formierung einer bundesweiten Opposition in den Betrieben und auf der Straße
fürchtete, blies aber die Mobilisierung im Sommer 2004 nach Massendemos mit
nahezu einer halben Million Menschen ab.

Die zweite markante
Niederlage erfolgte ebenfalls 2003. Die Streiks um die 35-Stunden-Woche im
Frühjahr 2003 zeigten eine erstaunliche Mobilisierungsfähigkeit. Als der Streik
begann, Auswirkungen auf die Betriebe im Westen zu haben, verschärfte sich das
Trommelfeuer nicht nur der Bourgeoisie gegen den Streik, sondern auch die
Konzernbetriebsräte der westdeutschen Autoindustrie und der IG
Metall-Vorsitzende Zwickel fielen ihm in den Rücken und setzten seine
Einstellung durch. Dabei geriet nicht nur die Gewerkschaftsdemokratie unter die
Räder, die ArbeiterInnenklasse in der ehemaligen DDR musste eine weitere
demoralisierende Niederlage durchmachen.

All diese
Faktoren – nicht nur geringerer gewerkschaftlicher Organisierungsgrad und
geringere tarifliche Bindung im Osten – haben dazu geführt, dass die SPD ihren
sozialen Rückhalt gerade unter den verarmten, arbeitslosen, prekär
beschäftigten und schlecht organisierten ArbeiterInnen verloren hat.
Gleichzeitig büßte sie auch ihre Bindekraft unter den lohnabhängigen
Mittelschichten ein.

Im letzten
Jahrzehnt machte aber auch die Linkspartei eine ähnliche Entwicklung durch.
Weigerten sich SPD und Grüne in den 1990er Jahren oft noch, Koalitionen mit der
„unzuverlässigen“ PDS einzugehen, so wurde sie schon vor der Jahrhundertwende
auch in den Augen der bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer „normalen“ Partei.
Die Realpolitik der PDS und später der Linkspartei führte sie in
Landesregierungen in allen neuen Bundesländern mit Ausnahme Sachsens. Während
die Mitgliederzahlen schrumpften, wuchs der Anteil jener Mitglieder, die
Wahlämter innehatten. Ein großer Teil der aktiven Mitgliedschaft ist seit
Jahren fest in das bürgerlicher System integriert, ihre politische Aktivität
besteht darin, Wahlämter auf kommunaler, regionaler oder Bundesebene auszuüben.
Er prägt die Parteistrukturen, die Vorstände, Parteitage. Die Frage, ob die
Linkspartei eine „Bewegungspartei“ oder eine institutionelle
StellvertreterInnentruppe sei, ist eigentlich nur für jene eine, die partout
die Realität der Partei beschönigen wollen. Praktisch war sie für die PDS (und
damit auch für die Linkspartei) immer schon beantwortet. In den letzten Jahren
ist – unabhängig von den vertretenen reformistischen oder, neuerdings,
linkspopulistischen Ideologien – das Gewicht des Apparates und der in den
bürgerlich-parlamentarischen Institutionen tätigen FunktionärInnen immer mehr
gewachsen.

Mit deren
bürgerlicher Realpolitik und der Mitverwaltung der Misere schwand
notwendigerweise auch das Ansehen der Partei unter den Lohnabhängigen, vor allem
auch unter den Arbeitslosen, prekär oder gering Beschäftigten. Zugleich verlor
die Linkspartei trotz ihrer angepassten Politik auch die Bindekraft gegenüber
lohnabhängigen Mittelschichten und auch dem KleinbürgerInnentum im Osten.

Mit letzteren
verliert die Linkspartei WählerInnenschichten an AfD (und tw. auch Grüne), die
sie im Westen ohnedies nie hatte und die für eine „linke“ Partei eigentlich
untypisch sind, sondern vielmehr historisch aus den Wurzeln der PDS in der SED,
also der Partei der politisch herrschenden Kaste in der DDR herrühren.

Aufstieg der AfD

Der Aufstieg der
AfD reflektiert also nicht nur die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die
soziale Lage verschiedener Klassen im Osten, sondern auch Verrat und Niedergang
der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften.

Bezüglich einer Analyse der AfD verweisen wir an dieser Stelle auf den Artikel „Die AfD zwischen neoliberalem Nationalismus und radikaler Rechter“ (7). Dass diese rechtspopulistische Partei, die sich als „Alternative“ zur „Elite“ präsentiert, im Osten besonders stark ist, sollte aber nicht verwundern. Gerade die instabilere Klassenstruktur bietet einen günstigeren Nährboden für das rasche Anwachsen solcher Kräfte. Das drückte sich auch bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg einmal mehr aus.

Zwei
Entwicklungen der AfD im Osten Deutschlands sind dabei entscheidend für den
Wahlerfolg. Erstens gelingt es, die kleinbürgerlichen Schichten äußerst stark
zu mobilisieren. So erhielt die AfD lt. Umfragen in Brandenburg 34 % der
Stimmen unter den „Selbstständigen“, in Sachsen immerhin auch 29 %. Sie
konnte damit eindeutig in die klassische CDU- und FDP-WählerInnenschaft
eindringen. Vor allem bei den ehemaligen NichtwählerInnen mobilisierte sie mit
Abstand die meisten Stimmen. Erschreckend ist sicherlich der hohe Anteil an den
„ArbeiterInnen“ – in Brandenburg 44 %. Auch wenn das nicht mit der
ArbeiterInnenklasse gleichgesetzt werden darf und der Anteil unter den
Angestellten mit 26 % deutlich geringer ausfiel, so verdeutlicht es den
Einbruch in lohnabhängige Milieus. Sicherlich wurde das z. B. in
Brandenburg noch einmal durch die besondere Situation in der Lausitz angesichts
des Ausstiegs aus der Braunkohle verschärft. Jedenfalls hat die AfD in dieser
Region einige Direktmandate erobert.

Vor allem Angst
vor Veränderungen, die sozialen Abstieg bedeuten könnten, treibt alle
Bevölkerungsschichten um und an, dies sorgt für große Mobilisierung zur Wahl.
Dabei bilden Rassismus und Chauvinismus quasi den gemeinsamen „Kitt“, der
eigentlich gegensätzliche soziale Lagen verbindet und die AfD als zweitbeste
Vertretung „ostdeutscher Interessen“ erscheinen lässt. Mögen auch viele
Menschen subjektiv sie aus „Protest” gewählt haben, so hat sich dieser
verfestigt und die „ProtestwählerInnen” lassen sich von Rassismus,
Zusammenarbeit mit offenen Nazis von der Wahl nicht abschrecken.

Die AfD baut
sich gerade in der ehemaligen DDR als gesellschaftliche Kraft mit Massenanhang
im kleinbürgerlich-reaktionären Spektrum auf, die perspektivisch auch immer
größeren Teilen des BürgerInnentums und des Kapitals eine „verlässliche“
Machtalternative bieten will – von BürgermeisterInnen in den Kommunen bis hin
zur Beteiligung an Landesregierungen.

Dies tut sie z. B.
mit dem Slogan „Vollendet die Wende“, „Wende 2.0“. Sicher bringt diese
Formulierung auch eine große gesellschaftliche Tragik zum Ausdruck. Die
Tatsache, dass sich 30 Jahre nach der kapitalistischen Restauration der DDR die
nationalistischen und faschistischen SchergInnen des Kapitals anschicken, die Wende
zu vollenden, ist selbst ein dramatischer Ausdruck der Niederlagen der
ostdeutschen ArbeiterInnenklasse wie des politischen Versagens von SPD und
Linkspartei.

Kandidat Andreas
Kalbitz, der in Athen schon mal die NS-Flagge hisste, begründete diesen Slogan
mit der sozialen Realität, nämlich den immer noch niedrigeren Rentenniveaus der
Ostdeutschen. Bevor „andere“ – gemeint sind MigrantInnen und Geflüchtete – Geld
bekämen, sollte doch erst mal die Rente angeglichen werden. So werden reale
soziale Skandale wie Altersarmut, Ungleichheit, das Abhängen ganzer Regionen
angesprochen. Dass Einkommen, Arbeitszeiten, Infrastruktur, Bildungs- und
Arbeitsmarktchancen auch 30 Jahre nach der Wende nicht angeglichen sind, hat
freilich die AfD nicht erfunden. Sie greift vielmehr diese Realität des
Kapitalismus auf und verbindet sie mit nationalistischer und rassistischer
Hetze. Dabei spielen ihr alle anderen Parteien mehr oder weniger willig in die
Hände, die die soziale Misere verharmlosen und Jahr für Jahr erklären, dass sie
die Lebensverhältnisse der Menschen doch verbessert hätten.

Dass die
AfD-Wirtschafts- und -Sozialpolitik eigentlich neoliberal bis auf die Knochen
ist, dass sie die öffentlichen Rentenkassen an Fonds verscherbeln will, spielt
in ihrer öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Zum anderen kann die AfD einfach
darauf setzen, dass sie die „Systemparteien“ – also alle anderen – ungestraft
einfach als „LügnerInnen” bezeichnet, selbst wenn sie einmal die Wahrheit sagen
sollten.

Irrwege und Wege

SPD und Linkspartei
starren auf den Aufstieg der AfD wie das Kaninchen auf die Schlange, indem sie
sich an ein parlamentarisches Bündnis nach dem anderen klammern. Statt auf
Mobilisierung und Klassenkampf setzen sie – nicht nur die SPD, sondern auch
weite Teile der Linkspartei – auf ein Bündnis mit bürgerlichen „DemokratInnen“.

In Zeiten
kommender Wirtschaftskrisen, akuter Handelskriege, baldiger Restrukturierungen
im industriellen Sektor, Massenentlassungen und weiterer Prekarisierung der
sozialen Bedingungen, einer vertieften ökologischen Gesamtkrise bedeutet diese
Politik nichts anderes, als die Lohnabhängigen an eine Allianz mit den
„demokratischen“ VertreterInnen des Kapitals zu binden und der AfD-Demagogie in
die Hände zu spielen, dass sie als einzige „die einfachen Leute“ vertrete. Die
Lehre kann nur lauten: Schluss mit dieser Politik!

Der Kampf gegen
rechts darf dabei nicht auf den Kampf gegen die AfD beschränkt bleiben. Eine
Linke, eine ArbeiterInnenbewegung, die Hunderttausende Lohnabhängige von den
rechten DemagogInnen wiedergewinnen will, muss den Kampf gegen die soziale
Misere, die realen Missstände in Angriff nehmen. Dazu braucht es einen Kampf
gegen Billiglohn und Hartz IV, gegen weitere drohende Entlassungen, für ein
öffentliches Programm zum Ausbau der Infrastruktur, von Bildung,
Gesundheitswesen, ökologischer Erneuerung im Interesse der Lohnabhängigen,
kontrolliert von der ArbeiterInnenklasse und finanziert durch die Besteuerung
der Reichen – um nur einige Beispiele zu nennen. Kurzum, es braucht den gemeinsamen
Kampf der Linken, der Gewerkschaften wie aller ArbeiterInnenorganisationen.

Angesichts der
drohenden Angriffe, und um gemeinsamen Widerstand zu entwickeln, brauchen wir
Aktionskonferenzen auch bundesweit, um den Kampf gegen Rechtsruck, AfD,
militante faschistische Gruppierungen und gegen die laufenden und drohenden
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, auf Arbeitsplätze und
unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu koordinieren.

Endnoten

(1) https://www.spiegel.de/karriere/beschaeftigte-in-ostdeutschland-laengere-arbeitszeit-weniger-lohn-a-1276092.html

(2) https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/PDF_Dokumente/181002_SF_Ergebnisse_im_Einzelnen_Arbeitsverhaeltnisse_in_Ost_und_West.pdf

(3) https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/ost-west-wanderung-abwanderung-ostdeutschland-umzug

(4) https://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Teilhabeatlas/Teilhabe_Online.pdf,
S. 16

(5) Martin
Suchanek, Zerstörung eines ArbeiterInnenstaates, in: Revolutionärer Marxismus
9, S. 25, Frühjahr 1993

(6) https://www.sueddeutsche.de/politik/studie-osten-westen-wirtschaft-deutschland-1.4354465

(7) Wilhelm Schulz, Die AfD zwischen neoliberalem Nationalismus und radikaler Rechter, in: Revolutionärer Marxismus 50, November 2018, S. 116 – 142




Die verratene Revolution

Trotzkis Analyse des Stalinismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2001)

Die russische Revolution war die erste erfolgreiche
proletarische Revolution, die einen ArbeiterInnenstaat errichtete. Sie wurde
somit zum wichtigen Bezugspunkt für alle, welche die kapitalistische
Gesellschaft ablehnen und nach einer Alternative suchen. Sie hat das Leben der
russischen ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, der ganzen
Bevölkerung revolutioniert, den Frauen historisch erstmals das allgemeine und
gleiche Wahlrecht zugestanden, Abtreibung und Homosexualität legalisiert und
eine grundlegende Umgestaltung der Ökonomie unter ArbeiterInnenkontrolle und
-verwaltung begonnen.

Die Politik und Herrschaft Stalins sowie des Stalinismus
allgemein bedeuteten einen Bruch mit den revolutionären Zielen der Bolschewiki
und fügten dem Ansehen des Kommunismus in der ArbeiterInnenklasse und bei den
Unterdrückten weltweit immensen Schaden zu, indem er mit dieser reaktionären
Politik gleichgesetzt wurde.

„Die Sowjetunion ist aus der Oktoberrevolution als ein ArbeiterInnenstaat hervorgegangen. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel als notwendige Voraussetzung der sozialistischen Entwicklung hat die Möglichkeit eines raschen Anwachsens der Produktivkräfte ermöglicht. Der Apparat des ArbeiterInnenstaates hat unterdessen eine völlige Entartung durchgemacht, wobei er sich von einem Werkzeug der ArbeiterInnenklasse zu einem Werkzeug der bürokratischen Gewalt gegen die ArbeiterInnenklasse verwandelt hat. Die Bürokratisierung eines rückständigen und isolierten ArbeiterInnenstaates und die Verwandlung der Bürokratie in eine allmächtige privilegierte Kaste sind die überzeugendste – nicht nur theoretische, sondern praktische – Widerlegung der Theorie des Sozialismus in einem Lande.

So schließt die Herrschaftsform der Sowjetunion bedrohliche Widersprüche ein. Aber sie bleibt immer noch die Herrschaftsform eines entarteten ArbeiterInnenstaates. Das ist die soziale Diagnose.

Die politische Prognose stellt sich als Alternative: entweder beseitigt die Bürokratie, die immer mehr zu einem Organ des Weltimperialismus in dem ArbeiterInnenstaat wird, die neuen Eigentumsformen und wirft das Land in den Kapitalismus zurück; oder die ArbeiterInnenklasse stürzt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus.“ (1)

Bevor wir auf Trotzkis Analyse näher eingehen, wollen wir
kurz einige Schwierigkeiten darstellen, die uns bei seinen Arbeiten begegnen.

Womit beginnen?

Erstens hat sich seine Analyse im Laufe der Entwicklung des
Stalinismus selbst verändert. Anders als wir hatte er es nicht mit einem
fertigen Phänomen zu tun, sondern mit einer komplexen, im Werden begriffenen
Erscheinung. Daher ändern sich auch Trotzkis Positionen zur stalinistischen
Bürokratie und seine politisch-programmatischen Schlussfolgerungen.

Zweitens ist Trotzki wie alle großen marxistischen
TheoretikerInnen zugleich Revolutionär, Politiker, Praktiker im besten Sinne
des Wortes. Seine Analyse erarbeitet er im Kontext der polemischen
Auseinandersetzung, der damit einhergehenden Zuspitzung einzelner Punkte und in
praktischer, revolutionärer Absicht. Ein bürgerlicher, anschauender Marxismus
ist ihm fremd.

Die dritte und wichtigste Schwierigkeit liegt im
widersprüchlichen Wesen nicht nur des Stalinismus, sondern des Übergangs vom
Kapitalismus zum Sozialismus selbst begründet. Der bleibende Wert von Trotzkis
Beitrag zum Verständnis der Sowjetgesellschaft und des Stalinismus liegt gerade
darin, den Ausgangspunkt der Betrachtung richtig zu wählen.

Entgegen etlichen zeitgenössischen und heutigen Vorwürfen,
die Trotzkis Theorie als „historisch befangen“ erklären, die seine Konzeption
des degenerierten ArbeiterInnenstaates zurückweisen, weil er „emotional“ an der
Oktoberrevolution hänge (Cliff u. a.) und sich trotz Stalin von der SU
nicht lösen könne oder umgekehrt wegen Stalin deren Entwicklungspotential
übersehen hätte (z. B. Deutscher), ist bei Trotzki ein enormes Maß an
Objektivität zu spüren. Sein Eintreten für die verbliebenen Errungenschaften
der Oktoberrevolution und den revolutionären Sturz der Bürokratie hat – wie wir
zeigen werden – nichts mit persönlicher Eitelkeit oder gar einer „Revanche an
Stalin“ zu tun.

Nach einem vergleichenden Überblick über die soziale und
politische Situation in der Sowjetunion 1935 wendet sich Trotzki der eigentlichen
Analyse der Sowjetgesellschaft zu. Er beginnt dabei nicht bei Stalin, ja
überhaupt nicht mit der Untersuchung einzelner Aspekte der frühen Sowjetunion,
sondern mit grundlegenden Betrachtungen des Übergangs vom Kapitalismus zum
Sozialismus. Der sozioökonomische Charakter der Sowjetunion und der Stalinismus
müssen aus den inneren Widersprüchen dieser Übergangsperiode erklärt werden.
Dieser Methode bleibt Trotzki grundsätzlich treu. Das weist ihn als großen
Vertreter des historischen Materialismus aus.

Er lehnt jede normative Herangehensweise ab. Es reicht, so
Trotzki, nicht aus nachzuprüfen, ob ein ArbeiterInnenstaat oder jedes andere
Phänomen der „Norm“, unseren Idealen entspricht.

„Das übliche Denken arbeitet mit solchen Vorstellungen wie Kapitalismus, Moral, Freiheit, ArbeiterInnenstaat usw. als festgelegten Abstraktionen, wobei es voraussetzt, dass Kapitalismus gleich Kapitalismus, Moral gleich Moral ist usw. Das dialektische Denken untersucht alle Dinge und Erscheinungen in ihrer unablässigen Veränderung, wobei es in den materiellen Voraussetzungen dieser Veränderungen jene kritische Grenze bestimmt, jenseits derer ‚A‘ aufhört ‚A‘ zu sein, ein ArbeiterInnenstaat aufhört, ein ArbeiterInnenstaat zu sein.

Der grundlegende Fehler des üblichen Denkens liegt darin, dass es sich mit bewegungslosen Eindrücken der Wirklichkeit zufrieden gibt, die aus ewiger Bewegung besteht. Durch weitere Annäherungen, Berichtigungen, Konkretisierungen gibt das dialektische Denken Vorstellungen einen reicheren Inhalt und größere Anpassungsfähigkeit (…).“ (2)

Trotzki verdeutlicht das anhand eines Vergleiches mit
Gewerkschaften:

„Die geschichtliche Entwicklung hat uns mit den unterschiedlichsten Gewerkschaften bekannt gemacht: kämpferischen, reformistischen, revolutionären, reaktionären, liberalen und katholischen. Anders verhält es sich mit dem ArbeiterInnenstaat. Diese Erscheinung beobachten wir zum ersten Mal. Daher resultiert die Neigung, die UdSSR ausschließlich unter dem Blickwinkel der Normen des revolutionären Programms zu betrachten. Indessen ist der ArbeiterInnenstaat eine objektive geschichtliche Tatsache, auf die verschiedene geschichtliche Kräfte einwirken und die, wie wir sehen, in vollen Widerspruch zu den ‚traditionellen Normen‘ geraten ist.“ (3)

Hier und an anderer Stelle verweist er darauf, dass wir
wenig gewonnen haben, wenn wir einfach eine Idealvorstellung des
ArbeiterInnenstaates mit dem Phänomen Sowjetunion vergleichen und zur
Schlussfolgerung gelangen, dass sie diesem Modell nicht entspricht.

Die wissenschaftliche Charakterisierung hat immer auch
programmatische und politische Konsequenzen. Ist die Sowjetunion nur ein
anderer, totalitärer, imperialistischer Staat, würde daraus z. B. im Krieg
gegen das faschistische Deutschland eine defaitistische Haltung des
Proletariats folgen.

Hinter der Charakterisierung degenerierter
ArbeiterInnenstaat steht für Trotzki jedoch, dass die Sowjetunion trotz der
Monstrosität der Stalin‘schen Herrschaft noch immer auf der Enteignung der
Bourgeoisie gründet, dass sich keine neue Kapitalistenklasse an die Macht
geschwungen hat und dass eine ArbeiterInnenrevolution gegen Stalin diese
Aufgabe nicht erneut erfüllen muss. Daher traten die TrotzkistInnen vor dem und
im Zweiten Weltkrieg für die Verteidigung der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland
und für den Sieg der UdSSR ein.

Revolutionäre Klasse

Trotzki versucht, das Problem des Übergangs im Anschluss an
Marx, Engels und Lenin sowohl theoretisch zu erschließen wie auch historisch –
in der Analyse der Entwicklung der Sowjetunion. In seinen Arbeiten greift
Trotzki die wichtige Erkenntnis des Marxismus auf, dass der Übergang zur
klassenlosen Gesellschaft, zum Kommunismus, nur über die politische
Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse möglich ist.

Sie ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die aufgrund
ihrer Stellung im Produktionsprozess zur vollständigen Umwälzung der
Gesellschaft, zur Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung
fähig ist. Der gesellschaftliche Charakter der kapitalistischen
Produktionsweise schafft die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, das Leben der
Menschen bewusst zu gestalten und jede Form von Ausbeutung und Unterdrückung zu
überwinden.

Möglich ist das aber nur, wenn sich die Arbeitenden, die den
Reichtum der Gesellschaft schaffen, dieser Notwendigkeit bewusst werden. Das
passiert nicht spontan. Das Proletariat ist vielmehr selbst in der
Warenwirtschaft verhaftet, es ist von chauvinistischen, sexistischen, usw.
Vorurteilen geprägt, die sie an die bestehende Gesellschaft fesseln.

Damit diese Klasse wirklich revolutionär wird und einen
konsequenten Kampf für ihre eigene Emanzipation führen kann, muss gegen alle
Formen der Unterdrückung und Ausbeutung agiert werden. Es bedarf dazu des
Kampfes gegen bürgerliches und kleinbürgerliches Bewusstsein und jede Form
unterdrückerischen Verhaltens unter den Ausgebeuteten. Nur durch die Verbindung
von Kampf, Organisierung und Bewusstsein wird das Proletariat befähigt, den
revolutionären Sturz des bestehenden Ausbeutungssystems herbeizuführen und dem
Marktwahnsinn der Profitwirtschaft ein Ende zu bereiten. Das ist die notwendige
Vorbedingung, damit die Potenzen der Gesellschaft zur freien und allseitigen
Entfaltung aller Menschen genutzt werden können. Es gibt nur eine
Gesellschaftsformation, in der das möglich ist: die kommunistische, das Ziel
der proletarischen Revolution.

Diese Erkenntnis muss zusammen mit einem weiteren wichtigen
Unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Revolution verarbeitet
werden. Beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus konnte sich die
entstehende Bourgeoisie auf eine lange historische Phase der Entwicklung
kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Schoße der Feudalgesellschaft
stützen. Schon lange bevor die Aristokratie ihre politische Macht verlor und
diese an die Kapitalistenklasse abzutreten gezwungen war, begannen die
bürgerliche Produktionsweise, das Vordringen von Geldwirtschaft und Manufaktur,
die feudale Produktionsweise von innen zu zerstören.

Wie Engels zu Recht feststellt, war die Umwälzung der
politischen Verhältnisse, die Zerstörung der feudalen Ordnung nicht einfach ein
„Nachvollzug“ des ökonomischen Voranschreitens, sondern notwendig, um die neue
Produktionsweise von den feudalen Fesseln zu befreien. Dem/r KönigIn musste der
Kopf abgeschlagen werden. Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse mussten
über die Landesgrenzen ausgedehnt werden – und sei es mit den Bajonetten der
napoleonischen Armee.

In den bürgerlichen Revolutionen gelangte die Bourgeoisie
auf Basis der Mobilisierung der Volksmassen an die politische Macht. Auch dort,
wo es der Feudalaristokratie gelang, diese wieder zu erlangen, wo die
Revolutionen scheiterten und die Exekutivgewalt in den Händen der
konterrevolutionären Aristokratie blieb, war an eine Restauration des
gesellschaftlichen Systems des Feudalismus nicht mehr zu denken. Der
Kapitalismus und erst recht das Fabriksystem hatten die Mauern der alten
Ordnung zu diesem Zeitpunkt schon so gründlich zerstört, dass der ehemals
herrschenden Klasse nur übrig blieb, sich mit der Kapitalistenklasse zu
arrangieren und, wie z. B. in Deutschland oder der Habsburger Monarchie,
die rasch wachsende Angst der BürgerInnen vor dem sich bildenden Proletariat zu
einem möglichst großzügigen Arrangement für KaiserIn, KönigIn und JunkerIn zu
nutzen.

In jedem Fall aber blieb die kapitalistische
Produktionsweise die vorherrschende, weil sie schon in der Feudalgesellschaft
ihre historische Überlegenheit gezeigt hatte, weil sich die Bourgeoisie mit
ihrer Entwicklung zur herrschenden Klasse bereits auf ein überlegenes,
bürgerliches System der Produktion und Distribution stützen konnte.

Die Bedeutung der politischen Machtergreifung

Die ArbeiterInnenklasse kann sich jedoch vor der
revolutionären Machtergreifung auf kein solches System stützen. Der
Kapitalismus entwickelt zwar die Voraussetzungen des Kommunismus und seine
inneren Widersprüche drängen notwendig zum Sturz dieser Klassengesellschaft –
aber im Kapitalismus entwickelt sich keine zukünftige sozialistische
Produktionsweise.

Die Kapitalistenklasse entwickelte sich organisch aus
Geldwirtschaft, Handel und Handwerk im Feudalismus. Sie konnte ihre ökonomische
Vorherrschaft, lange bevor sie zur politisch herrschenden Klasse wurde, auf der
Grundlage einer neuen, historisch überlegenen Produktionsweise vorbereiten, die
sich neben der und gegen die feudale Produktionsweise entwickelte.

Die Kapitalistenklasse entwickelte sich aus den
Zwischenklassen, Mittlerinnen der Feudalgesellschaft, nicht aus der
unterdrückten Produzentenklasse der Leibeigenen, Hörigen oder abhängigen
Bauern/Bäuerinnen. Sie entwickelte sich aus dem Kampf der Stadt gegen das Land,
aus dem Kampf neu entstehender Mittelklassen, die sich oft selbst aus
ehemaligen, entflohenen Leibeigenen rekrutierten. So war es möglich, dass sie
sich nach der politischen Machtergreifung bereits auf die ökonomische
Vorherrschaft stützen konnte.

Für das Proletariat besteht diese Möglichkeit nicht. Gerade
weil die kapitalistische Produktionsweise auf der Ausbeutung der Arbeiterinnen
und Arbeitern als Klasse von LohnrbeiterInnen basiert, die Mehrwert und Kapital
produzieren, kann diese Klasse nicht im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft
ihre eigene Produktionsweise schaffen. Sie muss vielmehr zuerst ihre
gesellschaftliche Stellung zur politischen Machtergreifung nutzen, zur eigenen
Klassenherrschaft gelangen, um auf dieser Grundlage die Gesellschaft gründlich,
bewusst und planmäßig umzugestalten. Nach der Machtergreifung muss sich die
ArbeiterInnenklasse nicht nur mit der bürgerlichen Konterrevolution
auseinandersetzen, sie kann nur über die bewusste Umwälzung der vom
Kapitalismus übernommenen Verhältnisse zur klassenlosen Gesellschaft
voranschreiten.

„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtische Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: jeder nach seinen/ihren Fähigkeiten, jedem/r nach seinen/ihren Bedürfnissen.“ (4)

Der Sturz der bürgerlichen Herrschaft erfordert eine
bewusste Klassenführung, erfordert ein Bewusstsein von der Aufgaben der Klasse.
Nach der Revolution wird die Frage des Bewusstseins der Klasse nicht weniger
bedeutend. Das Proletariat kann nach Marx´ Auffassung den Staat nicht einfach
„abschaffen“, wie die AnarchistInnen glauben, es muss vielmehr für eine Periode
des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus selbst die Staatsmacht ausüben,
um sich gegen die innere und äußere bürgerliche Konterrevolution zu verteidigen
und diese zu unterdrücken.

„Zwischen der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft liegt eine Periode der revolutionären Umwälzung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ (5)

Welchen Staat braucht das Proletariat?

Schon vor der Revolution von 1848 vertraten Marx und Engels die Auffassung, dass die ArbeiterInnenklasse die politische Macht erringen müsse, um ihre ökonomische Befreiung erwirken, um Ausbeutung und Unterdrückung beseitigen und schließlich den Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft ebnen zu können. Das kommt auch im Kommunistischen Manifest zum Ausdruck: „Wir sahen schon oben, dass der erste Schritt in der ArbeiterInnenrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“ (6)

Welche Staatsform zur Befreiung des Proletariats notwendig
sei, was mit dem schon existierenden Staatsapparat geschehen müsse – das war
damals noch nicht mit Inhalt gefüllt. Doch schon die Errichtung der
bonapartistischen Diktatur Napoleons III. 1851 in Frankreich führte Marx und
Engels zu wichtigen neuen Erkenntnissen in Bezug auf den Staat. Der bürgerliche
Staat ist nicht einfach eine Institution, die der Herrschaft jeder beliebigen
Klasse – egal ob ausbeutend oder nicht – dienen kann.

Im Gegenteil, er dient in jeder Form – egal ob als
parlamentarische Demokratie oder als Diktatur, ob als Republik oder Monarchie –
der Aufrechterhaltung und Befestigung der Macht des Bürgertums. Das trifft
selbst dann zu, wenn VertreterInnen des Proletariats z. B. die Mehrheit im
Parlament hätten, da das eigentliche Machtzentrum des Staates nicht bei den
Abgeordneten, sondern im Staatsapparat selbst liegt, bei der Bürokratie, der
Justiz vor allem bei Armee und Polizei.

Das Proletariat kann daher die bürgerliche Staatsmaschine,
so die Schlussfolgerung von Marx und Engels, nicht einfach übernehmen. Sie muss
vielmehr zerbrochen oder, wie sich Lenin in „Staat und Revolution“ ausdrückt,
zerschlagen werden. In einem berühmten Brief an Ludwig Kugelmann vom 12. April
1871 macht Marx seine Auffassung besonders deutlich:

„Wenn Du das letzte Kapitel meines ,Achtzehnten Brumaire‘ nachsiehst, wird Du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent.“ (7)

Genau das, so Marx, habe die Kommune im Unterschied zu allen
Revolutionen vor ihr gemacht. Sie hat nicht mehr den bestehenden Staatsapparat
einfach übernommen, ihre Leute auf hoch dotierte Bürokratenposten gesetzt und
ihnen damit ermöglicht, sich über jene zu stellen, die sie in diese Position
gebracht haben. Sie hat den Staatsapparat sozusagen vom Himmel auf die Erde
geholt – indem sie ihn zerschlagen und durch einen völlig neuartigen „Staat“,
die Kommune, ersetzt hat.

Die Kommune wurde durch Abgeordnete gebildet, die in den
Bezirken von Paris durch allgemeines Stimmrecht gewählten wurden. Das Besondere
dabei war erstens, dass diese ihren WählerInnen jederzeit verantwortlich und
von diesen absetzbar waren. Anders als in der bürgerlichen Gewaltenteilung
üblich, waren gesetzgebende und ausführende Tätigkeit in einer Körperschaft
vereint. Zweitens durften alle Mitglieder der Kommune und Ausführende sonstiger
öffentlicher Tätigkeiten nicht mehr als einen ArbeiterInnenlohn beziehen, um
dem im bürgerlichen Staat üblichen Karrierismus vorzubeugen.

Alle öffentlichen Funktionen, die auch unter der Herrschaft
des Proletariats notwendig sind, wurden in die direkte Selbstverwaltung der
arbeitenden Bevölkerung überführt. Sie verwirklichte auf ihre Art den
„schlanken Staat“ – ohne MinisterialbeamtInnen, HofrätInnen und tausende andere
HonoratiorInnen, die das „Wohl der Allgemeinheit“ vor allem zum Mittel ihrer
eigenen Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit machen.

Gleich im ersten Dekret, das die Kommune erließ, räumte sie
auch entschlossen mit der bewaffneten Macht des alten Staatsapparats auf. Das
stehende Heer wurde abgeschafft und durch die Bewaffnung des ganzen Volkes
ersetzt. Ebenso wurden alle RichterInnen und sonstigen JustizbeamtInnen ihrer
scheinbaren Unabhängigkeit entkleidet und sollten wie alle übrigen Ämter
gewählt, verantwortlich und jederzeit absetzbar sein.

Die Diktatur des Proletariats

Die Kommune ging natürlich auch daran, die geistigen
Hilfsmächte der alten Ordnung, vor allem den Klerus, in die Schranken zu weisen
und Symbole des Kaiserreichs, der Reaktion und des Chauvinismus zu zerstören.
Die Religion wurde aus den Schulen verbannt und Grundbesitz und sonstige
kommerzielle Unternehmungen der Kirche wurden enteignet. Die Siegessäule
Napoleons und die als Sühne für die Hinrichtung Ludwigs XVI. errichtete
Bußkapelle wurden geschliffen, die Guillotine öffentlich verbrannt.

Nicht zuletzt ging auch die Kommune in den wenigen Wochen
ihres Bestehens daran, in die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse einzugreifen.
Mietschulden der ArbeiterInnen wurden für nichtig erklärt und die Nachtarbeit
bestimmter Berufe wie der BäckerInnen verboten. Am 16. April wurde eine
statistische Erfassung der von den Unternehmern stillgelegten Fabriken und die
Ausarbeitung von Plänen für ihren Betrieb und ihre Leitung durch in
Kooperativen vereinigte Arbeiter und Arbeiterinnen begonnen.

In nur wenigen Wochen hatte die Kommune, getragen vom
arbeitenden Paris, für das Interesse der Massen mehr geleistet als sämtliche
bürgerliche WeltverbessererInnen der Geschichte zusammen. Zweifellos hatte auch
die Kommune ihre Schwächen. Sie hatte es versäumt, rechtzeitig der bürgerlichen
Konterrevolution in Versailles militärisch entgegenzutreten, bevor diese
ähnliche Versuche in großen französischen Städten niederschlagen und
schließlich das Pariser Proletariat im Bürgerkrieg niedermachen konnte. Sie
hatte es versäumt, solche grundlegenden ökonomischen Maßnahmen wie die
Beschlagnahme der Bank von Frankreich durchzuführen und damit der bürgerlichen
Konterrevolution ein wichtiges Machtmittel zu entreißen.

Doch all das ändert nichts an der weltgeschichtlichen
Bedeutung dieser ersten Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse, dieser ersten
Errichtung der Diktatur des Proletariats in der Geschichte. Auf den ersten
Blick erscheint es seltsam, diese demokratischste aller Demokratien, die
direkte Selbstverwaltung der arbeitenden Bevölkerung als Diktatur zu
bezeichnen. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Entgegen den
bürgerlichen ApologetInnen erkennen wir, dass jeder demokratische Staat in
seinem Kern eine Diktatur ist. Der bürgerliche Staat – egal welche Partei auch
an seiner Spitze steht und welche Herrschaftsform er annimmt – bleibt immer ein
Instrument zur Aufrechterhaltung der Profitwirtschaft und des Privateigentums
an den Produktionsmitteln, also ein Instrument zur Diktatur der herrschenden
Klasse, des Kapitals, über die von ihr ausgebeutete Klasse, die
ArbeiterInnenklasse.

In der Diktatur des Proletariats verkehrt sich die Diktatur
einer winzigen Minderheit über die große Mehrheit der Bevölkerung in jene der
überwältigenden Mehrheit über die Minderheit, um deren Ausbeutung und
Unterdrückung national wie weltweit zurückzudrängen. Wenn wir hier von Diktatur
sprechen, anerkennen wir, dass der ArbeiterInnenstaat einen bewussten Kampf
gegen Unterdrückung und Ausbeutung führen muss. Um dabei erfolgreich zu sein,
stützt er sich – wie die Kommune – auf die weitestgehende Demokratie (tagtäglich
und nicht bloß alle vier Jahre) in Form eines Rätesystems. Dies ist die
Herrschaftsform des ArbeiterInnenstaates für die Übergangsperiode zum
Sozialismus, während der in der Gesellschaft der Klassenwiderspruch (etwa in
Form des Kleinbürgertums) noch existiert.

Während die Bourgeoisie wie alle ausbeutenden Klassen die
Unterdrückten zu täuschen versucht, indem sie den Klassencharakter des
bürgerlichen Staats und der Demokratie leugnet, haben KommunistInnen nichts zu
verbergen. Uns geht es darum, den Arbeitern und Arbeiterinnen politische
Klarheit zu vermitteln. Wir treten offen für unsere Auffassungen ein. Wir
bezeichnen den Staat der Übergangsperiode als Diktatur, weil er wie jeder Staat
ein Herrschaftsinstrument einer Klasse gegen eine andere ist und weil wir aus
allen bisherigen Versuchen des Sturzes des Kapitalismus wissen, dass wir ein
solches Instrument zum Kampf gegen die bürgerliche Konterrevolution brauchen.
Wer die proletarische Diktatur ablehnt, ist in Wirklichkeit gezwungen, weiter
die Diktatur der KapitalistInnen zu dulden.

Schon wenige Tage nach der Niederlage der Kommune, am 30.
Mai, präsentierte Marx vor dem versammelten Generalrat der Internationalen
ArbeiterInnenassoziation, die später als die Erste Internationale in die
Geschichte eingehen sollte, die Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich” (MEW
Bd. 17, S. 313–365). Dort legt er erstmals die wesentlichen Schlussfolgerungen
über die Pariser Kommune nieder.

„Die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune unterlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausgedrückt fanden, beweisen, dass sie eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form war, während alle früheren Regierungsformen wesentlich unterdrückend gewesen waren. Ihr wahres Geheimnis ist dies: Sie war wesentlich eine Regierung der ArbeiterInnenklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.

Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassung eine Unmöglichkeit und Täuschung. Die politische Herrschaft des/r ProduzentIn kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner/ihrer gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und der Klassenherrschaft ruht.“ (8)

Mit der Kommune war endlich die Form gefunden, durch die die
bürgerliche Staatsmaschinerie in der proletarischen Revolution zu ersetzen ist
– ein Ziel jedes wirklich sozialistischen Programms, das sowohl durch
sozialdemokratische wie durch stalinistische Staatsgläubigkeit fast verloren
ging.

Anders als der bürgerliche Staat ist die Kommune eine
Staatsform, die in dem Maß, wie der Aufbau des Sozialismus im internationalen
Maßstab voranschreitet, die, je mehr die Klassengegensätze planmäßig überwunden
werden, selbst aufhört, ein Staat, ein Mittel einer Klasse zur Unterdrückung
einer anderen zu sein. Gerade weil die Kommune einen Mechanismus darstellt zur
Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft (jederzeitige Wahl- und
Abwahl öffentlicher FunktionärInnen, ArbeiterInnengehalt), ist sie eine
Staatsform, die schon die Möglichkeit des Absterbens des Staates in sich trägt.

Mit ihr – nicht mit den stalinistischen Imitationen des
bürgerlichen Staates – ist der Übergang zur klassenlosen Gesellschaft und damit
zur Überwindung des „ganzen Staatsplunders“ (Engels) möglich. Lenin und die
Bolschewiki knüpften an diese Tradition von Marx und Engels an. In seiner Schrift
„Staat und Revolution“ greift Lenin die Erkenntnis auf, nicht nur die
Staatsmacht zu ergreifen, sondern auch die existierende bürgerliche
Staatsmaschinerie zu zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat zu
ersetzen.

„Beamtentum und stehendes Heer, das sind die ‚SchmarotzerInnen‘ am Leib der bürgerlichen Gesellschaft, SchmarotzerInnen, die aus den inneren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben ParasitInnen, die die Lebensporen ‚verstopfen‘.“ (9)

Das Programm der Bolschewiki

Er schlägt daher in der Tradition der Pariser Kommune
Maßnahmen vor, um die Herausbildung einer neuen Bürokratie und deren
Verfestigung zu einer Kaste zu verhindern:

Erstens tritt er entschieden für die Wahl und jederzeitige
Abwählbarkeit aller staatlichen FunktionärInnen ein; zweitens darf das Gehalt
dieser FunktionärInnen den Lohn der ArbeiterInnen nicht überschreiten; drittens
sollen die Aufsichts- und Kontrollfunktionen unter allen Mitgliedern der
Gesellschaft rotieren, so dass für eine begrenzte Zeit jede/r „BürokratIn“ wäre
– und somit niemand lebenslang BürokratIn werden kann.

Zweifellos haben die Bolschewiki schon zu Lebzeiten Lenins
von diesem Programm viele Abstriche machen müssen. Sie haben, um die russische
Revolution zu verteidigen, sogar in vielen Fällen zu ganz und gar dem Programm
entgegengesetzten Maßnahmen greifen müssen. Deutlich wird das z. B. im
Fall der Gründung der Roten Armee.

Wollte man einen normativen Maßstab an die Russische
Revolution und die Sowjetunion anlegen, so müsste man die Oktoberrevolution vom
ersten Moment der Machtergreifung an für gescheitert erklären. Die
AnarchistInnen tun das konsequenterweise – in totaler Verkennung und Ignoranz
gegenüber den inneren Widersprüchen der Übergangsperiode. Für die AnarchistInnen
und Ultralinken löst sich die Frage im Endeffekt in der Losung nach sofortiger
Umsetzung bestimmter programmatischer „Marotten“ auf. Schaffen wir den Staat ab
– dann hat sich alles gelöst. Dasselbe trifft auf die frühen ultralinken
KritikerInnen zu. Warum wird das Geld, wird der Warentausch nicht einfach
„abgeschafft“? Warum gehen die Bolschewiki gegen die Kronstädter Matrosen vor?
Verletzt das nicht alles die Reinheit der Revolution und ihrer „Prinzipien“?

Das Problem der Übergangsperiode besteht aber gerade darin,
dass wir es hier mit einem Widerstreit zweier gesellschaftlicher Prinzipien –
dem Wertgesetz und bewusster gesellschaftlicher Planung, der alten bürgerlichen
Gesellschaft und der zukünftigen sozialistischen – zu tun haben. Die Übergangsgesellschaft
ist – anders als Sozialismus und Kommunismus – keine eigene
Gesellschaftsformation, sie ist vielmehr ein Übergangsregime, wo sich die alte,
bürgerliche Produktionsweise und die neue, erst embryonal vorhandene
sozialistische einen Kampf auf Leben und Tod liefern.

Die übernommenen, mehr oder weniger starken bürgerlichen
Elemente können nur auf Basis einer Entwicklung der Produktivkräfte, die weit
höher als die des fortgeschrittensten Kapitalismus ist, überwunden werden. Auch
bei günstigen inneren und äußeren Umständen (und die lagen in der frühen
Sowjetunion nicht vor) kann das zur Macht gekommene Proletariat das Wertgesetz
nicht einfach „abschaffen“. Es muss vielmehr die gesellschaftlichen
Bedingungen, und das bedeutet u. a. ein bestimmtes Niveau der
Vergesellschaftung der Produktion, herstellen, um diesen Schritt auch real
durchführen zu können. Ansonsten wird sich das Wertgesetz nur blind zur Geltung
bringen.

Wurzeln der Stalinisierung

Ein typisches Beispiel ist der in den stalinistischen Staaten
florierende Schwarzmarkt, der überall dort wucherte, wo die offizielle
Produktion nicht ausreichte und Engpässe existierten. Ein historisches Beispiel
für einen Kompromiss mit den gesellschaftlichen Bedingungen stellt die
Zulassung von Marktmechanismen im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik 1922 dar,
als der Staat nicht fähig war, den Bauern/Bäuerinnen im Tausch für ihre
landwirtschaftlichen Produkte Maschinen anzubieten, und diese daher wenig
Anreiz zur Produktion hatten, solange sie ihre Produkte nicht verkaufe konnten,
sondern an den Staat abliefern mussten.

Trotzki beschreitet auf dieser Linie einen grundsätzlich
anderen Weg als die AnarchistInnen und Ultralinken, einen grundsätzlich anderen
Weg als alle normativen AnalytikerInnen. Er erklärt die bürokratische Entartung
der Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion mit der Rückständigkeit und
der internationalen Isolierung des Landes, dem Ausbleiben der internationalen
Revolution.

„Die revolutionäre Nachkriegskrise führte jedoch nicht zum Sieg des Sozialismus in Europa: Die Sozialdemokratie rettete die Bourgeoisie. Die Periode, die Lenin und seine erfahrenen KampfgenossInnen als eine kurze ‚Atempause‘ (gemeint ist der Frieden von Brest-Litowsk und die Phase unmittelbar danach; d. A.) erschien, dehnte sich auf eine ganze historische Epoche aus. Die widersprüchliche gesellschaftliche Situation der UdSSR und der ultra-bürokratische Charakter ihres Staates sind direkte Folgen dieser einzigartigen, ‚unvorhergesehenen‘ historischen Stockung, die gleichzeitig in den kapitalistischen Ländern zum Faschismus oder zur präfaschistischen Reaktion führte.“ (10)

Die Rückständigkeit der Sowjetunion (und in diesem Sinne die
Problematik jedes Landes, das „selbstständig“ den Weg zum Sozialismus
einschlagen wollte) drückt sich in inneren Klassenwidersprüchen aus, den
gegensätzlichen Interessen von Proletariat und Bauern-/Bäuerinnenschaft, in der
Rückständigkeit der Produktivkräfte und damit in der Unmöglichkeit, Preise,
Geld, Wert usw. einfach abzuschaffen. Aus dieser inneren Widersprüchlichkeit
erklärt Trotzki den Aufstieg der Bürokratie in der frühen Sowjetunion.

„Scheiterte der anfänglich unternommene Versuch, einen vom Bürokratismus gereinigten Staat zu schaffen, vor allem an der Unerfahrenheit der Massen in der Selbstverwaltung und am Mangel von dem Sozialismus ergebenen, qualifizierten ArbeiterInnen, so tauchten schon sehr bald hinter diesen unmittelbaren Schwierigkeiten andere, tiefer liegende auf. Die Reduktion des Staats auf die Funktionen eines ‚Revisors und Kontrolleurs‘ bei ständiger Verminderung seiner Zwangsfunktionen, wie es das Programm fordert, setzt doch ein gewisses Maß von allgemeinem materiellen Wohlstand voraus. Gerade diese notwendige Voraussetzung aber fehlte. Die Hilfe des Westens blieb aus. Die Macht der demokratischen Sowjets erwies sich als hinderlich, ja, als unerträglich, als es darum ging, die für Verteidigung, Industrie, Technik und Wissenschaft unentbehrlichen privilegierten Gruppen zu versorgen. Auf Grund dieser keineswegs ‚sozialistischen‘ Operationen, ,zehnen wegnehmen, um einem/r zu geben‘, kam es zur Absonderung und Vermehrung einer mächtigen Kaste von SpezialistInnen an der Futterkrippe.“ (11)

Die frühe Sowjetunion war aufgrund ihrer imperialistischen
Umkreisung, des Bürgerkriegs und v. a. der ökonomischen Rückständigkeit
gezwungen, die Entwicklung der Produktivkräfte voranzutreiben – nicht zuletzt,
um den Gegensatz zwischen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen, aber auch
innerhalb der ArbeiterInnenklasse – überbrücken zu können. Statt Überfluss und
Reichtum wurde vor allem der Mangel vergesellschaftet – und wo Mangel herrscht,
stellt sich die Notwendigkeit eines/r RegulatorIn der Verteilung ein, eines/r
„SchiedsrichterIn“ über den Klassen. Diese Funktion nahm der Staat wahr. Das
gesellschaftliche Gewicht, und damit auch die Bedeutung der Bürokratie, nahmen
zu.

Bis zu einem gewissen Grad ist das eine innere Notwendigkeit
(auch eines gesunden) ArbeiterInnenstaates. Aber die bürokratischen Tendenzen
führen beim Ausbleiben der internationalen Revolution zu einer inneren
Entartung, zu einer politischen Konterrevolution – gegen Sowjetdemokratie,
gegen die Partei, gegen den Kommunismus. Trotzki greift dabei die Marx‘sche
Sicht auf, dass die Entwicklung zum Sozialismus nicht durch die automatische Entwicklung
der Eigentumsverhältnisse garantiert wird. Anders als beim Übergang vom
Feudalismus zum Kapitalismus haben sich im Kapitalismus keine überlegenen,
sozialistischen Produktionsverhältnisse herausgebildet, die nach der Revolution
den Weg zum Sozialismus unabhängig von bewusster menschlicher Tätigkeit,
Lenkung – d. h. von ArbeiterInnendemokratie und Planung – sichern könnten.

In der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus
bedarf es einer als Staatsmacht organisierten ArbeiterInnenklasse: der Diktatur
des Proletariats. Doch was passiert, wenn die politische Herrschaft dem in
Räten organisierten Proletariat entgleitet, wenn die revolutionäre Vorhut der
Klasse liquidiert, wenn die politische Herrschaft des Proletariats zur
Herrschaft der Bürokratie wird, wenn die revolutionäre Partei selbst entartet?

Der degenerierte ArbeiterInnenstaat

Es findet, so Trotzki, eine politische Konterrevolution
statt. Während die ökonomischen Grundlagen der Oktoberrevolution
(Verstaatlichung, Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol) weiter in Kraft sind,
während das Wertgesetzt noch nicht dominierender Regulator der Wirtschaft ist,
wird die politische Macht bei der einstigen „Schiedsrichterin“ im
Verteilungskampf des nachkapitalistischen Mangels konzentriert. Dadurch wird
die Bürokratie aber noch nicht zu einer neuen herrschenden Klasse.

„Die Verstaatlichung von Grund und Boden, industriellen Produktionsmitteln, Transport und Verkehr bilden mitsamt dem Außenhandelsmonopol in der UdSSR die Grundlage der Gesellschaftsordnung. Diese von der proletarischen Revolution geschaffenen Verhältnisse definieren für uns im wesentlichen den Charakter der UdSSR als den eines proletarischen Staates.“ (12)

Die Bürokratie als herrschende Schicht reproduziert sich auf
Grundlage dieser sozialen Verhältnisse, d. h. auf Grundlage der Enteignung
der Kapitalistenklasse. Zweifellos erwachsen daraus soziale Privilegien,
plündert die Bürokratie das gesellschaftliche Mehrprodukt und verteilt es nach
ihren Interessen. Das macht sie zwar zu einer überaus repressiven und
reaktionären Erscheinung, es macht sie jedoch zu keiner neuen herrschen Klasse
oder einer „kollektiven“ Kapitalistenklasse.

Die Bourgeoisie im Kapitalismus reproduziert sich über ihr
Eigentum an den Produktionsmitteln, das sie innerhalb ihrer Klasse weiterreicht
(vererbt). Zum/r KapitalistIn aufzusteigen, setzt eine Mindestmenge Kapital in
eigenen Händen voraus. Zur Reproduktion der Klasse ist es keinesfalls
notwendig, dass die KapitalistInnen die politische Macht persönlich ausüben. Das
können sie ruhig bezahlten FunktionärInnen – bürgerlichen, kleinbürgerlichen,
reformistischen PolitikerInnn – überlassen. In der Tat ist das gerade in den
fortgeschrittenen bürgerlichen Staaten üblich.

Die herrschende Bürokratenkaste in der Sowjetunion und in
den späteren stalinistischen Ländern Osteuropas, in China, Kuba usw. hat sich
nicht so reproduziert. Die Macht des/r BürokratIn, vor allem aber die
Reproduktion der Bürokratie als Gesamtheit war wesentlich politisch, über
Staats- und Parteifunktionen, über die Hierarchie einer politischen Institution
vermittelt. Das drückt auch der Terminus Nomenklatura deutlich aus.

Fällt der/die BürokratIn aus der Rolle, gibt es innerhalb
der Bürokratie politische Säuberungen, so kann ein/e BürokratIn seine/ihre gesellschaftliche
Macht und Privilegien verlieren. Er/Sie besitzt kein Privateigentum, das er/sie
an seine/ihre Kinder weiterreichen könnte. Er/Sie hat auch keine
Verfügungsgewalt, sobald er/sie aus dem Kreis der politischen Macht verstoßen
ist.

Das ist nicht nur individuelles Schicksal eines/r
FunktionärIn, es ist ein Problem der gesamten Kaste. Sie kann sich auf keine
besonderen Eigentumsformen stützen. Sie ist vielmehr gezwungen, mit ihren
Methoden das staatliche Eigentum zu verteidigen.

„Der Versuch, die Sowjetbürokratie als eine Klasse von ‚StaatskapitalistInnen‘ hinzustellen, hält der Kritik sichtlich nicht stand. Die Bürokratie hat weder Aktien noch Obligationen. Sie rekrutiert, ergänzt, erneuert sich kraft einer administrativen Hierarchie, ohne Rücksicht auf irgendwelche, ihr eigenen Besitzverhältnisse. Der/Die einzelne BeamtIn kann seine/ihre Anrechte auf die Ausbeutung des Staatsapparates nicht weitervererben. Die Bürokratie genießt ihre Privilegien in missbräuchlicher Weise. Sie verschleiert ihre Einkünfte. Sie tut, als existiere sie gar nicht als besondere soziale Gruppe.“ (13)

Genau diese gesellschaftlich widersprüchliche Lage der
Bürokratie bringt auch Isaac Deutscher in „Die unvollendete Revolution“ sehr
gut zum Ausdruck. Die Einkünfte des Staatsapparates, der Parteihierarchie, der
Militärs, der Managergruppen stammen aus dem Mehrprodukt der Arbeitenden. Das
hat die Bürokratie mit jeder Ausbeuterklasse (nicht nur mit den
KapitalistInnen) gemein.

„Aber was dieser sogenannten neuen Klasse fehlt, ist Eigentum. Sie besitzen weder Produktionsmittel noch Boden. Ihre materiellen Privilegien sind auf die Sphäre des Verbrauchs beschränkt. (…) Sie können ihren Nachkommen keinen Reichtum hinterlassen; das heißt, sie können sich nicht als Klasse verewigen.“ (14)

Auch die Darstellung, dass die Bürokratie als „kollektive“
Kapitalistin fungiere, lässt sich nur aufrechterhalten, wenn der Begriff des
Kapitals vollkommen seiner wissenschaftlichen Bedeutung entleert wird.
Kapitalismus bedeutet Produktion für Profit – und zwar immer wiederkehrende,
fortgesetzte Aneignung von Mehrwert, seine Verwandlung in Profit und
Wiederverwendung des angeeigneten Mehrwerts, um noch mehr Profit zu
erwirtschaften. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos, rastlos, führt zu
immer wiederkehrender Umwälzung und Revolutionierung der Produktion (wie auch
der Zirkulationssphäre). Kapital ist sich selbst verwertender Wert, der/die
KapitalistIn ist Personifikation dieser Bewegung.

Diese rastlose, ständige Suche nach immer profitableren
Anlagemöglichkeiten des Kapitals, dessen Zweck die Vermehrung abstrakten
Reichtums ist (und nicht irgendein bestimmter Gebrauchswert), ist der
Bürokratie fremd. Die Wirtschaft der UdSSR oder der DDR war nicht dadurch
bestimmt oder getrieben, immer mehr Wert zu schaffen. Im Gegenteil: die
Wirtschaftspolitik der Bürokratie war auf die Produktion bestimmter
Gebrauchswerte ausgerichtet – wenn auch in erster Linie solcher, die ihrer
eigenen Machterhaltung, ihren Konsumbedürfnissen und dem Druck der
ArbeiterInnenschaft entsprachen.

Das Wertgesetz machte sich natürlich auf verschiedene Art
und Weise auch in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten geltend. Wie jede
Übergangsgesellschaft waren sie von einem Wettstreit zwischen Planung und
Wertgesetz gekennzeichnet, zwischen zwei verschiedenen gesellschaftlichen
Systemen.

Der kapitalistische Weltmarkt wirkte ebenso ins Innere der
Planwirtschaft, wie auch bestimmte, für die kapitalistische Ökonomie typische
Formen – z. B. die Lohnform – erhalten blieben (und bis zu einem gewissen
Grad aufrechterhalten werden mussten). Aber diese Formen waren dem System der
(bürokratischen) Planung untergeordnet. Sie machten die herrschende Bürokratie
zu keiner neuen Kapitalistenklasse, so sehr das manche/r FunktionärIn insgeheim
vielleicht auch wollte.

Ebenso wenig konnte das vom Westen angestachelte Wettrüsten
die internen Mechanismen der bürokratischen Planwirtschaft außer Kraft setzen,
auch wenn es die sowjetische Wirtschaft zunehmend belastete. Die Konkurrenz auf
dem Weltmarkt, das Wettrüsten sowie die zunehmende Verschuldung trugen
eindeutig zur Beschleunigung des Niedergangs der Wirtschaft der degenerierten
ArbeiterInnenstaaten bei. Die lange wirtschaftliche Instabilität nach 1989 und
die Schwierigkeiten bei der Wiedereinführung der Profitwirtschaft verdeutlichen
jedoch, wie tief verankert die nachkapitalistische Produktionsweise nach wie
vor war.

Die Monopolisierung der politischen Macht in den Händen der
Bürokratie verleiht ihr auf Grundlage der nachkapitalistischen Verhältnisse
zweifellos eine Machtfülle, wie es für die Bürokratie im Kapitalismus unüblich
ist (und wie sie am ehesten in faschistischen oder staatskapitalistischen
Regimes der halbkolonialen Welt, aber auf anderer, kapitalistischer Grundlage,
anzutreffen ist).

Die Kontrolle über die Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums darf daher nicht auf die Aneignung persönlicher Privilegien und
Plünderung im Eigeninteresse von Partei- und StaatsfunktionärInnen eingeengt
werden. Das ist ein, gerade für „sozialistische“ Staaten besonders
abscheulicher Vorgang. Das politische Machtmonopol der Bürokratie bedeutet
auch, dass die Wirtschaftsentwicklung von ihr kontrolliert wird, neue Vorhaben,
die Verteilung des Reichtums auf verschiedene Sektoren, von ihren politischen
Entscheidungen bestimmt werden.

Dies führt dazu, dass die Grundlagen der Planwirtschaft von
innen unterhöhlt werden. Die Bürokratie ist nicht einfach eine schlechte
Sachwalterin des Übergangs zum Sozialismus, ihre Herrschaft ist ein Hindernis,
das – wird es nicht rechtzeitig durch eine ArbeiterInnenrevolution beseitigt –
früher oder später zur Rekapitalisierung führt.

Die Bürokratie ist weder willens noch fähig, eine bewusste
Lenkung der Wirtschaft in Richtung Sozialismus zu gewährleisten. Dazu ist eine
funktionierende ArbeiterInnendemokratie unabdingbar. Hinzu kommt, dass die
Herrschaft der Bürokratie gleichzeitig dazu führt, dass das Klassenbewusstsein
des Proletariats, der noch immer gesellschaftlich herrschenden Klasse, mehr und
mehr zerstört wird.

Der Staat der Bürokratie

Die politische Machtergreifung der Bürokratie bedeutet in
der frühen Sowjetunion den Vollzug einer inneren politischen Konterrevolution.
Sie geht mit der Zerstörung aller Elemente des proletarischen Halbstaates, der
Räte und räteähnlicher Strukturen, aller Formen der ArbeiterInnen- und
Parteidemokratie einher.

Wie wir oben gesehen haben, war auch die frühe Sowjetunion
gezwungen, im Interesse der Sicherung der Revolution auf bürgerliche Strukturen
und Formen zurückzugreifen. Solche Schritte können auch für zukünftige
Revolutionen nicht ausgeschlossen werden, wenn auch ihre weltgeschichtliche
Dramatik geringer sein mag. Auch der revolutionärste ArbeiterInnenstaat kann,
ja wird für eine bestimmte Phase gezwungen sein, auf bürgerliche Organe wie
eine Bürokratie zurückzugreifen. Diese Schritte „prinzipiell“ abzulehnen,
bedeutet in Wirklichkeit nur, die Notwendigkeit einer Übergangsperiode vom
Kapitalismus zum Kommunismus, einer Diktatur des Proletariats, die organisierte
Herrschaft der Mehrheit gegen die alten AusbeuterInnen abzulehnen.

Es stellt jedoch einen qualitativen Schritt dar, wenn sich
die bürokratischen Auswüchse, die vom Proletariat notgedrungen benutzten
bürgerlichen Organe in ein Vehikel der politischen Machtergreifung einer
Staatsbürokratie verwandeln. Es ist kein Zufall, dass dieser Prozess in der
Sowjetunion erst nach einem langen, für alle Oppositionellen, vor allem aber
für genuine kommunistische InternationalistInnen vom Schlage Trotzkis,
tödlichen Kampf abgeschlossen war.

Das Proletariat ist für Trotzki daher eine gleichzeitig
herrschende und unterdrückte Klasse:

„,Wie soll sich unser politisches Gewissen nicht empören‘, sagen die Ultralinken, ‚wenn man uns glauben machen will, in der UdSSR, wo Stalin regiert, sei das ‚Proletariat‘ die ‚herrschende‘ Klasse …?! In so abstrakter Form kann diese Behauptung tatsächlich ‚empören‘. Aber es ist doch so, dass abstrakte Kategorien, die für eine Analyse notwendig sind, für eine Synthese, die so konkret wie möglich sein soll, überhaupt nicht taugen. Das Proletariat in der UdSSR ist die herrschende Klasse in einem zurückgebliebenen Land, wo nicht einmal die elementarsten Lebensbedürfnisse befriedigt sind. Das Proletariat in der UdSSR herrscht in einem Land, das nur ein Zwölftel der Menschheit umfasst, über die übrigen elf Zwölftel herrscht der Imperialismus. Die Herrschaft des Proletariats, die schon aufgrund der Rückständigkeit und Armut des Landes missgestaltet ist, wird durch den Druck des Weltimperialismus doppelt und dreifach deformiert. Das Herrschaftsorgan des Proletariats, der Staat, wird zu einem Organ des imperialistischen Drucks (Diplomatie, Armee, Außenhandel, Ideen und Sitten). Historisch gesehen findet der Kampf um die Herrschaft nicht zwischen Proletariat und Bürokratie statt, sondern zwischen Proletariat und Weltbourgeoisie. Die Bürokratie nimmt in diesem Kampf nur die Funktion eines Transmissionsriemens ein. (…) Der faschistischen und demokratischen Bourgeoisie reichen Stalins einzelne konterrevolutionäre Taten nicht aus; sie benötigt eine vollständige Konterrevolution in den Eigentumsverhältnissen und die Öffnung des russischen Marktes. Solange das nicht der Fall ist, hält sie den Sowjetstaat für feindlich. Und hat recht damit.“ (15)

Im Zuge ihrer politischen Machteroberung musste die Bürokratie
einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Staatsapparat, einen seiner Form,
seinem Typus nach bürgerlichen schaffen. Trotzki verweist in seinen Schriften
mehrmals darauf. Er erkennt, dass der Staatsapparat in der Sowjetunion geradezu
abstoßende Ähnlichkeit mit dem im Faschismus aufweist.

„Seine Entstehung verdankt der Sowjetbonapartismus letzten Endes der Verspätung der Weltrevolution. Dieselbe Ursache aber erzeugte in den kapitalistischen Ländern den Faschismus. Wir gelangen zu einer auf den ersten Blick überraschenden, doch in Wirklichkeit unabweislichen Schlussfolgerung: Die Erstickung der Sowjetdemokratie durch die allmächtige Bürokratie geht, ebenso wie die Zerschlagung der bürgerlichen Demokratie durch den Faschismus, auf ein und dieselbe Ursache zurück – die Verspätung des Weltproletariats bei der Lösung der ihm von der Geschichte gestellten Aufgabe. Stalinismus und Faschismus sind trotz des tiefen Unterschiedes ihrer sozialen Grundlagen symmetrische Erscheinungen. In vielen Zügen sind sie sich erschreckend ähnlich. Der Weltrevolution den Rücken kehrend hat die Stalin‘sche Bürokratie auf ihre Weise recht: sie folgt lediglich ihrem Selbsterhaltungstrieb.“ (16)

Form und Inhalt

Der Widerspruch zwischen der Form des Staatsapparates und
der ökonomischen Struktur der Gesellschaft ist keineswegs einzigartig in der
Geschichte. Auch beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus finden sich
lange Perioden, wo ein Widerspruch zwischen Staatsform und ökonomischen
Verhältnissen zu finden ist. Engels verweist darauf z. B. im Anti-Dührung:

„Diesem gewaltigen Umschwung der ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft folgte indes keineswegs sofort eine entsprechende Änderung ihrer politischen Gliederung. Die staatliche Ordnung blieb feudal, während die Gesellschaft mehr und mehr bürgerlich wurde.“ (17)

Auch die ersten Monate nach der Oktoberrevolution, als die
proletarische Diktatur über eine kapitalistische Wirtschaft herrschte, waren
von einem solchen Widerspruch gekennzeichnet. Die Formel, dass der Charakter des
Staates durch die Eigentumsverhältnisse, die vorherrschen, bestimmt sei, hilft
uns also gerade in Übergangsperioden nicht weiter.

„Aber kennt die Geschichte nicht Fälle eines Klassengegensatzes zwischen Staat und Wirtschaft? Sehr wohl! Als der Dritte Stand die Macht eroberte, blieb die Gesellschaft noch mehrere Jahre lang feudalistisch. Während der ersten Monate des Sowjetregimes herrschte das Proletariat über eine bürgerliche Ökonomie. In der Landwirtschaft stützte sich die Diktatur des Proletariats mehrere Jahre lang auf eine kleinbürgerliche Wirtschaft (in erheblichem Maß ist das auch heute noch der Fall). Im Falle einer erfolgreichen bürgerlichen Konterrevolution in der UdSSR müsste sich die neue Regierung für eine längere Zeitspanne auf die nationalisierte Wirtschaft stützen. Was bedeutet dann aber ein derartiger zeitweiliger Gegensatz zwischen Staat und Wirtschaft? Er bedeutet Revolution oder Konterrevolution. Der Sieg einer Klasse über eine andere bedeutet doch, dass die Wirtschaft im Interesse des/r SiegerIn umgestaltet wird. Aber ein solcher zwiespältiger Zustand, der ein notwendiges Stadium jedes sozialen Umsturzes ist, hat nichts gemein mit der Theorie eines klassenlosen Staates, der wegen der Abwesenheit des/r wirklichen HerrIn von einem/r Kommis, d. h. der Bürokratie, ausgebeutet wird.“ (18)

Trotzki hat daher eine wesentlich dynamischere Sichtweise
des Verhältnisses von Inhalt und Form des Staatsapparates.

„Die Klassennatur eines Staates ist folglich nicht durch seine politische Form, sondern durch den sozialen Inhalt bestimmt, d. h. den Charakter jener Eigentumsformen und Produktionsverhältnisse, die der jeweilige Staat schützt und verteidigt.“ (19)

Diese Definition hat zwei Vorteile. Erstens erlaubt sie den
Widerspruch zwischen Form und Inhalt bzw. Funktion des Staatsapparates zu
beachten. Zweitens ist die Betonung des „Schützens“ und „Verteidigens“ der
Produktionsverhältnisse sehr viel dynamischer als z. B. die Aussage, der
Charakter des Staates beruhe auf den vorherrschenden Eigentumsverhältnissen.
Trotzki stellt damit die aktive, bewusste Rolle der Staatsmacht beim Übergang
vom Kapitalismus zum Sozialismus in Rechnung. Die Sicherung des Übergangs zum
Sozialismus hängt somit von der Staatsmacht ab.

„Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer Entwicklung oft das politische Regime und die bürokratischen Kasten gewechselt, ohne ihre sozialen Grundlagen zu ändern. Gegen eine Wiederherstellung der Leibeigenschaft und des Zunftwesens schützte sie die Überlegenheit ihrer Produktionsweise. Die Staatsmacht konnte die kapitalistische Entwicklung fördern oder hemmen, doch im Allgemeinen verrichteten die Produktivkräfte auf Grundlage des Privateigentums und der freien Konkurrenz ihr Werk selbständig. Hingegen sind die aus der sozialistischen Revolution hervorgegangenen Besitzverhältnisse unlösbar an den neuen Staat, ihren Träger gebunden. Die Vorherrschaft sozialistischer Tendenzen über die kleinbürgerlichen ist keineswegs durch den Automatismus der Wirtschaft gesichert – bis dahin ist es noch weit –, sondern durch politische Maßnahmen der Diktatur. Der Charakter der Wirtschaft hängt somit völlig von dem der Staatsmacht ab.“ (20)

Für Trotzki ergeben sich aus der Analyse der Bürokratie und
ihrer Herrschaft zwei Alternativen: proletarische politische Revolution oder
Restauration des Kapitalismus.

Auch zur Restauration des Kapitalismus sieht er zwei Wege:
Sturz durch eine offen bürgerliche Partei; die Wandlung der (Spitze der)
Bürokratie zur herrschenden Klasse. In beiden Fällen geht die Eroberung der
Staatsmacht durch eine konterrevolutionäre Partei, die politischer Ausdruck
einer (neu) entstehenden herrschenden Klasse ist, der Umwandlung der Wirtschaft
in eine kapitalistische voraus!

Nach 1989 haben wir beide Wege erlebt, teilweise in
Mischform. In den beiden folgenden Artikeln werden wir uns sowohl der Expansion
wie dem Untergang des Stalinismus zuwenden.

Konterrevolutionäres Wesen des Stalinismus

Trotzki erkennt durchaus an, dass die stalinistische
Bürokratie aufgrund des Drucks anderer Klassenkräfte zu partiellen progressiven
Maßnahmen fähig war. Er nahm auch zur Kenntnis, dass das auch die territoriale
Expansion mit einschließen konnte. Diese analysierte er am Beispiel Finnlands
und Polens. Im Gegensatz zu den stalinistischen ApologetInnen erkannte er
jedoch den widersprüchlichen Charakter dieser Ausdehnung des degenerierten
ArbeiterInnenstaates, die in ihrer Gesamtheit in die konterrevolutionäre
Politik Stalins eingebettet war. Trotzki verdeutlicht das am
Hitler-Stalin-Pakt, der Teilung Polens, die mit der Umwälzung der
Eigentumsverhältnisse in Ostpolen einherging.

„Die ihrem Charakter nach revolutionäre Maßnahme der ‚Expropriation der AusbeuterInnen‘ wird im vorliegenden Fall auf militärisch-bürokratischem Wege durchgeführt. Der Aufruf zur Selbsttätigkeit der Massen in den neuen Gebieten – und ohne einen solchen Appell, mag er auch noch so vorsichtig sein, kann das neue Regime nicht errichtet werden – wird zweifellos morgen von unbarmherzigen Polizeimaßnahmen unterdrückt werden, um der Bürokratie das Übergewicht über die aufgerüttelten revolutionären Massen zu garantieren. Das ist die eine Seite der Sache. Doch gibt es auch eine andere. Um über ein militärisches Bündnis mit Hitler die Möglichkeit einer Okkupation Polens zu schaffen, hat der Kreml lange die Massen der UdSSR und der ganzen Welt getäuscht und täuscht sie weiterhin. Damit hat er den völligen Zerfall seiner eigenen Komintern heraufbeschworen. Das wichtigste Kriterium der Politik ist nicht die Umwandlung des Eigentums auf dem einen oder anderen Teilterritorium, wie wichtig es an und für sich auch sein möge, sondern der Wandel der Bewusstheit und Organisiertheit des internationalen Proletariats und die Steigerung seiner Fähigkeit, alte Errungenschaften zu verteidigen und neue zu machen. Unter diesem allein entscheidenden Gesichtspunkt aufs Ganze gesehen ist die Politik Moskaus nach wie vor reaktionär und bleibt das Haupthindernis auf dem Wege zur internationalen Revolution.“ (21)

Trotzkis Verständnis des konterrevolutionären Charakters der
Bürokratie und ihrer Politik schloss die generelle Einschätzung der
herrschenden Kaste als Krebsgeschwür, als Totengräberin des
ArbeiterInnenstaates ein. Diese Prognose hat sich mit dem Fall des Stalinismus
bestätigt.

Wie viele RevolutionärInnen vor ihm unterschätzte er jedoch
den Zeitrahmen, in dem sich die theoretische Vorhersage praktisch bewahrheiten
sollte. Trotzki ging davon aus, dass die Bürokratie als herrschende Kaste den
Zweiten Weltkrieg nicht überleben würde. Er war sich sicher, dass der Kreml
entweder von der faschistischen Konterrevolution oder von der proletarischen
politischen Revolution zu Fall gebracht würde. Wie wir wissen, traf diese
kurzfristige Prognose nicht ein. Der Stalinismus überlebte den Weltkrieg und
konnte sein Herrschaftsgebiet, sein Prestige, seine Macht ausdehnen.

Diese Expansion des Stalinismus und die ab Ende der 1940er
Jahre stattfindende Etablierung einer konterrevolutionären Nachkriegsordnung
hatte die revolutionäre Vierte Internationale nicht vorhergesehen. Sie
verwirrte die Kader politisch und führte zu einer Revision der Analyse Trotzkis
durch die Hauptströmungen dieser Tendenz, zur politischen Degeneration und zur
organisatorischen Zersplitterung.

Die politische Revolution

Trotzkis Programm im Kampf gegen den Stalinismus wandelte sich
in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens. In den 1920er Jahren vertrat
die Linke Opposition in der UdSSR einen Kurs der Reform des
ArbeiterInnenstaates, den Kampf um die Wiederbelebung der Partei- und
Sowjetdemokratie, den Kampf um einen umsichtigen Ausbau des staatlichen Plans
und den Kampf um einen klaren, internationalistischen Kurs der Sowjetunion und
der Komintern.

Die politischen Niederlagen der Kommunistischen
Internationale begünstigten Stalins Aufstieg und stärkten die Bürokratie. Auf
den ersten Blick ist das paradox. Es wird jedoch verständlich, wenn wir uns die
soziale Situation in den 1920er Jahren vor Augen halten. Die sowjetische
ArbeiterInnenklasse und ihre Avantgarde waren durch den Bürgerkrieg und die
ökonomischen Verwerfungen des Kriegskommunismus ermattet, der revolutionäre
Elan der Klasse verringert.

Gleichzeitig war die Partei gezwungen, auf wirtschaftlichem
Gebiet mit der Neuen Ökonomischen Politik einen umfassenden taktischen Rückzug
anzutreten, um angesichts des Ausbleibens der Revolution im Westen die
Produktion v. a. im Agrarsektor wieder anzukurbeln.

Zweifellos wurde dieser Prozess durch ökonomische Regularien
(Einpersonenleitung in den Betrieben) und falsche politische Maßnahmen
(Fraktionsverbot) begünstigt. Es wäre jedoch ganz und gar idealistisch, die
Degeneration der russischen Revolution und die politische Machtergreifung der
Bürokratie aus diesen Fehlern, aus Maßnahmen der politischen Führung erklären
zu wollen. Die Wurzeln liegen viel tiefer: in der ökonomischen Rückständigkeit
des Landes, in den inneren Klassenwidersprüchen, dem sozialen Bedarf nach einer
Bürokratie.

Das Proletariat und die Masse der Bauern/Bäuerinnen sind
oder werden passiv. Die Bürokratie – z. T. aus ExpertInnen und
FunktionärsträgerInnen des alten Regimes rekrutiert, zum Teil aus Partei- und
ArbeiterInnenkadern – erscheint als das tätige, aktive Element der
Sowjetgesellschaft. Was am Beginn als funktionaler Unterschied erscheint, die
Übernahme einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion des Leitens, verfestigt
sich mehr und mehr zu einem sozialen Unterschied.

Es ist kein Zufall, sondern notwendiges Element des
Aufstiegs der Bürokratie, dass sie mit der revolutionären Tradition der
Oktoberrevolution theoretisch und praktisch brechen muss.

Theoretisch vollzieht sie das in der Abwendung vom
Internationalismus. Die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land
ersetzt die Ausrichtung auf die Internationalisierung der Revolution.

Praktisch vollzieht sich das über die Unterordnung der
Interessen des Weltproletariats unter jene der Kremlbürokratie – zuerst, in
China, noch tastend, später mit der Volksfrontpolitik in Frankreich, dem
Hitler-Stalin-Pakt, der Liquidierung der Spanischen Revolution dann ganz offen
konterrevolutionär.

Die Herrschaft der Bürokratie kann keine Opposition dulden,
schon gar keine linke. Die Moskauer Prozesse sind ein notwendiges Element des
Stalinismus, nicht einfach „Fehler“ oder „Exzesse“.

Die Bürokratie muss gestürzt werden!

All das führt Trotzki zu einer zentralen programmatischen
Schlussfolgerung: Die herrschende Kaste muss vom Proletariat durch eine neue
politische Revolution hinweggefegt werden. Ansonsten sind die Errungenschaften
der Oktoberrevolution früher oder später vollständig verloren. Die Herrschaft
der Bürokratie ist keine lange Phase der Weltgeschichte, sondern eine nicht
notwendige Episode.

„Der neue Aufschwung der Revolution in der UdSSR wird ohne jeden Zweifel unter dem Banner des Kampfes gegen die soziale Ungleichheit und die politische Unterdrückung beginnen. Nieder mit den Privilegien der Bürokratie! Nieder mit dem Stachanowsystem! Nieder mit der Sowjetaristokratie und ihren Rangstufen und Orden! Angleichung der Löhne für alle Arten der Löhne!

Der Kampf für die Freiheit der Gewerkschaften und der Fabrikkomitees für die Presse- und Versammlungsfreiheit wird sich weiterentwickeln zum Kampf um das Wiedererwachen und die Entfaltung der Sowjetdemokratie. Die Bürokratie hat die Sowjets als Klassenorgane durch den Schwindel der allgemeinen Wahl im Stile von Hitler/Goebbels ersetzt. Es ist notwendig, den Sowjets nicht nur ihre freie demokratische Form, sondern auch ihren Klasseninhalt wiederzugeben. So wie früher die Bourgeoisie und die KulakInnen nicht zu den Sowjets zugelassen waren, ebenso müssen jetzt die Bürokratie und die neue Aristokratie aus den Sowjets verjagt werden. In den Sowjets ist nur Platz für die VertreterInnen der ArbeiterInnen, der KolchosenarbeiterInnen, der Bauern/Bäuerinnen und der roten SoldatInnen.

Die Demokratisierung der Sowjets ist undurchführbar ohne die Zulassung von sowjetischen Parteien. Die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen selbst werden durch ihre freie Stimmabgabe zeigen, welche Parteien sowjetisch sind.

Reorganisation der Planwirtschaft von oben bis unten gemäß dem Interesse der ProduzentInnen und KonsumentInnen! Die Fabrikkomitees müssen die Kontrolle der Produktion wieder übernehmen. Die demokratisch organisierten Konsumgenossenschaften müssen die Qualität der Erzeugnisse und ihre Preise kontrollieren.

Neuorganisierung der Kolchosen in Übereinstimmung mit dem Willen der KolchosbewohnerInnen und nach ihren Interessen!

Die konservative internationale Politik der Bürokratie muss der Politik des proletarischen Internationalismus Platz machen. Die ganze diplomatische Korrespondenz des Kreml muss veröffentlicht werden. Nieder mit der Geheimdiplomatie!

Alle von der thermidorianischen Bürokratie inszenierten politischen Prozesse müssen unter den Bedingungen vollständiger Öffentlichkeit und freier Erforschung überprüft werden. Die OrganisatorInnnen der Fälschungen müssen ihre verdienten Strafen erhalten.

Ohne den Sturz der Bürokratie, die sich durch Zwang und Fälschung hält, kann dieses Programm nicht verwirklicht werden. Nur die siegreiche revolutionäre Erhebung der unterdrückten Massen kann die Sowjetherrschaft erneuern und ihre Weiterentwicklung zum Sozialismus sichern. Allein die Partei der IV. Internationale ist in der Lage, die sowjetischen Massen zum Aufstand zu führen.

Nieder mit der bonapartistischen Bande des Kain Stalin! Es lebe die Sowjetdemokratie! Es lebe die internationale sozialistische Revolution.“ (22)

Trotzki verdeutlicht in seiner Analyse, dass die
Degeneration der Sowjetunion und die Durchsetzung des Stalinismus aus der
historischen Situation erklärbar sind, diese jedoch weder unabwendbar noch
organisch aus der Oktoberrevolution entstanden. Vielmehr waren die Rolle der
internationalen ArbeiterInnenbewegung, das Ausbleiben der internationalen
Revolution sowie die Niederlage der RevolutionärInnen und der Linksopposition
im innerparteilichen Kampf entscheidend für die Entwicklung.

Der Stalinismus ist nicht Ergebnis der Ideen von Marx,
Engels, Lenin und Trotzki. Er ist vielmehr die Verkehrung dieser Ziele in ihr
Gegenteil. Die Entwicklung des Stalinismus zeigt, gegen welche Schwierigkeiten
und Gefahren wir auf dem Weg zum Kommunismus anzukämpfen haben. Ohne
revolutionäre Kritik am Stalinismus wird es keine kommunistische Revolution
geben – ohne revolutionäres Ziel ist die Kritik am Stalinismus irrelevant.

Endnoten

(1) Trotzki, Die Todesagonie des Kapitalismus und Aufgaben
der Vierten Internationale (Übergangsprogramm).

(2) Trotzki, In Verteidigung des Marxismus, Seite 78.

(3) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?,
in: Schriften 1.2., S. 1127.

(4) Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21.

(5) Marx, ebda., S. 28.

(6) Marx, Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW
4, S. 381.

(7) Marx, Brief an Kugelmann, 12. April 1871, MEW 33, S. 205.

(8) Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 343.

(9) Lenin, Staat und Revolution, Lenin Werke 25, S. 420.

(10) Trotzki, Verratene Revolution, S. 751/752, in:
Schriften 1.2.

(11) Trotzki, a. a. O., S. 752/753.

(12) Trotzki, a. a. O. S. 952.

(13) Trotzki, Verratene Revolution, S. 954

(14) Deutscher, Die unvollendete Revolution, S. 67 f.

(15) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?,
a. a. O.

(16) Trotzki, Verratene Revolution, S. 979.

(17) Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 97.

(18) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?,
a. a. O., S. 1123/24.

(19) Ebda., S. 1120.

(20) Trotzki, Verratene Revolution, S. 954.

(21) Trotzki, Die UdSSR im Krieg, Trotzki: Schriften über
Russland 1.2, S. 1292.

(22) Trotzki, Die Todesagonie des Kapitalismus und die
Aufgaben der Vierten Internationale (Übergangsprogramm).




Die Expansion des Stalinismus nach 1945

Workers Power/Irish Workers Group, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2001)

Die Existenz der Sowjetunion als degenerierter
ArbeiterInnenstaat bis in die 1990er Jahre kann nur durch eine Analyse der
Expansion des Stalinismus seit Ende des Zweiten Weltkriegs erklärt und
verstanden werden. Die durch diese Expansion aufgeworfenen theoretischen und
politischen Probleme haben unter all jenen, die sich auf den Trotzkismus
berufen, eine tiefe programmatische Verwirrung verursacht. Diese Verwirrung
rührte zum Teil oder zur Gänze von der Unfähigkeit her, Trotzkis Analyse des
Stalinismus unter den Bedingungen des Krieges und seiner Folgen
weiterzuentwickeln.

Seit Beginn der 1920er Jahre hatte Trotzki immer wieder die
allgemeinen Widersprüche skizziert, die zu einem neuen imperialistischen
Weltkrieg drängten. Er erkannte völlig richtig, dass die USA aus dem Ersten
Weltkrieg viel stärker hervorgegangen waren als sowohl die siegreichen wie die
besiegten Imperialismen Europas. Damals glaubte Trotzki, dass ein neuer Krieg
aus dem gescheiterten Versuch einer Nachkriegsexpansion der USA entstehen
würde; ein Scheitern, das aus der Unfähigkeit, genug aus der ruinierten
Wirtschaft Europas zu akkumulieren, und aus dem Widerstand Frankreichs und
Großbritanniens, zu Halbkolonien der USA degradiert zu werden, herrührte. (1)

Der entscheidende Anstoß, der Trotzki zu einer
Konkretisierung seiner Analyse und einer Diskussion über die Geschwindigkeit,
mit der sich der Krieg nähern würde, zwang, war Hitlers Machtergreifung 1933.
(2) Weil das Schicksal des Stalinismus untrennbar mit der Entwicklung des
Imperialismus und der ArbeiterInnenklasse verknüpft war, zog Trotzki eine Reihe
von Schlüssen hinsichtlich des Schicksals der KremlherrInnen, falls der
erwartete Krieg Wirklichkeit werden sollte.

Trotzki argumentierte, dass der imperialistische Krieg und
die ihn begleitenden revolutionären Aufstände die stalinistische Bürokratie
hinwegfegen würden. Entweder würde sie direkt dem Ansturm des Imperialismus –
unter Beihilfe restaurativer Kräfte in der UdSSR – unterliegen, oder eine Reihe
erfolgreicher proletarischer Revolutionen in Europa, hervorgerufen durch den
Krieg, würde zu einer politischen Revolution in der Sowjetunion führen und die
Kreml-Bürokratie zerstören. (3)

Als strategische Prognose behielten Trotzkis Formulierungen
ihre Gültigkeit. Die reaktionäre, utopische Politik der von den StalinistInnen
praktizierten „Entspannung“, der „friedlichen Koexistenz“ führte unvermeidlich
zur Zerstörung der vergesellschafteten Eigentumsverhältnisse. Diese Entwicklung
hätte nur durch die politische Revolution der ArbeiterInnenklasse verhindert
werden können.

Die unleugbare Tendenz in Richtung auf eine Zerstörung des
Stalinismus wurde im Verlauf des Zweiten Weltkrieges jedoch durch eine Reihe
konjunktureller Faktoren aufgehalten, die Trotzki nicht vorausgesehen hatte –
und in einigen Fällen auch gar nicht voraussehen konnte.

Stalinismus und Klassenkampf nach dem Zweiten Weltkrieg

Es war die Spaltung innerhalb des Weltimperialismus, die
seine Fähigkeit zu einer Offensive gegen die UdSSR schwächte. Der Charakter des
imperialistischen Krieges selbst – blutige Auseinandersetzungen über die
Aufteilung der Weltmärkte – brachte die Alliierten, die „demokratischen“
imperialistischen Nationen (v. a. Großbritannien und die USA) schließlich
dazu, die stalinistische Bürokratie gegen die Achsenmächte zu unterstützen, um
so ihre eigenen imperialistischen Ziele zu erreichen.

Die Niederlage der Achsenmächte und der mit ihnen verbündeten Bourgeoisien in verschiedenen Ländern wurde zu Kriegsende von breiten, antikapitalistischen Mobilisierungen begleitet. Dies bestätigte das objektiv vorhandene Potential für einen revolutionären Ausgang des Krieges, wie es Trotzki voraussah. In den Ländern der Achsenmächte (Bulgarien, Rumänien, Ungarn) zeigten sich nach der Niederlage der deutschen Truppen diese Ausbrüche am deutlichsten. So bemerkte zum Beispiel „The Economist“ am 7. 10. 1944, dass in ganz Thrakien und Mazedonien „Soldatenräte gebildet worden sind, Offiziere abgesetzt, rote Fahnen aufgezogen und die Grußpflicht abgeschafft wurden.“ (4)

In Osteuropa trat die ArbeiterInnenklasse in der
Tschechoslowakei am stärksten in den Vordergrund, als Fabrikkomitees,
ArbeiterInnenräte und -milizen gegründet wurden. Eine Doppelmachtsituation
existierte dort 1944/45 etliche Monate. Es dauerte ein ganzes Jahr, ehe die
Regierung es wagte, die ArbeiterInnenkontrolle in den Fabriken zu beschneiden.
(5) Auch in Deutschland gab es weitverbreitete ArbeiterInnenerhebungen,
insbesondere in Magdeburg und Halle. Es ist – sogar bei bürgerlichen
HistorikerInnen – mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden, dass die
Niederlage Hitlers in Frankreich 1944 für die ArbeiterInnenklasse äußerst
günstige Bedingungen hervorgerufen hatte, um die Staatsmacht zu ergreifen. (6)

Der im Krieg siegreiche imperialistische Block war selbst
unfähig, diese Bewegung zu zerschlagen. Der Imperialismus war gezwungen, sich
auf den Kreml und seine bewaffneten VertreterInnen zu stützen, um die wachsende
Zahl der ArbeiterInnenkämpfe einzudämmen. Der Einsatz der Roten Armee zur
gewaltsamen Beendigung der ArbeiterInnenkontrolle in den Fabriken war allgemein
verbreitet, insbesondere in Polen, Rumänien und Bulgarien. Im besiegten
Deutschland und in Österreich litt die ArbeiterInnenklasse noch viel schlimmer.
Viele ArbeiterInnenbezirke wurden terrorisiert; Wien wurde drei Tage hindurch
geplündert und verwüstet.

Der Fortbestand des Bündnisses von Westalliierten und UdSSR
hatte den Effekt, dass ein unmittelbarer Zusammenstoß zwischen Stalinismus und
Weltimperialismus aufgeschoben wurde. Diese unheilige Allianz gegen die
ArbeiterInnenklasse nahm in Indochina ein besonders schlimmes Ausmaß an, als
die StalinistInnen in führender Position in den Reihen der ArbeiterInnen und
Bauern/Bäuerinnen mithalfen, deren Avantgarde abzuschlachten, und dem
Imperialismus ein politisch gebrochenes Proletariat auslieferten.

In Griechenland machte sich die KP, in Übereinstimmung mit
Stalins Anweisungen, eines ähnlichen Verrats schuldig. Die zwischen Stalin und
Churchill in Moskau und von allen Alliierten in Jalta getroffenen Abkommen über
„Einflusssphären“ hatten Indochina und Griechenland dem Imperialismus
überlassen und Stalin war entschlossen, diese Abkommen auch einzuhalten.

Trotzki hatte in seiner Prognose immer darauf bestanden,
dass die Vorbedingung für eine revolutionäre Zerschlagung der Sowjetbürokratie
während des Krieges der Aufstieg der Vierten Internationale zur politischen
Führungsmacht sei. Als der Krieg jedoch vorbei war und ArbeiterInnenkämpfe
tatsächlich ausbrachen, befanden sich die Kader der Vierten Internationale in
nahezu völliger Isolation, mit Ausnahme einiger bemerkenswerter Fälle – wie
etwa in Indochina. Der Stalinismus in der UdSSR und anderswo war daher imstande
zu überleben, da den revolutionären Aufständen eine Führung fehlte, die fähig
gewesen wäre, diese ebenso gegen die Bürokratie wie gegen den Kapitalismus zu
lenken. Die Rolle des bewussten Faktors – der revolutionären Partei – in
Trotzkis Prognose sollte niemals übersehen werden. Das Versagen dabei, seine
Bedeutung zu erkennen, führte die Vierte Internationale schließlich dazu zu
glauben, Stalinismus und Imperialismus könnten durch den „objektiven Prozess“,
unabhängig vom Willen der Beteiligten, gestürzt werden. Diese Denkweise war
Trotzki fremd.

Innere Faktoren

Das Fortbestehen der UdSSR und des Stalinismus in ihr kann
nicht nur durch eine Reihe internationaler Faktoren erklärt werden. Wichtige
interne Ereignisse müssen ebenso in Betracht gezogen werden. Der rasche und
umfangreiche Aufbau einer Kriegswirtschaft enthüllte das fortschrittliche
Potential geplanter Eigentumsverhältnisse in der UdSSR. Doch letztlich ist das
Überleben der Sowjetunion dem heldenhaften Widerstand der großen Masse der
Sowjetbevölkerung – mit an die 20 Millionen Kriegstoten – angesichts des
Angriffes des deutschen Imperialismus geschuldet. Der Widerstand des Volkes
gegen den Faschismus trotz der Tyrannei stalinistischer Herrschaft erklärt sich
einerseits aus der ernüchternden Erfahrung mit der faschistischen
Gewaltherrschaft in großen Gebieten im Westen der UdSSR und durch die relative
Schwächung der bonapartistischen Staatsmaschinerie den Massen gegenüber, welche
es ihnen erlaubte, ihre Selbstverteidigung gegen den deutschen Imperialismus
verhältnismäßig frei von bürokratischer Unterdrückung (wie etwa in Leningrad)
wirksam zu organisieren.

Wenn sich auch die Eigentumsverhältnisse der UdSSR gegenüber
den Attacken des Imperialismus als widerstandsfähig erwiesen, so richtete der
Krieg dennoch unter den Produktivkräften der Sowjetunion schwere Verwüstungen
an. Dies zeigte sich am dramatischsten in einer starken Verknappung der
Akkumulation und einem absoluten Rückgang im Umfang der Produktivkräfte.
Insgesamt wurden 31.850 Industriebetriebe zerstört, 65.000 Kilometer an
Eisenbahngleisen, 15.800 Lokomotiven und eine halbe Million Güterwagen
vernichtet. Die Kohle- und Stahlproduktion fiel in den Jahren 1942/43 um
40–50 %. Sie erreichte erst 1946 wieder das Niveau von 1940. Dazu kam noch
die Zerstörung von 4,7 Mill. Häusern, 1.710 Städten und 70.000 Dörfern! In der
Landwirtschaft war das Bild genauso düster. 98.000 Kolchosen und 1.876
Staatsgüter waren zerstört. Sieben Mill. Pferde und 20 Mill. Schweine (von
insgesamt 23 Millionen!) waren verloren. Im von Nazi-Deutschland besetzten
Russland waren lediglich 3 % der Traktoren bei Kriegsende übrig geblieben.
(7)

Zentrifugale Tendenzen, die die planwirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse untergruben, traten zwischen 1941 und 1944 immer mehr zutage. Die Schwerindustrie zum Beispiel litt stark darunter, dass ab 1941 die staatliche Produktionskostenunterstützung eingestellt und den einzelnen Trusts eine gewisse Autonomie verliehen wurde. Die Leichtindustrie war oft nur in lokalem Rahmen organisiert und in einigen Gebieten sogar auf reine Handwerksproduktion beschränkt. Auf dem Land erlebte die Kriegszeit ein beschleunigtes Tempo kapitalistischer Restauration in der Landwirtschaft mit der extensiven Entwicklung primitiver Kapitalakkumulation, die das soziale Regime in der UdSSR zu unterhöhlen drohte. Germain stellte dazu fest: „Die Ergänzung zu der größeren Freiheit, die den reicheren Bauern und Bäuerinnen gewährt wurde, bestand in der Zunahme an drakonischen Maßnahmen, die gegen die ArbeiterInnenklasse in den Städten ergriffen wurden, um die Anforderungen des Krieges zu erfüllen.“ (8)

Gleichzeitig wurden die Privilegien der Bürokratie
ausgebaut. Das Erbrecht wurde erweitert, die orthodoxe Kirche wieder in Amt und
Würden eingesetzt und der Armee und der GPU (jetzt: NKWD) wurde die
Unabhängigkeit von der Partei zugesprochen. Trotz dieser massiven Krise gelang
es den Kreml-FührerInnen, ihre Herrschaft zu sichern und ein unerwartetes
Ausmaß an Stabilität zu erreichen. Als zum Beispiel die Belagerung von
Leningrad durch die deutschen Truppen aufgehoben wurde, bemächtigte sich die GPU
erneut der Stadt. Dies war nur aufgrund der Erschöpfung der ArbeiterInnenklasse
möglich. Außerdem diente die dem Kreml von den Alliierten in Teheran und
Potsdam gewährte Kriegshilfe der „lend-and-lease“-Programme dazu, die
schlimmsten Auswirkungen der Krise in der Wirtschaft abzuschwächen. Als klar
wurde, dass Hitler geschlagen werden würde, wurde die Kreml-Bürokratie von
Angst vor den mächtigen restaurativen Kräften ergriffen, die sie selbst
entfesselt hatte und die nun das Kollektiveigentum bedrohten. Ein neuer
Fünfjahresplan (insgesamt der vierte), der auf eine Wachstumsrate von 10 %
abzielte, wurde für 1945–1949 erstellt. Ende 1944 wurden groß angelegte
Schauprozesse gegen IndustriemanagerInnen wegen angeblicher Veruntreuungen
abgehalten und ab Ende 1945 begann in den offiziellen Erklärungen wiederum die
Terminologie des „Marxismus-Leninismus“ den großrussischen Chauvinismus zu
ersetzen, der während des Krieges kräftig gefördert worden war.

Schrittweise wurde die bonapartistische Staatsmaschine
wieder aufgebaut, um die Interessen der Bürokratie gegenüber der Bedrohung
ihrer Existenz seitens restaurativer Kräfte oder seitens des Proletariats zu
behaupten. Einerseits schlug dieser Bonapartismus gegen die Elemente der
Restauration auf dem Land, welche er selbst freigesetzt hatte, los.
Gleichzeitig ging der Kreml jedoch gegen die ArbeiterInnenklasse vor, die
während des Abwehrkampfes zur Verteidigung der UdSSR eine wachsende
Unabhängigkeit von der Bürokratie gezeigt hatte. Das Überleben der
stalinistischen Kaste war jedoch keine Angelegenheit, die im nationalen Rahmen
entschieden werden konnte. Es war das internationale Szenario am Kriegsende,
das für die Zukunft der BürokratInnen des Kreml entscheidend war.

Ein formeller politischer und militärischer Kontakt zwischen
der UdSSR und den Alliierten wurde im Juli 1941 eingerichtet – nur einen Monat,
nachdem die deutsche Invasion in der UdSSR den Hitler-Stalin-Pakt abrupt
beendet hatte. Dieser Militärblock der Alliierten und der UdSSR war jedoch
immer von beiderseitigem Misstrauen und Feindseligkeiten durchsetzt. Auch das
erste Treffen der FührerInnen der „Großen Allianz“ Ende 1943 in Teheran war ein
erbittertes Geplänkel, bei dem die Sowjetunion die sofortige Eröffnung einer
zweiten Front in Europa forderte. Die Westalliierten hatten de facto die
Sowjetunion dabei alleingelassen, die volle Macht des deutschen Imperialismus
im Osten aufzuhalten, während sie selbst sich auf die Rückeroberung der an
Deutschland und Japan verlorenen Kolonien konzentrierten. Obwohl die USA in
Form des „lend-lease“ der Sowjetunion umfangreiche Hilfe zukommen ließen,
bestand ihre Politik darin, Deutschland zu schlagen und ihren sowjetischen
Verbündeten gleichzeitig ausbluten zu lassen. Als Beweis für die Aufrichtigkeit
gegenüber seinen „demokratisch“-imperialistischen Verbündeten löste Stalin 1943
die Kommunistische Internationale formell auf – und löschte damit auch nur den
bloßen Anschein einer Verpflichtung der internationalen Revolution gegenüber.

Diplomatische Manöver zwischen Stalinismus und Imperialismus

Zu Beginn des Krieges sprach sich die unter den FührerInnen des US-Imperialismus vorherrschende Meinung für eine völlige Kontrolle der USA über Europa aus. George F. Kennan, der führende außenpolitische Berater von Roosevelt und Kopf der politischen Planungsabteilung im Weißen Haus, erklärte 1942: „Wir werden es unternehmen, das gesamte Kontrollsystem, das die Deutschen zur Verwaltung der europäischen Wirtschaft aufgebaut haben, zu übernehmen, wobei wir den Apparat aufrechterhalten, aber unsere eigenen Leute in Schlüsselpositionen darin einsetzen, um es zu leiten – und wir werden dann dieses System zur Ausführung welcher Politik auch immer, die wir in der unmittelbaren Zeit nach dem Krieg in Kontinentaleuropa anwenden, einsetzen.“ (9)

Die entscheidende Veränderung des Kräftegleichgewichtes zwischen den Imperialismen der Alliierten und denen der Achsenmächte fand während des Jahres 1943 statt, als der Sieg der Alliierten immer sicherer schien. Der sowjetische Sieg bei Stalingrad und deren Vormarsch nach Osteuropa zwang die ImperialistInnen, mit der Verhandlungsstärke der Sowjetunion innerhalb des antideutschen Bündnisses fertigzuwerden. In Teheran wurde späteren Aufteilungen nach Kriegsende – mit Ausnahme einer allgemeinen Übereinkunft zur Aufteilung Deutschlands – nur wenig Beachtung geschenkt. Stalin sagte: „Gegenwärtig gibt es keine Notwendigkeit, über irgendwelche sowjetischen Wünsche zu sprechen. Aber wenn die Zeit kommt, werden wir sprechen.“ (10)

Roosevelt verließ die Konferenz, davon überzeugt, dass der
UdSSR nach dem Krieg einige taktische Zugeständnisse gemacht werden müssten.
Erst als die Niederlage Deutschlands sicher und die Rolle, die die UdSSR bei
dieser Niederlage spielen würde, den USA klar war, wurden derartige taktische Konzessionen
überhaupt in Erwägung gezogen. Roosevelt bekannte nach seiner Rückkehr von der
Konferenz in Jalta im Januar 1945 vor einer Gruppe von SenatorInnen:

„Die Besatzungstruppen hatten die Macht in den Gebieten, wo ihre Waffen gegenwärtig waren, und die anderen konnten keine Entscheidung erzwingen. Die RussInnen hatten in Osteuropa die Macht. Der einzige praktische Weg war, was wir an Einfluss besaßen, zur Verbesserung der Situation zu benutzen.“ (11)

Sogar zu diesem Zeitpunktpunkt der Schwäche machten die
ImperialistInnen der UdSSR keine vorbehaltlosen Konzessionen.

Angesichts dieser Aussichten war der Kreml mit einigen
akuten Problemen konfrontiert, die in der internationalen Politik einen
Rechtsschwenk erforderten. Das Hauptproblem bestand in der wachsenden Flut
einer antikapitalistischen Erhebung und ihrer Eindämmung in ganz Europa – einer
Bewegung, die weitgehend außerhalb der Kontrolle der Sowjetbürokratie lag oder
der Kontrolle der einheimischen StalinistInnen zu entgleiten drohte.

Aber die sowjetische Führung musste ebenso vor der
strategischen Bedrohung seitens des anglo-amerikanischen Imperialismus auf der
Hut sein. Wenn auch ein taktisches Bündnis mit diesem Block durch die Drohung
des deutschen Imperialismus notwendig geworden war, so trat mit deren Abklingen
die Drohung einer anglo-amerikanischen Aggression wieder in den Vordergrund. Es
war für Stalin entscheidend, Schritte zur Vorbereitung gegen diese Bedrohung zu
unternehmen.

Derartige taktische Zugeständnisse an den Kreml wurden von Teilen der herrschenden Klasse der USA abgelehnt. Der amtsführende Staatssekretär für den Großteil des Jahres 1945 war Joseph Grew, ein Kriegstreiber, der bereits im Dezember 1944 am Vorabend von Jalta behauptet hatte: „Es wäre viel besser und sicherer, den Showdown zu haben, bevor Russland sich wieder erholen und seine gewaltige potentielle Militär-, Wirtschafts- und Territorialmacht entwickeln kann.“ (12)

Auf der Potsdamer Konferenz im Juni/Juli 1945 wurden die Details der Nachkriegsordnung abgestimmt. Während dieser Konferenz zündeten die USA in New Mexico die erste Atombombe. Die Existenz der Bombe sollte die Forderung des US-Imperialismus nach einem sowjetischen Vorgehen gegen Japan nach Einstellung der Kriegshandlungen in Europa überflüssig machen und das Kräfteverhältnis innerhalb der Alliierten zuungunsten der Sowjetunion verändern. Churchill zeigte sich – im Namen des britischen Imperialismus – entzückt über diese neue Waffe. Ehe die Nachrichten über seine Wahlniederlage im Juni ihn zur Abreise aus Potsdam zwangen, schrieb er: „Wir haben jetzt etwas in den Händen, das das Gleichgewicht mit den Russen verändern wird. Das Geheimnis dieser Bombe und die Macht, sie zu verwenden, werden das diplomatische Gleichgewicht, das seit der Niederlage Deutschlands aus dem Lot geraten war, vollkommen verändern.“ (13) Dazu war Churchill noch entschlossen, die deutsche Armee als Bollwerk gegen die UdSSR unversehrt zu lassen.

Im Bewusstsein dieser potentiellen Bedrohung erkannte Stalin
die unbedingte Notwendigkeit des schnellstmöglichen Wiederaufbaus der
verwüsteten Wirtschaft, um sowohl im Inneren gegenüber der ArbeiterInnenklasse
wie auch nach außen gegenüber der imperialistischen Gefahr seine Sicherheit
zurückzugewinnen. Um auf den Kreml Druck auszuüben, wurde die „lend-lease“-Hilfe
an die UdSSR im Juni 1945, unmittelbar vor Potsdam, eingestellt. Die USA
verfolgten nun eine wesentlich härtere Linie hinsichtlich künftiger
Reparationsleistungen. Beide Maßnahmen sollten dazu dienen, die UdSSR dafür zu
bestrafen, dass sie die Grenzen des Abkommens von Jalta angeblich überschritten
hätte. Dementsprechend waren denn auch in Potsdam die Reparationsforderungen
der springende Punkt, da Stalin fest dazu entschlossen war, Deutschland die
Kriegskosten bezahlen zu lassen. Schließlich wurde in einem gemeinsamen
Übereinkommen besiegelt, dass im von der UdSSR besetzten Gebiet jegliche
Reparationsforderungen gewährleistet seien.

Stalinistische Wiederaufbaupolitik nach dem Krieg

Zieht man die entscheidende Bedeutung der vielfältigen
Bedrohungen für die Existenz einer stabilen parasitären Kaste in der UdSSR und
den internationalen Charakter dieser Schwierigkeiten in Betracht, so war das
Überleben des Stalinismus untrennbar mit der politischen Konsolidierung seiner
militärischen Expansion in Osteuropa verbunden. Die Expansion des Stalinismus
war durch eine Reihe besonderer Eigenheiten gekennzeichnet.

Der Stalinismus fürchtete vor allem die Gefahr einer
wirklichen proletarischen Revolution. Dementsprechend wurde die Ausweitung
seines politischen Einflusses auf eine Weise erreicht, die die Interessen der
ArbeiterInnenklasse denen der Bürokratie, und damit dem Imperialismus,
unterordnete. Die reaktionäre, utopische Theorie des „Sozialismus in einem
Land“, das Glaubensbekenntnis der stalinistischen Bürokratie, führt
programmatisch zur illusionären Strategie der globalen „friedlichen Koexistenz“
mit dem Imperialismus. Die Interessen der ArbeiterInnenklasse wurden auf dem
Altar dieser Strategie geopfert.

Unter außergewöhnlichen Umständen kann jedoch die „Entspannungsstrategie“
mit dem Kapitalismus auf Weltebene gemäß ihrer eigenen Logik zu dessen
Abschaffung im lokalen Rahmen führen. Mit anderen Worten: Der allgemeine
Wunsch, mit dem Privateigentum ein friedliches Nebeneinander zu ermöglichen,
führt unter gewissen, örtlich beschränkten Umständen zur Abschaffung des
Privateigentums, sobald sich dies für den Stalinismus als unvermeidbar erweist.
Dies sollte das Endergebnis in den meisten Gebieten darstellen, welche die
Sowjetunion bei Kriegsende besetzt hielt.

Aber diese Abschaffung des Kapitalismus findet nur dann
statt, wenn das „Entspannungsverhältnis“ für die stalinistische Bürokratie
äußerst unvorteilhaft geworden ist. Sie findet nur statt, um die „friedliche
Koexistenz“ mit dem Imperialismus auf Weltebene auf einer festeren Grundlage
wiederherzustellen. (14) Sie beweist keineswegs, dass der Stalinismus zu einem
revolutionären Faktor geworden war.

Die ehemaligen „Achsen-Länder“ wie Bulgarien, Rumänien und
Ungarn wurden zuerst und am härtesten getroffen – unmittelbar nach ihrer
Besetzung wurden 70 % ihrer Industriemaschinen demontiert. In Ungarn
wurden 1945 ca. 90 % der Industriekapazität in der Metallverarbeitung und
im Maschinenbau demontiert. In Rumänien wurde zwischen dem 23. August und dem 12.
September 1944 Maschinerie im Wert von 2 Milliarden Dollar beschlagnahmt
einschließlich der gesamten Kriegsmarine, des Großteils der Handelsflotte, der
Hälfte der Eisenbahneinrichtungen und der Erdölindustrie. In Polen, der
Tschechoslowakei und Jugoslawien wurden zwischen 15 und 25 % der
Industriebestände abtransportiert. 60 große Industrieunternehmen wurden so
allein im Sudetenland abgebrochen. Dazu kam noch, dass jährlich bis zu
30 % des Bruttonationalproduktes der besetzten Länder vom Kreml eingezogen
wurden.

In der Theorie sollte diese „gemischte Wirtschaft“ zu
gleichen Teilen aus Kapitalanteilen der Sowjetunion und der einheimischen
Bourgeoisie gebildet werden. In Wirklichkeit war jedoch nur herzlich wenig von
einer tatsächlichen russischen „Beteiligung“ zu sehen. So verschwanden denn
unter diesem Deckmantel Unmengen an Rohstoffen und Energielieferungen in die
UdSSR wie etwa das rumänische und iranische Erdöl, Bauxit aus Jugoslawien –
ohne entsprechende Gegenleistungen. (15)

Wir müssen uns an Trotzkis Warnung erinnern, dass die
unstillbare Gier der Bürokratie und ihr Wunsch, ihre Privilegien und ihr
Prestige über andere Territorien auszudehnen, ein Faktor bei jeder Expansion
sein wird. Es wird jedoch immer nur ein nebensächlicher Faktor sein, da dies
allein für den Stalinismus keinen ausreichenden Grund darstellt, sein
Übereinkommen mit dem Imperialismus aufzukündigen, oder die Möglichkeit, eine
ungewollte revolutionäre Aktion der unterdrückten Massen zu entfesseln.

In Osteuropa war die von der stalinistischen Bürokratie
verfolgte politische Strategie bei Kriegsende – und das ihr zugrunde liegende
Motiv – im Wesentlichen überall gleich. In jedem dieser Länder wurden die
Niederlage und der Rückzug des deutschen Imperialismus von potentiell
revolutionären Mobilisierungen der ArbeiterInnen in Stadt und Land und der
Bauern/Bäuerinnen begleitet. Obwohl ihrer Ausrichtung nach antikapitalistisch,
blieben die Massen ohne eine revolutionäre, trotzkistische Führung. Die
Dominanz des einheimischen Stalinismus war von Land zu Land sehr verschieden,
was die Avantgarde dieser Massenkämpfe angeht.

Die Tschechoslowakei war am Vorabend des Krieges das einzige
Land Osteuropas mit dem Anschein bürgerlicher Demokratie. Das ermöglichte es
der KPTsch, relativ offen tätig zu sein. An ihrem Tiefpunkt hatte die KPTsch
etwa 24.000 Mitglieder. Bei Wahlen war sie jedoch immer imstande, bis zu
450.000 Stimmen zu erzielen, auch wenn sie nur 12 % der
Gewerkschaftsmitglieder kontrollierte. Sie überdauerte die deutsche Besetzung
trotz scharfer Repression im Untergrund, um im Mai 1945 im tschechischen Teil
allein mit einer Mitgliederzahl von 27.000 neu zu entstehen. Im Januar 1946
zählte sie bereits 1.159.164 Mitglieder.

Andererseits gab es die polnische KP, die unter den
Säuberungen Stalins am meisten gelitten hatte. Sie war de facto liquidiert
worden, 12 ihrer ZK-Mitglieder wurden hingerichtet. Als sie 1941, nach dem
gewaltsamen Bruch des Hitler-Stalin-Paktes (in dessen Vorbereitung ihre
Mitglieder von Stalin massakriert worden waren) wieder gegründet wurde, wies
sie 1942/43 nur eine winzige Mitgliedschaft von 4.000 auf.

Doch letztlich wurde die Schwäche einiger stalinistischer
Parteien durch die Kontrolle über die Staatsmacht durch die Rote Armee
wettgemacht. Angesichts der sporadischen und von einander isolierten
Widerstandsbewegungen in Osteuropa war die Hauptkraft bei der Vertreibung des
deutschen Imperialismus die Rote Armee gewesen – d. h. der bewaffnete
Flügel der Kreml-Bürokratie. Seit 1944 wurde die Niederlage des deutschen
Imperialismus von der gezielten Zerstörung der eigenständigen
antifaschistischen und antikapitalistischen Bewegungen der osteuropäischen
Massen durch die Rote Armee selbst begleitet. Überall beschützten die
StalinistInnen die Herrschaft der Bourgeoisie in der Wirtschaft (in einigen
Fällen führten sie sie neuerlich ein) und verhinderten die Enteignung des
Privateigentums durch die ArbeiterInnen oder Bauern/Bäuerinnen. Dort, wo die
ArbeiterInnen Fabriken besetzt und in eigene Leitung übernommen hatten, wurde
die Verstaatlichung als ein Mittel benutzt, um ihnen die direkte Kontrolle über
die Produktion wieder zu entziehen.

Molotows Warnungen an die bulgarische ArbeiterInnenklasse waren typisch für diese Zeiten: „Wenn gewisse KommunistInnen ihr derzeitiges Verhalten beibehalten, werden wir sie zur Vernunft bringen. Bulgarien wird weiterhin unter seiner demokratischen Regierung und nach der derzeitigen Ordnung bleiben.“ (16) Hinsichtlich Bulgariens vermeldete das bürgerliche Blatt „Le Monde“ im Juni 1946 erfreut: „Mehr noch, die Vaterländische Front war fähig, eine sichere Wirtschaftslage zu bewahren und die finanzielle Stabilität des Landes zu schützen.“

Auch das „Genfer Journal“ hatte bereits einen Monat zuvor in Hinblick auf Ungarn gejubelt: „Wo immer sie können, blockieren und opponieren die RussInnen eine/r Übernahme der großen Industrieunternehmen in ein neues staatliches System.“ In Rumänien wurde der Nazi-Kollaborateur und Erdölmagnat Tatescu von der KP als Nationalheld gefeiert. Sogar der diskreditierte rumänische Monarch, König Michael I., wurde auf den Thron zurückgeholt und von Stalin ausgezeichnet. (17)

Wie auch in anderen besetzten Ländern Osteuropas besaß die
deutsche Bourgeoisie z. B. in der Tschechoslowakei einen Großteil des
Kapitals. 1945 befanden sich 60 % der Industrie und de facto das gesamte
Finanzwesen in der Tschechoslowakei in deutschen Händen. Nach dem Abzug der
faschistischen Besatzungsmacht errichteten die Arbeiterinnen und Arbeiter im
ganzen Land ihre Kontrolle über die Produktion. Diese ArbeiterInnenräte bauten
eine landesweite Verwaltungsstruktur auf, die anzuerkennen die Regierung Benes
sich gezwungen sah. Kurz danach gab es bereits an die 10.000 landesweit
organisierter ArbeiterInnenverwaltungen, die über 75 % der
IndustriearbeiterInnen vereinten. Die Verstaatlichung der Betriebe und die
schrittweise Einsetzung staatlicher FunktionärInnen als BetriebsleiterInnen war
der einzige Weg – neben einer gewaltsamen Lösung –, um diese revolutionäre
Situation zu entschärfen. (18)

Gleichzeitig gab es beträchtlichen Druck seitens der ArbeiterInnenklasse in Richtung auf eine Verstaatlichung, da die Meinung vorherrschte, dies würde das Ende kapitalistischer Ausbeutung bedeuten. Als Ergebnis dessen verfügten dann die Verstaatlichungsdekrete vom Oktober 1945, dass 62 % der ArbeiterInnenklasse in der Staatsindustrie beschäftigt sein würden – bei einem Anteil der verstaatlichten Industrie von insgesamt nur 16 % aller Betriebe der Tschechoslowakischen Republik. Dies bedeutete nicht die Enteignung der gesamten Kapitalistenklasse durch die tschechischen ArbeiterInnen. Im Gegenteil, die KPTsch erklärte offen: „Unter Verstaatlichung verstehen wir die Überführung des Eigentums Deutscher, Ungarn, der VerräterInnen und KollaborateurInnen in die Hände der tschechischen und slowakischen Nation.“ (19) Ein anderes Verstaatlichungsdekret war noch freimütiger, als es erklärte, dass die Unternehmen nach den Prinzipien des Geschäftswesens, der Betriebsunabhängigkeit, des Profits und des freien Wettbewerbs geführt werden sollten. (20)

Der diesbezüglich über jeden Verdacht erhabene bürgerliche
Staatspräsident der ersten tschechischen Nachkriegsregierung, Benes, umriss
diese Position klar in einem Interview mit dem „Manchester Guardian“ im
Dezember 1945: „Die Deutschen übernahmen einfach die Kontrolle über alle
wichtigen Industrien und über alle Banken (…) Auf diese Weise bereiteten sie
automatisch das Wirtschafts- und Finanzkapital unseres Landes auf die
Verstaatlichung vor. Diesen Besitz und die Banken wieder in die Hände
tschechischer Privatleute zu übergeben oder ihn ohne beträchtliche staatliche
Unterstützung und neue finanzielle Garantien zu konsolidieren, war einfach
unmöglich. Der Staat musste eingreifen.“

1944–1947: Doppelmacht in Osteuropa

Auf Staatsebene diente die Rote Armee dazu, die Formen des
mit der bürgerlichen Herrschaft verbundenen Verwaltungs- und
Repressionsapparates zu stabilisieren oder wiederherzustellen: eine
Zentralregierung in den Händen einer abgehobenen und nicht
rechenschaftspflichtigen Exekutivgewalt; die innere und äußere Sicherheit in
den Händen einer stehenden Armee zentral zusammengefasst – über und gegen die
Masse der direkten ProduzentInnen. Angesichts des in hohem Grad verstaatlichten
Charakters der Eigentumsverhältnisse in diesen Ländern und der daraus sich ergebenden
Schwäche individueller RepräsentantInnen des Kapitals in der Wirtschaft war es
für den Stalinismus besonders wichtig, mit den VertreterInnen der Bourgeoisie
in führenden und entscheidenden Positionen Koalitionsregierungen zu bilden.

In Bulgarien fanden 1945 vermutlich 20.000 politische
Hinrichtungen statt. Nichtsdestotrotz saß der populäre Führer der Agrarischen
Volksunion, Nikola Petkow, in der Regierung. Im November fanden Wahlen statt –
mit dem Ergebnis einer überwältigenden Mehrheit für die „Vaterlandsfront“, eine
Koalition aus KP und bürgerlichen NationalistInnen unter Vorsitz des streng
antikommunistischen Premiers Kimon Georgiew.

In Rumänien wurde die erste Regierung nach der Niederlage
der Deutschen von der Nationalen Bauern-/Bäuerinnenpartei und den
Nationalliberalen im September 1944 gebildet – mit dem Justizminister
Patrascanu als einzigem Stalinisten im Kabinett. Die Machenschaften und die
brutale Gewalt der Roten Armee in den folgenden Monaten zielten darauf ab, die
zwei großen bürgerlichen Parteien (den „Nationalliberalen Block“) zu entfernen
und durch eine Regierung der „Nationaldemokratischen Front“ (NDF) zu ersetzen,
die aus der KP, den SozialdemokratInnen, der „Union der PatriotInnen“ und der
„LandarbeiterInnenfront“ bestand. Eine derartige Regierung wäre dem Kreml sehr
freundlich gesinnt gewesen. In dieser Periode diktierte der Beauftragte
Moskaus, A. J. Wyschinski, dem rumänischen König den Ablauf der Ereignisse.
Schließlich wurde nach bewaffneten Demonstrationen im März 1945 eine Regierung
der NDF etabliert, in der die NDF 17 MinisterInnen stellte – und drei
Wirtschaftsministerien an einen Erdölmagnaten gingen, der auch als
Außenminister fungierte. Diese Maßnahmen dienten dazu, die „demokratische“
Bourgeoisie einzubinden.

Ein ähnlicher Kampf fand auch in Polen statt: zwischen der
im Londoner Exil ansässigen und von Großbritannien und den USA gestützten
Gruppe polnischer NationalistInnen unter Führung des Chefs der
Bauern-/Bäuerinnenpartei, S. Mikolajczyk, und dem sowjetisch unterstützten
„Lubliner Komitee“. In jedem dieser Fälle dürfen die Säuberungen,
Einschüchterungen und die Liquidation prominenter bürgerlicher PolitikerInnen
nicht als eine vollkommene Eliminierung bürgerlicher Herrschaft verstanden
werden, sondern als Maßnahmen zur Zerschlagung bürgerlicher Parteien mit
starken Wurzeln und Anhang in der eigenen Bevölkerung und zu deren Ersetzung
durch andere bürgerliche Kräfte, die über eine zu geringe Basis verfügten, um
den Absichten des Kremls Widerstand leisten zu können, die aber gleichzeitig
dazu dienten, die Wirtschaft auch gemäß den Interessen der einheimischen
Bourgeoisie zu leiten – und die sogar auf die Hilfe des Imperialismus zählen
konnten.

In jedem dieser Länder war der Staatsapparat in der letzten Kriegsperiode mehr oder weniger im Zerfall begriffen gewesen. Während die stalinistische Bürokratie die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen davon abhielt, ihren eigenen neuen Staatsapparat – basierend auf demokratischen Räten und einer ArbeiterInnenmiliz – zu schaffen, und die Kontrolle der Bourgeoisie in der Wirtschaft wieder aufrichtete, blieben die Schlüsselstellen des aus seinen Ruinen wiederauferstandenen Staatsapparates fest im Griff der Roten Armee und ihrer jeweiligen politischen StellvertreterInnen und Verbündeten. M. Rákosi, Ungarns KP-Chef, sprach für alle seine Gesinnungsgenossen und -genossinnen in Osteuropa zu dieser Zeit: „Es gab eine Position, deren Kontrolle von unserer Partei von der ersten Minute an beansprucht wurde. Eine Position, bei der die Partei nicht geneigt war, eine Postenverteilung welcher Art auch immer gemäß der Stärke der Parteien in der Koalition in Erwägung zu ziehen. (Diese Position) war die Staatssicherheit (…) Wir hielten diese Organisation vom ersten Tag ihrer Errichtung in unseren Händen.“ (21)

Doch es war Ungarn, wo die StalinistInnen die meisten
Konzessionen in dieser Frage machen mussten. Die Koalition, die aus den Wahlen
im Oktober 1945 hervorgegangen war, zerstritt sich heftig über die Besetzung
der Ministerien. Schließlich sicherte Imre Nagy für die KP das
Innenministerium, aber die Zuständigkeit für die Polizei musste an die
KleinlandwirtInnenpartei abgetreten werden. Doch sonst behielten die
stalinistischen KPen überall auch das Verteidigungsministerium – mit Ausnahme
der Tschechoslowakei, was hier wiederum die relative Stärke der Bourgeoisie in
diesem Lande widerspiegelte. Ebenso wurden überall die Schalthebel der
bewaffneten Staatsmacht dazu benutzt, um GegnerInnen einzuschüchtern, Wahlen zu
fälschen und die Politik in die gewünschten Bahnen zu lenken.

Das Ergebnis war eine Doppelmachtsituation in Osteuropa, die
das Kräfteverhältnis zwischen der Weltbourgeoisie und der UdSSR widerspiegelte.
Die politische Macht war zwischen dem Stalinismus und der Bourgeoisie geteilt.
Die stalinistischen KPen besaßen das Monopol auf den Unterdrückungsapparat,
aber die Bourgeoisie war in den politischen Überbau durch ihre Kontrolle der
Staatswirtschaft einbezogen. Nirgendwo trat dies klarer an den Tag als in der
Tschechoslowakei. Die deutschen Truppen waren erst sehr spät – im Mai 1945 –
endgültig aus Prag vertrieben worden. Die erste Nachkriegsregierung wurde aus
einer Koalition von vier bürgerlichen Parteien und zwei bürgerlichen
ArbeiterInnenparteien (der KP und den SozialdemokratInnen) gebildet. Unter
ihnen erschien die KPTsch als die stärkste, die dementsprechend als erste unter
den 22 Ministerien wählen konnte, die zu gleichen Teilen unter den
Koalitionspartnerinnen verteilt werden sollten. Die KPTsch nahm sich das
Innen-, das Informations- und das Landwirtschaftsministerium und überließ die
Wirtschaftsministerien der Bourgeoisie.

Wenn wir diese Periode als Doppelmachtsituation definieren, können wir auch ihre Instabilität und ihre Entwicklung verstehen. In Osteuropa bestand die Doppelmacht aus einem Pakt zwischen dem Stalinismus und der Bourgeoisie. Dieser Pakt war für die Bourgeoisie dieser Länder notwendig, da sie geschwächt und von den stalinistischen KPen bei der Bewahrung des Privateigentums abhängig war. Er war notwendig für den Stalinismus, da die Bürokratie in den Jahren 1945–1947 das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufrechterhalten wollte, um ihr Abkommen mit dem Imperialismus zu erfüllen und dafür von den USA Wirtschaftshilfe zu erlangen. Die Doppelmacht war für den Stalinismus auch nötig, um die unabhängige Aktivität der ArbeiterInnenklasse zu zerschlagen. Trotzki nahm die Form einer derartigen Doppelmacht als Möglichkeit vorweg, als er die Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen in England und Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert heranzog: „Die Spaltung der Staatssouveränität kündigt nichts Geringeres an als den Bürgerkrieg. Aber ehe die streitenden Parteien bis zum Äußersten gehen wollen – insbesondere, wenn sie das Eingreifen einer dritten Kraft befürchten – können sie sich für eine recht lange Zeit gezwungen sehen, ein System der Doppelmacht zu erdulden, ja sogar zu billigen.“ (22)

Die Koalitionsregierungen in Osteuropa von 1945 waren das
Ergebnis der Billigung beider Parteien für die vorhandene Spaltung der
Staatssouveränität. Diese Regierungen besaßen in unterschiedlichem Ausmaß
bonapartistischen Charakter. Das war in geringerem Umfang dort der Fall, wo
einheimische Bourgeoisie und Stalinismus wirkliche gesellschaftliche Kräfte
repräsentierten (wie in der Tschechoslowakei), und wesentlich stärker dort der
Fall, wo die neue Regierungsform nur auf geringe bodenständige Grundlagen
verweisen konnte wie etwa im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands.

Die Fähigkeit des Stalinismus, die Doppelmachtsituation nach
1948 zu lösen, ohne den Bürgerkrieg heraufzubeschwören, erklärt sich aus seiner
Dominanz innerhalb dieser Regierungen. Denn Doppelmacht heißt nicht, dass beide
Seiten notwendigerweise gleich stark sein müssen. Die Präsenz sowjetischer
Truppen und der in Osteuropa errichtete Polizeiapparat bedeuteten, dass die
Unterdrückungsmaschinerie sich ausschließlich in den Händen der stalinistischen
Bürokratie befand. Sie war daher imstande, diese Macht zu benutzen, um die
Doppelmacht sozusagen auf „stille“ Weise aufzulösen, als der Weltimperialismus
gegen sie vorzugehen begann.

Volksfront und bürgerliche ArbeiterInnenregierungen

Aufgrund ihrer Beziehungen zu den Streitkräften der UdSSR
waren innerhalb dieser Koalitionsregierungen in ganz Osteuropa die
stalinistischen KPen die entscheidenden Kräfte. (23) Der Aufrechterhaltung des
Privateigentums und der Beruhigung der Massen zum Zweck ihrer weiteren
Ausbeutung verschrieben, handelten sie entweder in der Form einer Volksfront
mit der Bourgeoisie (wie in der CSR) oder in der besonderen Form einer
bürgerlichen ArbeiterInnenregierung. Diese Parteien, die in der einheimischen
ArbeiterInnenklasse Wurzeln gefasst hatten, aber ihre Macht der
Sowjetbürokratie verdankten, erarbeiteten die Regierungspolitik als Produkt
eines Abkommens zwischen drei Kräften: dem Weltimperialismus, der eigenen
Bourgeoisie und der Kreml-Bürokratie.

Diese beiden von den stalinistischen Parteien errichteten
Regierungsformen wiesen aber Unterschiede auf. Eine Volksfront ist eine offene
Koalition von bürgerlichen Parteien und ArbeiterInnenparteien, während eine
bürgerliche ArbeiterInnenregierung eine versteckte Koalition darstellt, die im
Interesse und anstelle der Bourgeoisie regiert. Ihrem Wesen nach dienen jedoch
beide dazu, die ArbeiterInnenklasse davon abzuhalten, die Macht selbst zu
ergreifen und auszuüben.

Bezüglich einer bürgerlichen ArbeiterInnenregierung bemerkte die Komintern zu Recht, dass sie „ein Mittel ist, um das Proletariat über den wirklichen Klassencharakter des Staates zu täuschen oder um mit der Hilfe korrupter ArbeiterführerInnen die revolutionäre Offensive des Proletariats abzuwehren und so Zeit zu gewinnen.“ (24)

Ganz ähnlich die Volksfront, wie Trotzki im Hinblick auf ihre Rolle bei der Demobilisierung der französischen ArbeiterInnenklasse 1936 hervorhob: „Die Volksfront in Frankreich übernahm die gleiche Aufgabe wie die so genannte ,Koalition‘ aus KadettInnen, Menschewiki und SozialrevolutionärInnen in Russland im Februar 1917 – die Revolution in ihrem ersten Stadium zu stoppen.“ (25)

Er fuhr fort und wies darauf hin, dass die Volksfront ebenso wie die bürgerliche ArbeiterInnenregierung das wirkliche Wesen der bürgerlichen Herrschaft vor den ArbeiterInnen verbarg: „Die ArbeiterInnen wurden dieser Instrumente (der Partei und der Räte) beraubt, weil die FührerInnen der ArbeiterorInnenganisationen um die bürgerliche Macht einen Schutzwall bildeten, um sie zu verschleiern, sie unsichtbar und unverwundbar zu machen. So fand sich die Revolution, die begonnen hatte, selbst gebremst, gefesselt, demoralisiert.“ (26)

Die bürgerlichen ArbeiterInnenregierungen und Volksfronten
spielten in Osteuropa genau die gleiche Rolle. Die Bourgeoisie war zu diesem
Zeitpunkt äußerst verwundbar. Ihre bewaffnete Macht war bedeutungslos. Ihr
fehlte ebenso eine entscheidende Hilfe seitens des Imperialismus. Der Vormarsch
der Roten Armee hatte die Erwartungen und die Aktivitäten der Massen beflügelt.
Überall existierte die objektive Möglichkeit, die zusammengebrochene Macht der
Bourgeoisie durch die wirkliche Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter zu
ersetzen. Eine derartige Entwicklung hätte jedoch für die Kremlbürokratie einen
tödlichen Schlag bedeuten können, weil sie auch die eigene ArbeiterInnenklasse
animiert hätte, sich gegen die bürokratische Diktatur zu erheben. Daher
regierte der Stalinismus, statt der Bourgeoisie den Todesstoß zu versetzen, in
ihrem Namen in einer besonderen Form der bürgerlichen ArbeiterInnenregierung
(wie in Ostdeutschland) oder er nahm die gleiche Bourgeoisie und deren Parteien
in offene Volksfrontkoalitionen auf (wie in der Tschechoslowakei und in
Rumänien).

Die von den KPen innerhalb der bürgerlichen ArbeiterInnenregierungen und Volksfronten ausgeübte Vormachtstellung veränderte keineswegs deren Charakter. Sie veränderte jedoch den Verlauf der Entwicklung, den diese notwendigerweise nur vorübergehenden Regierungsgebilde nahmen. Die bürgerliche ArbeiterInnenregierung konnte – wie es die Komintern vorausgesehen hatte – „objektiv helfen, den Zerfallsprozess der bürgerlichen Macht zu beschleunigen.“ (27) Dank der geänderten Politik des Imperialismus und der Vormachtstellung des Stalinismus wurde diese objektive Möglichkeit verwirklicht. Die Volksfronten wurden von Regierungen abgelöst, in denen die stalinistischen KPen über die absolute Kontrolle verfügten. Der Stalinismus war fähig, mit seinen schwächeren Koalitionspartnerinnen zu brechen, als die Hauptgefahr für ihn eher vom Imperialismus als von einer eigenständigen proletarischen Revolution, zu deren Eindämmung gerade die Volksfront gedient hatte, drohte.

Die Verstaatlichungen der Koalitionsperiode waren das
Ergebnis eines Abkommens zwischen Stalinismus und Bourgeoisie, den Besitz der
Achsenmächte und ihrer KollaborateurInnen zu nationalisieren. Die Landreform
betraf nur die größten Güter. Diese Landreform fand gewöhnlich in den ersten
Monaten nach der Befreiung vom Faschismus statt, sie war jedoch von Land zu
Land sehr ungleich und immer unzureichend. Angesichts des Gewichts der auf der
Bauern-/Bäuerinnenschaft basierenden Parteien in den Nachkriegsregierungen, der
Flucht vieler GroßgrundbesitzerInnen im Gefolge des deutschen Rückzugs und der
gewaltigen Beteiligung der Bauern-/Bäuerinnenschaft an den verschiedenen
Partisanenbewegungen war zu erwarten, dass eine beträchtliche Bewegung
entstehen würde, die auf eine Landaufteilung drängte. Dazu erforderte noch die
unmittelbare Notwendigkeit gesteigerter Lebensmittelproduktion, den
Bauern/Bäuerinnen einen Anreiz dazu zu bieten. Die tiefgreifendsten Reformen
fanden in Ungarn statt, wo der Landbesitz auf 1,42 Hektar beschränkt wurde.

In Rumänien wurde jeder Landbesitz über 500 Hektar
aufgeteilt. Tausende Bauern/Bäuerinnen wurden durch diese Reformdekrete
begünstigt, aber die sozialen Bedingungen ihrer Existenz blieben unverändert.
Dies auch deswegen, weil die Rote Armee den besten Teil des
landwirtschaftlichen Maschinenparks in die UdSSR als Reparationsleistung
überführte und – schlimmer noch – die traditionelle Verschuldung der
Kleinbauern/-bäuerinnen an WucherInnen und Banken unangetastet blieb.

Es ist klar, dass der Kreml und die jeweiligen osteuropäischen Kommunistischen Parteien zwischen 1945 und 1947 alles taten, um die Situation der Doppelmacht durch die Schaffung von der UdSSR freundlich gesinnten kapitalistischen Regimes zu lösen. Zu diesem Zweck versuchten sie, den alten Staatsapparat zu erhalten bzw. wieder aufzubauen. Einzig diese Staatsapparate hätten den dauernden Schutz des bürgerlichen Eigentums garantieren können. Daher können in der Periode der Doppelmacht die Staaten Osteuropas als im Wesentlichen noch kapitalistische Staatswesen verstanden werden. Diese allgemeine Aussage ist jedoch ungenügend zur Erklärung der Dynamik einer Situation der Doppelmacht, die ja ihrem Wesen nach nur vorübergehend sein kann und dem Staat selbst einen widersprüchlichen und provisorischen Charakter verleiht. Trotzki wies mit Blick auf Russland nach der Februarrevolution 1917 (also noch vor der Oktoberrevolution) darauf hin: „Wenn der Staat eine Organisation der Klassenherrschaft und eine Revolution der Sturz der herrschenden Klasse ist, dann muss die Übergabe der Macht von einer Klasse an die andere notwendigerweise sich selbst widersprechende Bedingungen für den Staat schaffen – und dies vor allem in Form der Doppelmacht.“ (28)

Das Ziel des Stalinismus bestand darin, die Lösung der
Doppelmacht in Richtung auf eine wirkliche Revolution zu verhindern. Dabei gab
es nur zwei Möglichkeiten: Entweder konnten die KPen einen kapitalistischen
Staat vollkommen wiedererrichten und ihm die Macht abtreten – ein politischer
Kurs, der damit geendet hätte, dass die wieder voll an die Macht gelangten
KapitalistInnen sie aus der Regierung geworfen hätten, um sie danach zu
bekämpfen – gegebenenfalls bis zur Vernichtung wie in Vietnam nach 1945.

Oder aber die stalinistische Bürokratie wäre in der Lage,
eine bürokratische Revolution durchzuführen, die von Anbeginn das Proletariat
vom direkten Zugang zur Macht ausschließen würde wie in den baltischen
Republiken und in Ostpolen zu Beginn des Weltkriegs. Die Möglichkeit beider
Alternativen für den Stalinismus bedeutete für die osteuropäischen Staaten der
Nachkriegszeit bis 1947 genau diesen widersprüchlichen Charakter. Die
StalinistInnen bezogen Teile der Bourgeoisie wieder in den Staatsapparat ein,
aber ihre Furcht vor einem neuerlichen Eindringen des Imperialismus in ihre
erst frisch geschaffene „Pufferzone“ brachte sie dazu, die Bourgeoisie von
jeglicher Kontrolle über den bewaffneten Arm der Staatsmacht, Polizei und
Armee, auszuschließen.

Das heißt jedoch nicht, dass diese Staaten unmittelbar mit
dem Einmarsch der Roten Armee zu degenerierten ArbeiterInnenstaaten geworden
wären. Wir bestimmen weder Form noch Inhalt eines Staates nach der sozialen
oder politischen Zusammensetzung der Staatsbediensteten und FunktionärInnen.
Dass die stalinistischen FunktionärInnen großteils von nachkapitalistischen
Eigentumsverhältnissen abhängig waren, aber selbst kapitalistische
Eigentumsverhältnisse verteidigten, unterstreicht nur den widersprüchlichen und
provisorischen Charakter der Periode von 1944 bis 1947.

Trotzki bemerkte übrigens noch kurz vor seinem Tod, dass wir
unser Verständnis des Stalinismus revidieren müssten, sollte die stalinistische
Bürokratie imstande sein, in von ihr politisch beherrschten Ländern friedlich
neben kapitalistischen Eigentumsverhältnissen zu bestehen. (29)

Vom Kompromiss zum Kalten Krieg

Eine nähere Betrachtung von Trotzkis Argumentation in dieser
Frage gestattet uns, die Richtigkeit seiner Analyse zu bestätigen. Trotzkis
Feststellung gründete auf der unleugbaren Tatsache, dass hinsichtlich eines
isolierten ArbeiterInnenstaates der Imperialismus – d. h. der
Imperialismus auf der ganzen Welt – stärker als die UdSSR bleiben würde. Wenn
die stalinistische Bürokratie die Macht behalten wollte, dann könnte ihre
Herrschaft zwangsläufig nur von kurzer Dauer sein, da die einheimische
Bourgeoisie ja die Macht des Imperialismus herbeiholen würde, mit der sie durch
tausenderlei Bande verknüpft war, um die KP, diesen Fremdkörper im bürgerlichen
Staat, wieder zu entfernen.

Auf diese Weise würde eine politische Konterrevolution der
Bourgeoisie die politische Herrschaft des Stalinismus zerstören, und der
Widerspruch innerhalb dieser Gesellschaft wäre zugunsten des Imperialismus
gelöst worden. Aus diesem Grunde musste die stalinistische Vorstellung, unter Anleitung
der KP einen kapitalistischen Staat konsolidieren zu wollen, zwangsläufig eine
Utopie bleiben.

Nur innerhalb dieser Perspektive kann die Situation in
Osteuropa bei Kriegsende verstanden werden. Es war eine Situation, in der
dieser Widerspruch in der Realität existierte – wenn auch nur für kurze Zeit.
Die Stagnation des Welthandels und der Protektionismus im Jahrzehnt vor dem
Krieg gelangten während des Weltkrieges auf ihren Höhepunkt und wirkten bis in
die Nachkriegsperiode hinein. Mit der Ausnahme der Tschechoslowakei hatten alle
osteuropäischen Länder in den 1930er Jahren bonapartistische Regimes erlebt,
ihr Status war der von Halbkolonien.

Ihre wirtschaftlichen und politischen Verbindungen zum
westlichen Imperialismus waren während des Krieges nachhaltig unterbrochen
worden. Der Rückgang des Welthandels und die Fragmentierung der Weltwirtschaft
hielten bis 1947 an. Die direkten Beziehungen zwischen der Bourgeoisie der
osteuropäischen Länder und dem US-amerikanischen und britischen Imperialismus waren
bei Kriegsende äußerst schwach. Dies wiederum verminderte die Stärke dieser
Bourgeoisien, sich der aufgezwungenen stalinistischen Führung ihrer Länder zu
widersetzen.

Die Unterbrechung der Beziehungen zwischen dem Imperialismus
und seinen jeweiligen AgentInnen war ein höchst instabiler, konjunktureller
Faktor, der den Widerspruch zwischen nationaler Bourgeoisie und Stalinismus
zeitweilig verschwinden ließ. Aber dieser strategische Widerspruch machte sich
1947/1948 erneut heftig bemerkbar, als sich die seit langem erwartete
„Einheitsfront“ der siegreichen Imperialismen – USA, Britannien und Frankreich
– gegen die Rolle der UdSSR in Osteuropa zu wenden begann. Die taktische
Einheitsfront zwischen Imperialismus und Bürokratie, die geschlossen worden
war, um die Möglichkeit einer proletarischen Revolution in Europa zu
verhindern, zerbrach nun in dem Maß, als die Drohung dieser Revolution selbst
immer schwächer zu werden begann. Im Verlauf des Jahres 1946 hatten sich die
Beziehungen zwischen den Westalliierten und der UdSSR schnell verschlechtert.

1946 markierte eine Wende, nämlich den Übergang von der
Politik des Kompromisses zur Politik der „Eindämmung“ durch den US-Präsidenten
Truman. Er fand dabei in Churchill einen treuen Verbündeten, der zu einem
Vorkämpfer der „harten Linie“ gegenüber der UdSSR geworden war, seit er den
angeblichen Verrat der Sowjetunion am Abkommen von Jalta entdeckt hatte.
Tatsächlich lässt sich der erste Hinweis auf einen „Eisernen Vorhang“ zwischen
West- und Osteuropa bereits fünf Tage nach der Kapitulation des Deutschen
Reiches vernehmen. Der Begriff selbst stammte bezeichnenderweise noch aus
Goebbels‘ Propagandaministerium. Der denkwürdige Hinweis in einer
entscheidenden Rede Trumans im März 1946 hinsichtlich des „Eisernen Vorhanges“ fasste
dann bereits zusammen, was bald darauf als die Position des „Kalten Krieges“
der USA und Britanniens gegenüber der UdSSR bekannt werden sollte.

Die Gründe für diesen Wechsel des ideologischen Standpunktes
im Jahr 1946 sind nicht schwer zu finden. Die Konferenzen von Jalta und Potsdam
waren zu einer Übereinkunft hinsichtlich der Einflusssphären gelangt, die sich
hauptsächlich auf Mitteleuropa und den Balkan bezogen. Aber die Weigerung der
UdSSR im Februar 1946, ihre Truppen aus dem nördlichen Iran abzuziehen, der von
Molotow erhobene Anspruch auf eine Mandatshoheit über Libyen und das
hartnäckige Beharren der Sowjetunion auf ihrem Recht auf einen Warmwasserhafen
bei den Dardanellen überzeugten den Imperialismus, dass es höchste Zeit sei,
die wachsenden Ansprüche der Kreml-Bürokratie einzudämmen.

Diese imperialistische Offensive wurde von den USA
angeführt; Britannien und Frankreich befanden sich mitten in einer
Wirtschaftskrise und waren unfähig, einen neuen Akkumulationszyklus von sich
aus zu eröffnen. So lag die britische Kohleproduktion 1946 um 20 Prozent unter
dem Stand von 1938, in Westdeutschland betrug sie in diesem Jahr ganze zwei
Fünftel der Vorkriegsproduktion. Gerade wegen der beherrschenden Position
Deutschlands in der Industrieproduktion hatte seine Niederlage einen
verheerenden Effekt auf ganz Europa. 1939 stellte das Deutsche Reich ein
Fünftel der Industrieproduktion Europas – jetzt lag die deutsche Industrie in
Trümmern. Dazu kam noch eine schwere Agrar- und Finanzkrise der europäischen Staaten.
Die europäische Weizenproduktion fiel 1947 auf die Hälfte des Standes von 1938.
1946 lebten an die 125 Millionen Menschen in Europa mit einer Tagesration von
1.000 bis 2.000 Kalorien – und dies sollte sich noch verschlimmern. Eine
Vorstellung von der finanziellen Unsicherheit gewinnt man, wenn man in Betracht
zieht, dass in Frankreich 1946 die Großhandelspreise um 80 Prozent stiegen.
(30)

Das produktive Kapital der USA ging aus dem Krieg gestärkt
hervor. Hinsichtlich der Märkte waren die Produktivkräfte der USA mehr als
ausreichend. Die USA stellten 1945 die Hälfte aller Güter der Welt her. 1946
vereinigten die USA mehr als die Hälfte des internationalen Einkommens auf
sich. Kurz gesagt: die USA hatten eine Position der Beherrschung der
Weltwirtschaft inne, die seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts (damals
besetzte Britannien diesen Platz) keine einzelne imperialistische Macht mehr
eingenommen hat. Der Aufschwung in den USA sah sich jedoch einer entscheidenden
Barriere gegenüber, sollte die Stagnation an den Märkten West- und Osteuropas
andauern.

Stalins Zugriff auf Osteuropa und das Gespenst einer
Revolution im Westen riefen die berühmte „Truman-Doktrin“ hervor – eine
Doktrin, die auf die Eindämmung, nicht auf einen unmittelbaren Krieg mit der UdSSR
abzielte; eine Eindämmung, die durch massive Wirtschaftshilfe für
antikommunistische Regierungen unterstützt wurde. Griechenland sollte die
Generalprobe für diese neue Politik abgeben.

Britannien, das sich als imperialistische Macht im Niedergang befand, weigerte sich, Griechenland – inmitten eines Bürgerkrieges – ab Februar 1947 weiterhin finanziell zu unterstützen. Aus Furcht vor einem Sieg der stalinistisch geführten ELAS versprachen die USA der pro-imperialistischen Monarchie bedingungslose Unterstützung. Als Soforthilfe wurde 300 Mill. Dollar bereitgestellt. Am 12. März 1947 führte Truman vor dem Kongress aus: „Es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freie Völker, die sich der versuchten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußere Pression widersetzen, zu unterstützen.“ (31)

Die wirtschaftliche Ergänzung zu dieser Doktrin bestand in
der Marshallplanhilfe und den Plänen, in den imperialistisch besetzten Zonen
Deutschlands eine neue Währung einzuführen.

General Marshall hatte Byrnes als Außenminister im Januar
1947 ersetzt. Sein Plan wurde als „Truman-Doktrin in Aktion“ bezeichnet.
Angekündigt im Juni 1947, brauchte es dennoch noch fast ein Jahr zu seiner
endgültigen Verabschiedung. Der Marshallplan war ein Wiederaufbauprogramm, das
für Europa an die 17 Milliarden Dollar bereitstellen sollte – mit der Garantie
eines massiven Einflusses der USA auf die Innen- und Außenpolitik der
betroffenen Länder. Bis zum September 1947 hatten 16 Länder seinen Bedingungen
zugestimmt.

Mit dieser Doppelattacke festigten die USA ihren Kurs des
Kalten Krieges – dem Einfluss der UdSSR in Europa eine Grenze zu setzen, dem
Kreml die alleinige Verantwortung für den Wiederaufbau seiner Einflusssphäre
aufzubürden und seinen Einfluss in der imperialistischen Sphäre auszulöschen.
Diese Ereignisse versetzten Moskau und die jeweiligen nationalen KPen in helle
Aufregung. In Westeuropa wurden die stalinistischen Parteien ohne viel
Aufhebens aus den Koalitionsregierungen mit den bürgerlichen Parteien hinausgeworfen.
Es war die soziale Instabilität, die aus der wirtschaftlichen Krise dieser
Länder entstanden war, welche die französische und die italienische Bourgeoisie
gezwungen hatte, stalinistische Parteien in der Regierung zu dulden, da nur sie
die ArbeiterInnenklasse unter Kontrolle halten konnten. Im Mai 1947 wandte sich
Marshall direkt an A. De Gasperi, den Führer der italienischen
ChristdemokratInnen, um den Regierungsausschluss der PCI zu fordern und
gleichzeitig Finanzhilfe anzubieten.

In Osteuropa, wo die Schalthebel der politischen Macht in
seinen Händen lagen, war der Stalinismus gezwungen, sich zu entscheiden:
entweder sich der imperialistischen Offensive entgegenzustellen oder vor ihr
den Rückzug anzutreten und sich vor ihr zu beugen. Konsequent bei ihrem Versuch
des Aufbaus einer strategischen Allianz mit dem Kapitalismus, waren einige
Kommunistische Parteien bereit, die Marshallplanhilfe anzunehmen. Der
Marshallplan stand formal auch der Sowjetunion offen, doch war dies
offensichtlich nur ein Manöver, um dem Kreml vor aller Welt die Schuld an einem
Bruch zuzuschieben. Molotow nahm an den Eröffnungsdiskussionen teil, zog jedoch
die Beteiligung der UdSSR kurz darauf zurück. Die tschechoslowakische und die
polnische Regierung äußerten gegenüber dem Plan Zustimmung, einschließlich der
KPen beider Länder. Aber sie waren bald gezwungen, sich dem Druck der
Sowjetunion zu beugen. Im Gegenzug legte der Kreml eine Reihe improvisierter
Handelsabkommen für die osteuropäischen Länder, den „Molotow-Plan“, vor. Wäre
der Weg des Marshallplans beschritten worden, dann hätte die Sowjetbürokratie
früher oder später die Kontrolle über Osteuropa gänzlich verloren und sich dem
Imperialismus an den Staatsgrenzen der UdSSR gegenübergesehen – eine Erfahrung,
die Stalin nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion freiwillig wohl kein
zweites Mal machen wollte. Er zog stattdessen die Zügel straffer und befahl die
Vernichtung des wirtschaftlichen Fundaments der Bourgeoisie und ihrer
politischen VertreterInnen im Staatsapparat, die zu einem künftigen
Kristallisationspunkt der Wiedererrichtung ihrer Macht hätten werden können.

Der konterrevolutionäre soziale Umsturz

Ein notwendiger und vorbereiteter Schritt für die
bürokratische Liquidierung der Macht der Bourgeoisie in Osteuropa war die
vollständige Kontrolle der jeweiligen einheimischen Kommunistischen Parteien
über die ArbeiterInnenklasse. Zuerst einmal bedeutete dies die Zerstörung des
Einflusses der Sozialdemokratie, die hier eine erbitterte Rivalin des
Stalinismus blieb und ihn oft an Einfluss und Stärke übertraf. Dies war
besonders in Polen, Ungarn und Ostdeutschland der Fall. Das Vorgehen der
stalinistischen KPen war dabei überall gleich: Einschüchterungen, Säuberungen
und Zwangsvereinigungen der Parteiapparate.

Bereits im September 1944 wurde so der polnischen PPS eine
neue, prostalinistische Führung aufgezwungen – in der Absicht, die Vereinigung
mit der eher künstlich ins Leben gerufenen KP zu sichern. Die Parteibasis
weigerte sich hartnäckig, dem zuzustimmen, doch im Dezember 1947 wurde die neue
„Vereinigte ArbeiterInnenpartei Polens“ dessen ungeachtet aus der Taufe gehoben
– nach der Entfernung von 12 widerspenstigen PPS-FührerInnen und 82.000
Parteiausschlüssen.

In Ungarn wurde der Widerstand der ungarischen Sozialdemokratie
im Februar 1948 gebrochen, als die Parteilinke unter Ausschluss des Zentrums
und der Rechten (und unter dem Schutz der Geheimpolizei) einen Kongress
einberief. Im Juni wurde die Vereinigung mit der KP offiziell erklärt. (32)

Trotz der Risiken, die diese Politik für eine künftige
Entspannung mit dem Imperialismus in sich barg, wusste der Kreml, dass ohne
diesen Kurs sein eigener Untergang drohen könnte. Nicht nur, dass die
Sowjetbürokratie das Produktivpotential Osteuropas dem Imperialismus überlassen
müsste; die weitere Existenz der Bürokratie selbst wäre ernsthaft bedroht
gewesen. Angesichts dieser äußerst unvorteilhaften Entwicklung der „friedlichen
Koexistenz“ entschloss sich der Kreml, in allen Ländern seiner „Pufferzone“ die
Bourgeoisie wirtschaftlich und politisch zu vernichten. Auch hier war sein
Vorgehen überall gleich.

In Polen flüchtete Mikolajczyk, der Führer der Opposition
gegen diesen Kurs, um dem Zugriff der KP zu entgehen. In Rumänien wurde König
Michael im Dezember abgesetzt. Anfang 1948 übernahm die jetzt stalinistisch
kontrollierte „Vereinigte ArbeiterInnenpartei” die Macht. Der Führer der
Agrarpartei in Bulgarien, Petkow, wurde im Juni 1947 verhaftet und im September
hingerichtet. Dem folgten an die 20.000 Verhaftungen und die Schließung aller
bis dahin unabhängigen Zeitungen. In Ungarn wurde der ehemalige Führer der
Partei der Kleinen LandwirtInnen, B. Kovács, im Mai verhaftet, der
Premierminister flüchtete im gleichen Monat in die USA. Die – manipulierten –
Neuwahlen im August brachten dann die KP an die Spitze der Koalition, die noch
als Fassade bis zur Fusion mit der Rumpf-Sozialdemokratie formell beibehalten
wurde.

1947/48 wurde der Kapitalismus in den Ländern Osteuropas auf
bürokratische Weise von oben her „abgeschafft“ – verbunden mit der
gleichzeitigen Unterdrückung der Vorhut des Proletariats. Eine Seite dieser
Unterdrückung war die Säuberung der Kommunistischen Parteien selbst. Diese
Säuberungen waren nach 1947 alltäglich, aber sie nahmen nach dem Bruch Titos
mit Stalin im Sommer 1948 eine neue Dimension an. So wurden in Polen zwischen
September und Dezember 1948 30.000 Parteimitglieder ausgeschlossen. Der
Generalsekretär der Partei, W. Gomulka, wurde verhaftet und gefoltert. In
Bulgarien wurden in einigen brutalen Säuberungswellen 92.000 Basismitglieder
der KP und die große Mehrheit ihrer Führung ausgeschlossen.

In der Tschechoslowakei, wo noch dazu der Geist des
tschechischen Nationalismus Unabhängigkeitsbestrebungen auch innerhalb der KP
genährt hatte, wurden allein in der Zeit von Februar bis August 1948 100.000
Parteimitglieder ausgeschlossen. Die Schauprozesse dieser Zeit, getreue Kopien
der stalinistischen Massaker an wirklichen oder vermeintlichen GegnerInnen des
bürokratischen Regimes in der Sowjetunion der 1930er Jahre, richteten sich
v. a. gegen jenen Teil der nationalen Kommunistischen Parteien, der als
FührerIn im antifaschistischen Widerstand eine eigenständige Position gegenüber
Stalin entwickeln konnte und damit in dessen Augen zu einem/r potentiellen
NachfolgerIn Titos werden könnte; zweitens gegen jene Sektionen der Bürokratie,
die sich in der eben vergangenen Periode der Koalition mit den bürgerlichen
Kräften zu sehr an diese Klassenkollaboration gewöhnt hatten und daher noch
immer diese Politik verteidigen wollten.

Einzig in der Tschechoslowakei hatte die KP im Februar 1948
außerhalb von Polizei und Armee Kräfte zum Sturz der Bourgeoisie mobilisiert.
Die Periode der Doppelmacht, ein genau ausbalanciertes und unsicheres
Gleichgewicht in der tschechischen Regierung, ging Ende Februar 1948
unwiderruflich zu Ende. Am 20. Februar führte ein Streit über die
Regierungskontrolle über die Polizei zum Rücktritt von 12 nichtkommunistischen
MinisterInnen. Dieses Manöver, das die KPTsch durch die Drohung mit einer
geplatzten Koalition zum Einlenken hätte zwingen sollen, beantwortete die
KPTsch jedoch durch organisierte Massendemonstrationen ihrer Basis, die in
einer bewaffneten Kundgebung der von ihr dominierten Gewerkschaftsmiliz am 23.
Februar gipfelten. Es wurden keine unabhängigen Organisationen der
ArbeiterInnen zugelassen, die Demonstrationen selbst verliefen in streng
begrenzten Bahnen, um auf Präsident Benes entsprechenden Druck auszuüben. Als
Ergebnis dessen wurde nun die KPTsch mit der alleinigen Regierungsbildung beauftragt.
Die Wahlen im Mai wurden unter verschärfter Repression durchgeführt, mit einer
Einheitsliste an Kandidaten und Kandidatinnen und einem Dekret, dass das
Ungültig Wählen gleichbedeutend mit Verrat ist. Das Wahlergebnis bestätigte
dann auch formell den bereits vollzogenen Coup.

Die Demonstrationen und Massenkundgebungen wurden überall
dazu benutzt, den bürokratischen Umsturz in den Augen der Bevölkerung zu
legitimieren. In dieser Periode stellte der Stalinismus keine revolutionäre
ArbeiterInnenregierung dar, die unter dem Druck der Massen und mit ihrer Hilfe
entscheidende Schritte gegen die Bourgeoisie und deren Eigentum unternommen
hätte. Die Regierung war keine, die ihren Kampf auf selbstständige
Organisationen der Arbeitenden – auf demokratisch gewählte Räte und von ihnen
kontrollierte Milizen – gegründet hätte.

Stattdessen war der Umsturz das Werk einer bürokratischen
antikapitalistischen ArbeiterInnenregierung unter alleiniger Führung der
stalinistischen KP, die zuerst sichergestellt hatte, dass die ArbeiterInnenklasse
so desorganisiert und der Staatsapparat in ihren Händen so übermächtig war,
dass das Proletariat daran gehindert werden konnte, die Enteignung und
Entmachtung der Bourgeoisie selbst durchzuführen und den bürgerlichen Staat
durch die revolutionäre Diktatur des Proletariats zu ersetzen – das heißt,
durch demokratische ArbeiterInnenräte und durch eine proletarische Miliz. Eine
derartige Entwicklung hätte sowohl die Privilegien und die Autorität der
zwischen 1944 und 1947 entstandenen Bürokratenkasten in Osteuropa wie die
politische Herrschaft des Stalinismus in der UdSSR selbst in Gefahr gebracht.

Die qualitative Umwandlung dieser Gesellschaften zu einer
bürokratisch degenerierten Form der Diktatur des Proletariats fand statt, als
die Situation der Doppelmacht zu Gunsten der StalinistInnen aufgelöst wurde und
bürokratisch antikapitalistische ArbeiterInnenregierungen von ihnen gebildet
wurden, um die Bourgeoisie im wirtschaftlichen Bereich zu enteignen und als
soziale Klasse zu zerstören, und als sie daran gingen, das Wirken des
Grundgesetzes jeder kapitalistischen Wirtschaft – des Wertgesetzes –
einzuschränken und aufzuheben und die nunmehr verstaatlichte Wirtschaft auf der
Grundlage eines zentralen Wirtschaftsplanes, wenn auch auf bürokratisch
entstellte, despotische Weise, zu organisieren.

Der entscheidende qualitative Umbruch fand also statt, als
die StalinistInnen ihre Machtpositionen in dem von ihnen selbst nach 1945
re-etablierten bürgerlichen Staat nutzten, um einen degenerierten ArbeiterInnenstaat
zu errichten. Nicht der Abschluss dieser Aufgaben, die Etablierung von
Fünfjahresplänen usw., sondern deren entschlossene Inangriffnahme durch die
bürokratischen antikapitalistischen ArbeiterInnenregierungen markiert den
qualitativen Wendepunkt. (35) Die Funktion des Staatsapparates wandelte sich.
Er wurde zu diesem Zweck von den ParteigängerInnen der Bourgeoisie gesäubert –
er blieb seiner Form nach jedoch trotzdem ein bürgerlicher Staat.

Die Charakterisierung der russischen Räterepublik nach 1917
als ArbeiterInnenstaat gründet auf der Tatsache, dass die Staatsmacht in den
Händen der ArbeiterInnenklasse lag, die sich als herrschende Klasse mit ihren
eigenen Machtorganen – Räten und Milizen – organisiert hatte. Dieses Faktum der
subjektiven Machtergreifung des Proletariats ging der Verstaatlichung der
Industrie und der Einführung der Planwirtschaft voraus.

In Osteuropa dagegen wurden ArbeiterInnenstaaten als Produkt
der Außenpolitik der Sowjetbürokratie errichtet – sie waren daher von Geburt an
bereits bürokratisch degeneriert. Der bürgerliche Staat wurde bei der
Transformation zum degenerierten ArbeiterInnenstaat nicht zerschlagen, nicht
zerbrochen, sondern von der neuen herrschenden Kaste in Besitz genommen und
ihren Bedürfnissen entsprechend umgeformt.

Vom ersten Tag ihres Entstehens an war eine politische
Revolution – also der Sturz der nun an die politische Macht gelangten
Bürokratenkaste – für die Arbeitenden dieser Länder die unabdingbare
Vorbedingung zur Eroberung der direkten Macht für die unmittelbaren
ProduzentInnen (die ArbeiterInnen und die Bauern-/Bäuerinnenschaft) in diesen
nachkapitalistischen Gesellschaften.

Die ökonomische Transformation findet in den osteuropäischen
Ländern mit der Einführung der Fünfjahrespläne ihren Abschluss: 1948 in
Bulgarien, 1949 in der Tschechoslowakei, 1950 in Polen und Ungarn, 1951 in der
DDR und in Rumänien.

Wo immer sie auch stattfinden und welche Form sie annehmen
mögen, die bürokratischen Revolutionen des Stalinismus tragen einen zutiefst
konterrevolutionären Charakter. Doch warum konterrevolutionär, wenn sie doch
fähig waren, die eigene Bourgeoisie zu stürzen und den Kapitalismus zu
überwinden?

Aus einer Reihe entscheidender Gründe, deren ganze Bedeutung
heute, da sich der Stalinismus in seiner Todeskrise befindet, in vollem Umfang
sichtbar wird:

  • Diese Revolutionen werden gegen das vorherrschende Bewusstsein des Großteils der ArbeiterInnenklasse durchgeführt.
  • Sie fanden auf der Grundlage einer durch die bürokratische Unterdrückung beschränkten oder verhinderten Selbsttätigkeit der ArbeiterInnenklasse statt und machten daher Begriffe wie „Revolution“, „Sozialismus“, „ArbeiterInnenstaat“ und „Planwirtschaft“ in den Augen der unterdrückten Massen unglaubwürdig.
  • Sie verzögerten und erschwerten die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins in der internationalen ArbeiterInnenklasse.
  • Sie schafften einen von Anbeginn an bürokratischen Staat, in dem die ArbeiterInnenklasse politisch entmachtet und entmündigt war.

Diese bürokratischen Regime waren ein Hindernis auf dem Weg
der internationalen ArbeiterInnenklasse bei ihrem Kampf zum Sturz des
Kapitalismus. Die von der stalinistischen Bürokratie im Verlauf des
gesellschaftlichen Umsturzes angewandten Maßnahmen (Enteignung der Bourgeoisie,
Verstaatlichung der Produktionsmittel, Landreform, Bruch mit dem Imperialismus
…) waren zwar ihrem Wesen nach revolutionär, wurden aber allein durch
militärisch-bürokratische Zwangsmaßnahmen durchgesetzt. Dies bedeutete, dass im
Verlauf einer derartigen bürokratischen Revolution eine unabhängige, wirklich
revolutionäre Partei darum kämpfen musste, diesen Umsturz zu einem Kampf um die
direkte Machteroberung durch das Proletariat zuzuspitzen – zur endgültigen
Niederwerfung der Bourgeoisie und zum Sturz der ihr an der Staatsmacht
nachrückenden Bürokratenkaste!

Endnoten

(1) L. Trotzki, Europa und Amerika, intarlit, Berlin 1972.

(2) Für eine Auswahl der hellsichtigsten Gedanken zu diesem
Thema: „Uneven and combined development and the role of American Imperialism“,
in: Trotzki: Writings 1933/1934, New York 1975, S. 116–120, März 1933; „Hitler
and Disarmament“, ebd., S.
246–257, Juni 1933; „Hitler’s Victory“, ebd., S. 133-137, März 1933;
„Hitler the Pacifist“, ebd., S. 144-148, November 1933. Alle diese Artikel
zeigen ein tiefes Verstehen der zentralen Strategie Hitlers in Europa bei
seinem Kampf gegen den Versailler Vertrag und gegen die Sowjetunion und
vermitteln einen ebenso ausgezeichneten Einblick in die diplomatischen und
militärischen Manöver, die Hitler zur Erreichung seines Zieles anwenden musste.
Die vielleicht genaueste Einschätzung der Geschwindigkeit und der
Frontstellungen des heraufziehenden Krieges kann jedoch in „On the Threshold of
a New World War“ (ders.: Writings 1936/1937, New York 1978, S. 379–396) gefunden
werden. Trotzki sagte nicht nur den Hitler-Stalin-Pakt nach dem Untergang der
Tschechoslowakei voraus, sondern auch die Unvermeidlichkeit eines Krieges
zwischen Nazi-Deutschland und der UdSSR – gerade wegen des Paktes.

(3) In jedem der Fälle wird der Krieg zu Stalins Sturz führen (Trotzki). Je nachdem, welche Schriften Trotzkis man liest, kann man eindeutige oder vorsichtigere Urteile über die „Unvermeidlichkeit“ dessen finden. Zum ersteren: „War and the Fourth International“ (Trotzki: Writings 1933/1934, New York 1975, S. 316/317), oder die zahllosen kürzeren Passagen zum Thema siehe: „Kremlin’s Role in the European Catastrophe“ (ders.: Writings 1939/1940, New York 1973, S. 290/291). Hinsichtlich einer vorsichtigeren, mehr abwägenden Einschätzung siehe: „The USSR in War“, in: „Defence of Marxism“, New York 1973: „Der Krieg beschleunigt die verschiedenen politischen Prozesse. Er mag den Prozess der revolutionären Regeneration der UdSSR beschleunigen. Aber er kann auch den Prozess ihrer endgültigen Degeneration beschleunigen.“ (S. 21). Es mag banal klingen, aber gegenüber jenen, die diese Prognose als Beweis für Trotzkis einseitigen „Katastrophismus“ genommen haben, muss betont werden, dass Trotzki diese Fragen immer unter dem Blickwinkel des Programms, das heißt, unter der Notwendigkeit, seinen Anhängerinnen und Anhängern die zentralen Thesen des Konfliktes deutlich zu machen, um ihre Aktivität zur Erlangung des erwünschten Zieles entsprechend orientieren zu können, gesehen hat.

(4) Zitiert nach Y. Gluckstein, „Stalin’s Satellites in
Europe“, London 1952. Das Leitungsmitglied der Vierten Internationale E.
Germain bemerkte ebenso die weit verbreiteten Kundgebungen und Streiks in
Rumänien und Bulgarien im Herbst 1944. Siehe dazu: „The Soviet Union after the War“, September 1946, S. 7 in:
„Internal Bulletin of the IS of the Fl“.

(5) Zitiert
aus: J. Bloomfield: „Passive Revolution“, London 1979, S. 50/51.

(6) Als einen dieser Zeugen: E. Mortimer: „Über Frankreich“, in: „Communist Power in Europe 1944–1949“,  Ed. Mc Cauley, London 1977, S. 151–153. Er schlussfolgert, dass 1944 der günstigste Augenblick für einen Aufstand war. In Italien fand die endgültige Niederlage der deutschen Truppen 1945 statt und sie war ebenfalls von Massenstreiks der ArbeiterInnen begleitet. Allum und Sassoon zeigen im oben genannten Werk auf, dass es in Norditalien keine Fabrik – und in Mittelitalien nur wenige – gegeben hat, deren Belegschaften nicht bewaffnet gewesen wären. Churchill fasste die Probleme, denen sich der Imperialismus damals gegenübersah, in einem Brief an seinen Sekretär für Äußeres, Eden, vom November 1944 dermaßen zusammen: „Jedes Land, das befreit wird oder durch unsere Siege eine Veränderung erfährt, ist vom Kommunismus infiziert – und nur unser Einfluss auf Russland hindert es, diese Bewegung aktiv zu fördern.“ (zitiert aus: Douglas: „From War to Cold War 1942–1948“, London 1981, S. 61).

(7) Zitiert nach: E.. Germain, a. a. O., S.2/3, und D. Yergin: „Shattered
Peace“, Harmondsworth 1980, S. 64.

(8) E. Germain, a. a. O., S. 55.

(9) Zitiert bei Yergin, a. a. O., S. 55.

(10) Zitiert: ebd. S. 473.

(11) Ebd.,
S. 58.

(12) Ebd., S.
91.

(13) Ebd., S. 120.

(14) Trotzki erkannte dies erstmals bei seiner Analyse der sowjetischen Invasion Polens 1939 an: „Dieser Umsturz wurde der Kreml-Oligarchie durch ihren Kampf um Selbsterhaltung unter besonderen Bedingungen aufgezwungen. Es gab nicht den leisesten Grund zur Annahme, dass unter ähnlich gearteten Bedingungen sie gezwungen wäre, genau die gleiche Operation in Finnland auszuführen.“ (Trotzki: „In Defence of Marxism“, a. a. O., S. 175).

(15) Siehe: Germain, a. a. O., S. 7; C. Georges: „Russian Economic Policy in
Eastern Europe“, in: SWP(US), Internal Bulletin Nr. 13/8, S. 10; L. Schwartz:
„USSR and Stalinism“, in: International Information Bulletin, SWP(US), Bd. 1,
Nr. 2; C. Harman; „Bureaucracy and Revolution in Eastern Europe“, London 1974,
S. 49–53.

(16) Zitiert bei: Harman, a. a. O., S. 31.

(17) P. Zinner gibt in „Revolution in Hungary“, New York
1952, aufschlussreiche Details über die an ihre EigentümerInnen
zurückerstatteten Fabriken. Ebenso bei: Schwartz, Germain und Harman. In
Rumänien erließ der kommunistische Justizminister Patranascu ein eigenes
Gesetz, das Industriellen, Bankiers und Geschäftsleuten ermöglichte, einer
Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen zu entgehen.

(18) zitiert bei: Bloomfield, a. a. O., Kap. 6.

(19) Zitiert ebd., S. 89.

(20) Bei: Schwartz, a. a. O., S. 32/33.

(21) Zitiert bei: Harman, a. a. O.. S. 35.

(22) L.
Trotzki: „History oft the Russian Revolution“, London 1977, S. 225.

(23) Die Rote Armee erreichte ihre größte Mannschaftsstärke
im Mai 1945, zum Zeitpunkt der Kapitulation des Deutschen Reiches und am
Höhepunkt der eigenständigen Mobilisierungen des Proletariats und der
Bauern-/Bäuerinnenschaft; ihre Truppenstärke betrug damals die gewaltige Zahl
von 11.365.000. Bereits im Juni begann jedoch die Demobilisierung der Soldaten.
Anfang 1948 wurde die Rote Armee dann auf 2.874.000 geschätzt – noch immer
doppelt so viel wie die Truppenpräsenz der imperialistischen Staaten in Europa.
Die Rolle der sowjetischen Truppen in den osteuropäischen Ländern war von Land
zu Land verschieden. Im Fall der Tschechoslowakei z. B. schätzte der
britische Geheimdienst die Anzahl der sowjetischen Soldaten im Jahr 1946 auf
5.000. Zum Zeitpunkt des „Prager Putsches“ nahm die amerikanische CIA überhaupt
nur eine Truppenstärke von 500 russischen Soldaten für gesichert an! Die Stärke
des einheimischen Stalinismus ermöglichte also in diesem Fall den Aufbau einer
eigenen ausreichenden Repressionsmaschinerie, was sonst nicht überall möglich
war. Der Repressionsapparat in Polen etwa war stark von der Präsenz der Roten
Armee – und mehr noch des NKWD – abhängig. Letzterer war besonders berüchtigt;
ihm war vom prostalinistischen „Komitee der Nationalen Befreiung“, der von
Stalin eingesetzten Lubliner Provisorischen Regierung, die volle Kontrolle über
die zivile Sicherheit im Hinterland der Roten Armee zugestanden worden. Siehe
dazu: Mc Cauley, a. a. O., S. 270, und Yergin, a. a. O., S.270–348.

(24) J.
Degras: „The Communist International 1919–1943“, London 1971, Bd. 1, S. 427.

(25) L.
Trotzki: „On France“, New York 1979, S. 193.

(26) Ebd.,
S. 201.

(27)
Degras, a. a. O.. S. 427.

(28) L.
Trotzki: „The History of the Russian Revolution“, a. a. O., S. 231.

(29) L.
Trotzki: „In Defence of Marxism“,a. a. O., S. 18.

(30)
Yergin, a. a. O., S. 303–310.

(31) Zitiert bei: Douglas, a. a. O., S. 153.

(32) Siehe: Harman, a. a. O., S. 36, und Mc Cauley, a. a. O., S. 192.

(33) Siehe: Harman, a. a. O., S. 54.

(34) Zu den relevanten Passagen: L. Trotzki: „In Defence of
Marxism“, a. a. O., S. 8–20, 26–29, 56–59, 81–90, 130–137, 170–178.

(35) An dieser Stelle korrigieren wir unsere bisherige
Analyse, die die Einführung der Fünfjahrespläne zum entscheidenden Kriterium
für die Schaffung des degenerierten ArbeiterInnenstaates machte. Das
entscheidende Kriterium für die Charakterisierung eines Landes als
degenerierter ArbeiterInnenstaat ist nicht einfach die Frage, welche
Eigentumsverhältnisse vorherrschen, sondern welche Eigentumsverhältnisse die
Staatsgewalt verteidigt, d. h. zu reproduzieren oder etablieren trachtet.
Ansonsten hat sich aber unsere Analyse der Expansion des Stalinismus nach 1945
gerade im Lichte seines Untergangs als überaus treffend erwiesen.




Der Zusammenbruch des Stalinismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2001)

„In Wirklichkeit könnte der Kapitalismus – wenn das überhaupt möglich wäre – nur mit Hilfe eines grausamen konterrevolutionären Umsturzes in Russland wiedererstehen, der zehnmal soviel Opfer fordern würde wie die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg zusammen.“ (1)

Trotzkis Prognose ist offensichtlich nicht eingetroffen. Die
stalinistischen Bürokratien sind in den meisten Ländern nicht durch eine
blutige Konterrevolution von der Herrschaft verjagt worden. Vielmehr ist die
herrschende Kaste selbst ins Lager der sozialen Konterrevolution übergegangen.
Sie spaltete sich und ihr Gros suchte ihr Heil im Bündnis mit bürgerlichen und
kleinbürgerlichen Kräften im Inneren oder mit dem Imperialismus.

Doch warum trat Trotzkis Prognose nicht ein? Erstens hatte
die bürokratische Herrschaft die ökonomischen Grundlagen ihres Regimes
erschöpft. Für eine gewisse Periode war es ihr möglich gewesen, die Potenzen
der Planwirtschaft zum eigenen Machterhalt zu nutzen. Doch diese waren
spätestens in den 1980er Jahren erschöpft. Die Unhaltbarkeit der bürokratischen
Diktatur, ihre Rolle als wirtschaftliche und politische Totengräberin des
(degenerierten) ArbeiterInnenstaates kam dann voll zur Geltung.

Zweitens erwies sich, dass die bürgerliche Form des
Staatsapparates im degenerierten ArbeiterInnenstaat mit den Aufgaben der
herrschenden Klasse kompatibel, vereinbar war. Hier musste nichts „zerschlagen“
werden. Es reichten eine Auswechslung mancher Spitzenfunktionärinnen und die
Umstrukturierung des Apparats. Nur in der DDR wurde der staatliche Apparat
zerstört. Doch der Grund dafür lag nicht in einer anderen Qualität dessen,
sondern in der Existenz der BRD. Es existierte hier bereits ein
imperialistischer Staatsapparat, große Teile des DDR-Staatsapparates waren
einfach überflüssig.

Drittens hatte die bürokratische Herrschaft die ArbeiterInnenklasse
politisch atomisiert, entmündigt. Das Proletariat betrachtete „seinen Staat“
immer weniger, schließlich gar nicht mehr als den seinen. Die ArbeiterInnen
wollten (zumindest zu großen Teilen) die Bürokratie stürzen – und wirkten auch
aktiv an deren Sturz mit –, aber sie hatten gleichzeitig die Hoffnung in eine
andere Gesellschaft verloren. Der „real existierende Sozialismus“ war für sie
zu einer real existierenden Katastrophe geworden. Sie waren am Beginn
keineswegs bewusst für die Wiedereinführung der Marktwirtschaft und hatten auch
keine klare politische Zielvorstellung. Sie wussten aber, was sie – zu Recht –
nicht wollten: die Fortdauer der bürokratischen Herrschaft.

Schließlich war die Existenz des stalinistischen
Übergangsregimes als Juniorpartner in einer weiterhin vom Imperialismus
dominierten Weltordnung in seinen wechselnden Formen von „Kaltem Krieg“ und „friedlicher
Koexistenz“ auf Dauer unmöglich. Die Stagnation der bürokratischen Herrschaft
stand den gewaltigen dynamischen Potenzen der kapitalistischen Welt gegenüber.
Sie blieb hinter deren Wachstumsschüben zurück, um gleichzeitig von ihren
Krisen mitbetroffen zu sein. Hochrüstung und technologisches Zurückbleiben
bürdeten den sowieso schon kränkelnden Planwirtschaften ungeheure Kosten auf,
verhinderten Konzentration auf Infrastruktur- und Konsumgüterinvestitionen. Mit
den „Marktreformen“ und „Öffnungen“ stiegen Verschuldung, Abhängigkeit von
Exportmärkten und die Korruption. Es bildeten sich jene Netze von
Bürokraten-ManagerInnen, Proto-UnternehmerInnen und imperialistischen
Mittelsmännern/-frauen, die zur sozialen Grundlage der Restauration werden
sollten.

Ökonomische Ursachen des Zusammenbruchs

Der Stalinismus engte die Planwirtschaft auf die jeweiligen
Landesgrenzen ein. Er verhinderte aktiv die Ausbreitung der proletarischen
Revolution auf wirtschaftlich entwickeltere Regionen. Er schnitt die Ökonomien
der degenerierten ArbeiterInnenstaaten von den Vorteilen eines Zugangs zur
höchsten Konzentration an Produktionsmitteln und von der Integration in die
internationale Arbeitsteilung ab. Das Außenhandelsmonopol gewährt einen
unverzichtbaren Schutz für den ArbeiterInnenstaat gegen die kapitalistische
Konkurrenz und die Auswirkungen der Krisen dieses Systems. Aber das Ziel dieses
Monopols ist nicht, alle agrarischen und industriellen Sektoren, die es im Rest
der Welt gibt, innerhalb der Grenzen eines jeden ArbeiterInnenstaats
einzurichten.

Dieser Weg erwies sich als utopisch (z. B. in Nordkorea
und Albanien) und führte zu unnötigen Opfern, die von der ArbeiterInnenklasse
in diesen Ländern mit einer Planwirtschaft erbracht wurden. Nur die Ausbreitung
der sozialen Revolution in die Metropolen des Weltkapitalismus würde einen
entscheidenden Durchbruch zum Aufbau des Sozialismus und einer globalen
Planwirtschaft ermöglichen. Das beschränkte, nationalistische Programm des „Sozialismus
in einem Land“ ließ die Entwicklung der Produktivkräfte zurückbleiben – zuerst
relativ, schließlich absolut.

Gerade die Unterdrückung der ArbeiterInnendemokratie sorgte
dafür, dass der Plan der stalinistischen Bürokratie auf ungenauen, ja falschen
Informationen basieren musste und die Bedürfnisse der Gesellschaft und der
Wirtschaft ignorierte. Die bürokratische Planung erzielte in den ersten
Jahrzehnten einige Erfolge, als sie  v. a. eine Angelegenheit der
industriellen Ausweitung war. Zunehmend aber überstiegen Innovation und
ständige technologische Erneuerung die Fähigkeiten bürokratischer Planung.

Die herrschende Kaste hatte den dynamischen Stachel der
Konkurrenz abgeschafft. Sie war zugleich unfähig und nicht bereit, die
unmittelbaren ProduzentInnen mit ihrem schöpferischen Eigeninteresse am
Planungsprozess teilnehmen zu lassen. Das Ergebnis war ein unvermeidbarer Fall
der Arbeitsproduktivität und ein verheerendes Zurückbleiben hinter dem
imperialistischen Kapitalismus.

Die Bürokratie verstand es, wirtschaftliche Ressourcen für
den eigenen üppigen Konsumbedarf und zur Absicherung ihrer Tyrannei
einzusetzen. Je weiter Produktions- und Verteilungssektoren von diesen
Prioritäten entfernt waren, desto mehr wurden Mängel und schlechte
Warenqualität zur Norm. Der Militär- und Verteidigungssektor einschließlich des
riesigen Polizei- und Sicherheitsapparates genossen absoluten Vorrang, was
Ausgaben anbelangte, und arbeiteten relativ effizient.

Aber bezüglich der Konsumbedürfnisse der Massen erwiesen
sich die bürokratischen Planmechanismen als unfähig, hochwertige Güter herzustellen,
die Arbeit zuhause oder in der Produktion zu erleichtern oder zu verkürzen und
das Ausmaß und die Qualität der Freizeit zu steigern. Nach erstaunlichen
Anfangserfolgen in Erziehung und Wohlfahrt wurden selbst sie Opfer der
Stagnation bürokratischer Planung. Die Erfahrung von Versagen und Niedergang
untergrub letzten Endes national wie international selbst die Idee der
geplanten Produktion im Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse. Die bürgerliche
Propaganda konnte immer erfolgreicher die „Lehre“ verbreiten, dass dies das
notwendige Resultat aller Versuche sei, eine Wirtschaft zu planen.

Aber die stalinistische Bürokratie war und ist kein Ausdruck
der Planlogik selbst. Effektive Planung setzt die Kontrolle über die Produktion
durch den zentralisierten und bewussten Willen der ProduzentInnen selbst
voraus. Die Ziele der stalinistischen Kommandoplanung wurden durch einen
winzigen Kern von PlanerInnen abgesteckt, der wiederum von einer
bonapartistischen Clique von SpitzenbürokratInnen gegängelt wurde. Die Wirkweise
des Plans wurde wiederholt aus dem Gleichgewicht gebracht und unterbrochen
durch rivalisierende Schichten von Partei- und Wirtschaftsbürokratie. Die
atomisierten und entfremdeten Arbeitskräfte, die weder über die Planziele
entschieden noch sie verstanden, traten der Produktion zusehends mit Apathie
entgegen. Eine chronische Stagnation steuerte in den 1980er Jahren auf eine
kritische Lage zu und stürzte die herrschenden Bürokratien in immer tiefere
politische Krisen.

Von Moskau bis Peking, von Belgrad bis Hanoi war die
herrschende Kaste in einander sich befehdende Fraktionen gespalten. Alle
Versuche, ihr System durch Beimengungen von „Marktelementen“ und
„Marktsozialismus“ wiederzubeleben, waren zum Scheitern verurteilt. Diese
Maßnahmen zerrissen und desorganisierten den bürokratischen Plan, ohne ihn
durch eine wirklich kapitalistische Ökonomie zu ersetzen, zunächst in Ungarn
und Jugoslawien, am spektakulärsten dann unter Gorbatschow in der UdSSR.

Die Zersetzung und der Zusammenbruch der Produktion, ein
blühender Schwarzmarkt und Korruption, gigantische Budgetdefizite und
Unternehmensbankrotte, aufgeschoben nur durch Hyperinflation, markieren die
Todesagonie der bürokratischen Planwirtschaft.

Für die ArbeiterInnenklasse ist der Zweck der
postkapitalistischen Eigentumsverhältnisse der Übergang zu einer klassenlosen
kommunistischen Gesellschaft. Sie ermöglicht die Planung der Produktion nach
menschlichen Bedürfnissen, das Ende von Unterdrückung und die fortschreitende
Beseitigung von Ungleichheiten.

Dies zu erreichen, erfordert die aktive und bewusste
Teilnahme des Proletariats als ProduzentInnen und KonsumentInnen. Diese müssen
als unmittelbare ProduzentInnen mit in der Geschichte erstmaligem unmittelbaren
Interesse und schöpferischer Fähigkeit zur Entfaltung der Produktivkräfte
souverän sein.

ArbeiterInnenstaaten müssen einen Weg zunehmender
ökonomischer Integration und gemeinsamer Planung einschlagen, um von der
internationalen Arbeitsteilung, die auch für eine sozialistische Ökonomie
notwendig ist, den effektivsten Gebrauch zu machen. Die stalinistischen
Bürokratien waren nicht fähig, diese Vorteile zu nutzen. Tatsächlich blieben
die degenerierten ArbeiterInnenstaaten mehr und mehr hinter der
Internationalisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft zurück.

Der erste Schritt eines gesunden ArbeiterInnenstaats in
diese Richtung würde die Errichtung von gemeinsamen Planungseinrichtungen für
wichtige Branchen und gemeinsame Pläne für eine Gruppe von Staaten verbunden
mit einer gemeinsamen Währung darstellen. Ein solches System kann nur durch die
revolutionäre Aktion der ArbeiterInnenklasse, die ihre Ziele bewusst verfolgt,
umgesetzt werden.

Die stalinistischen Bürokratien sind historisch illegitime
Kasten. Von ihrer Entstehung an neigten sie zur Herausbildung von Fraktionen
und Flügeln als Antwort auf den langfristigen Druck seitens des Imperialismus
und der ArbeiterInnenklasse. In der UdSSR, in Ungarn, Jugoslawien und China
entwickelten sich Fraktionen, die allmählich dominanter wurden und den Plan
insgesamt demontieren und Preise, Löhne und Produktion durch „Marktmechanismen“
bestimmen lassen wollten.

Sie versuchten, den Soziallohn in Form subventionierter
Lebensmittel und Sozialdienste, die den ArbeiterInnen als Ergebnis der
Beseitigung des Kapitalismus zugutekamen, abzuschaffen. Diese AnwältInnen der
Dezentralisierung, des freien Marktes und der Öffnung ihrer Ökonomien für die
multinationalen Konzerne zeigten eine immer offener restaurationistische
Haltung und zweifelten nicht nur an der bürokratischen Zentralplanung, sondern
auch an der Fähigkeit ihrer Kaste, sich an der Macht zu halten.

Diese Fraktion war mit der Direktorenschicht eng verwoben
und erhoffte sich eine Etablierung als direkte AgentInnen, wenn nicht gar
Mitglieder einer neuen Kapitalistenklasse. Solche bewussten RestaurationistInnen
waren, wie die Ereignisse in der UdSSR nach 1990/91 zeigten, mit
bemerkenswerter Geschwindigkeit imstande, ihr stalinistisches Hemd gegen ein
sozialdemokratisches, liberales, christdemokratisches oder protofaschistisches
einzutauschen.

Daneben hatten die Marktreformen, die Unterhöhlung des
Außenhandelsmonopols und die Öffnung für Auslandsinvestitionen vielfältige Wege
für das Wirken des Imperialismus selbst geöffnet. Ein Großteil der
COMECON-Staaten und Jugoslawien waren in eine enorme Schuldenfalle getappt und
mussten sich mit den Forderungen und Auflagen der internationalen
Finanzinstitutionen herumschlagen. Um die Devisenprobleme zu lösen, wurde die
Exportorientierung immer stärker, bestimmte Betriebe wurden immer mehr zu
verlängerten Werkbänken imperialistischer Konzerne. Das technologische
Zurückbleiben führte umgekehrt zur Abhängigkeit von Devisen verschlingenden
Importen. Alle drei Faktoren machten die nachkapitalistischen Ökonomien
anfällig für die Industrie-, Finanz- und Konjunkturkrisen der kapitalistischen
Weltwirtschaft in den 1980er Jahren.

Neben der verstärkten Rolle imperialistischer Finanz- und
Konzernvertretungen in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten bildete sich
entlang der Marktreformen eine Schicht von GeschäftemacherInnen, KleinbürgerInnen
bzw. halblegalen oder kriminellen KapitalistInnen. Der Imperialismus nutzte
alle Schwachpunkte des Systems, um prokapitalistische Oppositionen zu bilden
oder zu fördern. So wurden insbesondere die Kirchen zu einem Zentrum für die
Sammlung von Oppositionskräften. Aber auch ehemalige Sammlungspunkte für ArbeiterInnenopposition
wie Solidarnosc in Polen konnten nach dem reaktionären Niederwalzen der ArbeiterInnenproteste
in reaktionäre, kleinbürgerlich-konterrevolutionäre Parteien umgewandelt
werden.

Ende der 1980er Jahre war in fast allen degenerierten ArbeiterInnenstaaten
eine Situation entstanden, in welcher der Spitze der krisengeschüttelten
Bürokratie eine breite Front von prokapitalistischen BürokratInnen, kleinbürgerlichen
Oppositionskräften und der verstärkte Druck des Imperialismus gegenüberstanden.

Die Rolle des Staatsapparates

Die Periode des Marktsozialismus markiert in vielen
degenerierten ArbeiterInnenstaaten die Endphase des stalinistischen Regimes.
Die Einführung von Marktmechanismen – selbst Ausdruck der Krise der
bürokratischen Misswirtschaft – blieb jedoch insgesamt den Mechanismen direkter
und indirekter Planung untergeordnet. Entgegen den Intentionen
marktwirtschaftlicher ReformerInnen vom Schlage eines Gorbatschow trugen diese
Maßnahmen nicht zur Revitalisierung der Ökonomien so unterschiedlicher Länder
wie Russland, Jugoslawien oder Ungarn bei; sie kombinierten vielmehr die
Schwächen beider Systeme, von bürokratischer Planung und eingeschränkter Konkurrenzwirtschaft.

Aber auch die weitestgehende Liberalisierung der
bürokratischen Planung, ihre immer stärker werdende Unterhöhlung waren nicht
ausreichend, um eine qualitative Transformation der Gesellschaftsordnung zu
bewirken. Sie führten jedoch dazu, dass die Bürokratie selbst immer stärker
restaurationistische Tendenzen entwickelte, dass verschiedene Flügel der
Bürokratie immer offener einen prokapitalistischen Kurs steuerten, sich mit
entstehenden kleinbürgerlichen Schichten zu verbünden suchten und selbst Geld
anhäuften, das zu einem späteren Zeitpunkt die Funktion von Kapital spielen
konnte.

Jene Teile der Bürokratie, die aufgrund ihrer Stellung in
Partei, Armee, Staatsapparat befürchten mussten, ihre Privilegien beim Übergang
zum Kapitalismus zu verlieren, gerieten auf ökonomischer Ebene in eine immer
verzweifeltere Situation. Sie hatten das Vertrauen in eine Wiederbelebung
bürokratischer Planungsmechanismen verloren. Wo die Bürokratie solche Versuche
unternommen hatte – wie in Rumänien – waren die wirtschaftlichen Resultate eher
noch desaströser als in anderen Ländern.

In China zog dieser Teil der Bürokratie aus der
Niederschlagung der Massenbewegung chinesischer ArbeiterInnen und
Mittelschichten am Tian’anmen-Platz 1989 den Schluss, dass die Einheit der
Partei – und damit die Unterordnung unter deren restaurationistischen Flügel –
das geringere Übel gegenüber einer ArbeiterInnenrevolution war.

In Russland versuchte der stalinistische Hardlinerflügel in
einem verzweifelten Aufstand gegen Gorbatschow, das Rad der Geschichte
zurückzudrehen. Der Putschversuch um Janajew, der sich in erste Linie gegen die
politischen Freiheiten, die die ArbeiterInnenklasse und die Intelligenz
Gorbatschow abgerungen hatten, richtete, endete in einer raschen und verdienten
Niederlage. Er hätte nicht zur „Rettung des ArbeiterInnenstaates“, sondern zur
brutalen Unterjochung des Proletariats geführt, „bestenfalls“ zur zeitweiligen
Restauration von Kommandoplanung und zu einem autoritären,
staatskapitalistischen Weg zum Kapitalismus.

Der von Jelzin geführte Flügel der Bürokratie ergriff die
Gunst der Stunde und übernahm die politische Macht, bemächtigte sich des
vorhandenen Staatsapparates, den er zwar von den Spitzen der PutschistInnen und
der KP säuberte, der aber insgesamt intakt blieb.

Trotzkis Einschätzung, dass sich in der Bürokratie eine
Vielzahl politischer Ausrichtungen tummeln, die im Zuge ihrer Todeskrise offen
hervortreten würden – von einer proto-faschistischen bis zur revolutionären –
bewahrheitete sich nur bedingt. Ganz eindeutig ging eine Vielzahl politischer
Tendenzen aus ihr hervor. Eine auch nur ansatzweise revolutionäre bildete sich
jedoch nicht.

Wenn wir den anti-proletarischen Charakter der Bürokratie in
Betracht ziehen, ist das auch kein Wunder. Die Bildung eines solchen Flügels war
immer nur eine Möglichkeit – und sicher eine größere in den 1930er Jahren, als
die revolutionäre Tradition der Oktoberrevolution in der Gesellschaft noch
lebendig war. Ende der 1980er Jahre war die Herrschaft der Bürokratie an einem
historischen Endpunkt angelangt, waren die ökonomischen Grundlagen ihrer
Herrschaft erschöpft. Damit war die Bildung eines linken oder gar
revolutionären Flügels sehr unwahrscheinlich geworden.

Auch in den 1930er Jahren war die Bildung eines solchen Minderheitsflügels
überhaupt kein Automatismus. Er setzte immer die Existenz einer revolutionären
Avantgarde, den Druck der revolutionären ArbeiterInnenschaft voraus. Nur so
hätte ein Teil der Bürokratie zum Proletariat „überlaufen“ können.

Dass die Bildung eines solchen Flügels keine notwendige
Entwicklung darstellen konnte, liegt aber auch an einem wichtigen sozialen
Umstand. Alle anderen politischen Optionen der Bürokratie – weitere parasitäre
Ausplünderung des ArbeiterInnenstaates als herrschende Kaste, als Dienerin
einer neuen Bourgeoisie oder die Transformation in eine neue Kapitalistenklasse
– schlossen die Beibehaltung ihrer privilegierten gesellschaftlichen Stellung
ein.

Hinzu kam, dass sich 1989–1991keine revolutionäre Strömung
im Proletariat bildete, die Massenanhang oder auch nur eine starke Verankerung
in der Avantgarde der Klasse gehabt hätte. Die politische Atomisierung des
Proletariats durch die stalinistische Diktatur hatte zur Zerstörung des
Klassenbewusstseins geführt und dessen Bildung systematisch verhindert. Darin
besteht auch eines der Hauptverbrechen des Stalinismus im geschichtlichen
Maßstab.

Die wirtschaftliche Lage führte dazu, dass die Bürokratie in
allen Ländern Osteuropas der Restauration wenig oder gar keinen Widerstand
leistete und auch kaum leisten konnte.

In Osteuropa, in der Sowjetunion und in China entstanden
Massenbewegungen gegen die bürokratische Herrschaft, die ursprünglich als
Bewegung der Reform des Systems auftraten, gleichzeitig aber mit dem
Fortbestand des alten Regimes unvereinbar waren. Eine politisch-revolutionäre
Krise entstand, die in all diesen Ländern die Frage nach der politischen Macht
objektiv aufwarf.

Die Auseinandersetzungen endeten (außer in Rumänien und – in
anderer Weise – in Jugoslawien) mit dem unblutigen, „friedlichen“ Abdanken der
Bürokratie als herrschender Kaste. Die politische Macht ging an offen
restaurationistische Regierungen über, die sich entweder aus der ehemaligen
kleinbürgerlichen Opposition oder aus der ehemaligen herrschenden Kaste oder
einer Koalition beider zusammensetzen. Es bildeten sich bürgerliche ArbeiterInnenregierungen
oder Volksfrontregierungen, die der Einführung der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse dienten. In China (1992/93) und Serbien (mit dem
Machtantritt Milosevics) vollzog sich dieser Prozess, indem innerhalb der KP
bei Beibehaltung ihres Machtmonopols der offen restaurationistische Flügel die
Macht und Kontrolle über den Staatsapparat übernahm.

Wir charakterisieren diese Länder als
bürgerlich-restaurationistische Staaten. Die Regierungsgewalt und die
Staatsmacht gingen bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Koalitionen
und der Formen – bürgerlich-demokratisch oder diktatorisch – von einer Kaste,
deren politische Herrschaft auf der Verteidigung und Reproduktion
nach-kapitalistischer Eigentumsverhältnisse beruhte, über zu den politischen
VertreterInnen einer neuen herrschenden Klasse, zu einer entstehenden
Bourgeoisie.

Wie Trotzki richtig vorhersah, folgte der Machtübernahme
durch die entstehende bürgerliche Klasse eine ganze Periode, in der die
Wirtschaft bewusst gemäß den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft
umgestaltet werden musste.

Der Staat und die Kontrolle über den Staatsapparat spielen
auch im Restaurationsprozess – ähnlich wie bei Entstehung jedes ArbeiterInnenstaates
– keine passive Rolle. Er muss bewusst und gezielt die alten ökonomischen
Verhältnisse zerstören, um die Wirkung des Wertgesetzes durchzusetzen.

Es war eine große Stärke der Analyse der LRKI in den 1990er
Jahren herauszuarbeiten, durch welche inneren Widersprüche dieser Prozess nach
Etablierung restaurationistischer Regierungen gehen musste und welche
notwendigen ökonomischen Maßnahmen in dessen Verlauf dazu ergriffen werden
mussten.

Eine weitere Stärke unserer Analyse bestand in der Erkenntnis,
dass die Inbesitznahme des Staatsapparates durch diese Regierungen relativ
problemlos vonstattenging, dass der stalinistische Apparat i. W. auch zur
Erfüllung der Ziele der neuen bürgerlichen Regierungen diente. Was noch
wichtiger ist: Wir konnten diese Tatsache auch erklären, weil wir klar erkannt
hatten, dass der Staatsapparat in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten von
bürgerlichem Typus war. Dieser stellte nicht nur ein Hindernis auf dem Weg zum
Sozialismus dar; er war gleichzeitig auch kompatibel mit der Umsetzung der
politischen Ziele der Restauration, sobald sich eine solche politische Kraft
seiner bemächtigte.

Wir konnten dieses Phänomen in ganz Osteuropa erleben. Der
Staatsapparat wurde nicht zerschlagen, er wurde nur gesäubert. Die neuen restaurationistischen
Regime nahmen ihn in Besitz – als Instrument zur Umwandlung der
Eigentumsverhältnisse.

Trotzki hatte eine solche Entwicklung durchaus
vorausgesehen. In der „Verratenen Revolution“ legt er dar, dass der Sturz der
Bürokratie mit einer schonungslosen Säuberung des Staatsapparates einhergehen
muss. Auf wirtschaftlichem Gebiet würde die politische Revolution jedoch den
Charakter einer tiefgreifenden Reform haben.

Anders die soziale Konterrevolution. Sie müsste auf dem
Gebiet der Wirtschaft nicht einfach Reformen durchführen, sondern einen
fundamentalen konterrevolutionären Umsturz zur Wiederherstellung des
Privateigentums an den Produktionsmitteln herbeiführen. In der herrschenden
Bürokratie würde eine bürgerliche Partei dagegen „nicht wenige willfährige
DienerInnen“ finden.

„Eine Säuberung des Staatsapparates wäre auch in diesem Fall erforderlich, doch hätte die bürgerliche Restauration wahrscheinlich weniger Leute zu entfernen als eine revolutionäre Partei.“ (2)

Eine notwendige Korrektur

Hatte die LRKI auch die Widersprüchlichkeit dieses Systems
des Übergangs erkannt, hatte sie auch den Staatstyp im stalinistischen System
richtig charakterisiert und damit ein Mittel zum marxistischen Verständnis der
friedlichen Restauration des Kapitalismus zur Hand, so hatte sie jedoch in den
frühen 1990er Jahren einen schweren theoretischen Fehler gemacht, der mit der
marxistischen Staatstheorie wenig gemein hatte und der sich zu einem
gravierenden politischen Manko hätte entwickeln können.

Um den widersprüchlichen Prozess der Re-Etablierung des
Kapitalismus zu charakterisieren, haben wir die Phase von der Machtergreifung
offen restaurationischer Regierungen bis zum Sieg des Wertgesetzes als
vorherrschenden Regulator des Wirtschaftslebens als „moribunden ArbeiterInnenstaat“
bezeichnet.

Auf den ersten Blick hatte diese Charakterisierung mehrere
Vorzüge. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass die Aufmerksamkeit von
RevolutionärInnen auf die ökonomischen Verteidigungsaufgaben der ArbeiterInnenklasse,
den Kampf gegen Privatisierungen, Massenentlassungen usw. nach Machtübernahme
der RestaurationistInnen gelenkt wurde. Sie schärfte auch den Blick für die
inneren Widersprüche dieses Prozesses, dem fast alle anderen internationalen
Strömungen des Trotzkismus kaum Aufmerksamkeit schenkten.

Der entscheidende Fehler dieser Charakterisierung ist
jedoch, dass sie von einer mechanischen Sichtweise des Übergangs zwischen
Gesellschaftsformationen bestimmt war. Der Klassencharakter eines Staates wird
aber gerade in der Übergangsphase nicht durch die „momentan“ vorherrschenden
Eigentumsverhältnisse charakterisiert; entscheidend ist, welche
Eigentumsverhältnisse er verteidigt oder zu installieren versucht. Dies ist
nicht eine Frage des „Willens“ – was also die AgentInnen des Staatsapparates
gerade „durchsetzen wollen“ – sondern eine der Klassenverhältnisse in Bezug auf
Staat und Ökonomie. Die Klassenkräfte für einen Sturz der bürokratischen Kaste
zum Zweck der bewussten Restauration des Kapitalismus waren durch die Krise der
bürokratischen Herrschaft und die Atomisierung der ArbeiterInnenklasse in
ausreichender Stärke vorhanden – so ausreichend, dass sie auf der politischen
Ebene spätestens 1989 in verschiedensten Formen die Krise zur Hervorbringung
von Doppelmachtsituationen vorantreiben konnten. Diese Klassenkräfte
repräsentierten besonders durch ihre Verbundenheit mit dem Imperialismus, aber
auch durch die Ansätze einer einheimischen Kapitalistenklasse, eindeutig die
Bourgeoisie, die um die Errichtung bürgerlicher Eigentumsverhältnisse kämpfte.

Entscheidend ist nicht, ob diese bürgerlichen Kräfte ihr
Ziel „mit einem Schlag“ oder doch nur durch einen „langwierigen“
Restaurationsprozess durchsetzen konnten. Entscheidend ist vielmehr, dass ihre
Machtergreifung einen entscheidenden qualitativen Sprung in der Entwicklung
darstellte. Von da an war die Spitze des Staatsapparates kein, wenn auch noch
so unbewusstes und durch Marktideologie zersetztes, Hindernis für die
kapitalistische Restauration, sondern die entscheidende, vorantreibende Agentur
derselben. Auch wenn daher die Ökonomie weiterhin nicht durch das Wertgesetz
und das schrankenlose Funktionieren des Kapitalkreislaufes bestimmt war, so war
die Entwicklung seit diesem qualitativen Sprung auf einer schiefen Ebene hin
zur Beseitigung der noch existierenden Hemmnisse – etwas, das nicht mehr durch
den „passiven Widerstand“ der bürokratischen Trägheit hätte aufgehalten werden
können, sondern nur durch eine bewusste soziale Revolution zur Beseitigung der
restaurativen Maßnahmen.

Die Theorie der „moribunden ArbeiterInnenstaaten“ hatte
daher höchst problematische Seiten. Vor allem missachtete sie die dialektische
Sicht des Marxismus, dass die Übergangsperiode von einer Klassengesellschaft
zur anderen oft durch einen Widerspruch zwischen politischer und ökonomischer
Form gekennzeichnet ist. Diese wurde durch ein einfaches, mechanisches
Verhältnis ersetzt. Solange das Wertgesetz nicht dominiere, solange es nicht
vorherrsche, hätten wir es unabhängig davon, welche Klasse politisch herrscht,
mit einem ArbeiterInnenstaat zu tun.

Dagegen bemerkte Trotzki: „Weiß die Geschichte nicht von Fällen des Klassenkonflikts zwischen Ökonomie und Staat? Aber natürlich! Nachdem der ‚Dritte Stand‘ die Macht ergriffen hatte, blieb die Ökonomie noch für eine Phase von mehreren Jahren feudal. In den ersten Monaten der Sowjetwirtschaft regierte das Proletariat auf der Basis einer bürgerlichen Ökonomie. Im Bereich der Landwirtschaft operierte die Diktatur des Proletariats jahrelang auf der Basis einer kleinbürgerlichen Wirtschaft.“ (3)

Uns war klar, dass dieser „ArbeiterInnenstaat“ (also der
Staatsapparat, die Regierung usw.) in seiner „moribunden“ Phase die
proletarischen Eigentumsverhältnisse nicht mehr, nicht einmal auf bürokratische
Weise verteidigt. Daraus zogen wir nicht den naheliegenden Schluss, dass die
Staatsmacht, das Gewaltmonopol in die Hände einer anderen Klasse übergegangen
ist, die bewusst daran geht, die ökonomischen Verhältnisse ihrer Herrschaft
anzupassen.

Vielmehr gingen wir davon aus, dass der ArbeiterInnenstaat –
diesmal als Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden – solange
ein proletarischer Staat wäre, wie auf ökonomischer Ebene das Wertgesetz nicht
dominiere.

Wir hatten also einen ArbeiterInnenstaat, eine bürokratisch
degenerierte Form der Übergangsgesellschaft „erfunden“, in der die politische
Macht nicht in Händen einer gesellschaftlichen Kraft lag, die die soziale
Herrschaft der ArbeiterInnenklasse (und sei es in der entarteten Form der
politischen Herrschaft der Bürokratie) verteidigt.

Diesen schweren theoretischen Fehler konnten wir auf dem
letzten Kongress der LRKI (2000) überwinden. Die politische Entwicklung der
1990er Jahre war glücklicherweise in keinen Situationen gemündet, wo dieser
theoretische Fehler in einen politischen umgeschlagen wäre. Das hätte
allerdings zu einer programmatischen Kuriosität unsererseits geführt.

Mit dem moribunden ArbeiterInnenstaat hatten wir eine Form
der proletarischen Diktatur vor uns, die wir nicht gegen den Imperialismus
verteidigen würden, weil es eine bürokratisch degenerierte Form der Herrschaft
der ArbeiterInnenklasse ist, sondern weil ein Sieg des Imperialismus drohen
würde, eine solches Land zu einer Halbkolonie werden zu lassen.

Dieser Beschluss liest sich nicht nur schlecht, er ist der
sprachliche Ausdruck einer politischen Unklarheit. Im Grunde bemerkte er, dass
der moribunde ArbeiterInnenstaat bereits ein bürgerlicher Staat war – aber er
erkannte das auf einer ganz und gar widersprüchlichen theoretischen Grundlage
an. Die bewaffneten Organe dieses Staates waren in keiner Weise mehr die eines ArbeiterInnenstaates.
Sie hatten in allen kritischen Momenten gezeigt, dass ihre Spitze treu zu den
bürgerlichen RestaurationistInnen stand, gegen „stalinistische AbenteurerInnen“
(siehe die Moskauer Putschversuche) ebenso wie gegen „abtrünnige“ nationale
Minderheiten (siehe Tschetschenien-, Balkan-Kriege etc.). Damit ist auch klar,
dass die Armeen solcher Staaten keine andere Rolle mehr spielen können als jene
jedes anderen bürgerlichen Staates. Jede Grundlage für einen revolutionären
Defensismus gegenüber ArbeiterInnenstaaten-Armeen fällt weg, da es sich nur
noch um das unzweideutige bewaffnete Instrument einer konterrevolutionären
Bourgeoisie handelt. Die Frage des Defaitismus gegenüber dem eigenen
Imperialismus, der durch bewaffnete Intervention in den Restaurationsprozess
eingreift (z. B. Ex-Jugoslawien) ist völlig unabhängig von einem nicht
mehr vorhandenen „ArbeiterInnenstaats“-Charakter dieser Länder, sondern ergibt
sich rein aus dem Charakter des imperialistischen Krieges um neue, potentielle
Halbkolonien.

Die falsche Theorie des moribunden ArbeiterInnenstaates
hatte keine negativen programmatischen Folgen und konnte korrigiert werden. Wir
müssen aber klar sehen, dass die LRKI hier an einem schweren politischen Fehler
vorbeigeschrammt war. Das zeigte sich auch in der Titulierung der
Aktionsprogramme dieser Zeit. Sie trugen im Grunde alle den Charakter von
Programmen der sozialen Revolution, des Sturzes einer neuen oder neu
entstehenden Kapitalistenklasse.

Da wir jedoch die bürgerlich restaurationistischen Staaten
als „ArbeiterInnenstaaten” verkannten, trugen unsere Programme den Unter- oder
Nebentitel eines Programms der „kombinierten“ politischen und sozialen
Revolution, eines Programms, das stillschweigend anerkannte, dass die
proletarische Revolution nicht mehr die Herrschaft einer Kaste, sondern die
einer Klasse stürzen musste – freilich ohne diese Tatsache klar auszusprechen.

Die ArbeiterInnenklasse

Bisher haben wir die Frage nach der Möglichkeit eines
friedlichen Übergangs vom degenerierten ArbeiterInnenstaat zum Kapitalismus in
erster Linie mit einem Blick auf ihre ökonomischen Voraussetzungen, die
herrschende Bürokratenkaste und die Form des Staatsapparates betrachtet.

Dass die Restauration des Kapitalismus ohne Bürgerkrieg,
Aufstand, oft ohne Blutvergießen vollzogen wurde, war nur möglich, weil die
große Mehrheit der Gesellschaft, die ArbeiterInnenklasse, nicht versuchte, ihre
eigene soziale und politische Herrschaft zu etablieren, weil das Proletariat
die Todeskrise der Herrschaft der Bürokratie nicht zur eigenen Machtergreifung
zu nutzen trachtete.

Trotzki ging in den 1930er Jahren davon aus, dass die ArbeiterInnenklasse
ihren Staat, Sowjetrussland, gegen den Imperialismus verteidigen würde. Es ist
kein Zufall, dass er dabei eine faschistische oder bonapartistische politische
Form der sozialen Konterrevolution vor Augen hatte, eine bürgerliche unverhüllte
Diktatur. Die Vierte Internationale stellte – damals völlig zu Recht – einen
engen Zusammenhang zwischen dem imperialistischen Krieg und der drohenden
sozialen Konterrevolution in der Sowjetunion als Folge einer militärischen
Niederlage gegen den Faschismus her.

Beim Zusammenbruch der stalinistischen Regime hatten wir es
jedoch mit einer ganz anderen Situation zu tun. Natürlich hatten der
Rüstungswettlauf wie die ökonomische Penetration der degenerierten ArbeiterInnenstaaten
zur Erschütterung der Planwirtschaften beigetragen. Vor allem aber hatte die
stalinistische Herrschaft die revolutionäre Klasse „ihrem“ degenerierten ArbeiterInnenstaat
gegenüber entfremdet.

Die blutige Niederschlagung politisch-revolutionärer
Aufstände und proletarischer Massenbewegungen hatte im Proletariat die Hoffnung
auf eine Reform des „real existierenden Sozialismus” mehr und mehr gebrochen.
Ab Anfang der 1980er Jahre erwies sich für die ArbeiterInnenklasse nicht nur
der Mangel an politischen Rechten als erdrückend – als ProduzentInnen des
gesellschaftlichen Reichtums erlebten sie den ökonomischen Niedergang tagtäglich.

Die Massenbewegungen zum Sturz der stalinistischen
Bürokratien begannen zwar als Bewegungen für politische und demokratische
Rechte, sie fanden aber auf dem Boden einer strukturellen ökonomischen Krise
statt. In Osteuropa und der UdSSR nahm das die Form wirtschaftlichen
Niedergangs und einer zumindest relativen Verschlechterung der
Konsummöglichkeiten des Proletariats an. In China wuchs die Wirtschaft zwar
stark, aber auf Grundlage enormer gesellschaftlicher Polarisierung und der
Verschlechterung der Lebensbedingungen hunderter Millionen Arbeiter und
Arbeiterinnen.

Die politische Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse hatte
zu einer politischen Perspektivlosigkeit und Atomisierung geführt. Die
arbeitenden Massen stellten zwar zahlenmäßig den Großteil der DemonstrantInnen
und AktivistInnen gegen das Regime, die politische Führung lag jedoch bei
kleinbürgerlichen Oppositionskräften, ja musste aufgrund des Fehlens einer
genuin proletarischen Führung bei diesen liegen.

Die politische Unterdrückung hatte gleichzeitig auch dazu
geführt, dass das Proletariat große Illusionen in die bürgerliche Demokratie
entwickelte. Diese Konstellation war ein enormer Trumpf für die kapitalistische
Konterrevolution im Inneren und den Imperialismus. Die Etablierung restaurationistischer
Regime nahm in der Mehrzahl der Fälle eine bürgerlich-demokratische Form an.

Dass die Arbeiter und Arbeiterinnen in der formalen
Demokratie des bürgerlichen Parlamentarismus, in der Verwirklichung einfacher
demokratischer Rechte einen enormen Fortschritt sahen, ja sehen konnten, war
eine Frucht der stalinistischen Diktatur. Die Bürokratie hatte die
Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie nicht aufgehoben (und konnte das
auch nicht, ohne ihre Herrschaft zu unterminieren), sie hatte sie einfach
abgeschafft und/oder durch deren zweitklassige Imitationen – siehe die Wahlen
zur Volkskammer in der DDR – ersetzt.

Das Programm gegen die kapitalistische Restauration

Die Überlebtheit der bürokratischen Planwirtschaft, die
Zersetzung der sozialen Grundlagen der bürokratischen Diktatur führten dazu,
dass die herrschende Kaste in Osteuropa rasch abdankte. Zweifellos war die
Tatsache, dass in vielen Ländern die sowjetische Armee einen wesentlichen Teil
des staatlichen Repressions- und Unterdrückungsapparats stellte, ein Faktor,
der die stalinistischen „HardlinerInnen“ von einer bewaffneten Verteidigung des
Machtmonopols Abstand nehmen ließ, sobald Gorbatschow und die sowjetische
Bürokratie erklärt hatten, dass sie sich politischen Reformen nicht entgegenstellen
würden.

Die kampflose Kapitulation der Bürokratie führte auch dazu,
dass proletarische Kampforgane in den Betrieben, räteähnliche Organe wie die
Fabrikkomitees, die sich 1981 in Polen gegen die stalinistische Diktatur
gebildet hatten, 1989/1990 nicht entstanden. In einigen Betrieben kam es zwar
zur Bildung von gewählten und jederzeit abwählbaren neuen „Betriebsräten“ und
Komitees, doch diese waren Ausnahmeerscheinungen, hatten in der Regel keine
Funktion als Kampforgane über das Unternehmen hinaus und waren in keinem Moment
über den Betrieb hinaus zentralisiert.

Die Bildung solcher Organe hätte zwar nicht das Bewusstsein
automatisch geändert. Sie hätte aber wichtige Stützpunkte proletarischer Macht
geschaffen, Organe der Aktion, in denen sich gleichzeitig wie in jedem
revolutionären Prozess das Bewusstsein der Klasse hätte entwickeln können.
RevolutionärInnen hätten darin einen sehr viel besseren und solideren
Anknüpfungspunkt für ihre Agitation und Propaganda gehabt.

So war die Klasse zwar sehr aktiv und auf der Straße, aber
in erster Linie als Bürger und Bürgerinnen und nicht als ArbeiterInnen. Dass
das Proletariat keine eigenen Kampforgane schuf, war jedoch nicht dem Fehlen
von Klassenbewusstsein allein geschuldet. Es lag auch daran, dass die Bürokratenherrschaft
in der Regel schon durch Massendemonstrationen auf der Straße zum Rückzug und
schließlich zum Abdanken gezwungen wurde. Das erleichterte auch die
Demobilisierung der Massen. Die kleinbürgerlichen Führungen der Massen gingen
Abkommen mit der Bürokratie ein, um einen partiellen oder vollständigen,
möglichst schmerzlosen Transfer der politischen Macht zu arrangieren. In der
DDR nahm dies die Form der „Runden Tische“ an.

In vielen Ländern dienten bürgerlich-parlamentarische Wahlen
dazu, das Bedürfnis der Massen, die verhasste stalinistische Herrschaft zu
beseitigen, mit deren Demobilisierung zu verbinden.

Das stellte an RevolutionärInnen wichtige
politisch-programmatische Herausforderungen. Wie konnte die ArbeiterInnenklasse
in dieser Situation für die Verteidigung der nach-kapitalistischen
Eigentumsverhältnisse gewonnen werden? Wie konnte sie für die politische
Revolution, für den Kampf gegen die herrschende Bürokratie und gegen die
Übergabe der Macht an die RestaurationistInnen mobilisiert werden?

Ein wichtiger Bestandteil war zweifellos die Entlarvung
bürgerlicher Kräfte, die Entlarvung der bürgerlichen Demokratie, die alles
andere als „Volksherrschaft“, sondern ein Herrschaftsmittel der Kapitalisten darstellt.
Es war zweifellos notwendig, diese Propaganda energisch und klar durchzuführen.
Ein wichtiger Bestandteil davon war, damit an der Lebensrealität der Massen in
den Betrieben und Wohnbezirken anzuknüpfen. Die Propagierung der
Räteherrschaft, die Propagierung der Bildung von betrieblichen ArbeiterInnenkomitees,
von Stadtteilkomitees usw. war aber zu wenig.

Das Bedürfnis der Klasse, die Bürokratie ein für alle Mal
von der Macht zu verjagen, musste von RevolutionärInnen entschieden
aufgegriffen und mit Losungen kombiniert werden, die dazu dienten, die
bürgerlich-demokratischen Illusionen der Klasse nicht zum Fallstrick für die
ArbeiterInnen werden zu lassen.

Das bedeutete, dass RevolutionärInnen das entschiedenste
Programm zur Beseitigung der Bürokratenherrschaft präsentieren mussten. Es
bedeutet, dass bürgerlich-demokratische Forderungen z. B. nach
Koalitionsfreiheit, zur Bildung von Parteien und Gewerkschaften radikal
aufgegriffen werden mussten. Sie mussten gleichzeitig mit der Forderung nach
Organen der ArbeiterInnenkontrolle verbunden werden.

In einer Situation, in der die ArbeiterInnenklasse massive
Illusionen in den bürgerlichen Parlamentarismus hegte, war es einfach zu wenig,
die Vorzüge der Sowjetdemokratie zu propagieren – so wichtig diese Aufgabe für
sich genommen auch war. Es war gleichzeitig nötig, im Wahlprozess möglichst
viele Elemente von Kontrolle des Proletariats über den Wahlgang zu fordern und
dafür zu kämpfen.

Das beginnt bei der Frage der Wahl der KandidatInnen. In
jedem Betrieb, in jedem Stadtteil hätten sich die KandidatInnen, die vorgeben
die Interessen der ArbeiterInnen u. a. nicht-unterdrückender Schichten der
Bevölkerung zu vertreten, Massenversammlungen stellen müssen, denen sie auch
nach der Wahl verantwortlich und rechenschaftspflichtig gewesen wären.

Der Zugang zu den Medien, die Verteilung der Mittel zur
Wahlwerbung hätte von ArbeiterInnenausschüssen kontrolliert werden müssen. All
diese Forderungen hätten erlaubt, die gesamte Klasse einschließlich der großen
Mehrheit, die Illusionen in den bürgerlichen Parlamentarismus nachhing, in rätedemokratisch
aufgebauten Organen zu mobilisieren und zu organisieren. Diese Organe wären
Mittel der Kontrolle wie Kampforgane gegen die arbeiterInnenfeindliche Politik
zukünftiger Abgeordneter gewesen.

Das geringe Niveau proletarischen Klassenbewusstseins und
das Fehlen von räteähnlichen Organen bedeutet für RevolutionärInnen, Losungen
wie die nach einer „Konstituierenden Versammlung“ selbst aufzustellen und mit
Losungen nach ArbeiterInnenkontrolle zu kombinieren. Die Atomisierung des Proletariats
im Stalinismus, die systematische Verhinderung der Bildung eines revolutionären
Subjekts machte es für RevolutionärInnen notwendig, solche Forderungen wieder
aufzustellen, um die Klasse überhaupt für die Revolution gewinnen zu können.

Die historische Situation machte es dringend erforderlich,
dass RevolutionärInnen auch auf ökonomischen Gebiet die „Verteidigung der
Planwirtschaft“ entschieden mit deren Reorganisierung unter Kontrolle der
Beschäftigten verbanden – Produktion gemäß den Bedürfnissen der ProduzentInnen/KonsumentInnen,
vollständige Offenlegung aller Planungen der Bürokratie, Stilllegung aller
unnützen, parasitären Pfründe und Machtmittel, Zerschlagung des parasitären
repressiven Apparats – allen voran der Stasi.

Die „Verteidigung der Planwirtschaft“ hat nichts mit der
Beibehaltung der bürokratischen Misswirtschaft zu tun. Das musste den Arbeitern
und Arbeiterinnen verständlich dargelegt werden. Das war keineswegs nur ein
notwendiger Tribut an die gerechtfertigte Feindschaft der Massen gegen die
Bürokratie; es war auch notwendig, um die richtige Erkenntnis aufzugreifen,
dass die Planwirtschaft nur dann wieder in Schwung kommen konnte, wenn man
radikal mit dem System der Bürokratie bricht.

Die ArbeiterInnen wussten, dass dieses System nicht mehr
lebensfähig war, dass jede „Reform“ der StalinistInnen, jedes neue „Experiment“
zur Verbesserung der Wirtschaftsleistung in den 1980er Jahren ein Schuss in den
Ofen war. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wussten, wer für dieses Desaster
verantwortlich war – und wer daher ganz sicher nicht in der Lage war, die
Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

Die Jahre 1989 bis 1991 bargen in sich nicht nur die
Möglichkeit der sozialen Konterrevolution, die schließlich siegte. Die
alternative Entwicklungsmöglichkeit war die politische Revolution, die
Errichtung genuiner proletarischer Macht in den ArbeiterInnenstaaten. Aber das
war nur möglich, wenn die Avantgarde der Klasse um eine politische Führung,
eine revolutionären Partei gesammelt werden konnte, die in der Lage war, eine
Brücke zwischen den demokratischen Hoffnungen der Massen und der Errichtung der
Rätedemokratie zu schlagen, eine Partei, welche die anti-stalinistische Wut der
Massen am radikalsten ausdrückte, gerade um zu verhindern, dass diese Wut,
dieser revolutionäre Impuls der demokratischen Konterrevolution zugutekommen
konnte.

Auf dieser Grundlage erfolgte das Eingreifen der LRKI in
diese Prozesse, auf dieser Grundlage versuchten wir, revolutionäre
Organisationen aufzubauen. Wir konnten den Sieg der Konterrevolution nicht
verhindern. Wir teilen diese bittere Niederlage mit Millionen Arbeitern und
Arbeiterinnen, deren Lebensstandard mit der Restauration des Kapitalismus
deutlich abgesunken ist und deren mangelhafte Organisationen oft völlig
entmachtet wurden und mit einem Ausbeutungssystem zu kämpfen haben.

Diese Niederlage hat die ArbeiterInnenbewegung weltweit um
Jahre zurückgeworfen und dem Neoliberalismus einen Vormarsch in der ArbeiterInnenbewegung
selbst erlaubt. Doch mit der Weltwirtschaftskrise, den dadurch erzeugten
Klassenkonflikten und der sich entwickelnden antikapitalistischen und ArbeiterInnenbewegung
beginnt sich erneut eine Kraft zu formieren, die sich gegen den Kapitalismus
wendet und die Frage nach einer Alternative stellt. Sie muss sich daher mit den
Erfahrungen der degenerierten ArbeiterInnenstaaten und des Stalinismus
auseinandersetzen, um diese Fehler nicht zu wiederholen.

Wir sagen daher auch ganz klar: Die Niederlage der ArbeiterInnenklasse
in Osteuropa und den GUS-Staaten war nicht zu verhindern durch die Anbiederung
an einen Teil der StalinistInnen – sondern nur durch den entschlossenen Kampf
gegen sie! Nur so hätte eine revolutionäre Organisation den Massen glaubhaft
vermitteln können, dass der Kampf für den Kommunismus nichts mit der
Verteidigung bürokratischer Misswirtschaft, von Privilegien und politischer
Unterdrückung des Proletariats zu tun hat.

Endnoten

(1) Trotzki im Jahr 1934, Schriften 1.1, S. 547.

(2) Trotzki, Verratene Revolution, S. 956.

(3) Trotzki, „Kein ArbeiterInnen- und kein bürgerlicher
Staat?”, Writings 1937–38, S. 63.




Entstehung und Untergang der DDR

Bruno Tesch/Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1999)

Die Deutschlandpolitik
der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs war Ausdruck der neuen
Nachkriegsordnung. Mit der endgültigen Niederzwingung des „durchgeknallten“
innerimperialistischen Konkurrenten Deutschland und der kriegsbedingten
Unterordnung der imperialistischen Verbündeten Frankreich und Britannien stieg
der US-Imperialismus als neuer Hegemon empor. Zugleich bescherte der Sieg über
den deutschen Faschismus aber auch der UdSSR und damit der stalinistischen
Bürokratie eine Stärkung. Die im Krieg durch das volksfrontartige Zweckbündnis
verschleierten Klassengegensätze mussten wieder voll durchbrechen. Ein neuer, „Kalter“
Krieg war vorprogrammiert.

Weltpolitischer Rahmen

Deutschland wurde nun zu
dessen besonderem Austragungsort. Das Potsdamer Abkommen der Kriegsalliierten
vom August 1945 mit seinen Plänen zur Entmilitarisierung, Abschaffung der
Rüstungsproduktion, Entflechtung von Kartellen und Behandlung Deutschlands als
wirtschaftlicher Einheit war bald darauf Makulatur. Die Installation des
Besatzungsrechts drückte bereits das gegenseitige Misstrauen aus, denn die
Durchführung von Maßnahmen oblag den jeweiligen Militärregierungen der
verschiedenen Besatzungszonen. Der gemeinsame Kontrollrat stellte nur ein
Koordinationsgremium ohne direkte Weisungsbefugnisse dar. Zudem kam es schon
vor Potsdam zu empfindlichen atmosphärischen Störungen zwischen den „Waffenbrüdern“,
als die US-Administration der SU weitere Hilfsleistungen verweigerte.

In den USA gab es noch
während des Krieges Kontroversen über ein mögliches militärisches Vorgehen
gegen die Sowjetunion, weil das Kriegsgeschehen ein Vorrücken der Roten Armee
nach Mitteleuropa mit sich brachte. Eine neue kriegerische Konfrontation wäre
aber zu riskant gewesen. Immerhin zwang die veränderte Lage, den Blick über
Deutschland hinaus auf Gesamteuropa zu richten. Die Absichten zur Zerstückelung
und der Morgenthau-Plan von 1944 zur Deindustrialisierung Deutschlands wurden
fallengelassen zugunsten einer modifizierten imperialistischen Strategie, die
schließlich im Marshall-Plan mündete. Danach sollten die von der Roten Armee
besetzten und von bürgerlichen ArbeiterInnen- oder Volksfrontregierungen
verwalteten Gebiete durch gezielte Wirtschaftshilfe dem Einfluss der
Kreml-Bürokratie friedlich wieder entrissen werden. Das gelang jedoch nicht. So
wurden die geopolitisch und ökonomisch unverzichtbaren Westzonen Deutschlands
mittels Marshall-Plan zum Bollwerk und Brückenkopf gegen den Stalinismus
ausgebaut.

Die stalinistische
Politik war von einem extremen Sicherheitsdenken dominiert. Was wie
weltrevolutionäre Ausweitungsgelüste wirkte, war in Wahrheit nichts weiter als
der Versuch, die durch den Kriegsverlauf errungenen Gebietsgewinne zu einem
Schutzgürtel für die bürokratischen Interessen auszubauen. So wurden das
Baltikum und Ostpolen unmittelbar dem eigenen Territorium einverleibt, die
Staaten Osteuropas von Polen bis Bulgarien sollten die eigentliche Pufferzone
bilden, während Deutschland (zu dieser Überlegung gehörte ursprünglich auch
Österreich) als entmilitarisiertes, neutrales, jedoch durchaus bürgerlich
geführtes und ungeteiltes Land vorgeschaltet sein sollte.

Jedoch weder der
US-imperialistische noch der Plan Moskaus gingen wie anfangs konzipiert auf.
Ein Erstarken der Bourgeoisie in Osteuropa konnte die Kreml-Bürokratie nicht
hinnehmen; sie entschied sich für deren Enteignung und die Errichtung von ArbeiterInnenstaaten.
Ihre Pläne für einen gesamtdeutschen Staat wiederum wurden durch den Aufbau
eines westdeutschen Separatstaates durchkreuzt. Folglich blieb auch hier keine
Wahl mehr, und die Kreml-Bürokratie musste nachziehen und auf ihrem
Besatzungsgebiet ebenfalls einen ArbeiterInnenstaat als Schutzzone etablieren.

Die beiden deutschen
Teilstaaten sind also Frucht eines weltpolitischen Prozesses und vereinen die
Gegensätze der Nachkriegsordnung auf unmittelbar benachbartem und daher
besonders spannungsgeladenem Raum, im Sonderstatus von Berlin sogar
schicksalhaft in einer Stadt. Die DDR blieb sogar bis 1952, also drei Jahre
nach ihrer Gründung, als die deutschlandpolitische „Stalin-Note“ den
Westbesatzungsmächten den Abschluss eines Friedensvertrags und die deutsche
Wiedervereinigung (als kapitalistische) anbot, bloße Verhandlungsmasse für die
Interessen der Kreml-BürokratInnen. Im Grunde hat sich diese Haltung bis zum
Ende der DDR nicht geändert und all jene enttäuscht, die sich an den Strohhalm
klammerten, Gorbatschow würde die kapitalistische Wiedervereinigung nicht
zulassen.

Die DDR-Gründung

Die Errichtung von
degenerierten ArbeiterInnenstaaten nach dem Vorbild der UdSSR war für die
StalinistInnen stets nur ein Mittel, um sich mit dem Imperialismus zu
arrangieren. So sehr diese Gebilde der Weltbourgeoisie auch ein Dorn im Auge
waren, garantierte die Bürokratenherrschaft doch andererseits eine gewisse
Berechenbarkeit und Stabilität der Verhältnisse, die dem Imperialismus seine
politischen und ökonomischen Geschäfte erleichterte. Als oberstes Gebot für die
Kreml-Bürokratie, bevor sie zur Schaffung dieser besonderen, bürokratisierten
Form von ArbeiterInnenstaat schritt, galt stets, sicherzugehen, dass jedwede
Art von Eigenständigkeit der ArbeiterInnenbewegung, die ihre Herrschaft in
Frage stellen könnte, restlos zerstört war. Erst wenn sie die Keime einer revolutionären
Entfaltung ausgerottet hatte, nahm sie die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse
in Angriff.

Notwendige Voraussetzung
für diesen Weg war auch in Deutschland die Ausschaltung eigenständiger
revolutionärer Bestrebungen aus der ArbeiterInnenklasse in Gestalt von
Antifa-Ausschüssen und Betriebsräten, die vielfach auf örtlicher und
betrieblicher Ebene das Machtvakuum der alten geflohenen oder desavouierten
Verwaltungs- und BetriebsdirektorInnen ausfüllten. Diese Organe einer
potentiellen rätedemokratischen ArbeiterInnenmacht wurden von der sowjetischen
Militärverwaltung und ihren HelfershelferInnen aus den Reihen der entstehenden ArbeiterInnenbürokratie
zerschlagen. Damit erwies sich der Stalinismus als Agentur des Imperialismus
auf dem Boden eines noch bürgerlichen Staates und bediente sich dessen
Instrumentarien.

Wie das Beispiel
Ostösterreichs zeigt, war die Enteignung der Kapitalistenklasse und die
Errichtung eines von Beginn an bürokratisch degenerierten ArbeiterInnenstaates
keineswegs ein unvermeidliches Produkt der stalinistischen Kontrolle über den
Staatsapparat in der sowjetischen Besatzungszone. Dieser Schritt zur Enteignung
der Bourgeoisie durch die StalinistInnen war vielmehr Produkt der
internationalen Entwicklung und der Herausbildung der Nachkriegsordnung.

Ausschaltung der ArbeiterInnenklasse…

Dieses Vorgehen der StalinistInnen
hatte wesentliche Konsequenzen. Die Etablierung nachkapitalistischer
Eigentumsverhältnisse – für sich genommen zweifellos ein Fortschritt – wurde
auf konterrevolutionäre Weise vollzogen. Ihre innerdeutschen, aber vor allem
ihre internationalen Auswirkungen waren mit einer Stabilisierung der
imperialistischen Weltherrschaft und einer Ruhigstellung des revolutionären
Potentials des Proletariats verbunden.

Die ArbeiterInnenklasse
in der DDR (und in der BRD) spielte nicht nur keine aktive politische Rolle.
Ihr wurde mit dem „ersten ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenstaat auf
deutschem Boden“ auch gleich die erste bürokratische Diktatur verpasst und
damit von Beginn an der „Sozialismus“ in Ost und West diskreditiert. Die
DDR-Staatsmaschinerie war vom Typus her bürgerlich, ein abgehobener
allmächtiger Apparat, ein Heer an Repressionskräften und StaatsdienerInnen. Es
ist kein Wunder, dass dieser Apparat später keinerlei Widerstand gegen die
Restauration des Kapitalismus leistete, sondern im Gegenteil die meisten
BürokratInnen versuchten, im vereinten imperialistischen Deutschland
unterzukommen. Dass ihnen das oft nicht allzu gut gelang, liegt daran, dass die
westdeutsche Kapitalistenklasse schon einen erprobten Staatsapparat hatte und
auf einen großen Teil der NVA, der Volkspolizei und der Beamtenschaft nicht
angewiesen war.

… und ihre
konterrevolutionären Folgen

Dass sich das Proletariat
keineswegs freiwillig in die Etablierung der Nachkriegsordnung fügte, beweisen
der ArbeiterInnenaufstand 1953 in der DDR ebenso wie die Kämpfe um die
Verstaatlichung der Grundstoffindustrie und gegen die Einführung des
Betriebsverfassungsgesetzes im Westen. Der „Kommunismus“ war rasch in der ArbeiterInnenklasse
in Ost und West diskreditiert. Hinzu kam, dass die stalinistische Diktatur in
der DDR jede unabhängige Subjektbildung der ArbeiterInnenklasse, selbst
verglichen mit vielen osteuropäischen „Bruderländern“ besonders systematisch
kontrollierte und somit das Subjekt jeder sozialistischen Umgestaltung
zerstörte.

Zweitens war die
Errichtung der DDR (wie des gesamten Ostblocks) Teil der Etablierung einer
reaktionären Nachkriegsordnung, die neben der territorialen Ausdehnung
bürokratischer Planung v. a. die konterrevolutionäre Aufteilung zwischen
Ost und West, unter unbedingter Anerkennung der Herrschaft des Kapitals in den
imperialistischen Sphären, implizierte. Die Errichtung degenerierter ArbeiterInnenstaaten
war nur die andere Seite der Preisgabe des griechischen Widerstandes gegen die
Bürgerlichen und die BritInnen, der Entwaffnung der ArbeiterInnen durch PCI und
KPF. In der Teilung Deutschlands fassten sich alle Probleme und Widersprüche
dieser reaktionären Nachkriegsordnung zusammen.

Hier standen einander
nicht nur die militärischen Apparate der DDR und der BRD gegenüber, sondern
Deutschland war auch zentraler Ort der Blockkonfrontation. Schließlich führte
die deutsche Teilung auch zu einer territorial fixierten Aufteilung der ArbeiterInnenbewegung
unter die Apparate von SED und SPD, die – wenn auch mit unterschiedlichen
Mitteln – ein politisches Monopol über „ihren“ Teil der Bewegung ausübten.
Zweifellos hatten beide ein beachtliches Eigeninteresse an diesem Monopol und
der Säuberung der ArbeiterInnenbewegung von allen widerspenstigen Elementen.
Zugleich waren sie aber auch verlängerter Arm der führenden
politisch-militärischen Kräfte „ihres“ Blocks zur Kontrolle der jeweiligen ArbeiterInnenklasse.

Anders als die
Oktoberrevolution brachte die Schaffung degenerierter ArbeiterInnenstaaten in
Osteuropa keinen revolutionären Impuls für die internationale ArbeiterInnenbewegung
mit sich. Im Gegenteil, sie führte zur Versteinerung der politischen
Verhältnisse und läutete eine rund zwei Jahrzehnte andauernde
konterrevolutionäre Periode ein.

Diese Politik des
Stalinismus konnte sich natürlich nicht nur auf die Rote Armee stützen. Um
rasch ein politisches Gegengewicht gegen die Gefahr einer revolutionären
Organisierung der ArbeiterInnenklasse schaffen zu können, wurden von der
sowjetischen Militärverwaltung nicht nur früher als in den Westzonen Parteien
zugelassen, sondern es sollte ein verlässliches Kontrollorgan der ArbeiterInnenschaft
entstehen. Dazu bediente man sich seitens der StalinistInnen der tiefen
Sehnsucht in der ArbeiterInnenklasse nach Einigkeit, die gerade aus der
schmerzlichen Erfahrung der historischen Niederlage des deutschen Proletariats
gegen den Faschismus resultierte.

Die Gründung der SED

Die deutschen StalinistInnen
der KPD folgten auch nach dem Krieg der seit 1935 für alle KPen verbindlichen
Volksfront-Linie, d. h. sie forderten eine bürgerliche Republik unter
Einschluss aller antifaschistischen demokratischen Kräfte und schlossen ein
Rätedeutschland aus. Sie verfochten ein Etappenmodell, wonach durch die
Blockaden der deutschen Geschichte zunächst die bürgerlich-demokratischen
Aufgaben von 1848 erfüllt werden müssten. Dann erst könne an die Aufgaben eines
gesellschaftlichen Zukunftsmodells, des Sozialismus, gedacht werden. Programmatisch
fiel die KPD damit deutlich hinter die andere ArbeiterInnenmassenpartei, die
SPD, zurück, die immerhin für die sofortige Verstaatlichung der
Schlüsselindustrien eintrat und von der auch das Motto „Deutschlands Zukunft
wird sozialistisch oder gar nicht sein“ (Dr. Kurt Schumacher) stammte.

Die Vereinigung beider
Parteien wurde im Ostteil von den StalinistInnen aktiv betrieben, als sie sich
sicher sein konnten, die Kontrolle über diesen Prozess ausüben zu können. Es
handelte sich jedoch nicht einfach um eine „Zwangsvereinigung“. Dieser Prozess
reflektierte auch Bedürfnisse nach Einheit der ArbeiterInnenklasse und reale
Unterstützung dieses Projekts durch bedeutende Teile der SPD-Mitgliedschaft.
Hinzu kommt, dass sich SPD und KPD politisch-programmatisch keineswegs
grundsätzlich unterschieden. Beide waren bürgerliche ArbeiterInnenparteien,
Parteien der sozialen Reform, wenn auch mit grundlegend anderer internationaler
Ausrichtung.

Dadurch geriet die
Ost-SPD mehr und mehr in die Defensive. Die Mentorin der KPD – die sowjetische
Besatzungsmacht – kontrollierte den Staatsapparat im Osten. Die West-Führung
der SPD hintertrieb gleichzeitig jede Vereinigungsbestrebung ebenso
bürokratisch, wie sie von der KPD-Führung ihrerseits vorangetrieben wurde. Die
Führung um Schumacher setzte vor allem auf den britischen Imperialismus und
dessen Labour-Premierminister Attlee.

Der Zusammenschluss von
KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) 1946 war
nicht das Ergebnis prinzipienfester Bilanz- und Perspektivdiskussionen, die
eine Vereinheitlichung des Bewusstseins der ArbeiterInnenbewegung auf einem
höheren Niveau sich auch nur zum Ziel gesetzt hätte. Es ging um einen rein
organisatorischen Akt, der ins nackte Machtkalkül der stalinistischen BürokratInnen
passte, die damit eine Legimitationsbasis für ihre spätere Rolle als
Staatspartei schufen. Die Strukturen der SED waren von Anfang an
undemokratisch, ihr Programm reformistisch und ihre Praxis konterrevolutionär
und immer an den Erfordernissen der Kreml-Bürokratie orientiert. Als erste
Visitenkarte ihrer frisch erlangten Monopolstellung in den Ost-Gewerkschaften
schaffte die SED das Streikrecht ab. Die unabhängigen Betriebsräte wurden mit
Beginn des 2-Jahresplans 1948 ausgemerzt.

Zick-Zack-Kurs der SED

Im Laufe der 40-jährigen
DDR-Geschichte hat es verschiedene Kurswechsel der SED gegeben. Der erste kam
sehr bald nach der Verkündung des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus auf der
zweiten Parteikonferenz 1952. Zwangskollektivierung von Kleinbauern/-bäuerinnen
und Vorgehen gegen das Kleinbürgertum in Handel und Dienstleistung verursachten
eine dramatische Verschlechterung der Versorgungslage, so dass diese Maßnahmen
schon ein Jahr später wieder wirtschaftlichen Vergünstigungen für die
kleinbürgerlichen Schichten und gleichzeitigen Belastungen des Proletariats
(Normenerhöhungen in der Produktion) wichen. Dies brachte wiederum die ArbeiterInnen
der DDR in Aufruhr. Die Regierung Ulbricht stand kurz vor der Ablösung, doch
paradoxerweise rettete gerade der Aufstand das Regime, das er eigentlich
stürzen wollte, denn die Kreml-Bürokratie konnte sich in der Situation keinen
Rückzug oder Schwäche leisten, sonst hätten sie womöglich die unterdrückten
Massen anderswo in ihrem Einzugsgebiet zu ähnlichen Aufständen ermutigt.

Dass die Ulbricht-Ära
doch zum Auslaufmodell wurde, lag daran, dass das 1963 ins Leben gerufene NÖSPL-
(Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung)-Experiment, das erhebliche
Mehrbelastung v. a. des Arbeitszeiteinsatzes für die ArbeiterInnenklasse
mit sich brachte, Mitte der 1960er Jahre verhältnismäßig erfolglos wieder
abgebrochen werden musste, aber keine neuen Impulse mehr von dieser
Regierungsspitze ausgingen.

Das sie 1971 ablösende
Honecker-Regime konnte kurzfristig ebenfalls wirtschaftliche Erfolge vorweisen:
Kaufkraft und Warenangebot stiegen. Dies wurde erreicht durch die taktische
Wende, „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ genannt, womit eine
Einengung des Entscheidungsspielraums der einzelnen Betriebe gemeint war. Die
sich verschärfenden weltwirtschaftlichen Bedingungen mit gestiegenen
Rohstoffpreisen, Verschuldung und erhöhten technologischen Anforderungen
schlugen in den 1980er Jahren voll durch. Mangelerscheinungen konnten in der
DDR zunehmend weniger kaschiert werden. Das Honecker-Regime war untragbar
geworden.

Deutsche Teilung – nationale
Frage

Bevor wir zum
Zusammenbruch der DDR kommen, wollen wir noch einmal auf die Bedeutung der
nationalen Frage eingehen.

Die beiden deutschen
Teilstaaten blieben immer ein Symbol für die Weltordnung nach dem Zweiten
Weltkrieg und ihre gegenseitige Beziehung ein Barometer für den jeweiligen
Stand des Kräfteverhältnisses zwischen den Hauptmächten des Status quo, dem
US-Imperialismus und der UdSSR. Nicht zufällig fällt gerade das sinnbildhafteste
Ereignis der deutschen Teilung, der Bau der Berliner Mauer, in eine Zeit, als
die internationalen Beziehungen auf dem Gefrierpunkt angelangt und der Kalte
Krieg in einen heißen atomaren Krieg (Kubakrise) umzuschlagen drohte.

1961 markierte einen Wendepunkt
in den innerdeutschen Verhältnissen und auch eine Abkehr der in der DDR
herrschenden SED-Bürokratie selbst von einem verbal positiven Bezug zur
deutschen Einheit und eine Hinwendung zum Versuch des Aufbaus einer
eigenständigen Nationalidentität der DDR. Maßnahmen von Zwangskollektivierung,
Enteignung und Denunziation hatten bereits seit den frühen 1950er Jahren zur
Flucht von Bauern/Bäuerinnen, HandwerkerInnen und KleineigentümerInnen in den
deutschen Weststaat geführt. Nach der Niederschlagung des ArbeiterInnenaufstands
1953 und dem am Ende des Jahrzehnts immer spürbarer werdenden
Auseinanderklaffen des Lebensstandards zwischen Ost und West drohte die DDR an
qualifizierten industriellen Arbeitskräften, die ebenfalls in die BRD
abwanderten, auszubluten. Dagegen musste etwas unternommen werden.

Das Nadelöhr Berlin mit
Flüchtlingsauffangstellen, hundertausenden Ost-West-ArbeitspendlerInnen und den
Wechselstuben, wo sich der Verfall der DDR-Währung empfindlich bemerkbar
machte, wurde zugemauert. Die PendlerInnen waren für Westfirmen besonders
lukrativ und für die DDR verheerend, da die ArbeiterInnen mit Wohnsitz im Osten
und Arbeitsstelle im Westen Sozialleistungen der DDR bezogen und die Valuta im
Verhältnis 1:10 rückgetauscht wurde. Auch ein gesunder ArbeiterInnenstaat hätte
die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse schützen müssen, aber niemals um
den Preis, die Bevölkerung in einer geschlossenen Anstalt mit Freigangsregelung
nur in die „sozialistischen Bruderländer“ zu verwahren. So aber schien die
deutsche Spaltung auf Dauer buchstäblich betoniert zu sein.

Ökonomische Durchdringung

Zwar erholte sich die DDR
bis Mitte der 1960er Jahre wirtschaftlich auf der Woge einer noch günstigen
Weltkonjunktur, doch in den Augen der internationalen ArbeiterInnenbewegung
hatte sich das stalinistische Regime politisch endgültig diskreditiert und
besonders in der BRD dem Antikommunismus auch in der ArbeiterInnenschaft immens
Vorschub geleistet. Die DDR-ArbeiterInnenklasse erstickte ideologisch im
Provinzmief, verfiel durch die nun noch effektivere Gängelung seitens der
Bürokratie in politische Apathie und wurde so erst recht zum „Fallobst“ für die
BetreiberInnen der kapitalistischen Restauration.

1972 wurde der
Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Das
BRD-Kapital erkaufte sich mittels der neuen SPD-Ostpolitik durch formale
Zugeständnisse der politischen Nichteinmischung, die das Sicherheitsbedürfnis
der DDR-Bürokratie bedienten, das Paradoxon eines größeren ökonomischen
Bewegungsspielraums in der DDR. Auf dieser Grundlage konnten sich die
innerdeutschen Beziehungen „normalisieren“, die ein prima Klima v. a.
unter der CDU-geführten Regierung der 1980er Jahre schufen.

Das scheinbare politische
Laisser-faire war allerdings begleitet durch eine neue imperialistische
Offensivstrategie der „Totrüstung“ gegen die ArbeiterInnenstaaten, die
zusätzlich die Wirtschaft der DDR neben den hausgemachten Problemen mit den
abgestumpften bürokratischen Planmechanismen in Mitleidenschaft zog. So ließ
sich der Milliarden Swing-Kredit von 1983/1984 als einvernehmliche Hilfe
anbahnen und erhöhte damit wiederum die Abhängigkeit der DDR von der BRD, da
die RGW-Zusammenarbeit des Ostblocks längst nicht mehr griff, sondern zum Klotz
am Bein wurde.

Aus der Schuldenfalle und
der damit verbundenen Produktionsspirale für die Erbringung von Devisen auf
Kosten der Gütererzeugung für den Inlandsbedarf konnte sich die DDR schließlich
mit den herkömmlichen bürokratischen Methoden nicht mehr aus eigener Kraft
befreien, so dass der BRD-Imperialismus die Wiedervereinigung in seinem Sinne
über diesen Umweg vorbereiten half.

40 Jahre unterschiedlicher
Gesellschaftssysteme und eine praktische Abschottung gegeneinander sind
natürlich nicht spurlos am Bewusstsein insbesondere der ArbeiterInnenklasse
diesseits und jenseits der deutsch-deutschen Grenze vorübergezogen, dennoch ist
die nationale Frage immer wieder aufgetaucht: 1953, 1961, 1970 (Brandt-Besuch).
Der Mauerfall 1989 war die Bestätigung, dass die seit dem Mauerbau scheinbar
negativ gelöste Frage der deutschen Wiedervereinigung plötzlich wieder zur
realen Perspektive wurde. Es war nicht entscheidend, dass in diesem Augenblick
kaum jemand der DDR-BesucherInnen im Westen an die Möglichkeit geglaubt hatte,
sondern vielmehr, dass das frisch gewonnene Selbstbewusstsein, durch Druck
etwas zu erreichen, aber auch die Verinnerlichung der beeindruckenden
Konsumkulisse der BRD beide Optionen, sowohl die der revolutionären
Wiedervereinigung wie die der kapitalistischen Restauration der DDR zuließen.

Nationale Frage und
politische Revolution

Die nationale Frage in
Deutschland war immer eng mit der Nachkriegsordnung verbunden. Die Frage der
politischen Revolution in der DDR und der sozialen Revolution in der BRD sowie
ihrer Kombination zur Errichtung einer gesamtdeutschen Räterepublik musste
notwendigerweise immer zum direkten Angriff auf diese Ordnung werden.

Jede Revolution in
Deutschland nach 1945 hätte nicht nur mit dem BRD- oder DDR-Staatsapparat,
sondern auch mit der Sowjet-Armee bzw. den US-amerikanischen, britischen und
französischen Truppen zu tun gehabt. Das bestätigte auch die politisch
revolutionäre Krise in der DDR, wenn auch mit konterrevolutionärem Ausgang.
Ohne Einverständnis v. a. der Sowjetunion zur praktischen Einverleibung in
die BRD, zum „Beitritt“ der DDR, v. a. aber zur Ausdehnung der NATO auf
dieses Territorium wäre die deutsche Einheit in dieser Form fraglos nicht
zustande gekommen.

Die Teilung Deutschlands
führte natürlich auch zu einer massiven Einschränkung demokratischer Rechte,
der Reisefreiheit im Besonderen. Diese war immer ein wichtiger Nährboden für
politische Unzufriedenheit und Proteste, vor allem gegen das SED-Regime.

Es ist damit klar, dass
die Teilung Deutschlands als solche bei der ArbeiterInnenklasse keine wie immer
geartete Legitimität erwarten konnte. Die Versuche des SED-Regimes, die
Existenz einer DDR-Nation zu beweisen, waren von Beginn an zum Scheitern
verurteilt. Mit der immer tiefer werdenden Krise der bürokratischen Planung und
dem damit verbundenen Schwinden der sozialen Stützen des SED-Regimes musste die
nationale Frage daher früher oder später akut werden.

Aushöhlung der
wirtschaftlichen Grundlagen des SED-Regimes

Die Existenz der DDR als
ökonomisch immer schwächer werdender Teil Deutschlands stand und fiel in
Wirklichkeit mit zwei Faktoren. Erstens der Stabilität der Nachkriegsordnung.
Zweitens damit, den Arbeitern und Arbeiterinnen in der DDR eine wirtschaftliche
und politische Perspektive glaubhaft darlegen zu können. Wie jedes Regime der
Welt konnte sich auch die stalinistische Herrschaft nicht nur auf Repression
stützen, sondern beinhaltete ein Element des Kompromisses mit der ArbeiterInnenklasse,
besonders mit den oberen Schichten der Angestellten und Staatsverwaltung, die
teilweise in die unteren Ebenen der Bürokratenkaste übergingen.

Dieser Ausgleich
erstreckte sich auch auf die industrielle ArbeiterInnenschaft, ja musste diese
als sozial stärkste Schicht umfassen. Er bestand vor allem darin, dass das
Regime – politische Ruhe vorausgesetzt – zumindest eine spürbare Steigerung des
Lebensstandards bringen müsse. Diese Notwendigkeit reflektierte auch Honeckers
Wende zu vermehrter Konsumgüterproduktion am Beginn der 1970er Jahre.

Die DDR blieb jedoch
ökonomisch immer mehr zurück. Gerade die industrielle ArbeiterInnenklasse
spürte diese Entwicklung: stetige Verschlechterung des Zustands der
Produktionsmittel, immer stärkerer Verschleiß, immer größere Produktion für den
Export bei gleichzeitigem Engpass an Gütern im Inneren, Stagnation der
Lebensbedingungen, immer stärkeres relatives Zurückbleiben gegenüber dem
Westen. Hinzu kam, dass die „Betonköpfe“ in der SED-Führung verglichen mit den
polnischen oder ungarischen „Bruderländern“ sehr viel unbeweglicher und „reformfeindlicher“
wirkten, was die Hoffnung in eine schrittweise Reform à la Gorbatschow immer
unrealistischer erscheinen ließ.

Daraus ergibt sich, dass
erstens eine tiefe politische Krise der SED-Herrschaft recht rasch die Frage
der wirtschaftlichen Zukunft aufwerfen musste; dass zweitens die Kernschichten
der ArbeiterInnenklasse in der DDR mit dem System der bürokratischen Planung
schon abgeschlossen hatten, bevor es 1989/1990 geschichtlich zur Disposition
stand. In der Wirklichkeit hatte, wie sich herausstellen sollte, selbst die
Bürokratie die Hoffnung verloren, dass dieses System durch eine reformierte
Variante der SED-Herrschaft wieder in Schwung zu bringen sei.

Damit war das gesamte
DDR-Gesellschaftssystem in Frage gestellt. Dass die nationale Frage im Herbst
1989 rasch solche Bedeutung erlangen musste, hatte also vor allem
gesellschaftliche Ursachen (wie das bei der nationalen Frage immer der Fall
ist). Sie war keineswegs reaktionären „Urinstinkten der Deutschen“ geschuldet,
schon gar nicht wurde sie einfach „von außen“ durch die Kohl-Regierung „hineingetragen“
oder „künstlich“ aufgebauscht.

Es handelt sich vielmehr
um eine spezifische historische Form, in der die nationale Frage aufgeworfen
wurde: um die Infragestellung der reaktionären Nachkriegsordnung, die sich in
der deutschen Teilung manifestierte. Der Zusammenbruch eines der Pfeiler dieser
Nachkriegsordnung eröffnete die Möglichkeit, dass die in der Blockbildung
erstarrten Klassenwidersprüche auch im anderen Teil dieser Nachkriegsordnung
wieder in Bewegung gerieten.

Gerade wenn wir die
zentralen Aufgaben der politischen Revolution in der DDR – der Eroberung der
Staatsmacht und Reorganisation der Planwirtschaft – betrachten, wird unmittelbar
deutlich, dass diese von Beginn aufs Engste mit der ArbeiterInnenklasse und
sozialen Revolution im Westen verbunden waren. Wie hätte die DDR-Wirtschaft
reorganisiert werden sollen und können, wenn nicht im engen Verbund mit den
Klassenbrüdern und -schwestern im Westen?

Revolution und
Konterrevolution als historische Alternativen

Der Zusammenbruch eines
Teils der Nachkriegsordnung im Osten, eine politisch-revolutionäre Krise in der
DDR konnte nur zu drei Resultaten führen: bürokratische Konterrevolution,
politische Revolution oder soziale Konterrevolution. Die bürokratische
Konterrevolution wäre zwar im Herbst 1989 noch möglich gewesen. Sie hätte aber
angesichts der wirtschaftlichen Krise der bürokratischen Planung ziemlich rasch
zur nächsten manifesten politischen Krise führen müssen, wahrscheinlich mit
einer ArbeiterInnenklasse, die von „Sozialismus“ endgültig genug gehabt hätte
und die noch empfänglicher für bürgerlich-demokratische Lockungen gewesen wäre.
Daher waren im größeren geschichtlichen Maßstab nur zwei Optionen wirklich
offen: politische Revolution oder soziale Konterrevolution.

Die Bedeutung der
revolutionären Wiedervereinigung

Die Frage eines mutigen
und revolutionären Aufgreifens der nationalen Frage ergab sich daher für
Kommunisten und Kommunistinnen nicht aus irgendwelcher Einheitstümelei, sondern
aus der Analyse der sozialen Voraussetzungen, der politischen und
wirtschaftlichen Dynamik der Krise des SED-Regimes. Daher war die Losung einer
Vereinigten Sozialistischen Räterepublik in ganz Deutschland eine zentrale
Frage vom Beginn der Massenbewegung in der DDR an.

Sie musste jedoch konkret
übersetzt werden in Schritte zum sofortigen Aufbau von direkten Verbindungen
zwischen den Gewerkschaften, betrieblichen AktivistInnen in Ost und West, in
ein Aktionsprogramm zur Lösung der dringendsten Aufgaben auf wirtschaftlichem
und politischem Gebiet, das mit der Losung einer revolutionären ArbeiterInnenregierung
verbunden werden musste. Die LRKI (Vorläuferin der LFI) hat von Beginn an die
Frage der revolutionären Wiedervereinigung sehr konkret aufgeworfen und
gleichzeitig die Notwendigkeit dargelegt, jede Rekapitalisierung der DDR
einschließlich einer kapitalistischen Wiedervereinigung entschieden zu
bekämpfen. Wir dokumentieren den Abschnitt zur nationalen Frage aus einer der
ersten Stellungnahmen unserer internationalen Tendenz vom November 1989 am Ende
dieses Textes.

Die Frage der
Wiedervereinigung war von Beginn an virulent, obwohl sie in den ersten Wochen
der Mobilisierung gegen die Bürokratie nicht offen gestellt wurde. Das hing
damit zusammen, dass gerade in den Stellungnahmen des Großteils der
kleinbürgerlich geprägten „Bürgerbewegung“ die Forderungen im Wesentlichen auf
demokratische Reformlosungen beschränkt waren. Diese Ziele drückten zweifellos
berechtigten Unmut aus und ihr Gehalt musste von RevolutionärInnen in dieser
Phase aufgegriffen und zugespitzt werden. Das trifft besonders auf Losungen wie
Organisationsfreiheit, Reisefreiheit, Pressefreiheit zu.

Die Blindheit gegenüber
den ökonomischen Fragen fand ihren Ausdruck allerdings nicht nur in direkter
Ignoranz. Wo die Bürgerbewegung und besonders ihr linker Flügel wirtschaftliche
Forderungen und Konzepte entwickelten, stellten sie der bürokratischen
Planwirtschaft entweder eine Spielart des utopischen „Dritten Weges“ zwischen
Kapitalismus und Kommunismus oder eine Form des „Marktsozialismus“ entgegen.
Das traf auch auf die linkesten Strömungen wie die Vereinigte Linke zu, die in
der „Böhlener Plattform“ einer Form der „ArbeiterInnenselbstverwaltung“
nach jugoslawischem Muster das Wort redete.

Hinzu kam, dass die
Bürgerbewegung insgesamt politisch eine Reformperspektive des SED-Staates
vertrat. Die Macht lag zwar auf der Straße, wie ein geflügeltes Wort dieser
Tage hieß – aufheben wollte sie allerdings in dieser Phase niemand. Der Druck
der Massenbewegung führte Ende 1989 zur Installation der sogenannten „Runden
Tische“, die sowohl der perspektivlosen und konfusen Opposition wie auch der
noch herrschenden SED-Bürokratie zupasskamen.

Sie erlaubten allen
Kräften, vor allem die Massen zu demobilisieren, auf die Arbeit in den „neuen“
Gremien zu vertrösten. Hinzu kam außerdem, dass auch die zunehmende
Orientierung auf bürgerliche parlamentarische Wahlen zur Volkskammer dazu
beitrug, die politische Energie von der Straße an die Wahlurnen zu verlagern.

Die Bürgerbewegung
übergab in dieser Phase die Initiative, die sie ohnedies nie haben wollte, an
die teilweise aus ihr, teilweise aus den Blockparteien entstandenen, offen
bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie einerseits, an die SED-PDS
andererseits.

Vom Sommer 1989 bis zur
Wiedervereinigung erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre Krise, die
schließlich in einer sozialen Konterrevolution mündete. Bis zum November 1989
befand sich die Massenbewegung, befand sich die Revolution in der Offensive. Es
schien hier nur vorwärtszugehen. Der scheinbar aus Stahl gegossene Parteiapparat,
die Stasi usw. mussten Schritt für Schritt zurückweichen, zeigten, wie marode
das Regime schon war.

Nachdem Gorbatschow klargemacht
hatte, dass die sowjetischen Truppen nicht gegen die Bevölkerung eingesetzt
würden und die SU ein solches Vorgehen von den Staatsorganen der DDR
missbilligen würde, waren die Tage der Honeckers und Co. gezählt. Wie oft in
solchen Krisen tat die herrschende Schicht ihr Übriges, den letzen Kredit zu
verlieren, so z. B. als Honecker den hunderttausenden, die im Sommer die
DDR fluchtartig verlassen hatten, noch ausrichten ließ, dass er ihnen keine
Träne nachweine. Solche „Botschaften“ der stalinistischen Führung haben dazu beigetragen,
dass die unten nicht länger bereit waren, die oben wie bisher weitermachen zu
lassen.

Mehr noch, die tiefe
Krise in der DDR hatte auch in der SED, z. B. auf dem Parteitag von
Dezember 1989, zu einer politischen Differenzierung geführt. Unter den
Millionen, die in der DDR auf die Straße gingen, waren auch hunderttausende
SED-Mitglieder, die von „ihrer Parteiführung“ endgültig die Schnauze voll
hatten.

Es war in den ersten
Monaten der Wende keineswegs der Fall, dass die Restauration des Kapitalismus –
sei es in der DDR selbst oder in Form einer kapitalistischen Wiedervereinigung
bewusstes Ziel der Massenbewegung war. Auch der BRD-Imperialismus, die SPD und
noch viel mehr die westlichen imperialistischen Mächte sahen hier noch nicht
die Chance einer raschen Ausdehnung des Kapitalismus in den Osten (und viele
imperialistische PolitikerInnen waren darüber auch froh, da sie keineswegs ein
Interesse an einem erstarkenden deutschen imperialistischen Rivalen hatten).

Wie kam es zum
konterrevolutionären Umschwung?

Die Antwort darauf liegt
grundsätzlich nicht darin, dass besonders kluge oder dumme Aktionen einzelner
PolitikerInnen dazu geführt hätten. Natürlich war z. B. die Maueröffnung
auch auf einen Akt der „Panik“ des Politbüros zurückzuführen. Er macht
allerdings durchaus Sinn vom Standpunkt der Selbsterhaltung der Bürokratie, die
zu diesem Zeitpunkt ein Interesse daran hatte, dass die Bürger und Bürgerinnen
der DDR „Dampf ablassen“ frei nach dem Motto: Wer bei Aldi einkauft, läuft
nicht auf Demos gegen das DDR-Regime. Es ist überhaupt eine
verschwörungstheoretische Geschichtsinterpretation, wenn gemeint wird, dass der
Fortbestand des reaktionären Grenzregimes irgendeine grundsätzliche Änderung
gebracht hätte.

Die tieferen Ursachen des „Umkippens“ der Bewegungsrichtung bestanden in folgenden Faktoren:

  1. Erschöpfung der Potentiale der bürokratischen Planwirtschaft;
  2. Fehlen einer politischen Führung, die eine Alternative für die Avantgarde der ArbeiterInnenbewegung mit der Perspektive des revolutionären Sturzes des SED-Regimes und einer revolutionären Wiedervereinigung hätte weisen können;
  3. weitgehende Zerstörung des Klassenbewusstseins des Proletariats.

Diese Faktoren und die
internationale Bedeutung der politisch-revolutionären Krise implizierten von
Beginn an, dass sich die Ereignisse in der DDR überaus rasch entwickeln würden.
Doch trotz ungünstiger Voraussetzungen – Zerstörung des proletarischen
Klassenbewusstseins und Fehlen einer revolutionären Avantgardepartei weltweit –
entwickelten sich im Zuge der Krise politische Strömungen, die den Wunsch nach
einer fortschrittlichen, proletarisch-revolutionären Lösung zum Ausdruck
brachten. Das betraf vor allem in der Frühphase der Bewegung die Vereinigte
Linke, die sich auf eine landesweite Bekanntheit und einen Anhang unter der
Intelligenz und Teilen der bewussten ArbeiterInnenschaft stützen konnte und
einige hundert Aktivisten und Aktivistinnen und zehntausende AnhängerInnen
umfasste. Ebenso führten die Ereignisse zur politischen Oppositionsbildung in
den Gewerkschaften – z. B. in der Initiative Unabhängige Gewerkschaften –
und, vor allem Ende 1989, zu einer tiefen politischen Krise in der SED-PDS.

In diesen politischen
Bewegungen nach links hätten Revolutionäre und Revolutionärinnen das
Rohmaterial für eine wirklich revolutionäre Partei finden können.

Die Entwicklung in der
DDR wurde allerdings noch dadurch erschwert, dass die ArbeiterInnenklasse nicht
nur nicht als bewusstes politisches Subjekt auftauchte, sondern auch
betriebliche und kommunale Formen proletarischer Selbstorganisation sehr rar
blieben (obwohl es dokumentierte Fälle von betrieblichen Räten in der DDR
gibt). Es wäre jedoch verkürzt, das Ausbleiben proletarischer Machtorgane im
Betrieb und in der Gesellschaft nur auf ein geringes Niveau des
Klassenbewusstseins zurückzuführen.

Die SED-Bürokratie war
sehr rasch zurückgewichen. Im Betrieb erschien die Bürokratie kaum noch als
Gegnerin. Damit entfiel ein unmittelbarer praktischer Grund, die Macht im
Betrieb, gestützt auf Machtorgane der Arbeiter und Arbeiterinnen, direkt in die
Hand zu nehmen.

Zentrale politische Probleme

Revolutionäre Agitation
und Propaganda mussten sich auch stark auf die Notwendigkeit der Schaffung von
räteähnlichen Strukturen und Kampforganen der Arbeiter und Arbeiterinnen
konzentrieren und diese mit der Notwendigkeit der Errichtung einer demokratischen
Planwirtschaft verbinden. Eine solche wäre jedoch unmöglich gewesen, ohne den
revolutionären Sturz der SED, die Zerschlagung des Staatsapparates, die
Forderung nach Abzug der sowjetischen Armee, nach Entwaffnung von Polizei,
Armee, Betriebskampfgruppen und der Übergabe ihrer Waffen in die Hände von ArbeiterInnenmilizen.

Ein zweiter zentraler
Punkt war der Kampf gegen demokratische Illusionen. Dazu war es angesichts des
fehlenden Klassenbewusstseins des Proletariats unbedingt notwendig, die Kritik
des Charakters der bürgerlichen Demokratie und die Propagierung des Rätesystems
mit Forderungen zu verbinden, die die Hoffnungen in die bürgerliche Demokratie
einem Test unterzogen hätten und gleichzeitig dazu angetan waren, den Schaden
dieser Illusionen zu minimieren.

Eine solche
Herangehensweise war umso dringlicher, als der politisch-revolutionäre Prozess
November/Dezember 1989 seinen Schwung verloren hatte, die spontane
Massenmobilisierung mehr und mehr unter die Fuchtel offen restaurationistischer
Führungen geriet und auch SED, SED-PDS (später die PDS) unter Krenz, Modrow und
Gysi auf den Kurs der kapitalistischen Wiedervereinigung umschwenkten.
Bezeichnenderweise war es in dieser Phase Krenz, der als erster von einem „Vierten
Reich“ sprach, das er entstehen sah.

Demobilisierung und
Rechtsentwicklung

Die „Runden Tische“ waren
in dieser Hinsicht für alle bürgerlichen, kleinbürgerlichen und bürokratischen
Kräfte ein Mittel, sich dem Druck der Arbeiter und Arbeiterinnen zu entziehen.
In dieser Phase wurde von der westdeutschen Bourgeoisie und der SPD auch die
Frage der kapitalistischen Wiedervereinigung offensiver ins Treffen geführt.

Im Januar 1990 versuchte
die SED-PDS einen letzten Vorstoß zur Restabilisierung der Stasi, zu der sie
auch das Auftauchen faschistischer Schmierereien nutzte. Doch dieser Versuch
versandete rasch und die SED-PDS willigte ein, im März 1990 Wahlen abzuhalten.

Die Massenbewegung war
damit von der Straße weg vor die Fernsehschirme verbannt. Anfang 1990 war es
die SPD, die nun die Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten
in der DDR auf sich zog. Aber die SPD hatte einen Wiedervereinigungsplan, der
weder die historisch-strategischen Interessen des deutschen Imperialismus voll
befriedigte noch den Werktätigen der DDR eine vernünftige Perspektive bot:
Wiedervereinigung in zehn Jahren (womit die SPD in trauter Gemeinsamkeit mit
den MonetaristInnen der Deutschen Bundesbank gegen das „Abenteuer
Wiedervereinigung“ stand).

Die zögerliche Haltung
der SPD hatte nichts mit antiimperialistischen Überlegungen zu tun, sondern
spiegelte ihre soziale Basis in der westdeutschen ArbeiterInnenaristokratie
wider, die borniert, aber nicht zu Unrecht fürchtete, die Zeche für die
Expansion des deutschen Imperialismus zahlen zu müssen. Statt gemeinsam mit den
Klassenbrüdern und -schwestern im Osten in die Offensive zu gehen, blieb die ArbeiterInnenklasse
im Westen gegenüber den Ereignissen passiv, skeptisch, abwartend.

Statt gemeinsam gegen die
Angriffe des Kapitals zu kämpfen, dem Feldzug des deutschen Kapitals im Osten
gemeinsam entgegenzutreten und gleichzeitig für die Reorganisation der
Planwirtschaft auf Kosten der Profite der deutschen Multis zu kämpfen, redete
die SPD einer Variante der kapitalistischen Wiedervereinigung das Wort, deren
Kosten allerdings nur die ostdeutschen Arbeiter und Arbeiterinnen hätten
begleichen müssen.

Diese sahen sich daher zu
Recht von der SPD in Stich gelassen. Die Reformkonzepte der Bürgerbewegung, die
Sonntagsreden vom „Dritten Weg“ hatten nicht nur einen recht offensichtlichen
utopischen Charakter, sie klangen auch nach der allzu bekannten
Ankündigungspolitik der SED. Dass die DDR-Wirtschaft mit bürokratischer Planung
light nicht aus der Krise gebracht werden konnte, wusste auch die/der
unpolitischste DDR-ArbeiterIn.

Selbst eine einigermaßen
große kämpfende Propagandagruppe revolutionärer Kommunisten und Kommunistinnen
hätte in dieser Phase zumindest der Avantgarde eine politische Orientierung
geben können. Es existierte aber kein solcher Kern.

Die Haltung der
westdeutschen ArbeiterInnenbewegung, die Politik der SPD, aber selbst die
Position der „radikalen“ Linken, dass die Revolution (und Konterrevolution) in
der DDR ausschließlich eine Angelegenheit der DDR-Bevölkerung sei, führten
nicht nur zum stetigen Terrainverlust im Osten, sie sicherten dem westdeutschen
Imperialismus nebenbei auch ein ruhiges Hinterland.

Kohls Sieg

Andererseits hatte die
BRD-Regierung unter Kohl als einzige Kraft die weltgeschichtlichen Potentiale
der Situation nicht nur begriffen, sondern auch sehr selbstbewusst im Interesse
der langfristigen Perspektiven des deutschen Imperialismus die Initiative
ergriffen. Der „ideelle Gesamtkapitalist“ hat in dieser Situation auch ganze
Sektoren des deutschen Kapitals, nicht zuletzt die Bundesbank, zur Seite
geschoben und Kurs auf eine rasche kapitalistische Wiedervereinigung genommen.
Wenige Wochen vor der letzten Volkskammerwahl ging der westdeutsche
Imperialismus in die Offensive. Die Ost-CDU, nunmehr Marionette der Bonner
Regierung, gewann die Wahl. Der eigentliche Sieger war Kohl.

Keine einzige größere
Partei, die zur Wahl stand, hatte auch nur die Absicht, die kapitalistische
Wiedervereinigung und Abwicklung der DDR zu verhindern. Entscheidende
ökonomische Mechanismen – darunter die Gründung der Treuhand und die
Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli 1990 – waren schon
unter der Regierung Modrow auf den Weg gebracht worden. Nun folgte die
endgültige Zerstörung des degenerierten ArbeiterInnenstaats DDR mit der
Wirtschafts- und Währungsunion. Die Wiedervereinigung im Herbst war dann bloß
der staatliche Nachvollzug dieser Regelung.

Nein zur kapitalistischen
Vereinigung!

Zu den letzten
Volkskammerwahlen konnten Revolutionäre und Revolutionärinnen keine der
antretenden Parteien unterstützen. Sie waren in einer ganz entscheidenden
Stunde einer Wahl, die im Grunde eine Abstimmung über die Existenz der
Errungenschaften der DDR war, allesamt auf der falschen Seite der Barrikaden.
Die soziale Konterrevolution nahm dadurch auch wie in den meisten
osteuropäischen Ländern eine bürgerlich-demokratische Form an.

Im Frühjahr 1990 hätte
das Schwergewicht der Intervention revolutionärer Kommunisten und
Kommunistinnen auf folgende Punkte konzentriert werden müssen: die Verteidigung
der existierenden Errungenschaften, den Kampf gegen den beginnenden Ausverkauf
der DDR-Wirtschaft an das Kapital, ein klares Nein zur kapitalistischen
Wiedervereinigung bei gleichzeitiger Herstellung enger Verbindung zu den
Arbeitern und Arbeiterinnen im Westen (besonders in jenen Konzernen und Banken,
die sich anschickten, den Osten zu „erobern“), den Kampf für volle
demokratische Rechte für die ArbeiterInnenbewegung und die Schaffung von den
Belegschaften verantwortlichen Kampforganen, die bei einer Generalisierung und Zuspitzung
der Abwehrkämpfe zu landesweiten räteähnlichen Organen, zu Organisatorinnen von
Massenstreiks gegen Kapital und Bürokratie, gegen NATO und sowjetische Truppen hätten
ausgebaut werden müssen.

Solche Organe hätten
gleichzeitig die Grundlage für eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung sein
können, für die Zerschlagung der Reste des SED-Staatsapparates und die
Errichtung einer proletarischen Räterepublik in Deutschland. Eine solche
Entwicklung hätte die revolutionäre Wiedervereinigung mit unzweifelhaft
progressiver Dynamik auf die Tagesordnung gesetzt. Vor allem aber hätte der
Zusammenbruch der alten Weltordnung mit einem Fanal für die Ausweitung der
Revolution nach Ost- und Westeuropa begonnen.

Dass es nicht so gekommen
ist, lag zweifellos an ungünstigen politischen Voraussetzungen und der geringen
Zeitspanne, die für die Entstehung proletarischen Klassenbewusstseins und für
eine grundlegende Umgruppierung der Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung genutzt
werden hätte müssen. Die kapitalistische Wiedervereinigung war eine Niederlage
für die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland und eine besonders schwere für das
Proletariat in der ehemaligen DDR.

Es ist kein Zufall, dass
seit den frühen 1990er Jahren fast alle zentralen Angriffe auf die
Errungenschaften im Westen durch „Probeläufe“ und „Vorstöße“ im Osten gestartet
werden. Die Deindustrialisierung und die riesige industrielle Reservearmee,
aber auch der Verlust an gewerkschaftlicher Kampferfahrung und Bereitschaft des
Proletariats in den neuen Bundesländern haben die ArbeiterInnenklasse in der ganzen
BRD geschwächt. Gleichzeitig wurde die weltpolitische Rolle des deutschen
Imperialismus im letzten Jahrzehnt enorm gestärkt. Die ArbeiterInnenbewegung in
Deutschland steht heute einem Klassengegner gegenüber, der sich viel mehr
gestärkt hat, als es die Betrachtung der rein territorialen Ausdehnung
wiedergibt.

Der Kampf ist nicht zu
Ende!

Welches Potential in der ArbeiterInnenklasse
noch immer steckt, lässt sich freilich daran ermessen, dass es der Bourgeoisie
trotz ihres historischen Erfolgs 1990 noch nicht gelungen ist, die
Errungenschaften der westdeutschen ArbeiterInnenbewegung und die Stärke dieser
Bewegung zu vernichten. Zweifellos hat sich das Kräfteverhältnis insgesamt
zugunsten der Kapitalistenklasse verschoben – aber diese Verschiebung hatte
bisher einen im Wesentlichen graduellen, keinen qualitativen Charakter. Für die
deutsche Bourgeoisie ist dieser Schritt aus internationalen politischen und
ökonomischen Erwägungen notwendig, da nur so für den deutschen Imperialismus
alle Früchte aus der kapitalistischen Wiedervereinigung geerntet werden können.

Um diesen noch
ausstehenden Kampf gewinnen zu können, muss die ArbeiterInnenbewegung in
Deutschland auch die Ursachen der Niederlage des ostdeutschen Proletariats
begreifen und die politischen Lehren daraus ziehen!




Die nationale Frage in der DDR

Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, 21. November 1989, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Obwohl die Teilung Deutschlands eine reaktionäre
Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen war, führte sie zur
Schaffung eines degenerierten ArbeiterInnenstaates, dessen grundlegende
ökonomische Merkmale ein Hindernis für kapitalistische Ausbeutung, die Basis
einer geplanten Wirtschaft und soziale Fortschritte sowie den Ausgangspunkt
zukünftigen Fortschritts der Arbeiterinnenklasse der DDR darstellen.
Kommunistinnen treten daher prinzipiell gegen eine Wiedervereinigung von DDR
und BRD ein, falls diese die Zerstörung der nachkapitalistischen
Eigentumsverhältnisse in der DDR und die Expansion des BRD- Imperialismus zum
Inhalt hat.

Alles in allem hat die Massenbewegung in der DDR die Frage
der Wiedervereinigung bisher nicht als vordringliches Thema aufgeworfen. Das
folgt teilweise aus der Dominanz der offiziellen Ideologie mit ihrer ständigen
Versicherung der Legitimität des Staates, teilweise aus einer „realistischen“
Einschätzung, was die Imperialistlnnen und die UdSSR erlauben werden, und zum
Teil auch aus der Einsicht in den reaktionären Charakter der BRD. Trotzdem ist
es praktisch undenkbar, dass die fortgesetzte politische Krise in der DDR nicht
dazu führen wird, dass die Wiedervereinigung als mögliche Lösung der
ökonomischen Schwäche und der politischen Instabilität gesehen wird.
Revolutionärinnen müssen sich auf die fortschrittlichen Elemente dieser Idee
beziehen. Deshalb ist die Forderung nach revolutionärer Wiedervereinigung
Deutschlands keine untergeordnete taktische, sondern ein Bestandteil des
Programms. Damit meinen wir nicht, dass ein wiedervereinigter deutscher
Arbeiterinnenstaat notwendige Voraussetzung oder Ergebnis siegreicher
ArbeiterInnenrevolutionen in Europa sein muss. Wir erkennen aber, dass die nationale
Frage eine Achillesferse der DDR ist, die kein anderer osteuropäischer
degenerierten ArbeiterInnenstaat besitzt. Eine revolutionäre Antwort auf dieses
spezielle Problem bekommt damit sogar entscheidenden Stellenwert, wenn
nationale Illusionen in den Vordergrund des proletarischen Bewusstseins rücken.
Revolutionärinnen müssen hervorstreichen, dass es natürlich keine Lösung für
die Probleme der DDR in ihren eigenen Grenzen gibt. In diesem Kontext erkennen
wir auch das große ökonomische Gewicht der BRD und ihre Kapazität, den
ökonomischen Wiederaufbau und die Entwicklung in allen degenerierten
ArbeiterInnenstaaten zu unterstützen an. Aber Revolutionärinnen weisen die Idee
zurück, dass das durch die Wiedervereinigung unter einer imperialistischen BRD erreicht
werden könnte.

Die Prosperität der BRD war keineswegs das Ergebnis
irgendeiner dem kapitalistischen System innewohnenden Überlegenheit. Während
der ganzen Nachkriegsgeschichte hat die in der BRD angesiedelte deutsche
herrschende Klasse aus der Existenz ihrer stalinistisch kontrollierten
Nachbarin Vorteile gezogen. Ideologisch half diese Konstellation, die
ArbeiterInnenklasse in der BRD an ihre kapitalistischen, aber „demokratischen“
HerrInnen zu binden. Ökonomisch brachte sie sowohl die Zufuhr gut ausgebildeter
Arbeitskraft (EinwanderInnen vor dem Bau der Berliner Mauer) und den Zugang zu
osteuropäischen Märkten. Die herrschende Klasse der BRD sieht angesichts einer
eigenen exportorientierten Wirtschaft, die eine Rezession und einen darauf
folgenden Niedergang des Welthandels auf sich zukommen sieht, die Krise in der
DDR und in den anderen degenerierten ArbeiterInnenstaaten als Möglichkeit für
eine Weiterführung, ja Ausdehnung der eigenen Produktion. Zweitens sieht sie
darin die Grundlage einer neuen eigenen Rolle im europäischen und schließlich
im weltweiten Rahmen.

Die BRD-Bosse rechnen sich schon jetzt aus, wie sie am
besten aus der Krise des Stalinismus profitieren, wie sie Arbeitslöhne durch
„Flüchtlingsarbeit“ drücken können, wo neue Industrien errichtet werden sollen
und woher sie billigere Rohmaterialien erhalten können. Die
Metall-UnternehmerInnen fordern bereits eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche, die
durch den Druck der Gewerkschaften Mitte der 1980er Jahre abgeschafft worden
war. Um ihre eigenen Interessen und die der ArbeiterInnen in der DDR zu
verteidigen, müssen die Lohnabhängigen in der BRD die Pläne der KapitalistInnen
durchkreuzen. Sie müssen lernen, mit ihren Bossen in derselben Sprache wie die
polnischen, russischen und ostdeutschen ArbeiterInnen zu sprechen, der Sprache
der Massenstreiks und Demonstrationen. Sie müssen nicht nur gleichen Lohn und
gleiche Rechte für alle ArbeiterInnen fordern, sondern auch das Ende der
gegenwärtigen Offensive gegen die DDR. Solange die DDR auf nachkapitalistischen
Eigentumsverhältnissen basiert, muss ihr Existenzrecht verteidigt werden, die
BRD muss ihre Legitimität und die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen.

RevolutionärInnen in der BRD fordern außerdem die Öffnung
aller Bücher der KapitalistInnen, die aus Handelsbeziehungen mit degenerierten
ArbeiterInnenstaaten profitiert haben. Sie werden die Aufnahme direkter
Beziehungen zwischen den Basisorganisationen der ArbeiterInnenklasse auf beiden
Seiten und die Bewilligung auflageloser Kredite und Hilfe für die DDR fordern.
Den Plänen, die DDR als Teil einer Rekapitalisierung in die BRD einzugliedern,
stellen wir das für ganz Europa fortschrittliche Potential einer revolutionären
Wiedervereinigung Deutschlands gegenüber, das heißt den Sturz des
kapitalistischen Staates in der BRD und den der Stalinistinnen in der DDR.

(Aus: Die Krise in der DDR, Resolution der LRKI, 21.11.1989)




Planungsmangel und Mangelplanung

Hannes Hohn, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1999)

Ein DDR-Witz ging so:
„Was passiert, wenn die Sahara sozialistisch ist? Antwort: Zunächst sehr lange
gar nichts, dann wird nach und nach der Sand knapp“. Plastischer als in mancher
Analyse werden hier zwei wichtige Merkmale der DDR-Gesellschaft beschrieben –
Stagnation und Mangel.

Im folgenden Beitrag
wollen wir versuchen, wichtige Mechanismen und Bedingungen der Planwirtschaft
in der DDR aufzuzeigen, und dabei Ursachen der Probleme dieser bürokratischen
Wirtschaft benennen. Es ist jedoch nicht Anliegen dieses Artikels, eine
umfassende Analyse vorzunehmen. Vielmehr fügt sich dieser Beitrag in die Reihe
von Arbeiten zur Theorie und Geschichte der Planwirtschaft ein, welche die
LRKI/LFI in den letzten Jahren vorgelegt hat.

Widersprüchliches
Staatsgebilde

Die DDR war ein
degenerierter ArbeiterInnenstaat – ein Staat also, in dem einige grundlegende
kapitalistische Wirtschaftsprinzipien weitgehend, wenn auch nicht vollständig,
überwunden waren. Ökonomisch – weil ohne Bourgeoisie, konkurrierendes
Privateigentum und Markt – war die DDR ein ArbeiterInnenstaat. Politisch war
sie degeneriert, d. h. anstatt des Proletariats hatte eine bürokratische Kaste
die politische und administrative Macht in Händen. Anstatt eines räteartigen
Halbstaates, der im Laufe der Entwicklung aufgehoben werden kann, installierte
die Machtelite ein der Form nach bürgerliches Staatsmonstrum, das den Massen
als verselbstständigter, unkontrollierbarer Apparat Selbstorganisation und
Kreativität erschwerte oder gar unmöglich machte.

Obwohl diese staatlichen
Strukturen dem Selbstverständnis der StalinistInnen gemäß Ausdruck der Diktatur
des Proletariats waren, standen sie den Prinzipien von ArbeiterInnendemokratie
und ArbeiterInnenmacht diametral entgegen.

Dieser Zusammenhang
zwischen Staatsstruktur und Wirtschaftsweise ist in einer nichtkapitalistischen
Gesellschaft von wesentlich größerer Bedeutung als im Kapitalismus. Während
dort die ökonomischen Mechanismen im Kern dieselben bleiben, ob das Regime
demokratisch, bonapartistisch oder faschistisch ist, steht die Frage im
ArbeiterInnenstaat gänzlich anders. Nicht das Ziel der Profitmaximierung
einer/s PrivateignerIn (oder einer Gruppe von PrivateignerInnen) ist das
treibende Moment der Produktion, sondern die bewusste Entscheidung der
Gesellschaft darüber, was wie von wem produziert wird. Das impliziert, dass die
Produktion statt der Profitrentabilität der Befriedigung realer Bedürfnisse der
Gemeinschaft dient. Anstelle des Tauschwertes tritt der Gebrauchswert als Ziel
der Produktion.

Die Planwirtschaft in der
DDR hatte grundsätzlich mit dem Mangel zu kämpfen, dass das Subjekt in
Wirtschaft und Gesellschaft – das Proletariat oder, anders ausgedrückt, die
ProduzentInnen und KonsumentInnen – keinen wesentlichen Einfluss darauf hatten,
wie, was, womit und wozu produziert wurde. Der an ihrer Stelle handelnden
Bürokratie gelang es zwar, den Wirtschaftsmechanismus am Laufen zu halten, doch
die in Richtung Kommunismus führenden revolutionären Veränderungen der
Gesellschaft insgesamt wollte und konnte sie nicht durchsetzen.

Die von Marx postulierten
strategischen Ziele des Sozialismus/Kommunismus wie Aufhebung der
kapitalistischen Arbeitsteilung, Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit und
Erreichung eines Produktivitätsstandards, der eine Überflussproduktion
ermöglicht – all das war nicht das Interesse der Bürokratie und ohne die
schöpferische Gestaltungskraft der Massen auch nicht zu erreichen. Im Endeffekt
blieb die Übergangsgesellschaft DDR mitten in dieser Periode  – oder besser: am Anfang – dieses
Übergangs stecken. Die Bürokratie erwies sich nicht als Prometheus der
Entwicklung, sondern als Prokrustes.

Bevor wir die
Ausgangsbedingungen und die Entstehung der DDR-Planwirtschaft, die inneren
Widersprüche bürokratischer Planung untersuchen sowie ein historisches Fazit
ziehen, müssen wir kurz auf einige grundlegende Probleme der Übergangsperiode
eingehen.

Übergangsperiode und
bürokratische Herrschaft

Die analytische Trennung
zwischen den allgemeinen Problemen der Übergangsperiode, denen in jeweils
verschiedener historischer Ausformung die revolutionäre Diktatur des
Proletariats gegenüberstehen würde, und den Krisen, die durch die reaktionäre,
weltgeschichtlich illegitime und zur Restauration des Kapitalismus drängende
Herrschaft einer Bürokratenkaste hervorgerufen werden, ist politisch aus zwei
Gründen notwendig.

Erstens lässt sich nur so
eine inhaltlich fundierte, genaue Kritik der bürokratischen Planung und
Herrschaft entwickeln. Ohne hinreichend klares Verständnis des Charakters der
Übergangsperiode, der notwendigen Herrschaftsform dieser Entwicklungsphase –
der Diktatur des Proletariats – und der prinzipiellen Aufgaben, die daraus
erwachsen, läuft die Kritik der Bürokratie leicht Gefahr, in ultralinkem
Utopismus, kleinbürgerlichem Demokratismus oder diversen Spielarten des
Marktsozialismus zu enden.

Zweitens können damit das
revolutionäre Programm und die Aufgaben der KommunistInnen viel klarer bestimmt
und Lehren aus dem Scheitern der bürokratischen Planwirtschaft gezogen werden.

Anders als beim Übergang
vom Feudalismus zum Kapitalismus kann das Proletariat beim Sturz der
Bourgeoisherrschaft nicht auf eine schon in der untergehenden bürgerlichen
Gesellschaft entwickelte historisch überlegene Produktionsweise zurückgreifen.
Die kapitalistische Produktionsweise entwickelte sich schon in der
Feudalgesellschaft und besonders im Absolutismus. Die bürgerlichen Revolutionen
vollzogen den weltgeschichtlichen Wechsel politisch. Vermochten Adel und
Monarchie der Bourgeoisie die politische Macht zu entreißen oder historisch
verspätete Kapitalistenklassen zu weitgehenden Klassenkompromissen zu zwingen –
so war an der kapitalistischen Produktionsweise als ökonomischer Basis der
Gesellschaft nicht mehr zu rütteln. Die Gefahr einer feudalen Restauration auf
wirtschaftlichem Gebiet bestand schlechterdings nicht.

Besonderheiten des
Übergangs zum Sozialismus

Die ArbeiterInnenklasse
kann beim Sturz des Kapitalismus auf keine solche Produktionsweise
zurückgreifen. Der Kapitalismus entwickelt zwar die geschichtlichen
Voraussetzungen für die kommunistische Gesellschaft und seine inneren
Widersprüche drängen notwendig zur revolutionären Freilegung eben dieser
Potentiale. Aber der Akt der proletarischen Revolution sichert als solcher noch
nicht den Übergang zum Sozialismus. Vielmehr ist die Eroberung der Staatsmacht
durch das Proletariat eine notwendige Voraussetzung für den Übergang zum
Sozialismus. Es muss die politische Macht erobern, um zur bewussten und
planmäßigen Umgestaltung der Gesellschaft voranschreiten zu können. Daher
spielt in der proletarischen Revolution die Frage des Bewusstseins und der
Organisierung eine viel größere Rolle als in der bürgerlichen Revolution.

Die Übergangsperiode
erzwingt die Fortexistenz eines Staatsapparats, wenngleich eines qualitativ vom
bürgerlichen verschiedenen: eines proletarischen Halbstaates. Sie erfordert
eine bewusste politische und ökonomische Führung während dieser Periode. Der
ArbeiterInnenstaat ist kein Staat, der sich aufgrund seiner ökonomischen
Überlegenheit, einer schon etablierten höheren Produktionsweise, des Übergangs
zum Sozialismus sicher sein könnte.

Vielmehr ist die
Übergangsperiode eine Periode, die durch den unversöhnlichen Kampf zwischen
zwei Produktionsweisen, zwischen dem System der Warenproduktion und den mehr
oder weniger entwickelten Elementen einer zukünftigen sozialistischen
Wirtschaft bestimmt wird. In dieser Periode kann und muss das Wertgesetz zwar
durch bewusste planwirtschaftliche Elemente in seiner Wirkung eingeschränkt und
zurückgedrängt werden. Es kann aber nicht einfach „abgeschafft“ werden. Solange
die Weltrevolution nicht gesiegt hat, wirkt es weiter über den kapitalistischen
Weltmarkt.

Auch der revolutionärste
ArbeiterInnenstaat kann sich dem ökonomischen Vergleich mit der kapitalistischen
Weltwirtschaft, einer sehr realen Systemkonkurrenz, die v. a. auf dem Feld der
Arbeitsproduktivität ausgetragen wird, nicht entziehen. Hier findet ein
Vergleich des Entwicklungsstandes, des Fortschritts oder Zurückbleibens der
Planwirtschaft statt, den jeder Arbeiter, jede Arbeiterin vollkommen zu Recht
zieht.

Die ökonomischen und
politischen Erfordernisse dieses Vergleichens fließen auch in die beste und
demokratischste Planung ein, sowohl im Guten – dem Versuch, bestimmte
Bedürfnisse besser und effektiver zu befriedigen – wie im Schlechten – zum
Beispiel darin, dass die Selbstbehauptung des ArbeiterInnenstaates bestimmte
unproduktive Ausgaben erzwingt (z. B. Rüstung). Die Wirkung des Wertgesetzes
erfolgt ferner über den Außenhandel.

Das Wertgesetz wirkt auch
im Inneren des ArbeiterInnenstaates, je nach Entwicklungsstufe, weiter. Ganz
offenkundig ist das, wo weiter kleine PrivatproduzentInnen für einen Markt
produzieren oder aufgrund von ökonomischer Not sogar Kapitalakkumulation
zugelassen werden muss. Wie das Beispiel der DDR (und aller stalinistischen
Staaten) zeigt, ist das aber nur ein besonders augenfälliger und prekärer
Aspekt, da er mit dem Weiterbestehen und u. U. sogar mit der Stärkung von
Klassen einhergeht, die historisch auf dem Boden des Privateigentums an
Produktionsmitteln stehen.

Warenform und Übergang

Wiewohl in den
degenerierten wie gesunden ArbeiterInnenstaaten (abgesehen von kurzen
Übergangsphasen nach der Machtergreifung wie z. B. unmittelbar nach der
Oktoberrevolution) nicht von einer verallgemeinerten Warenproduktion gesprochen
werden kann, so muss für eine bestimme Phase der Fortbestand der Warenform des
Arbeitsproduktes, des Geldes und der Lohnform in Rechnung gestellt werden.

Natürlich ist jede Kritik
an der stalinistischen Bürokratie, dass Geld, Lohn, Warenproduktion nicht
einfach per Dekret abgeschafft wurden, Kinderei. Eine solche Sicht läuft im
Grunde darauf hinaus, dass der Übergang zum Sozialismus ein reiner Willensakt
wäre, wo die von der bürgerlichen Gesellschaft ererbte Teilung der Arbeit, der
Mangel an Gütern, die politischen, ökonomischen und militärischen Zwänge des
Kampfes mit dem Imperialismus usw. einfach durch das Wollen der Führung
überwunden werden könnten. Sie unterstellt, dass der Sozialismus in einem Land
schon aufgebaut werden könne, sofern man einfach Geld, Lohn, Staat, Politik
usw. „abschafft“.

Die stalinistische
Bürokratie hat nie versucht, den Kampf zur Zurückdrängung des Wertgesetzes und
zur fortschreitenden Entwicklung einer Ökonomie der Arbeitszeit systematisch
und bewusst zu führen. So wurden keine Schritte unternommen, die Lohnform
zurückzudrängen und durch eine Verteilung der Konsumgüter auf Basis geleisteter
Arbeit (also einer Kalkulation der gesellschaftlichen Arbeitszeit) zu ersetzen.
Natürlich ist – wie Marx darlegt – auch dieses Prinzip der Verteilung noch
immer ein bürgerliches und kein sozialistisches. Es beinhaltet jedoch schon den
Überganz zu einer rationalen, auf der bewussten Planung des gesellschaftlichen
Arbeitsvermögens basierenden Ökonomie, der Überwindung der tradierten
Arbeitsteilung.

Es beinhaltet in seiner
Entwicklungslogik ein sukzessives überflüssig Machen auch des proletarischen
Staates, einer Aufhebung von Politik und proletarischer Demokratie in die
Selbstverwaltung der assoziierten ProduzentInnen. Die Entwicklung zu einer
Ökonomie der Arbeitszeit wäre für die Bürokratie unmöglich gewesen, da sie
notwendigerweise nicht nur ihr Machtmonopol in Frage gestellt, sondern
überhaupt ihren parasitären Charakter offenbart hätte. Jede Ökonomie der
Arbeitszeit setzt offene Diskussion, einen „Kassensturz“ der gesellschaftlichen
Arbeit und Bedürfnisse, die Aufteilung der Arbeit und Produkte, der kurz-,
mittel- und langfristigen Entwicklungslinien voraus.

Daher ist die
ArbeiterInnendemokratie, die Räteherrschaft, die bewusste und systematische
Einbeziehung und direkte politische Herrschaft der Massen, kein bloßes
„politisches“ Anhängsel des Übergangs zum Sozialismus, sondern seine
unverzichtbare staatliche Form. Nur so können die Bedürfnisse der Massen zum
wirklichen Motor der Planung, ihrer Ziele, ihrer Methoden werden. Nur so kann
der Staat auch wirklich absterben, überflüssig werden. Nur so kann die
ArbeiterInnenklasse aufhören, eine ausgebeutete, unterdrückte, entfremdete
Klasse zu sein.

Der Sturz der Herrschaft
der Bourgeoisie ist ein notwendiger und befreiender Schritt in diese Richtung.
Das Proletariat hört auf, eine Klasse freier LohnarbeiterInnen zu sein, die
gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Aber der Stalinismus hat – in
dieser Hinsicht den „sozialstaatlichen“ Vorstellungen der Sozialdemokratie ganz
ähnlich – keinen Schritt über diese Errungenschaft hinaus getan. Er war nicht
daran interessiert (und konnte es auch gar nicht sein), die arbeitenden
Menschen mehr und mehr zu allseitigen Individuen zu entwickeln – er hat
vielmehr die ganze Gesellschaft auf die Statur der/s entfremdeten,
bewusstseins- und daseinsmäßig verkleinbürgerlichten LohnarbeiterIn
herabgedrückt.

Die bürokratische
Herrschaft im degenerierten ArbeiterInnenstaat stellt auch nicht einfach eine
„Verlangsamung“ des Weges zum Sozialismus dar, sondern führt notwendigerweise
zum weltgeschichtlichen Rückschritt zum Kapitalismus, sofern sie nicht durch
die politische Revolution gestürzt wird. Die bürokratische Planung musste sich
– waren die prinzipiellen Vorzüge der Planung einmal aufgebraucht – mehr und
mehr erschöpfen, zurückbleiben.

Die stalinistische
Bürokratie schwankte in ihrer Wirtschaftspolitik zwischen der vollmundigen
Behauptung, das Wertgesetz „abgeschafft“, „planmäßig“ in den angeblich ohnehin
schon erreichten Sozialismus integriert zu haben oder ebendieses Wertgesetz in
marktsozialistischen Reformen verstärkt nutzen zu wollen.

Geburtsfehler

Um die Grundprobleme der
DDR-Wirtschaft verstehen zu können, ist es notwendig, einen Blick auf die
Entstehung der DDR und die Politik des Stalinismus zu werfen. Stalins Strategie
sah vor, dass Deutschland unter der gemeinsamen Verwaltung der Alliierten ein
neutraler, demokratischer, auf bürgerlichen ökonomischen Grundlagen beruhender
Staat sein sollte, der für die UdSSR keine Bedrohung mehr darstellen konnte und
als „Puffer“ zwischen den Einflusssphären des Westens und des Ostens liegen
sollte. Der Sturz der Bourgeoisie als Klasse und die Machtübernahme durch das
Proletariat waren definitiv nicht vorgesehen.

Diese Konzeption (und
damit die Strategie des Agreements mit dem Weltimperialismus) erwies sich
allerdings sehr schnell als völlig illusorisch. Diese Erkenntnis dämmerte
Stalin jedoch später als dem Westen. Die Entwicklung führte schließlich an den
Punkt, an dem Moskau vor der Alternative stand, seinen Einfluss in Deutschland
angesichts von Marshallplan und Westintegration gänzlich zu verlieren oder aber
die Reste kapitalistischer Ökonomie ganz abzuschaffen.

Die Einführung einer
geplanten Wirtschaft, des Staatseigentums und des Außenhandelsmonopols sind
also nicht Ergebnisse der politischen Strategie Stalins, sondern eher das
Resultat ihres Scheiterns.

Schwierige
Ausgangsbedingungen

Nach Kriegsende befand
sich die ostdeutsche Wirtschaft in einem dramatischen Zustand, der durch
folgende Bedingungen gekennzeichnet war:

  • Große Teile der Produktionsstätten und Verkehrswege waren zerstört (die vorrangige Bombardierung Ostdeutschlands durch die Westalliierten in den letzten Kriegsmonaten verweist an sich schon auf das Ziel des Imperialismus, potentiell Sowjetrussland zu schädigen, statt – wie Stalin meinte – mit ihm zu kooperieren.
  • Durch die Verluste von Männern an der Front, die Rückkehr der ZwangsarbeiterInnen und die Ausfälle durch jahrelange Gefangenschaft gab es einen empfindlichen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Dazu kam der Aderlass an administrativen und technischen SpezialistInnen, die sich oft (weil sie aktive Nazis waren) nach dem Westen absetzten.
  • Die deutsche Wirtschaft wurde durch die Teilung, zuerst in Besatzungszonen, schließlich in zwei separate Staaten gespalten. Die ostdeutsche Ökonomie war dadurch wichtiger Teile beraubt, v. a. des Großteils der Stahlindustrie und der Steinkohle. Dadurch litt sie von Anfang an unter dem Mangel an Rohstoffen (hochwertige Energieträger, Erze) und einer Grundstoffindustrie. Stark ausgeprägt waren hingegen der Maschinenbau, Fahrzeug- und Flugzeugbau sowie die Leichtindustrie. Dazu kommt ein relativ großer agrarischer Sektor. (1)

Erschwerend für den
wirtschaftlichen Aufbau wirkten auch der immense informelle Sektor
(Schwarzmarkt) sowie die Notwendigkeit der Umstellung der Produktion auf
„Friedenszwecke“. Zu diesen ungünstigen Startbedingungen kam noch hinzu, dass durch
die Reparationsleistungen, die von der Sowjetunion von „ihrer“ Besatzungszone
besonders intensiv und lange eingefordert worden waren, erhebliche Verluste an
ökonomischem Potential entstanden. (2)

Ökonomisches Dilemma und
politisches Desaster

Angesichts der
schwierigen wirtschaftlichen Startbedingungen wäre eine korrekte Politik von
KPD und SED und v. a. der Führung in Moskau von besonderer Bedeutung gewesen.
Doch v. a. der Einfluss Stalins wirkte sich katastrophal aus.

Es handelte sich dabei
jedoch nicht einfach um ökonomisches Missmanagement, sondern um die logischen
Folgen einer völlig falschen, gegen die Interessen des Proletariats und auf
einen Kompromiss mit dem Imperialismus ausgerichteten und letztlich den
bornierten Interessen der sowjetischen Bürokratie untergeordneten Politik.

Schwarzmarkt,
Wirtschaftssabotage seitens der EigentümerInnen und des Managements sowie der
Mangel an grundlegenden Gütern hätten am besten überwunden werden können, indem
Machtorgane der ArbeiterInnenklasse auf betrieblicher und staatlicher Ebene
geschaffen wurden. Diese hätten Produktion und Verteilung in Gang setzen und
nach und nach eine allgemeine Planung der Gesamtwirtschaft einführen können.
Durch die Zerstörung der Betriebe und die Flucht der EigentümerInnen waren die
ArbeiterInnen ohnehin dazu gezwungen, die betrieblichen Abläufe zu
kontrollieren und praktisch als EigentümerInnen zu handeln.

Diese ersten Schritte zur
Schaffung von politischen und ökonomischen Machtorganen des ostdeutschen
Proletariats wurden jedoch durch die ReformistInnen von SPD und KPD bzw. der
SED in Kooperation mit der Sowjetischen Militäradministration (SMAD)
boykottiert. Die betrieblichen Organe der ArbeiterInnenschaft wurden – ebenso
wie die Betriebsräte – aufgelöst und durch bürokratische Reglements und
Institutionen (z. B. die Betriebsgewerkschaftsleitung, BGL) ersetzt. Auch die
Enteignung der Bourgeoisie als Klasse wurde zunächst nicht durchgeführt.
Lediglich der Besitz von Nazis und KriegsverbrecherInnen wurde enteignet. Zum
großen Teil entstanden daraus Aktiengesellschaften in der Hand oder der
Verwaltung durch die SMAD.

Dieser bürokratische Akt
der Enteignung spiegelt sehr deutlich das Eigeninteresse der Moskauer
Bürokratie wider, welches im Widerspruch zur Notwendigkeit und Möglichkeit der
Enteignung der gesamten Bourgeoisie durch das Proletariat stand. Wie die
Volksabstimmungen in mehreren deutschen Ländern zeigten, gab es eine große
Mehrheit in der (gesamtdeutschen) Bevölkerung für die Überführung des
Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum.

Besonders schwer litt die
ostdeutsche Wirtschaft unter den Reparationsleistungen. Diese verweisen auch
darauf, dass es der Sowjetbürokratie nicht etwa um den Aufbau eines
ArbeiterInnenstaates und einer nichtkapitalistischen Wirtschaft ging. Vielmehr
spielten hier ganz andere Interessen eine Rolle: die Stärkung der sowjetischen
auf Kosten der (ost-)deutschen Wirtschaft, die Schaffung eines gesamtdeutschen
Pufferstaates auf (schwach entwickelter) bürgerlicher Ökonomie bzw. die Nutzung
der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) als Verhandlungsmasse mit dem Westen.

Diese Strategie erklärt
auch die ökonomisch anfangs besonders „dumme“ Art der Reparationsleistungen.
Anstatt Fertigprodukte zu beziehen, demontierte man die Produktionsanlagen, um
sie nach wochen- und monatelangem Transport wieder aufzubauen, was massive
Verluste beim Output bedeutete. Dieser ungeheure, gegen die Lebensinteressen
der deutschen (und letztlich auch sowjetischen) ArbeiterInnenklasse gerichtete
Aderlass wurde politisch auch von den ArbeiterInnenparteien SPD, KPD bzw. SED
befürwortet.

Die Entstehung der
Planwirtschaft

In den ersten Jahren nach
1945 existierte die Wirtschaft Ostdeutschlands bzw. der DDR im Wesentlichen
noch auf Grundlage von Privateigentum und Marktbeziehungen. Die Enteignung der
Bourgeoisie als Klasse wurde in mehreren Schritten vollzogen, wobei die
ArbeiterInnen diese Expropriation nicht aktiv und bewusst vollziehen konnten –
sie war vielmehr das Ergebnis willkürlicher Akte der Bürokratie.

Erste Enteignungen
erfolgten schon 1945/46, betrafen aber fast nur den Besitz von Nazis und
KriegsverbrecherInnen. Diese Enteignungen betrafen bis 1948 ca. acht Prozent
der Betriebe, die allerdings etwa 40 Prozent der Gesamtproduktion umfassten.
Ein großer Teil dieser Betriebe ging in die Hände der Sowjetunion über, die als
Hauptaktionärin bzw. Treuhänderin auftrat. Dadurch wurde das ostdeutsche
Proletariat daran gehindert, selbst Eigentümer zu sein und die ökonomischen
Prozesse zu gestalten. Die Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaften (SDAG) –
deren bekannteste der Uranbergbau der SDAG Wismut war – waren in die
Planwirtschaft der UdSSR integriert.

Die wirtschaftlichen
Beziehungen in der SBZ jedoch unterlagen keinem gesamtstaatlichen Plan, sondern
funktionierten noch nach den Zwängen des Wertgesetzes. Eingriffe des Staates
gab es unter den Zwängen des Wiederaufbaus zwar häufig, jedoch folgten diese
eben keinem Plan, sondern eher der Aufrechterhaltung der dringendsten
Versorgung und der Produktion der einzelnen Unternehmen. Der Finanzsektor war
ebenfalls staatlich, aber Investitionen, Kredite usw. waren noch nicht
Instrumente einer allgemeinen Wirtschaftsplanung.

Von einem
ArbeiterInnenstaat DDR, d. h. einem Staat, der auf nichtkapitalistischen
ökonomischen Grundlagen basiert, können wir erst ab 1951 sprechen. Zu diesem
Zeitpunkt war der größte Teil der Industrie in Staatshand überführt. (3) Es gab
aber immer noch eine Anzahl von privaten oder halbstaatlichen Kleinbetrieben,
die z. T. erst Mitte der 1970er Jahre mehrheitlich verstaatlicht worden sind.
Aber auch diese Betriebe waren in die Planwirtschaftsbeziehungen integriert und
konnten keineswegs wie reine Privatfirmen agieren.

Die in den 1950er Jahren
begonnene Kollektivierung der Landwirtschaft wurde ebenfalls bis 1961 bis auf
kleine private Reste abgeschlossen.

Schon 1948 gab es erste
Ansätze von zentraler Wirtschaftsplanung. Sie dienten v. a. der Überwindung von
Kriegsschäden und dem Ausbau jener Sektoren der Ökonomie, die durch die Teilung
Deutschlands im Osten nur schwach entwickelt waren. Der qualitative Sprung zu
einer Wirtschaft, deren wesentlicher Mechanismus der Plan und nicht mehr das
Wertgesetz war, erfolgte aber erst 1951 mit der Einführung des ersten
Fünfjahrplanes. Dieser Plan umfasste die Kernsektoren der Wirtschaft, denen er
verbindliche Vorgaben machte, was von wem zu produzieren sei. Investitionen und
Ressourcenvergabe erfolgten nicht nach Gewinnkriterien privater EignerInnen,
sondern gemäß den Erfordernissen der Gesamtwirtschaft bzw. Gesellschaft
(zumindest, was die Bürokratie als solche verstand). Damit war die Dominanz des
Wertgesetzes gebrochen und die Wirtschaft auf eine qualitativ neue Basis
gestellt.

Doch der erste
Fünfjahrplan kollidierte mit den objektiven Möglichkeiten und v. a. der Reparationspolitik
Moskaus und war z. T. eher Ausdruck der politischen Eigeninteressen Ulbrichts
als den Umständen angemessen. Die Bürokratie in der Sowjetunion war über die
weitere Deutschlandpolitik gespalten, was sich auch in den Flügelkämpfen in der
SED ausdrückte. Wiewohl von Moskaus Gnaden inthronisiert, war die SED nicht nur
das bürokratische Anhängsel der sowjetischen herrschenden Kaste, sondern
zugleich auch herrschende Partei mit bürokratischen Eigeninteressen und dem
Wunsch, sich selbst auf Dauer als Staatsbürokratie zu etablieren. Daher auch
das begrenzte „Vorpreschen“ Ulbrichts, um durch die Einführung der
bürokratischen Planwirtschaft schwer revidierbare Fakten und soziale
Voraussetzungen für einen degenerierten ArbeiterInnenstaat DDR zu schaffen.

Schon damals verfing sich
die Planung in der kruden Logik der Bürokratie. Einerseits konnte man Fehler
und das Nichterreichen von Zielen nicht zugeben, da man damit die eigene
„Unfehlbarkeit“ untergraben hätte, andererseits mussten – nicht zuletzt durch
den Systemvergleich mit der BRD – die Planziele immer höher geschraubt werden.
So wurde häufig genug an der Realität vorbei geplant.

Verfehlte Ziele

Eine geplante Wirtschaft
ist kein Selbstzweck, sondern der ökonomische Mechanismus, mit dem ein
ArbeiterInnenstaat die gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Kommunismus
ökonomisch vorantreibt. Insofern muss jede Planung an den historischen Zielen
des Kommunismus gemessen werden. Wie stand es damit in der Planung als Teil der
Gesellschaftsstrategie des Stalinismus?

Obwohl Marx kein
geschlossenes Modell des Sozialismus oder Kommunismus zeichnen konnte, gab er
doch eine Reihe von Prämissen vor, die er aus Analyse und Kritik des realen
Kapitalismus zog. Die Aufhebung der Klassen und des Staates implizierte für ihn
die Überwindung der kapitalistischen Teilung der Arbeit – der Teilung in
„SpezialistInnen“ und HelferInnen, in BefehlsgeberInnen und Befohlene, in
Ungebildete und FachidiotInnen, in Kopf- und HandarbeiterInnen.

Die allgemeine Verkürzung
der notwendigen Arbeit und die Aufhebung der Trennung von freiwilliger und
notwendiger Arbeit sind allgemeine Ziele genauso wie die Ersetzung
willkürlicher, sich „hinter dem Rücken“ der AkteurInnen vollziehender
ökonomischer „Sachzwänge“ und Krisen. Das aber bedeutet das Ende entfremdeter
Arbeit, die Ersetzung des Marktmechanismus durch den bewussten ökonomischen
Willen der Gesellschaft – den Plan.

Rund vier Jahrzehnte
DDR-Planwirtschaft zeigen, dass diese Ziele weder erreicht noch wenigstens
allgemein als politisch wünschenswert aufgestellt worden sind. Die DDR-Ökonomie
war weit davon entfernt, „sozialistisch“ zu sein, sondern war in der ersten
Phase der Übergangsgesellschaft steckengeblieben. Die Verkürzung der
Arbeitszeit um rund fünf Stunden in vier Jahrzehnten auf zuletzt 43 1/2 Stunden
ist kein Ruhmesblatt der Entwicklung und lag über der Norm der BRD. Es ist auch
kein Zufall, dass die Einsparung von Arbeit und Arbeitszeit keine reale Größe
in den Plänen war.

Entfremdung

Die allgegenwärtige
Bürokratie auch auf betrieblicher Ebene ließ die alte Trennung in
BefehlsgeberInnen und Befohlene auf neue Art weiterleben. Das völlige Fehlen
authentischer Formen von ArbeiterInnendemokratie führte zum weitgehenden
Ausschluss der Massen von Kontroll- und Entscheidungsprozessen und somit zum
Weiterbestehen der Entfremdung der ArbeiterInnen von ihrer Arbeit und ihren
Produkten. Im Unterschied zum Kapitalismus war zwar die Willkür des Marktes und
der PrivateigentümerInnen ausgeschaltet oder weitestgehend minimiert, doch
standen nunmehr an deren Stelle ein autoritärer bürokratischer Staat und die
„unergründlichen“ Ratschlüsse der politischen FührungsgreisInnen.

Die allgemeine Mühsal des
Lebens wurde nicht geringer, sie nahm nur andere Formen an. Der größeren
sozialen Sicherheit und der geringeren sozialen Ungleichheit standen
allgemeiner Mangel, politische Entmündigung und internationale Isolation (auch
gegenüber den Ostblock-Staaten) entgegen.

Das Fehlen positiver, auf
den Kommunismus gerichteter Ziele war kein Irrtum der Bürokratie, sondern die
logische Folge ihrer Kastenherrschaft selbst; hätte doch jede Form wirklicher
Selbstverwirklichung der ProduzentInnen und KonsumentInnen sogleich ihre
Überflüssigkeit offenbart.

Im Unterschied zum
Kapitalismus, wo Konkurrenz und Privatinteresse die Gesellschaft ständig
umwälzen, kann eine Planwirtschaft – in der diese Antriebe ja fehlen –
unmöglich auf Dauer entwickelt werden, wenn das Subjekt jeder Dynamik – das
Proletariat – von der Gestaltung dieser Entwicklung ausgeschlossen ist.

So verwundert es nicht,
dass Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit und schließlich das fast
widerstandslose Hinnehmen der Wiedereinführung des Kapitalismus – neben Fleiß
und Einsatzbereitschaft – das Verhalten der DDR-ArbeiterInnenklasse
kennzeichneten. Diese Eigenschaften sind allerdings keine „typisch
proletarischen“ sondern Folge der Politik des Stalinismus, der die Massen
ideologisch traktierte und sie gleichzeitig daran hinderte, SchöpferInnen ihrer
eigenen Verhältnisse zu sein.

Bürokratische Planung

Die Grundidee einer
Wirtschaftsplanung besteht darin, im Ergebnis einer demokratischen
Selbstverständigung der ProduzentInnen und KonsumentInnen entsprechend den
Bedürfnissen und Möglichkeiten der Gesellschaft festzulegen, was wie von wem
erzeugt wird. Selbstverständlich gehören dabei Bedürfnisse wie die Erhaltung
der Umwelt, der Gesundheit usw. dazu.

Neben dem Fehlen
kommunistischer Ziele mangelte es in der DDR zunächst einmal an der
Feststellung der realen Bedürfnisse. Obwohl das sehr einfach gewesen wäre,
vermochte die Bürokratie meist nur das als Bedürfnis zu sehen, was sie sehen
wollte. Der Maßstab war dabei im Prinzip die Ausgestaltung eines „Sozialstaats“
ähnlich den Vorstellungen der alten Sozialdemokratie: sicherer Arbeitsplatz,
gute Wohnung, Kinderbetreuung, satt zu essen usw. Weniger als ein abstrakter
Humanismus spielte dabei das Interesse der Bürokratie mit, die Massen durch
soziale Geschenke ruhig zu halten. Die riesigen Dauersubventionen für
Lebensmittel, Mieten, Fahrpreise usw. sowie die immensen Summen für den
Wohnungsneubau verweisen auf dieses Ziel der Planung ebenso wie auf den
Umstand, dass im Gegensatz zum Kapitalismus diese massiven ökonomischen
Aufwendungen eben nicht gewinnorientiert waren, sondern im Gegenteil zu
erheblichen ökonomischen Belastungen führten.

Die Festlegung der Pläne
erfolgte über das Zusammenspiel verschiedener Ebenen der Bürokratie, letztlich
in der zentralen Plankommission (die dem Ministerrat unterstand), wurde aber
seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend von willkürlichen Interventionen der
Wirtschaftsabteilung des ZK der SED unter Günter Mittag beeinflusst.

Durch die quasi
Geheimhaltung statistischer Daten bzw. deren „Verschönerung“ war es sowohl der
Bürokratie als auch den Massen nur schwer möglich, real einzuschätzen, in welchem
gesellschaftlichen Gesamtrahmen Planung überhaupt stattfand. Ob ein Plan
richtig oder falsch war, war so nur schwer einzuschätzen.

Im Unterschied zur
Planung etwa in der Sowjetunion, wo die Bedürfnisse des
Produktionsmittelsektors im Zentrum standen und die extensive Erweiterung der
Produktion objektiv länger möglich war als in der ressourcenarmen DDR,
versuchte man besonders seit den 1970er Jahren, die Befriedigung der
Alltagsbedürfnisse der Bevölkerung besser zu berücksichtigen. Die „Konsumgüterproduktion“
wurde als zentrales Ziel der Planung postuliert. In der Praxis zeigte sich
jedoch, dass man außerstande war, dieses Ziel zu erreichen. Die
Konsumgüterproduktion wurde nicht das Zentrum der Planung, sondern eine Art
Zusatzaufgabe. So mussten vielfach Betriebe, die ein völlig anderes
Produktionsprofil hatten, zusätzlich Haushaltswaren, Kinderspielzeug etc.
herstellen. Das führte oft zu absurden Mehrfachproduktionen oder zu Produktion,
die auf völlig unrationelle Weise erfolgte, da das Know-how dafür nicht
vorhanden war. Trotzdem wurde die Plangröße „Konsumgüterproduktion“ dadurch
erfüllt.

Fehlen einer
Arbeitszeitrechnung

Ein generelles Problem
waren die durch die Subventionen stark verzerrten Preise, wodurch sich
ökonomische Effekte letztlich schwer einschätzen ließen. Doch das Problem des
Messens ökonomischer Leistungen lag tiefer – es gab zwei nicht nur
unterschiedliche, sondern gegensätzliche Wertmesser: das Geld auf der einen und
die Quanta realer Ressourcen auf der anderen Seite. Auf Dauer ist eine
Planwirtschaft nur anhand der exakten Berechnung der in den Arbeitsprodukten
enthaltenen Arbeitszeit durchführbar. Diese allgemeine Arbeitszeitrechnung gab
es jedoch nicht einmal in Ansätzen.

In der Wirtschaft führte
das beispielsweise zu folgendem Widerspruch: Ein Unternehmen orientierte sich
einerseits an den durch den Plan vorgegebenen Ressourcen, andererseits am
Betriebsergebnis, welches sich u. a. in der Kennziffer „Warenproduktion“, die
in Geld bemessen wurde, ausdrückte. Die häufigen Veränderungen der
Industriepreise drücken die Versuche der Bürokratie aus, dieses Dilemma zu
lösen.

Fehlen einer Arbeitszeitrechnung

Ein generelles Problem waren die durch die
Subventionen stark verzerrten Preise, wodurch sich ökonomische Effekte
letztlich schwer einschätzen ließen. Doch das Problem des Messens ökonomischer
Leistungen lag tiefer – es gab zwei nicht nur unterschiedliche, sondern
gegensätzliche Wertmesser: das Geld auf der einen und die Quanta realer
Ressourcen auf der anderen Seite. Auf Dauer ist eine Planwirtschaft nur anhand
der exakten Berechnung der in den Arbeitsprodukten enthaltenen Arbeitszeit
durchführbar. Diese allgemeine Arbeitszeitrechnung gab es jedoch nicht einmal
in Ansätzen.

In der Wirtschaft führte das beispielsweise
zu folgendem Widerspruch: Ein Unternehmen orientierte sich einerseits an den
durch den Plan vorgegebenen Ressourcen, andererseits am Betriebsergebnis,
welches sich u. a. in der Kennziffer „Warenproduktion“, die in Geld bemessen
wurde, ausdrückte. Die häufigen Veränderungen der Industriepreise drücken die
Versuche der Bürokratie aus, dieses Dilemma zu lösen.

Wesentlich nachteiliger wirkten sich auf
die Wirtschaftstätigkeit jedoch die Versuche der Betriebe aus, den
Unwägbarkeiten der Bürokratie gegenzusteuern. So wurde, wenn möglich, alles,
was für die Produktion wichtig war, gehortet, um Versorgungsengpässe
ausgleichen zu können. Dadurch wurden natürlich die Engpässe und
Disproportionen der Planung nur noch größer. Das hatte aber eine Ursache: Es
wurden nur bei erfülltem Plan Prämien an die Belegschaft bezahlt, was die
BetriebsleiterInnen teilweise veranlasste, die Planerfüllung vorzutäuschen, um
die ArbeiterInnen nicht zu verprellen. Besonders lukrativ war die
Planübererfüllung, was dazu führte, dass BetriebsleiterInnen möglichst niedrige
Planvorgaben erreichen wollten, die dann umso leichter zu überbieten waren.

Dieses Vorgehen verweist auf das
spezifische Verhältnis der Bürokratie zur ArbeiterInnenklasse. In der Praxis
wurde diese Art von „Planerfüllung“ von der zentralen Planung als Signal
genommen, die folgenden Planvorgaben noch zu steigern. Disproportionen in der
Planung waren so vorprogrammiert. Es ist ein Paradox stalinistischer Planung,
dass die Überbietung von geplanten Produktionsergebnissen – also eine
Nichteinhaltung der Planung – als besonders positiv angesehen wurde.

Eine richtige Planung hätte vielmehr die
möglichst sparsame, rationelle Produktionsdurchführung gefördert, was wiederum
mit den strategischen Zielen von Planung zu tun hat. Ein weiterer und wesentlicher
Grund für Fehlplanungen lag in der allgemein zu niedrigen Produktivität. Diese
resultierte u. a. aus dem Desinteresse vieler ArbeiterInnen an der Produktion
aufgrund der bürokratischen Gängelei. Sie ergab sich auch daraus, dass
Hunderttausende in unproduktiven bürokratischen Sektoren arbeiteten (Stasi,
politische Apparate usw.). Doch die Grundfehler stalinistischer Politik führten
dazu, dass diese Probleme fortgeschleppt wurden, ja sich verstärkten. Aufgrund
des Fehlens der allgemeinen Zielstellung der Einsparung von Arbeitszeit war es
weder ein allgemeines Planziel, noch gab es ausreichende technische
Möglichkeiten, Personal durch Maschinerie zu ersetzen und somit für andere
Tätigkeiten freizumachen.

Doch auch der Planmechanismus selbst hatte
einen Pferdefuß – das Fehlen bzw. die zu niedrige Veranschlagung von freien
Kapazitäten. Jede Schwankung der Produktion oder der Nachfrage führte sofort zu
einer Störung der Planung, weil es keine ausreichenden Reserven gab, mit denen
operiert werden konnte. Das wiederum verweist aber auf andere Probleme.

Ein weiterer wichtiger Grund für die
zunehmende Stagnation der DDR-Ökonomie (wie auch der anderer degenerierter
ArbeiterInnenstaaten) bestand darin, dass die technische Basis des
Produktionsprozesses, war sie einmal etabliert, kaum erneuert, geschweige denn
umgewälzt wurde. Für einen ArbeiterInnenstaat ist es an sich kein Problem,
veraltete Produktionsstätten zu schließen und durch neue, arbeitssparendere zu
ersetzen.

Doch die bürokratischen Strukturen
behinderten diese notwendigen Umstrukturierungen. Die Bürokratie konnte ihren
trägen, parasitären Charakter ausleben. Die ArbeiterInnen selbst standen
Veränderungen ebenfalls oft skeptisch gegenüber, war deren Vollzug und
Ausgestaltung doch letztlich Monopol der herrschenden Bürokratie, deren
gelegentliche Experimente nicht minder arbeiterInnenfeindlich als ihre
generelle Trägheit waren.

RGW versus Nationalökonomie

Sowenig wie Sozialismus in einem Land
möglich ist, sowenig ist eine international isolierte Planwirtschaft auf Dauer
machbar. Der Sinn des Sozialismus liegt schließlich nicht in verallgemeinerter
Gleichheit von Armut und nationaler Selbstgenügsamkeit, sondern in der
Schaffung einer viel höher und effizienter organisierten internationalen
Arbeitsteilung und Kooperation, als sie im Kapitalismus möglich ist.

Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe
(RGW), dem die DDR angehörte, hätte ein Verbund sein müssen, der die
wirtschaftlichen Beziehungen auf eine höhere qualitative Ebene hebt. Leider war
dem nicht so. Die Praxis orientierte sich vielmehr an drei Prämissen: 1. dem
ökonomischen Eigeninteresse der sowjetischen Bürokratie; 2. der
Aufrechterhaltung des stalinistischen Blocks, d. h. der Herrschaft der
Bürokratie und 3. der Stärkung der jeweiligen Nationalökonomien durch
Kooperation mit anderen RGW-Staaten.

Der RGW erarbeitete nie einen Gesamtplan,
denen die nationalen Pläne untergeordnet waren. Genauso wenig führte der RGW
generell dazu, dass die ökonomischen Stärken einzelner Ökonomien
verallgemeinert und schwach entwickelte Sektoren dadurch zurückgedrängt wurden.
So wurden oft jahrzehntelang veraltete Produkte hergestellt oder ineffiziente
Produktionen weitergeführt, obwohl es in anderen Ländern einen höheren Standard
gab. Der RGW diente häufig genug dazu, sich gegenseitig den „Schund“, der
hergestellt wurde, zuzuschieben.

Für die innerhalb des RGW hochentwickelte
DDR-Wirtschaft hatte das fatale Folgen. So konnten Hightech-Produkte oft nur
aus dem Westen bezogen werden, obwohl sie z. T. in anderen RGW-Staaten (v. a.
in der SU) vorhanden waren. Der oft zitierte Devisenmangel resultiert im Grunde
nur aus dem Mangel an Produktivität innerhalb des RGW. Als einziger Ausweg bot
sich an, Konsumgüter in den Westen zu exportieren (was den Mangel vergrößerte
und die Bevölkerung demoralisierte) oder Handel zu Dumpingpreisen zu führen,
was jede Wirtschaft auf Dauer ausblutet. Gerade unter Honecker war es ein
wichtiges Element der Planung, für den Bedarf des Westens zu produzieren, um an
Devisen zu kommen.

So wurde die Wirkung des
Außenhandelsmonopols als Schutz vor den Unwägbarkeiten des kapitalistischen
Weltmarktes von der Bürokratie selbst unterhöhlt. Das muss man jedoch v. a. als
Reaktion der DDR-Elite auf die Schwächen des RGW erklären. Technologie-,
Devisenmangel und Embargopolitik des Westens führten schließlich dazu, dass die
DDR alles selbst produzieren musste. Für die relativ kleine DDR-Ökonomie war
die enorme Produktbreite zugleich erstaunlich und ruinös, weil es unmöglich
war, auf allen Gebieten gleichermaßen Weltniveau zu erreichen. Immerhin etwa 50
% der Weltproduktpalette bei Anlagen- und Maschinenbau wurde von der „kleinen“
DDR gefertigt. Diese Fertigungsbreite ging einher mit relativ kleinen Serien
und stark begrenzten Investitionsvolumina, so dass die Produktion nie besonders
effektiv sein konnte und technologisch auf Dauer zurückbleiben musste.

Als Mitte der 1970er Jahre die Umstellung
von extensiver zu intensiver Erweiterung der Produktion propagiert wurde,
versuchte die DDR verstärkt, Hochtechnologien zu entwickeln. Erhebliche
Ressourcen wurden in diese Bereiche gelenkt, was dazu führte, dass die
technologische Erneuerung anderer Bereiche immer mehr zurückblieb und die
Disproportionen noch größer wurden. Selbst wenn es der DDR gelungen wäre, in
einzelnen Bereichen Anschluss an die Weltspitze zu halten, so hätte sich sehr
schnell herausgestellt, dass Spitzentechnik mit einer bürokratisch verkrusteten
Gesellschaft nicht kompatibel ist.

Diesen Schritt zur modernen Technologie
hätte selbstverständlich auch eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung machen
müssen. Aber die Politik der Bürokratie scheiterte nicht nur an den objektiv
ungünstigen Voraussetzungen, solche Technik in Konkurrenz zu den großen
imperialistischen Kapitalen entwickeln zu müssen, sondern auch an einem
strategisch entscheidenden Missverständnis, das darin bestand, Wissenschaft und
Technik als Triebkräfte der Entwicklung zu sehen, ohne zu begreifen, dass die
Veränderung der Verhältnisse, unter denen Produktivkräfte wirken, im
Sozialismus selbst zu einer entscheidenden Produktivkraft wird und die
Hauptproduktivkraft das Proletariat selbst ist.

Errungenschaften

Trotz aller Kritik an den
Unzulänglichkeiten der DDR-Planwirtschaft und gerade angesichts der durch die
bürgerlichen Medien kolportierten Meinung, dass Planwirtschaft a priori nicht
funktionieren könne, soll hier darauf hingewiesen werden, dass die DDR große
soziale Errungenschaften aufzuweisen hatte. Diese sind nicht nur Ausdruck einer
bestimmten Politik, sondern ursächlich mit der geplanten, auf staatlichem
Eigentum beruhenden Ökonomie verbunden.

Die wesentlich größere soziale Sicherheit
der Bevölkerung und der wegen des geringeren sozialen Gefälles deutlich
geringere Sozialneid und die damit verbundenen psychischen Erscheinungen
innerhalb der DDR-Gesellschaft sind markante Merkmale einer Sozietät, die sich
aus den Zwängen von Markt, Privateigentum und Konkurrenz partiell befreit hat.

Auch das im Verhältnis zu den ökonomischen
Möglichkeiten relativ gut entwickelte Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen
der DDR ist ohne die Überwindung des allgegenwärtigen Gewinnstrebens, das den
Kapitalismus kennzeichnet, nicht denkbar. Diese Fakten sind keineswegs nur
Auswüchse von DDR-Nostalgie, sondern historische Errungenschaften eines
nichtkapitalistischen Systems nicht wegen, sondern trotz der bürokratischen
Herrschaft.

Doch eine Reihe nahezu immer – auch von
einem Großteil der Linken – übersehener Phänomene verweist noch viel
drastischer auf die eigentlichen Entwicklungspotentiale, die in einem
ArbeiterInnenstaat schlummern.

Während der Kapitalismus aufgrund der
Konkurrenz zwischen Privatkapitalen einen riesigen Apparat von Bürokratie in
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unterhalten muss, um die inhärenten
Widersprüche seiner Produktionsweise wenigstens einigermaßen zu bändigen, hat
ein ArbeiterInnenstaat die Möglichkeit, diese riesigen Sektoren unproduktiver
Arbeit deutlich zu verkleinern.

Ungenutzte Potentiale

Die Entwicklung der DDR zeigt, dass in
verschiedenen Sektoren schon sehr früh gravierende Veränderungen stattfanden.
Berufsgruppen wie VertreterInnen oder MaklerInnen waren aus dem
gesellschaftlichen Leben vollständig verschwunden. Andere, z. B. juristische
Berufe (v. a. NotarInnen, SteuerberaterInnen) waren wesentlich schwächer
vertreten als in einer kapitalistischen Gesellschaft. Diese Tatsache ist
deutlich an der seit 1990 wieder sprunghaft gestiegenen Zahl von Beschäftigten
in diesen Bereichen erkennbar.

Dieser Trend des Abbaus unproduktiver
Arbeit und der Umlenkung der Arbeitskräfte in produktive bzw. sozial nützliche
Sektoren der Gesellschaft bewirkt ohne Frage einen deutlichen Anstieg der
gesamtgesellschaftlichen Arbeitsproduktivität. Dazu zählt natürlich auch der
einfache Umstand, dass nicht wie im Kapitalismus eine erhebliche Minderheit
nicht produktiv ist, weil sie entweder erwerbslos ist oder aber als reiche/r
SchmarotzerIn nicht arbeiten muss. Allerdings ist gerade dieser
Entwicklungsfortschritt mit den Methoden bürgerlicher Produktivitätsrechnung,
die sich im Banne des „Bruttosozialprodukts“ bewegt, nicht oder kaum erfassbar.

Auch der Umstand, dass Wirtschaftsbereiche,
die im modernen Kapitalismus einen beträchtlichen Teil des
„Bruttosozialprodukts“ „erzeugen“ wie Versicherungen, FinanzdienstleisterInnen,
Werbung etc., in der DDR eine eher marginale Rolle spielten, zeigt, dass die
Gesellschaft sich diese unproduktiven Bereiche nicht mehr oder nicht mehr im
alten Maße leisten können musste.

Diese massenhafte Umschichtung von Arbeit
ist eigentlich das Phänomen, auf das der Begriff „Arbeitslosigkeit“ (im
Gegensatz zu „Lohnarbeitslosigkeit“) zutreffen würde. Diese Erzeugung von
Arbeitslosigkeit ist jedoch aufgrund der allgemeinen Stagnation der
DDR-Entwicklung nicht nur nicht weitergeführt worden, im Gegenteil: Die
bürokratische Herrschaft hat sogar den größten Teil dieses Wachstumspotentials
wieder aufgefressen, indem ein riesiger Apparat von politischen Kadern,
Staatssicherheitsleuten usw. geschaffen wurde, der nicht nur die Bevölkerung
unterdrückte, sondern auch eine unerhörte Vergeudung gesellschaftlicher
Arbeitskraft war. Die Wende-Losung „Stasi in die Produktion!“ impliziert neben
der politischen Sprengkraft gerade auch diesen Aspekt.

Die Änderung der Produktionsverhältnisse
durch die Planwirtschaft ist historisch in gewissem Sinne mit der Durchsetzung
kapitalistischer Produktionsverhältnisse im späten Feudalismus vergleichbar. So
wie damals eine Vereinheitlichung von Maßen, Geld, Gewichten, Normen usw.
überhaupt erst bürgerliche Verkehrsformen auf steigendem Niveau ermöglichte, so
muss auch eine Planwirtschaft einen qualitativen Sprung gegenüber den
Möglichkeiten einer kapitalistischen Wirtschaft bewirken.

Doch auch bei der Verwirklichung dieser
Aufgabe ist die Bürokratie auf halbem Wege stehen geblieben. Zwar gelang es,
eine weitgehende Vereinheitlichung von Produktionsnormen zu erreichen – jedoch
nicht auf der Ebene des RGW. Schwerer noch als die Divergenz der Normen wog die
Unfähigkeit, aus den Produkten und Fertigungstechniken diejenigen auszuwählen,
die am besten sind. Auch die Tatsache, dass im Unterschied zum Kapitalismus
nicht der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert eines Produktes maßgebend ist,
war durchaus unterbelichtet. Ständige Erneuerung und Verbesserung der Produkte
und der Fertigung unter diesem Aspekt fand nie konsequent statt. Die Ursachen
hierfür sind zum einen in der Ausschaltung der Entscheidungskompetenz der
ProduzentInnen und KonsumentInnen zu suchen, zum anderen im Fehlen
entsprechender Mechanismen in der Planung, die solche Innovationen erzwingen
bzw. motivieren.

Fazit

Wir haben zu zeigen versucht, dass die
Unzulänglichkeiten, die Krise und schließlich die Möglichkeit der fast
widerstandslosen Beseitigung der Planwirtschaft nicht in der Unmöglichkeit
einer geplanten Wirtschaft zu suchen sind, sondern in der bürokratischen Form
und den bürokratischen Zielen dieser Planung. Eine Planwirtschaft kann nicht
funktionieren, wenn das historische Subjekt der Entwicklung, das Proletariat,
nahezu aller Möglichkeiten der Kontrolle, Durchführung und Korrektur von
Wirtschaftstätigkeit beraubt ist. Auf einen Nenner gebracht heißt das: ohne
Rätedemokratie keine funktionierende Planung!

Doch selbst eine wesentlich demokratischer
organisierte Planung würde sich in unentwirrbaren Widersprüchen verwickeln,
wenn sie nicht als ökonomischer Mechanismus dem Erreichen kommunistischer
Gesellschaftsziele dient.

Schließlich ist auch die perfekteste
Planung von einer wesentlichen Komponente abhängig – einer funktionierenden
internationalen Arbeitsteilung der ArbeiterInnen–staaten und der Ausweitung der
proletarischen Weltrevolution.

Anmerkungen

(1) „Im Jahre 1936 wurden auf dem Gebiet
der späteren sowjetischen Besatzungszone 27 % der gesamten deutschen
Nettoproduktion der eisen- und stahlverarbeitenden Industrie produziert, deren
Rohstoffe … jedoch nur zu fünf Prozent in diesem Gebiet erzeugt wurden. …
Im Jahre 1938 betrug der Anteil Mitteldeutschlands an der Produktion des
Deutschen Reiches bei Steinkohle 1,9 %, bei Eisenerz 6,0 %, bei Roheisen 4,3 %,
bei Rohstahl 6,6 %.“ (Wenzel, Siegfried: Plan und Wirklichkeit, Scripta
Mercaturae Verlag, St. Katharinen 1998, S. 7)

(2) „Gemessen am Sozialprodukt umfassten
diese (Reparationen, d. A.) … für den Zeitraum 1946-1953 … 22 % der
laufenden Produktion … . Das Verhältnis DDR/BRD betrug für diese belastendste
Form von Kriegskontributionen 98:2.“ (ebenda, S. 3/4)

(3) „Im Jahre 1947 erzeugten diese
staatseigenen Betriebe 36,8 % der damaligen Bruttoproduktion. Dieser Anteil
erhöhte sich 1948 auf 39 % und 1949 auf 46,6 %. Im Jahre 1950 betrug der Anteil
der volkseigenen Betriebe an der Produktion der Industrie bereits 74,9 %“.
(ebenda, S. 24)




SED-Gründung vor 50 Jahren: Fusion und Verwirrung

Hannes Hohn, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1996)

Vor 50 Jahren, am 21. April 1946, schlossen sich in der
sowjetischen Besatzungszone KPD und SPD zur SED zusammen. Die Bewertungen
dieses Ereignisses sind konträr genug: eine Seite bejubelt diese Vereinigung
als Überwindung der Spaltung der ArbeiterInnenklasse und richtige Konsequenz
aus den blutigen Erfahrungen des deutschen Proletariats unter dem Faschismus;
die Gegenseite lehnt die SED-Gründung als Zwangsvereinigung unter dem Diktat
des Kremls ab. Heute schlagen die Wogen dieser Debatte vor allem in der PDS und
der SPD erneut hoch.

Hinterrund der
Vereinigungsdebatte

Es ist kein Zufall, dass die Diskussion um ein Ereignis, das
schon 50 Jahre zurückliegt, gerade jetzt wieder sehr intensiv geführt wird. Den
Hintergrund der Debatte bildet die derzeitige Krise der SPD und damit in
Zusammenhang die Stabilisierung ihrer sozialdemokratischen Konkurrentin PDS.
Für beide Seiten geht es darum, die eigene politische Daseinsberechtigung aus der
Geschichte abzuleiten.

Die SPD und ihr nahestehende HistorikerInnen gehen zumeist
von der These aus, dass die SED-Gründung eine erzwungene Vereinigung gewesen
sei, die ein wesentlicher Meilenstein zur Etablierung der undemokratischen,
totalitären Verhältnisse der DDR war. Die Ablehnung der Vereinigung ist somit
v. a. ein Mittel der Abgrenzung von der PDS, der als SED-Nachfolgepartei
das Attest „undemokratisch“ ausgestellt wird. Die einzige demokratische
Alternative der ArbeiterInnenbewegung sei die SPD, der allein schon aus diesem
Grund heute auch die Stimmen der PDS-WählerInnen zustünden. Die
Vereinigungskritik suggeriert gleichzeitig auch, dass durch die Vereinigung von
1946 mindestens in der Ostzone eine andere, demokratische Entwicklung
verhindert worden wäre.

Der PDS und ihren GeschichtsbewerterInnen geht es um das
gerade Gegenteil. Ihr überwiegend positiver Bezug auf den politischen Kern der
Vereinigung von KPD und SPD soll das Projekt einer „pluralistischen“ linken Bewegungspartei
vom Typ der PDS historisch legitimieren. Damit werden jene politischen Brücken
zur SPD offengehalten, über die man aufeinander zugehen kann, wenn gegen Kohl
ein linkes Regierungsbündnis aus SPD, PDS und GRÜNEN hergestellt werden soll.
Diese Option ist für die PDS zwingend, weil sie ohne bundesweit präsente
PartnerInnen nur in Ostdeutschland Bedeutung hätte, während die SPD zwar die
Stimmen der PDS braucht, aber nicht die PDS selbst.

Es ist bezeichnend, dass während der Entstehung der PDS aus
der SED 1989/90 die Frage der Entstehung der SED fast keine Rolle in der
Debatte spielte und flugs zur Tagesordnung, sprich zur Schaffung der PDS,
übergegangen wurde. Grund dieser Vorgehensweise war der Versuch, eine Spaltung
(womöglich sogar ein Verschwinden) der Partei zu verhindern, wenn evtl.
festgestellt worden wäre, dass das Projekt SED von Anfang an eine
Fehlkonstruktion und den Interessen des Proletariats entgegengesetzt war.
1989/90 gab es immerhin eine starke Strömung in der SED, die für eine Aufspaltung
der SED in KPD und SPD eintrat. Das hätte aber nicht nur einen Streit über die
programmatischen Grundlagen, sondern auch über die Aufteilung der
Parteifinanzen bedeutet und die Gefahr heraufbeschworen, dass die neue Nomenklatura
der PDS, die aus der zweiten und dritten Reihe des SED-Apparats kam, keine
neuen Posten im Gefüge des Parlamentarismus gefunden hätte. Ohne Frage: eine
gewisse Masse ist notwendig, um im parlamentarischen Geschäft mitmischen zu
können – dem wesentlichen Anliegen der PDS-Führung.

Bezeichnend für die allgemeine Debatte ist auch, dass der
eigentliche politische Inhalt der SED, ihre programmatischen Grundlagen, kaum
betrachtet werden und die sekundäre Frage, ob die Vereinigung erzwungen war
oder nicht, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird. Dieses Herangehen
ist Ausdruck des Unwillens der Führungen von PDS und SPD, die theoretischen
Grundlagen und die Methode der eigenen Politik zu hinterfragen.

Zwangsvorstellungen

Verfolgt man die Medien, so vergeht kaum ein Tag, an dem nicht
Fakten und AugenzeugInnen für die These sprechen, die Gründung der SED sei ein
Akt des Zwangs gewesen, der von KPD und Sowjetischer Militäradministration in
Deutschland (SMAD) als böses Bubenstück auf Kosten der SPD inszeniert worden
sei. Doch die historischen Tatsachen ergeben kein so einseitiges Bild.

In der DDR gelang es der SED, durch gezielte Unterdrückung
der Meinungs- und Forschungsfreiheit die Vereinigung von KPD und SPD als bewusste
und freiwillige Vereinigung der großen Mehrheit ihrer Mitglieder hinzustellen.
VereinigungsgegnerInnen wurden als SpalterInnen, SektiererInnen und ReaktionärInnen
verteufelt. Doch nachdem die ideelle Käseglocke der SED zersplittert ist,
riecht manches nicht mehr so gut.

Zahlreiche Quellen belegen eindeutig, dass vor allem von
Seiten der SMAD in vielfältiger Form Druck auf die SPD ausgeübt worden ist. SPD-Versammlungen
wurden beeinflusst, FunktionärInnen, die gegen eine Fusion waren, abgesetzt,
unliebsame Mitglieder mitunter verhaftet und SPD-FührerInnen unter Druck gesetzt.
Ein Beispiel dafür, wie die SMAD Einfluss ausübte, ist ihre Rolle bei der
Mitgliederbefragung zur Vereinigung, die von vielen SozialdemokratInnen
gefordert wurde: Sie wurde einfach verboten. In den westlichen Zonen von Berlin
kam sie aber am 31.3.1946 mit dem Ergebnis zustande, dass nur 12,2 % für
eine Vereinigung stimmten. In anderen Regionen dürfte die Stimmung allerdings
weniger eindeutig gegen die Vereinigung gerichtet gewesen sein. Darauf deutet
auch die Tatsache hin, dass es bereits vor der offiziellen Kampagne spontane
Zusammenschlüsse von Basisorganisationen der SPD und der KPD gab. Gerade im
Lager der SPD wird dieses Votum der (West-)Berliner Mitglieder als Beweis für
die allgemeine Ablehnung einer Vereinigung mit der KPD in der SPD-Mitgliedschaft
gewertet. Gerade der Druck auf die SPD von Seiten der SMAD hat die ablehnende
Haltung mancher/s SozialdemokratIn zur Vereinigung verstärkt. Umgekehrt
bedeutet das aber auch, dass ohne diesen Druck die Vorbehalte kleiner und damit
der Aspekt der Freiwilligkeit bedeutender gewesen wäre. Insofern war das
Vorgehen der SMAD wirkungsvoll, doch nicht sehr geschickt. Auch in der KPD
waren deshalb viele Mitglieder und FunktionärInnen mit diesem Vorgehen nicht
einverstanden, ohne freilich dagegen anzukämpfen.

Vom Zwang zur Vereinigung zu sprechen, bedeutet aber v. a.,
auch zu berücksichtigen, dass es schon 1945 und bis zum Untergang der DDR unter
dem politischen Diktat der SMAD und später der SED-Bürokratie nicht möglich
war, substanzielle politische Kritik zu äußern, Tendenzen oder gar Fraktionen
in der SED zu bilden, geschweige denn alternative Organisationen zu gründen.
Ohne diese demokratischen Rechte ist es jedoch faktisch unmöglich, legale politisch-organisatorische
Alternativen zur SED zu schaffen. Diese Einsicht hat, wie Quellen belegen,
viele SozialdemokratInnen, aber auch KPD-Mitglieder, die der Fusion kritisch
gegenüberstanden, bewogen, der SED beizutreten, weil es keine Alternative gab.

Trotz der geschilderten Umstände ist jedoch der Begriff
„Zwangsvereinigung“ ungeeignet, um die Art und Weise der Vereinigung zu
kennzeichnen. Zu viele historische Fakten sprechen dagegen:

  • Es gab an der Basis zwischen KommunistInnen und SozialdemokratInnen bereits im Mai 1945 spontane Zusammenarbeit in den Antifaausschüssen und in betrieblichen Komitees;
  • bereits im Sommer 1945 existierte ein gemeinsamer Arbeitsausschuss von KPD und SPD auf der Ebene der Parteiführungen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ);
  • es existierten bereits vor dem Beginn der offiziellen, von oben eingeleiteten Einheitskampagne Zusammenschlüsse von KPD und SPD auf Ortsebene sowie gemeinsame Versammlungen, Aktivitäten verschiedener Art und öffentliche Kommuniqués zur Notwendigkeit der Vereinigung.

Diese Bereitschaft zur Zusammenarbeit kam auch in der
erwähnten Berliner Urabstimmung zum Ausdruck, bei der über 62 % für eine
Aktionseinheit mit der KPD votierten. Diese Einheitstendenzen erklären sich wesentlich
aus zwei Umständen: zum einen aus der blutigen Erfahrung des Faschismus, der
nur darum sein Terrorregime errichten konnte, weil SozialdemokratInnen und KommunistInnen
keine antifaschistische Einheitsfront gebildet hatten, was wesentlich Schuld
der falschen Politik ihrer Führungen war. Zum anderen waren es die anstehenden
Aufgaben nach Kriegsende, die die proletarische Mitgliedschaft beider Parteien
in der Praxis einander näherbrachten: Beseitigung der Reste des Faschismus,
Ingangsetzung des öffentlichen Lebens und der Produktion. Wie im Folgenden
gezeigt werden wird, ging es im Kern darum, dass die ArbeiterInnenklasse vor
der Möglichkeit und der Notwendigkeit stand, den Kapitalismus zu beseitigen und
die Macht zu übernehmen.

Die Tatsachen weisen klar darauf hin, dass es trotz Nötigung
und Zwang seitens der SMAD und der KPD und trotz fehlender Alternativen eine
breite Bewegung in KPD und SPD Richtung Einheit in Aktion und Organisation gab.

Bei der Einschätzung der Vereinigung müssen noch weitere
Umstände berücksichtigt werden, die gegen die These von der Zwangsvereinigung
sprechen. Es ist belegt, dass die Mehrzahl der Gründungsdelegierten und auch
der SED-Mitgliedschaft aus der SPD kamen. Obwohl es Formen direkten wie indirekten
Drucks auf die SozialdemokratInnen gab, so bestand doch die individuelle Möglichkeit
für jedes Mitglied, aus der SPD vor dem Zusammenschluss auszutreten, der SED
nicht beizutreten oder sie zu verlassen. Massenhafte Schritte in diese Richtung
gab es jedoch nicht. Dass es aber bei vielen SED-Mitgliedern schon bald nach
der Vereinigung Differenzen zur weiteren Entwicklung der SED und ihrer Umformung
zu einer offen stalinistischen Partei gab, belegen zahlreiche Repressionen
gegen Mitglieder und FunktionärInnen.

SPD und KPD erreichten nach Kriegsende sehr schnell wieder
alte Mitgliederstärke. Allein die KPD hatte schon im Frühjahr 1946 mit rund
500.000 trotz Naziterror, Emigration, Kriegsopfern und noch in Gefangenschaft
Befindlichen mehr Mitglieder als vor 1933. Ähnlich war die Situation in der
SPD. Ohne Frage waren diese vielen neuen, parteipolitisch weniger beeinflussten
Mitglieder mit weniger Ressentiments gegenüber der anderen Partei beladen als
alte Mitglieder und konnten somit leichter für die Einheit motiviert werden.
Eine gründliche Debatte der politischen Grundlagen beider Parteien und ihrer
Rolle in den Klassenkämpfen der Jahre zuvor fand jedoch nicht statt und war vor
allem von den Führungen beider Parteien auch nicht ernsthaft beabsichtigt.

Die Schaffung der
SED

Warum wurde im April 1946 die SED gegründet, obwohl noch ein
knappes Jahr zuvor weder SPD noch KPD die Vereinigung beider Parteien
unmittelbar als Ziel aufgestellt hatten? Dafür gibt es mehrere Ursachen: Die
SMAD fürchtete, dass ihre politische Juniorpartnerin in Deutschland, die KPD,
bei den bevorstehenden Wahlen gegenüber der SPD unterliegen würde und damit der
direkte Einfluss der UdSSR auf die Entwicklung (Ost-)Deutschlands vermindert
würde. Diese Befürchtung war nur berechtigt, da der Einfluss der SPD im
Vergleich zur KPD – obwohl letztere von der SMAD stärker gefördert wurde – sich
zunehmend stärker bemerkbar machte. Auch die Wahlen in Ungarn und Österreich,
bei denen die KPen deutliche Schlappen erlitten hatten, nötigten zu einem organisationspolitischen
Schwenk, der nicht auf die Zurückdrängung, sondern auf das Aufsaugen der SPD
per Fusion orientiert war. Die Wahlen vom Oktober 1946 in Berlin bestätigten
alle Befürchtungen hinsichtlich des Einflusses der SPD: sie erhielt über
48 %, die SED dagegen nur 19,8 % der Stimmen.

Die politische Grundlage der Vereinigung bestand aus zwei
wesentlichen Elementen: 1. den demokratischen Illusionen des Proletariats und
2. dem Wandel der KPD seit 1935 von einer zentristischen zu einer
reformistischen Partei.

Nach der faschistischen Diktatur waren die demokratischen
Illusionen wieder erstarkt. Dabei spielte eine wesentliche Rolle, dass alle
Ansätze proletarischer Machtentfaltung von der SMAD in Einklang mit den
Führungen von KPD und SPD ignoriert und bewusst sabotiert worden waren. Unter
diesen Umständen konnte die Restauration bürgerlich-demokratischer Zustände den
Arbeiterinnen und Arbeitern als Tugend erscheinen. Das Fehlen einer
marxistischen Partei mit einem revolutionären Programm war dabei natürlich ein
entscheidender Faktor dafür, dass die Bewegung des Proletariats über Ansätze
eigener Machtkonstituierung nicht hinaus gelangte und die reformistischen
Führungen von KPD und SPD ohne politische Konkurrenz blieben.

Die richtige Einsicht der Mitgliedsbasis, dass die fehlende
Einheitsfront vor 1933 Hitlers Sieg ermöglichte, ging nicht mit einer
schonungslosen Kritik der Politik von SPD und KPD konform. In gewissem Sinn
können wir sagen, dass 1933 vor lauter Prinzipien die Einheit übersehen wurde,
während 1946 vor lauter Einheit die Prinzipien vergessen worden waren. Im Grunde
bestand die Vergangenheitsbewältigung nicht nur der KPD, sondern auch die der
SPD darin, eine Verbeugung vor der Volksfrontpolitik zu machen. Da die Politik
beider Parteien nicht revolutionär, sondern reformistisch – auf die Schaffung
bürgerlich-demokratischer Verhältnisse gerichtet war –, gab es kaum prinzipielle
programmatische Gegensätze, die einer Parteivereinigung grundsätzlich
widersprochen hätten. Die SPD-Politik folgte trotz einiger wichtiger
Differenzen z. B. bezüglich ihres Verhältnisses zur SU oder der Stellung
zur Demokratie der gleichen Logik wie die KPD und nahm auch in vielen konkreten
Fragen die gleiche Position ein. Hier soll nur die Zustimmung zu den
Reparationen oder die passive, ja unterstützende Haltung zur Auflösung der
Antifa-Komitees und der spontan entstandenen betrieblichen Strukturen der
ArbeiterInnenklasse genannt werden. Die KPD, die nur wenige Jahre zuvor die SPD
„Zwilling des Faschismus“ genannt hatte, war inzwischen selbst zum Zwilling der
reformistischen Sozialdemokratie mutiert. Doch die Entstehung der SED kann
nicht nur aus innerparteilichen Umständen erklärt werden; sie muss im Kontext
der Politik Stalins gesehen werden. Es ist kein Zufall, dass die SED nur in der
Ostzone entstand und nicht in den Westzonen. Dem „Büro Dr. Schumacher“, der
Machtzentrale der SPD im Westen, gelang es unter Mithilfe der Westalliierten,
die Vereinigung zu verhindern. Denn von Beginn an war die SED Machtinstrument
der Politik Moskaus und somit objektiv verlängerter Arm der in der SU
herrschenden bürokratischen Kaste. Doch so sehr deren konterrevolutionäre
Strategie dem Imperialismus auch entgegenkam – dort, wo er selbst herrschte, in
den deutschen Westzonen, wollte er selbst bestimmen; eine vereinigte Arbeiterpartei
von Stalins Gnaden konnte er nicht gebrauchen.

Volksfront contra
Revolution

Nachdem die stalinisierte KPD vor 1933 durch ihren
ultralinken Zentrismus gemeinsam mit der Kapitulantenpolitik der SPD das Zustandekommen
einer breiten antifaschistischen Einheitsfront gegen Hitler unmöglich gemacht
und kampflos kapituliert hatte, erfolgte nach Hitlers Machtübernahme mit dem
VII. Kominternkongress 1935 ein scharfer Schwenk nach rechts. Die dort
beschlossene Volksfrontpolitik, die auch nach Kriegsende allgemeine Linie
blieb, verpflichtete die stalinistischen Parteien programmatisch und praktisch,
strategische Bündnisse und Regierungsallianzen mit Teilen der Bourgeoisie
einzugehen und dafür auf die Diktatur des Proletariats zu verzichten. Schätzte
man die Sozialdemokratie noch 1933 als „sozialfaschistisch“ ein und weigerte sich
beharrlich, den sozialdemokratischen ArbeiterInnen und ihrer Führung eine
Einheitsfront vorzuschlagen, so waren 1935, (also nur zwei Jahre später!)
plötzlich nicht nur die Sozialdemokratie, sondern sogar rein bürgerliche
Parteien Koalitionspartnerinnen geworden. Ein größeres Verwirrspiel ist kaum
denkbar!

Der methodische Grundfehler der Volksfrontkonzeption war
aber der, dass zwischen Faschismus und Demokratie, zwei Herrschaftsformen ein
und desselben Imperialismus, ein qualitativer Unterschied gemacht wurde, der
scheinbar ein Bündnis des Proletariats mit einem (demokratischen) Teil der
Bourgeoisie notwendig machte. Nach dieser Logik hieß die Alternative nicht mehr
Sozialismus oder Kapitalismus, sondern Faschismus oder (bürgerliche)
Demokratie. Dieses Konzept blieb auch nach der Niederlage des Faschismus für
die KPD gültig.

Die Gründung der SED und das politische Nachkriegssystem in
Ostdeutschland bzw. später der DDR stellten eine Variante dieser
Volksfrontkonzeption dar. Einerseits, weil originäre Einheitsfrontorgane der ArbeiterInnenklasse
beseitigt worden sind, zum anderen durch den antifaschistisch-demokratischen
Block. Dieser Block unter Einschluss bürgerlicher Parteien wie der CDU oder der
LDP, deren Gründung von KPD und SMAD unterstützt oder im Fall der NDP, einer
Partei für ehem. Wehrmachtsoffiziere und sonstige bürgerliche Kräfte, sogar
initiiert wurde, bildete ein pseudoparlamentarisches System auf Basis eines
bürgerlich-demokratischen Programms. Auch in der späteren DDR bestand dieser
Block weiter als Mittel der Integration kleinbürgerlicher Schichten und der
Maskierung der Alleinherrschaft der SED.

Stalins
Deutschlandpolitik

Als im Mai 1945, nach 12 blutigen Jahren, das
„tausendjährige Reich“ der Nazis zerschlagen war, war die Macht der deutschen
Bourgeoisie noch stärker als am Ende des 1. Weltkrieges diskreditiert und
erschüttert. Ihre bewaffneten Kräfte waren besiegt, der Staatsapparat befand
sich in Zersetzung, die faschistischen Organisationen waren kollabiert, die
nationalistisch-chauvinistische Massenbegeisterung für den Faschismus hatte
sich längst in Agonie und Entsetzen gewandelt. Die gesamte exekutive Macht lag
in den Händen der Besatzungsmächte.

Sofort nach Beendigung der letzten Kämpfe begann aber auch
die deutsche ArbeiterInnenklasse, Ohnmacht und Atomisierung der Jahre unter dem
Faschismus zu überwinden: die zerschlagenen Organisationen – KPD und SPD,
Gewerkschaften und Betriebsräte sowie linke Gruppierungen – entstanden neu.
Kader der SPD und der KPD, viele von ihnen gerade erst aus den KZs und Zuchthäusern
gekommen, spielten dabei eine große Rolle. Kaum waren die letzten Schüsse
verhallt, organisierte sich das Proletariat: in den Antifa-Ausschüssen, um die
Reste der Nazidiktatur zu beseitigen, in den Betrieben, um die zerstörte Produktion
wieder in Gang zu bringen. Vor allem diese betrieblichen Komitees zeugen davon,
dass die deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter bereit und in der Lage waren, die
Produktion zu kontrollieren und zu organisieren. Betriebskomitees und
Antifa-Ausschüsse waren Ansätze zur Bildung von proletarischen Machtorganen –
den Räten. In der ArbeiterInnenschaft und weiten Teilen der Bevölkerung bis
hinein in bürgerliche Kreise war nach dem totalen Zusammenbruch Hitlerdeutschlands
eine mehr oder weniger bewusste und klare antikapitalistische Stimmung
verbreitet. Doch im Unterschied zu 1918 fehlte eine revolutionäre
Massenbewegung.

Entgegen der Ideologie der Alliierten, nach der
Nachkriegsdeutschland vor der Alternative Faschismus oder Demokratie stand,
ging es in Wahrheit darum, den deutschen Kapitalismus in demokratischer Form
wiederzuerrichten oder ihn zu stürzen und die Diktatur des Proletariats
aufzubauen. Obwohl 1945/46 in Deutschland keine revolutionäre Situation
bestand, so gab es doch, wie oben ausgeführt, Ansätze proletarischer Machtorkane.
Doch die Erschütterung der gesellschaftlichen Ordnung, die Brisanz der sozialen
Probleme konnten in der Nachkriegsperiode jederzeit die Frage der Macht auf die
Tagesordnung stellen. Wie schon 1933 lag der Schlüssel der Entwicklung bei den
Arbeiterinnenorganisationen und insbesondere bei der Führung in Moskau.

In Potsdam hatten sich die Alliierten der
Antihitlerkoalition endgültig über das Schicksal Deutschlands geeinigt. Nach 12
Jahren Naziherrschaft sollte das neue Deutschland von nun an demokratisch, entmilitarisiert
und entnazifiziert sein. Die Kontrolle dieser deutschen Verwandlung oblag den
Besatzungsmächten Sowjetunion, USA, Frankreich und Großbritannien, die jeweils
eigene Besatzungszonen kontrollierten. Der alliierte Kontrollrat sollte als
oberstes Gremium die Politik der Alliierten koordinieren. Stalin, Truman und
Churchill waren sich darin einig, Deutschland als Staat nicht zu zerschlagen,
sondern nur soweit zu schwächen, dass er keine den Großmächten gefährliche
Rolle mehr spielen konnte. Quasi als Gegenleistung für ihren humanistischen
Großmut sollte ein Großteil der materiellen Werte Deutschlands als Reparationen
an die Besatzungsmächte fallen.

Die Antihitlerkoalition, ein strategisches Bündnis des
degenerierten ArbeiterInnenstaates Sowjetunion mit den „demokratischen“
Imperialismen; die in Jalta, Teheran und Potsdam vorgenommene Aufteilung der
Welt in Einflusssphären sind Ausdruck des Wunsches der StalinistInnen gewesen,
ein strategisches Übereinkommen mit dem Weltimperialismus zu treffen, um somit
die Möglichkeit des Aufbaus des „Sozialismus in einem Lande“ sicherzustellen.
Abgesehen davon, dass eine sozialistische Gesellschaftsqualität in einem isolierten
Land und ohne Ausdehnung der Weltrevolution nicht erreicht werden kann,
bedeutete die Politik Stalins auch den Verzicht auf alle Versuche des Proletariats,
den Kapitalismus zu stürzen und seine eigene Macht zu errichten. Die günstigen
Bedingungen für den revolutionären Kampf um die Macht z. B. in Frankreich
oder Italien 1944/45 wurden bewusst nicht ausgenutzt. Der Aufstand des
griechischen Proletariats wurde im Stich gelassen, weil Griechenland im
britischen Interessensgebiet lag.

Mehr als alle revolutionären Beschwörungen offenbarte die
praktische Politik Stalins dessen konterrevolutionäre Rolle, die in ihrer Konzeption
auf wesentlichen Elementen des Menschewismus beruht und in scharfem Gegensatz
zu Praxis und Programm der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki stand.

In Deutschland entwickelte sich die Lage prinzipiell genauso
wie in den von der SU besetzten Ländern Osteuropas. Stalins Versuch, auf die Bajonette
der Roten Armee gestützt, eine Pufferzone um die SU aus
bürgerlich-demokratischen Staaten zu schaffen, auf deren Politik er durch die
Besatzungstruppen einerseits und die jeweiligen KPen andererseits direkten
Einfluss

nehmen konnte, ging nicht lange gut. Die nichtenteignete
Bourgeoisie strebte nach der Wiedererlangung der ganzen Macht und musste mit
den Interessen des einheimischen Proletariats, aber auch mit der Moskauer
Politik kollidieren. Die bürgerliche Wirtschaft und ihre politischen Subjekte,
die Parteien und Staaten der Bourgeoisie, haben ihre Eigendynamik, die sich
nicht an Stalins Datscha-Träumereien halten. Dieser Interessenkonflikt spitzte
sich noch zu, als Amerika Ende der 1940er Jahre durch das Marshallplanprojekt
die europäischen Staaten noch enger an die USA zu binden suchte. Wollte Stalin
nicht alles verlieren, was er im Krieg gegen Hitler gewonnen hatte, musste er
entgegen seiner ursprünglichen Absicht die Bourgeoisie als Klasse enteignen.
Dazu war er auch gezwungen, wenn er nicht eine Konfrontation mit dem Proletariat
riskieren wollte, dessen Bedürfnisse ohne konsequente antikapitalistische Maßnahmen
nicht befriedigt werden konnten – es sei denn mit dem Zuckerbrot des Marshallplans.
Stalin scherte „nach links“ aus. Der Sieg über Hitler entzweite die SiegerInnen,
die Antihitlerkoalition zerbrach.

In der Ostzone Deutschlands erfolgte dieser Schwenk erst
1951, als wesentliche Elemente einer Planwirtschaft das Wertgesetz als
Grundmechanismus kapitalistischen Wirtschaftens ablösten. Diese antikapitalistischen
Umwälzungen erfolgten aber unter Ausschaltung der selbstständigen
schöpferischen Rolle des Proletariats auf bürokratische Weise und verbunden mit
der Etablierung eines der Form nach bürgerlichen Staatsapparates.

Die KPD-Politik nach
1945

Auch in Deutschland, besonders in dessen Ostteil, wo die
Rote Armee die Macht bereits besaß, wurde diese also nicht dazu genutzt, den
Kapitalismus zu beseitigen. Gerade die von den KPD-FührerInnen propagierte  „Ausrottung des Faschismus mit allen
Wurzeln“ hätte eigentlich bedeutet, dessen kapitalistische Grundlagen
abzuschaffen. Doch den FührerInnen der KPD und der KPdSU ging es lediglich
darum, den Faschismus zu beseitigen, um demokratische Verhältnisse auf der Basis
kapitalistischer Eigentumsformen zu schaffen.

Die in Moskau abgesegnete Politik der Gruppe Ulbricht, der
Führung der KPD, lässt keine Fragen über die politischen Absichten Stalins und
seiner deutschen Gefolgsleute offen. So heißt es im „Programm der antifaschistisch-demokratischen
Ordnung“ der KPD vom Juni 1945, dass „unsere grundlegende Orientierung in der
gegenwärtigen Situation die Vollendung der bürgerlich-demokratischen
Revolution, die im Jahre 1848 begonnen hatte (ist). Das heißt, die Junker,
Fürsten und Großgrundbesitzer sollen enteignet … werden. Die aktiven Nazis
… müssen von den deutschen Gerichten hart abgeurteilt werden. Die
großindustriellen Kriegsverbrecher aber werden von den Gerichten der alliierten
Mächte … ihre Strafe erhalten.“ (1)

Kein Wort über die Enteignung der Bourgeoisie als Klasse.
Kein Wort von der Notwendigkeit, dass die ArbeiterInnenklasse selbst die Macht
übernehmen muss. Sogar die SPD gab sich 1945 linker als die KPD und bekannte
sich wenigstens abstrakt zum Sozialismus und zu einer „Sozialisierung der
Wirtschaft“.

Zwar gibt das Juni-Programm der KPD offen zu, dass „manche
Arbeiter … sofort den Sozialismus errichten (wollen)“, aber diese Absicht
wird als angeblich unmöglich abgelehnt. (2) Die Gründe, warum die ArbeiterInnen
nicht sofort mit dem Aufbau des Sozialismus – sprich der Errichtung der
Diktatur des Proletariats – beginnen können, sind bezeichnend für die völlige
politische und theoretische Degeneration der offiziellen KP-FührerInnen vom
Kaliber Ulbrichts und für uns auch deshalb interessant, weil die in diesem
Dokument ausgedrückte Denkweise weitgehend auch der in der SPD entsprach und
geradewegs Richtung SED weist.

Das Programm verweist darauf, dass die ArbeiterInnen noch
keine einheitliche Partei (von einer revolutionären Partei ist erst gar nicht
die Rede) haben. Doch die Oktoberrevolution, auf die sich die StalinistInnen so
gern und oft beriefen, ist gerade ein Beweis dafür, dass die Partei der
Revolution aus einer Minderheitsposition heraus durch eine richtige Politik die
Massen hinter sich zu bringen wusste. Hätte sie gemäß dem Rezept der Ulbrichts
gehandelt, hätte sie sich mit den konterrevolutionären Parteien erst vereinigen
müssen, ehe die Revolution hätte durchgeführt werden können. Das Ergebnis
dieser Politik wäre allerdings gewesen, weder eine revolutionäre Partei noch
eine sozialistische Revolution zu haben…

Das KPD-Programm bedauert auch die fehlenden Erfahrungen der
Massen in der Leitung von Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist sicher richtig.
Doch mit diesem Problem ist das Proletariat immer konfrontiert, denn der
Kapitalismus, und umso mehr der Faschismus, verhindert ja eben die
Machtausübung des Proletariats. Der Inhalt jeder revolutionären Umgestaltung
der Gesellschaft besteht aber wesentlich darin, dass das Proletariat beginnt,
über die Kontrolle von Produktion zur Übernahme der Macht in der Wirtschaft zu
gelangen. Nur so kann sich auch die Emanzipation des Proletariats auf der
politischen Bühne vollziehen. Nach dem Ausschluss von der Macht unter den
Bedingungen der kapitalistischen Diktatur (ob in demokratischer oder faschistischer
Form) erlernt es in Betriebs- und Streikkomitees, in ArbeiterInnenmilizen und
schließlich den ArbeiterInnenräten den Gebrauch der Macht, um sie schließlich
auf der Ebene des gesamten Staates auszuüben. Die oben geschilderten Ansätze
von unabhängigen Organisationsstrukturen der deutschen Arbeiterinnen und
Arbeiter unmittelbar nach Kriegsende belegen, dass das Proletariat schon selbst
spontan über den Rahmen hinausgehen wollte, den ihm die moskautreue KPD vorgab.
Dass das KPD-Programm vom Juni 1945 die mangelnden Vorraussetzungen zum Aufbau
des Sozialismus beklagt, ist nur ein allzu löchriger Deckmantel dafür, dass die
unabhängigen Organisationsansätze des Proletariats v. a. auf betrieblicher
Ebene letztendlich beseitigt wurden, indem man die Betriebe den alten
EigentümerInnen beließ, um sie später – unter Ausschluss jeglicher Form von
ArbeiterInnendemokratie – auf bürokratische Art zu verstaatlichen.

Die SED – eine neue
Partei?

Trotz aller Zwänge ist die SED auch Ergebnis einer
massenhaften Tendenz nach Überwindung der Spaltung der ArbeiterInnenbewegung.
Zu Anfang war sie sicher stärker durch Elemente von Demokratie und lebendiger
Mitgestaltung der Parteitätigkeit durch die Mitglieder selbst geprägt als die
SED der folgenden Jahrzehnte. Die Funktionen der Partei waren paritätisch
besetzt, das Programm enthielt Passagen, die nur wenige Jahre später als
„ketzerisch“ galten und mit den stalinistischen bürokratischen Stereotypen
nicht gut vereinbar waren. Doch deshalb von der frühen SED als einer
demokratischen Partei – im Sinne von wirklicher proletarischer Demokratie zu
sprechen –, wäre falsch. Dafür fehlten z. B. statuarische Rechte wie das
Recht auf Bildung von Fraktionen oder Tendenzen. Allein diese Tatsache verweist
darauf, dass aus der Fehlentwicklung der Komintern unter dem Stalinismus keine
Schlüsse gezogen worden waren. Auch die Hoffnung der SozialdemokratInnen, durch
die Kraft der Zahl die innerparteiliche Demokratie (oder was man dafür hielt)
zu sichern, war mehr als blauäugig. Nur wenige Monate nach dem
Gründungsparteitag waren tausende von Mitgliedern und FunktionärInnen, zum Großteil
ehemalige SozialdemokratInnen, abgelöst, ausgeschlossen, abgeschoben oder
verhaftet worden. Wolfgang Leonhard schreibt dazu u. a.: „So sind von den
14 Mitgliedern des Zentralsekretariats, die bei der Vereinigung unter dem Jubel
der Delegierten gewählt wurden, 10 Spitzenfunktionäre im Verlauf von wenigen Jahren
ihrer Funktionen beraubt, degradiert, teilweise sogar als ,Parteifeinde‘
entlarvt und aus der Partei ausgeschlossen worden.“ (3) Die Machtmaschine des
Stalinismus hatte schnell und gründlich gearbeitet …

Schon die Gründung der SED – sie erfolgte, nachdem die
unabhängigen Organisationsansätze der Arbeiterinnen und Arbeiter beseitigt
worden waren – ist ein Element der Unterdrückung von proletarischer Demokratie.
Die stalinistische Maßregelung, die in der SED sofort nach ihrer Gründung
einsetzte, ist nur der Vollzug dieser Politik in der Partei selbst. Oasen können
in der Wüste überleben, doch demokratische ArbeiterInnenorganisationen in einer
Umgebung ohne lebendige ArbeiterInnendemokratie nicht.

Einheitlich
antisozialistisch

In den „Grundsätze(n) und Ziele(n) der SED“, die auf dem
Vereinigungsparteitag beschlossen worden waren, kommt klar heraus, dass es sich
bei der neuen Partei um eine politische Konstruktion handelt, deren Material
durchweg aus dem Lager des Reformismus stammt. In ihnen wird deutlich, dass
seitens der KPD alles, was an revolutionäre Politik und die Positionen der
frühen Komintern unter Lenin und Trotzki erinnerte, vollständig über Bord
geworfen worden war. Das ist das programmatische Fundament, auf dem sich SPD
und KPD einigen konnten.

Die Gegenwartsforderungen liegen voll auf der Linie, die
übereinstimmend von KPD und SPD nach 1945 verfolgt worden war:

  • Beseitigung des Faschismus;
  • Herstellung demokratischer Verhältnisse;
  • Bodenreform und Überwindung der Überreste des Feudalismus;
  • Bewahrung bürgerlicher Eigentums- und Wirtschaftsverhältnisse.

Diese bescheidenen, reformistischen Forderungen wurden in
einer Situation aufgestellt, in der die Bourgeoisie am Boden lag und die
Arbeiterinnen und Arbeiter, ohne ernsthaften Widerstand fürchten zu müssen, alle
Macht hätten übernehmen können. Allein die Tatsache, dass die SMAD eine solche
Entwicklung weder wünschte noch propagierte und sie sogar aktiv verhinderte,
hätte die SED die Politik Moskaus anprangern und bekämpfen lassen müssen. Doch
gerade, damit das nicht passiert, wurde diese Partei schließlich gegründet!

Immerhin enthält dieses Dokument auch Forderungen wie das
Koalitions- und Streikrecht, die in der späteren DDR nicht einmal mehr auf dem
Papier standen, geschweige denn in der Praxis zu verwirklichen waren.

Der bürgerlich-demokratischen Tagespolitik der „Grundsätze
und Ziele“ wird noch ein abstraktes Bekenntnis zum Sozialismus angehängt –
typisches Merkmal eines Minimal-Maximal-Programms, wie es für reformistische
Parteien durchaus üblich ist. Keine Übergangslosungen, keine Forderungen nach
Schaffung von wirklichen Machtorganen des Proletariats (Räten, ArbeiterInnenmilizen
usw.), keine Forderung nach Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse oder nach
Zerschlagung des bürgerlichen Staats und Enteignung der Bourgeoisie als Klasse.
Die Revolution wird von der SED wie folgt definiert: Die SED „erstrebt den
demokratischen Weg zum Sozialismus; sie wird aber zu revolutionären Mitteln
greifen, wenn die kapitalistische Klasse den Boden der Demokratie verlässt.“
(4) Die Revolution als Notmaßnahme, nicht als notwendiger und einzig möglicher Akt
zum Sturz des Kapitalismus und Schaffung der Diktatur des Proletariats. Wie
weit mussten „KommunistInnen“ sich schon theoretisch vom Marxismus entfernt
haben, um dem zuzustimmen?!

Schon einmal, als sich 1919 die KPD mit dem linken Flügel
der USPD vereinigt hatte, bildeten KommunistInnen und frühere SozialdemokratInnen
eine gemeinsame Partei. Doch 1919 war die KPD noch eine revolutionäre Partei
und die USPD-Linke bewegte sich auf revolutionäre Positionen zu, um sich auf
einem revolutionären sozialistischen Programm mit der KPD zu vereinigen. 1946
bildeten zwei reformistische Parteien eine neue – auf einem reformistischen,
bürgerlichen Programm mit sozialistischer Zusatzklausel. Welch Unterschied und
welch tragischer Irrtum, über der Notwendigkeit der Einheit ihren politischen
Inhalt zu vergessen!

Die SED war weder eine demokratische noch eine revolutionäre
Partei. Sie war, wie ihre Gründung, ihre Dokumente, ihre praktische Politik und
schließlich ihr unrühmliches Scheitern 1989/90 beweisen, ein Instrument der
herrschenden Bürokratie in der Sowjetunion und ihrer StatthalterInnen in (Ost-)Deutschland
bzw. der DDR zur politischen Knebelung des Proletariats und der Eindämmung der
internationalen proletarischen Revolution. Sozialistisch war an der SED, wie an
ihren auf ähnliche Art und unter ähnlichen Bedingungen entstandenen „Bruderparteien“
in Polen oder Ungarn allenfalls der Name. Gründung und Untergang der SED sind Momente
stalinistischer Politik, ihrer zeitweiligen Konjunktur und ihrer Todeskrise.
Nicht die Nachauflage PDS als entstalinisierte sozialdemokratische
SED-Nachfolgepartei, sondern der Aufbau einer revolutionären marxistischen
Partei ist die Lehre aus der Geschichte der SED.

Quellen

(1) Ulbricht, Walter: Die Entwicklung des deutschen volksdemokratischen
Staates 1945–1958. Dietz Verlag, Berlin/O. 1958, S. 27

(2) ebenda, S. 28

(3) Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990, S. 545

(4) KPD: 1945-1968, Dokumente. Edition Marxistische Blätter, Neuss 1989, S. 201




Vom Regen in die Traufe

Proletarische Frauen – vom DDR-Stalinismus
zum BRD-Kapitalismus

Ute Mann, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1998)

Die Einbeziehung der Frauen in die
gesellschaftliche Produktion als Garantie für die ökonomische Unabhängigkeit
und politische Selbstständigkeit galt als der wichtigste Schritt auf dem Weg
zur Gleichberechtigung. Frauen waren als Arbeitskräfte eine wichtige Ressource
der Planwirtschaft v. a. nach dem Krieg, als Arbeitskräfte knapp waren und
massenhafte Abwanderungen durch das Verlassen der DDR Richtung Westen die Lage
weiter erschwerten. Bis in die 1960er Jahre waren Frauen beinahe vollständig in
die Arbeitswelt integriert. (1)

Integration der Frauen in den
Produktionsprozess

Das niedrigere Produktivitätsniveau in der
DDR (wie in allen stalinistischen Staaten) machte immer einen hohen Einsatz
menschlicher Arbeitskräfte notwendig. Doch von den Industriegesellschaften der
Nachkriegszeit war die DDR das einzige Land, das kontinuierlich
Bevölkerungsverluste erlitt. Zwischen 1948 und 1989 schrumpfte die Bevölkerung um
2,7 Millionen auf 16,4 Millionen. Frauen waren auf formalrechtlicher und
politischer Ebene gleichgestellt und stellten einen großen Teil der
Arbeitskraft. Das Motiv des DDR-Stalinismus, Erleichterungen für Frauen
einzuführen, war der wirtschaftliche Aufbau, der Aufbau des „Sozialismus“ in
einem halben Land.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trat
die KPD zunächst für den Aufbau eines „neuen demokratischen Deutschlands“ auf
kapitalistischer Grundlage ein. Die diesem Ziel entsprechende
Volksfrontkonzeption spiegelte sich auch in der Frauenpolitik wider. Nachdem
bereits 1945 die Sowjetische Militäradministration in Deutschand (SMAD) die
eigenständigen ArbeiterInnenkomitees liquidiert und durch Volksfrontorgane
ersetzt hatte, sollten nun auch die nach Kriegsende entstandenen
antifaschistischen Frauenausschüsse in solche umgewandelt werden. Ziel war es,
„Frauen aller Klassen auf breitester Basis“ zu umfassen, um sie für die
Aufbauarbeit für ein „demokratisches Deutschland“ zu gewinnen.

Anfang 1947 gab es in der sowjetischen
Besatzungszone 7.451 Frauenausschüsse, die ca. 250.000 Frauen umfaßten. Um
diese Ausschüsse besser kontrollieren zu können, wurden sie per SMAD-Befehl
aufgelöst und mit den Organisationen des Demokratischen Frauenbunds
Deutschlands (DFD), der am 8. März 1947 gegründet wurde, zusammengeschlossen.
Der DFD gab sich programmatisch überparteilich, war aber dennoch eine
Frontorganisation der SED, die 1946 aus der Fusion von KPD und SPD
hervorgegangen war.

Das DFD-Programm hob hervor, dass „zum ersten
Male die sozialistischen Frauen mit den Frauen aus den bürgerlichen Parteien
und den parteilosen Frauen den Grundstein zu einer einheitlichen demokratischen
Frauenbewegung legten“. Mit dieser programmatischen Erklärung verzichtete der
DFD auf eine konsequente Interessenvertretung der Arbeiterinnen, um die
Klassenzusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien nicht zu gefährden. Ein
Ergebnis dieser Politik war, dass die spezifischen Interessen von
Proletarierinnen – immerhin die Mehrzahl aller Frauen – politisch nicht
artikuliert wurden und viele substantielle Fragen der Stellung der arbeitender
Frauen in Produktion und Gesellschaft weder diskutiert noch gelöst werden
konnten.

Auf dem 2. Parteitag der SED im September
1947 wurde eine Resolution zur Frauenfrage verabschiedet, die zwar einige
Verbesserungen für Frauen enthielt (Öffnung und Zugang zu allen für Frauen
geeigneten Berufen; Ausbau von Einrichtungen, die der Erwerbstätigen die Sorge
um den Haushalt und die Familie erleichtern); wesentliche Voraussetzungen für
die Emanzipation der Frau wurden jedoch nicht geschaffen. Die Zuständigkeit der
Frauen für die Reproduktionsarbeit innerhalb der Familie wurde gar nicht erst
in Frage gestellt. Die umfassende Einbeziehung der Frauen in den
Produktionsprozess war ebenso wenig das Ziel dieser Resolution wie die
Vergesellschaftung der Hausarbeit als einer Grundvoraussetzung für die
Frauenbefreiung.

Der Arbeitskräftemangel in der
Nachkriegswirtschaft machte es aber notwendig, Frauen in großem Umfang für den
Wiederaufbau und die Produktion heranzuziehen. Per SMAD-Befehl wurde daher das
Prinzip der gleichen Entlohnung eingeführt. Außerdem sollte die
Berufsnomenklatur überarbeitet werden. Beides stieß auf den Widerstand der
männlichen Arbeiterschaft und deren Gewerkschaftsvertretungen. Statt die
proletarischen Frauen zur Durchsetzung ihrer Interessen zu mobilisieren, wurden
auf bürokratischem Wege Frauenkommissionen eingesetzt, welche die Durchführung
der Beschlüsse kontrollieren sollten. Dieses rein administrative Vorgehen der
StalinistInnen war aber kaum dazu geeignet, die historisch überkommene
Benachteiligung der Frau in der Gesellschaft zu überwinden.

Bürokratismus statt Frauenbefreiung

Dazu hätte es einer breiten politischen
Debatte in ArbeiterInnenbewgung und Gesellschaft bedurft, die sich schonungslos
mit gesellschaftlichen Strukturen, Traditionen und Praktiken auseinandersetzt,
die Frauen an einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
hindern. Diese (für Männer und Frauen) schmerzhafte Debatte wurde jedoch auf
unterstem Niveau ausgetragen. Nicht die Frauen selbst artikulierten ihre
Bedürfnisse in organisierter Form, sondern der bürokratische Apparat bestimmte
und legte fest. Wichtige Grundformen von Frauenunterdrückung – die Familie und
die im privaten Rahmen erledigte Hausarbeit – standen nicht zur Disposition. So
wurden auf dem Altar einiger Verbesserungen für Frauen die historischen
Grundvoraussetzungen der Befreiung der Frau geopfert.

Die Schwangerschaftsunterbrechung wurde
aufgrund medizinischer, ethischer und sozialer Indikation wegen der nach
Kriegsende herrschenden materiellen Not und dem enormen Bedarf an weiblichen
Arbeitskräften zunächst erlaubt. Doch schon 1950 wurde das Verbot wieder
eingeführt. Änderungen des Ehegesetzes entfernten v. a. die
nationalsozialistischen Bestimmungen. Dieses Hin und her gerade in der
Abtreibungsfrage verweist sehr deutlich darauf, dass die stalinistische
Frauenpolitik nicht an einer Strategie der Frauenbefreiung, sondern an
konjunkturellen Erfordernissen der Entwicklung und an der Rücksicht auf
bürgerliche Vorstellungen und Traditionen orientiert war.

Das traditionelle dreigliedrige Schulsystem
wurde durch die achtklassige Pflichtschule für alle ersetzt. Bereits im
Frühjahr 1946 wurde in den Ländern der SBZ das „Gesetz zur Demokratisierung der
deutschen Schule“ verabschiedet. 1959 wurde die zehnjährige Allgemeinbildende
Polytechnische Oberschule zur Pflichtschule. Die Erweiterte Oberschule mit den
Klassen 11 und 12 führte zum Abitur. (2)

Tradierte Rollenverteilung

Die Einheitsschule kann man als einen
ersten Schritt begrüßen, um die bildungspolitische Benachteiligung für Frauen
aufzuheben. Auch im Bereich der höheren Bildung (Abitur, Hochschulstudium)
gelang es, die Benachteiligung von Mädchen und Frauen im Wesentlichen zu
überwinden. Allerdings blieb die Rollenverteilung – Männer eher
technisch/praktisch, Frauen eher „humanistisch“ – weitgehend erhalten. 1948
löste der FDGB die gewerkschaftlichen Frauenkommissionen auf. 1949 beschloss
die SED die Auflösung der Betriebsorganisationen des DFD, deren
Haupttätigkeitsfeld nunmehr der kommunale Bereich sein sollte. Bis Ende der
achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatte der DFD knapp 1,5 Millionen.
Mitglieder. Nur 30 % von ihnen waren jünger als 53 Jahre. Der Verband
richtete in Bezirks- und Kreisstädten insgesamt 210 „Beratungszentren für
Haushalt und Familie“ ein. Seit 1967 unterhielt der DFD Frauenakademien für
politische Schulung sowie für Veranstaltungen mit kultureller und
hauswirtschaftlicher Thematik, was die staatstragende Rolle und
Aufrechterhaltung der frauenfeindlichen Ideologie durch den DFD deutlich macht.
Statt Instrument der Überwindung der Benachteiligung der Frau war der DFD
vielmehr ein organisatorischer Rahmen für das „Ausleben“ der traditionellen
Rolle der Frauen.

Die Illusion, ein geeintes, neutrales
Deutschland zu schaffen, wurde durch die unterschiedliche Praxis in den
Besatzungszonen zerstört. Während der Osten den Großteil der Reparationen an
die UdSSR leisten musste, griff im Westen 1948 die Hilfe des Marshallplans.
Frauen stellten die einzige verfügbare Arbeitskraftreserve dar. Daher sollten
ihnen gesetzliche Maßnahmen den Eintritt in das Erwerbsleben erleichtern. Mitte
der 1950er Jahre stagnierte der weibliche Beschäftigungsstand, was zum Ausbau
von Kinderbetreuungseinrichtungen und des Dienstleistungssektors führte.
Wichtige gesetzliche Maßnahmen dieser Zeit waren die verfassungsmäßige
Verankerung der Gleichberechtigung der Geschlechter, des Prinzips der
Lohngleichheit und die Aufhebung der Benachteiligung unehelicher Kinder und
deren Eltern. Gleichzeitig jedoch wurden Ehe und Familie weiterhin als
Grundlage des Gemeinschaftslebens angesehen und unter den Schutz des Staates
gestellt.

Die Einbeziehung der Frauen in die
produktive Arbeit stieß jedoch auf den Widerstand der Männer. Viele Betriebe
weigerten sich, Frauen entsprechend ihrer Qualifikation oder überhaupt
einzustellen. Die zunehmende Kritik der Frauen daran zwang die SED, deren
Organisation auf betrieblicher Ebene zu unterstützen, um die Männer, v. a.
die Gewerkschaftfunktionäre, unter Druck zu setzen. 1952 empfahl das Politbüro
der SED, die Wahl von Frauenausschüssen überall dort, wo eine größere Anzahl
Frauen arbeitet, zu unterstützen. Bis Ende 1961 entstanden so ca. 20.000 Frauenausschüsse
mit ca. 140.000 Mitarbeiterinnen, von denen drei Viertel parteilos waren.
Obwohl die Gewerkschaften zur Zusammenarbeit mit den Ausschüssen verpflichtet
waren, kam es dennoch immer wieder zu Konflikten, so dass letztere Mitte der
1960er Jahre von der SED gegen ihren Willen den Betriebsgewerkschaftsleitungen
unterstellt wurden.

Degenerierter ArbeiterInnenstaat

Die Probleme der gleichberechtigten
Integration von Frauen in den Produktionsprozess sind allerdings nicht nur
einer verfehlten Frauenpolitik der SED oder männlichen Ressentiments
geschuldet. Vielmehr drücken sie ein allgemeines Problem aller degenerierten
ArbeiterInnenstaaten aus. Es zeigte sich immer wieder, dass selbst positive
Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Frauen, die es ohne Zweifel gab, im
Widerspruch zu den starren, bürokratischen Verhältnissen der Gesellschaft
insgesamt standen. Solange z. B. die Kindererziehung fast ausschließlich
in der Zuständigkeit der Frauen lag – und dieser Umstand wird ja gerade durch
die Aufrechterhaltung der tradierten Familienstrukturen konserviert –, waren
nach wie vor nahezu ausschließlich Frauen für die Betreuung kranker Kinder zu
Hause zuständig, was zu mehr Ausfällen an Arbeitsstunden führte. Unter diesen
Umständen war es klar, dass BetriebsmanagerInnen lieber Männer als Frauen
beschäftigten. Was dieses und viele andere Beispiele zeigen, ist die
prinzipielle Unmöglichkeit, selbst Teilverbesserungen langfristig
durchzusetzen, wenn die grundlegenden, strategischen Aufgaben nicht gelöst
werden.

Die „Zentralverwaltung sowjetischen Typs“
wurde in mehreren Etappen in der DDR eingeführt. Von 1952 bis 1985 sank der
Anteil des Privateigentums auf 4,6 %. Bis auf 6 % wurde die
Agrarfläche in LPGen eingebracht. Der Anteil der Selbstständigen an der Gesamtzahl
der Erwerbstätigen (1955 noch 20 %) sank bis 1988 auf 2 %. 1986 gab
es 224 Industriekombinate, in denen die Volkseigenen Betriebe (VEB)
zusammengeschlossen waren. In den Kombinaten wurde auch ein Großteil der
Forschungspolitik, der Freizeit- und Feriengestaltung, der sozialen Sicherheit
u. v. m. bestimmt.

Qualifizierung

Bis Ende der 1950er Jahre war die
Wirtschaft von der starken Abwanderung v. a. qualifizierter Arbeitskräfte
belastet (ca. 3 Millionen flüchteten aus der DDR), die erst durch den Mauerbau
gestoppt wurde. Nun ging es nicht mehr zuerst um die quantitative Einbeziehung
von Frauen in den Produktionsprozess, sondern um den Ausgleich des erhöhten
Bedarfs an qualifizierten Arbeitskräften. Dies führte zur Aufstellung von
Frauenförderungsplänen, zum Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und der
Ausdehnung von Dienstleistungen. Der DFD unterhielt seit 1967 Frauenakademien
für politische Schulung und Veranstaltungen mit kultureller und
hauswirtschaftlicher Thematik. In Bezirks- und Kreisstädten richtete der DFD
210 „Beratungszentren für Haushalt und Familie“ ein. Dennoch wurde der DFD
aufgrund seiner Funktion als Transmissionsriemen der herrschenden Kaste in das
weibliche Proletariat hinein nie zur Organisation, der sich die Frauen zur
Artikulierung ihrer Interessen bedient hätten.

Im Rahmen der Bildungsoffensive wurde von
der Staatsführung eine Reihe von Frauenförderungsmaßnahmen beschlossen wie
Frauensonderstudium oder verstärkte Qualifizierung von Frauen für technische
Berufe. Frauen konnten sich nun für ihre berufliche Aus- und Weiterbildung
freistellen lassen. Das Arbeitskollektiv musste jedoch den Produktionsausfall
ausgleichen. Da auch in der DDR-Ökonomie die Entwicklung des Konsumgütersektors
vernachlässigt wurde, vergrößerten Schlangestehen und der Mangel an effektiven
Haushaltsgeräten die Arbeitslast der Frauen. Auch die Einführung eines
monatlichen Hausarbeitstages, für den berufstätige Frauen von der Arbeit
freigestellt waren, war eine widersprüchliche Maßnahme: einerseits galt die
gesellschaftliche Anerkennung von Hausarbeit als notwendig und wurde in diesem
Fall sogar bezahlt, andererseits wurde diese Tätigkeit wieder traditionell der
Frau zugeordnet, was ihre Rolle als Aschenputtel nurmehr verfestigte und
offiziell sanktionierte.

Hier soll auch auf ein grundsätzliches
Problem der Gleichberechtigung der Frau in der DDR hingewiesen werden: die
Doppelbelastung durch Beruf einerseits und Familie, Haushalt andererseits. Die
Unterentwicklung des Dienstleistungssektors, der mangelhafte Grad der Vergesellschaftung
der Hausarbeit und ein mangelhaftes Angebot an Gütern des täglichen Bedarfs
brachten es mit sich, dass die Bewältigung des Alltagslebens sehr mühsam und
aufwändig war. Dieser Aufwand wurde zum großen Teil von Frauen und nicht von
Männern bewältigt. Die Gleichberechtigung stellte sich so in der Praxis oft
einfach als Doppelbelastung der Frauen dar. Die relativ gute Kinderbetreuung
konnte die Frauen zwar entlasten, jedoch das Problem der Überbelastung
natürlich nicht lösen. Allgemein wurde in den Jahrzehnten des Stalinismus
deutlich, dass eine grundsätzliche Änderung der Stellung der Frau in der
Gesellschaft nicht möglich ist, ohne dass das allgemeine Niveau der
Produktivität hoch ist, dadurch die Arbeitszeit deutlich verkürzt und somit
auch die tradierte Arbeitsteiligkeit (die nicht nur eine zwischen Man und Frau
ist) überwunden werden kann. Wie sollen Frauen am gesellschaftlichen und
politischen Leben aktiv teilhaben, wenn die gesamte Zeit für Arbeit, Einkäufe
etc. benötigt wird?

Reaktionäre Familienpolitik

Neben den Qualifizierungskampagnen traten
verstärkt reaktionäre, familienpolitische Maßnahmen in den Vordergrund,
z. B. wurde aufgrund steigender Scheidungsziffern die Eheauflösung
erschwert. Trotzdem war eine Ehescheidung sowohl juristisch als auch finanziell
im Vergleich zu den Regelungen der BRD einfacher. Ideologisch wurde diese
„Wende“ 1965 mit dem Inkrafttreten des Familiengesetzes, das die Familie als
„kleinste Zelle der sozialistischen Gesellschaft“ definierte, untermauert. Die
Familie war auch im Stalinismus eine Einheit der sozialen Kontrolle und
Disziplin. (3)

Nach dem Mauerbau verzeichnete die DDR
dennoch die niedrigste Geburtenrate der Welt. Auch die familienpolitischen
Maßnahmen konnten nicht zur Konstanz der Bevölkerungzahl beitragen. Im Westen
glichen seit Ende der 1960er Jahre die hohen Geburtenraten der
GastarbeiterInnen die Bevölkerungszahl aus. In der DDR war der Ausländeranteil
mit ca. 1 % sehr gering, außerdem dehnte sich die Familienpolitik (wie
auch die sonstige Rechtssprechung) nicht auf die ausländischen EinwohnerInnen
aus. Vietnamesinnen z. B. wurden bei Eintreten der Schwangerschaft in ihr
Heimatland zurückgeschickt. Trotz der Bildungsoffensive konzentrierten sich die
Hauptbereiche für Frauen im mittleren administrativen Bereich, in
sozialhelferischen Tätigkeiten oder in schwerer, monotoner Fabrikarbeit,
z. B. am Fließband. Gesellschaftlicher Aufstieg hing außerdem ganz
wesentlich von der Loyalität gegenüber der herrschenden Kaste und ihren
Institutionen ab. Die Verbesserung der Karrieremöglichkeiten wirkte sich aber
stärker auf Frauen der Bürokratenschicht aus, während Männer weiterhin das
Management besetzten.

Die von Mädchen und Jungen bevorzugten
Ausbildungsbereiche unterschieden sich in der DDR kaum von denen der Jugendlichen
in der BRD. Hier wie dort, damals wie heute konzentrierte sich die Mehrheit der
Auszubildenden auf wenige Berufe. Trotz aller Betonung der Gleichheit für
ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und Intelligenz, trotz aller Behauptungen, die
Chancengleichheit für ArbeiterInnenkinder zu erhöhen und v. a.
ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenkinder studieren lassen zu wollen, war
auch in der DDR die Ausbildungschance von Akademikerkindern höher als von
Kindern mit Eltern, die eine acht- bis zehnjährige Schulzeit absolviert hatten.
Andererseits gab es eine Reihe von Maßnahmen, um der traditionellen
Benachteiligung von Nichtakademikerkindern positiv entgegenzuwirken. So waren
der Anteil und v. a. die realen Chancen für ArbeiterInnenkinder zu
studieren besser als in der BRD.

Die stalinistische Methode zur
Produktionssteigerung war nicht eine Verstärkung der Technologie-Investition,
sondern meist eine rein quantitative Ausdehnung der Produktion. Durch die
bürokratische Unterdrückung und Gängelung des Proletariats wurden nicht nur der
Anreiz sondern auch fast alle strukturellen Möglichkeiten für die Planung und
Verbesserung der Produktion beschnitten. Daher mussten die Anzahl der
Arbeitskräfte erhöht und auch Frauen in Industrie und Landwirtschaft eingesetzt
werden. Gleichzeitig erforderte das aber auch, für eine ausreichende Anzahl von
Arbeitskräften in der Zukunft zu sorgen, was durch die Geburtenförderung
erreicht werden sollte.

Beruf und Familie

Seit Mitte der 1960er Jahre führten
sinkende Geburtenraten und steigende Scheidungsquoten zu einer
frauenpolitischen Kurskorrektur: Frauenpolitik wurde in Familien- und
Mütterpolitik umgewandelt. Die Drei-Kind-Familie wurde propagiert, um die
einfache Reproduktion zu gewährleisten. Das 1950 wieder eingeführte Abtreibungsverbot
hatte die Zahl illegaler Abtreibungen in die Höhe schnellen lassen, was 1972
dazu führte, dass die Schwangerschaftsunterbrechung gesetzlich freigegeben
wurde (4) – übrigens das einzige Gesetz, bei dem die Volkskammer keine
Einstimmigkeit erzielen konnte! Sozialpolitische Maßnahmen wie Ehekredite,
staatliche Geburtenhilfe, Erhöhung des Schwangerschafts- und Wochenurlaubs,
Arbeitszeitverkürzungen für berufstätige Mütter auf 40 Stunden bei vollem
Lohnausgleich und Babyjahr flankierten diesen Wandel.

Solche Maßnahmen trugen zwar begrenzt
fortschrittlichen Charakter, verfestigten aber auf der anderen Seite auch die
Rolle der Frau in der Familie. Männer konnten diese Rechtsansprüche nicht
gleichberechtigt wahrnehmen, was die Zuständigkeit der Frauen für den
familiären Bereich untermauerte und ihre Unterdrückung festigte. Hinsichtlich
der zahlenmäßigen Integration der Frauen in die Erwerbsarbeit und der damit
verbundenen ökonomischen Unabhängigkeit trug die Frauenpolitik der DDR durchaus
emanzipatorische Züge, die zu einem „Gleichstellungsvorsprung der DDR gegenüber
der BRD“ führte. Ende der 1980er Jahre waren rund 90 % aller Frauen
berufstätig, davon hatten 87 % eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Kinderbetreuungseinrichtungen deckten 95 % des Bedarfs ab. (5) Allerdings
war diese Gleichberechtigung nicht von den Frauen erkämpft. Sie war „für Frauen
gemacht“ und reproduzierte den Traditionalismus im Geschlechterverhältnis.
Frauenarbeit hieß auch quasi „wesenhafte“ Zuständigkeit für Kinder, Familie und
Hausarbeit. Sexismus in der Erziehung und strenge Arbeitsteilung waren die
Norm. Mädchen wurden gedrängt, sozialhelferische und wenig qualifizierte Berufe
zu ergreifen. Nur einigen wenigen Vorzeige-Arbeiterinnen wurden Möglichkeiten
gegeben, in männerdominierte Bereiche vorzudringen.

Polarisierung

Die Familienpolitik begünstigte soziale
Polarisierungen zwischen den Geschlechtern wie gravierende
Einkommensunterschiede, Differenzen hinsichtlich beruflicher
Entwicklungsverläufe wie auch unterschiedliche Zeitressourcen von Männern und
Frauen. Ein Drittel der Frauen war teilzeitbeschäftigt. Die Entlohnung in
typischen Frauenberufen lag im Durchschnitt ein Drittel unter jener der Männer,
was den Vorteil der ökonomischen Unabhängigkeit vom Mann wieder schmälerte. Die
Trennung vom Mann bedeutete auch im Stalinismus einen Verlust an
Lebensstandard. Auch in der DDR besetzten Frauen die unteren Ränge der
betrieblichen Hierarchie und jene gesellschaftlichen Arbeitsfelder, die neben
einem geringeren Durchschnittseinkommen auch einen niedrigeren Status besaßen,
während Männer weiterhin das politische Leben in Partei, Betrieben und
Gewerkschaften dominierten.

Die Notwendigkeit, Beruf und Mutterschaft
miteinander zu vereinbaren, führte dazu, dass Frauen häufiger als Männer in
Berufe wechselten, die unterhalb ihrer Qualifikation lagen, oder dass sie
Qualifizierungsmöglichkeiten nur beschränkt wahrnehmen konnten und beruflich
nicht so flexibel waren. Auch bildungspolitische Beschränkungen und
betriebliche Rekrutierungsstrategien trugen zur Aufrechterhaltung von
geschlechtsspezifischen Branchenaufteilungen bei. Trotz existierender
Frauenförderungspläne ermöglichten sie den Betrieben, die bürokratische
Entscheidung über die Vergabe von Ausbildungsplätzen, den Anteil weiblicher
Lehrlinge gering zu halten. Nach der familienpolitischen Wende stiegen die
Scheidungsquoten, was nur scheinbar ein Widerspruch ist und eine gewisse
Rebellion der Frauen ausdrückt. Erstens hatte die Frauenpolitik die Frauen
verändert, die Männer aber kaum. Zweitens blieben die Frauen dennoch in
traditionellen Geschlechterstrukturen und Stereotypen gefangen. Steigende
Scheidungsquoten gingen mit hohen Wiederverheiratungsraten einher. (6) Der
Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften betrug dagegen im Osten wie im
Westen ca. 8 %.

80 % der Mitte der 1980er Jahre
befragten Jugendlichen hatten in der Schule die Erfahrung gemacht, dass man
nicht sagen durfte, was man dachte, ohne Nachteile befürchten zu müssen.
Formalismus und Routine bestimmten den Schulalltag. Der „vormundschaftliche“
Staat verlängerte sich auf diese Weise in die Schule hinein und verwies die
SchülerInnen auf die Position der Unmündigen, Abhängigen, Geleiteten. Die
Familie war für viele eine vertraute Alternative, eine Art Gegenstruktur.
Männer waren trotz der Berufstätigkeit der Frau immer noch die Hauptverdiener.
Auch die Arbeitsteilung in der Familie erfolgte nach geschlechtsspezifischem
Muster und prägte die Wertorientierungen Heranwachsender. Bis heute hat die
Familie für die Ostdeutschen einen hohen Stellenwert, dabei haben die
Auffassungen über geschlechtsspezifische Zuständigkeiten überdauert. (7)

Widersprüche

Die Errungenschaften der DDR in Bezug auf
die Gleichberechtigung der Frauen waren vielfältig, unzureichend und
widersprüchlich. Dem hohen Grad der Einbeziehung von Frauen ins Berufsleben
(v. a. auch im Bereich der Industrie im Vergleich zum Westen), ihrer
größeren ökonomischen Unabhängigkeit und damit zusammenhängend ihrem größeren
Sebstbewußtsein standen auf der anderen Seite eine enorme Doppelbelastung im
Alltag und eine nach wie vor überproportional starke Einbindung in Familie und
Haushalt und das Fehlen eigenständiger Organisations- und
Artikulationsmöglichkeiten in Politik und Gesellschaft gegenüber. Die sozialen
Errungenschaften der DDR – die Planung der Wirtschaft, die Abschaffung des
Privateigentums und die weitgehende Überwindung der Klassendifferenzierung –
waren eine Basis, die nicht nur positiv für die Durchsetzung der
Gleichberechtigung der Frau, sondern historisch gesehen sogar eine
unverzichtbare Bedingung für die Erreichung dieses Zieles ist.

Doch die Herrschaft der bürokratischen
Kaste der StalinistInnen verhinderte eine wirkliche Emanzipation der Frau
doppelt: zum einen durch eine Frauenpolitik, die die vom Marxismus postulierte
Ziele und Bedingungen ihrer Befreiung ignorierte und sie stattdessen den
bornierten Bedürfnissen der Reproduktion ihres starren Gesellschaftsgefüges
opferte; zum anderen, indem die Bürokratie die Weiterentwicklung der
Gesellschaft Richtung Sozialismus blockierte und das Proletariat als deren
Akteur fesselte. Das Beispiel von 40 Jahren DDR zeigt die historische
Möglichkeit der Frauenbefreiung im Sozialismus wie auch die Unmöglichkeit,
dieses Ziel mit den Mitteln des Stalinismus zu erreichen.

Kapitalistische Restauration

Aufgrund der Wiedervereinigung mit der
imperialistischen BRD hat der Restaurationsprozess im Osten Deutschlands eine
gewisse Sonderstellung in der Restauration Osteuropas.

Trotz fast vollständiger Integration der
Frauen in das Erwerbssystem der DDR war die geschlechtsspezifische Aufteilung
der Erwerbsarbeit kaum in Frage gestellt, in manchen Bereichen eher noch
verschärft worden. Relativ stabil blieben auch die für weibliche Erwerbsarbeit
typischen Merkmale wie niedrigere Bezahlung typischer Frauenberufe; geringere
Aufstiegschancen; schlechtere Bedingungen, höhere Qualifikationen auch
tatsächlich anzuwenden. Für die Frauen der DDR wirkte Westdeutschland attraktiv
durch die vermeintlichen demokratischen und individuellen Freiheiten, durch seinen
Reichtum, das Konsumgüterangebot, die moderne Kleidung und durch gewisse
sexuelle Freiheiten der Frauen des Westens.

Diese Attraktivität ging schnell verloren,
als Marktpreise für Wohnen, Nahrung, Kinderbetreuung usw. bezahlt werden
mussten. Die Einkommen im Osten stagnieren, während für
Sozialversicherungspflichtige die Beitragsbemessungsobergrenzen weiter
angepasst und die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung angehoben
wurden. Für die Frauen Ostdeutschlands, die keine Alternative zum Hausfrauendasein
haben, wurde die Abhängigkeit vom Einkommen des Mannes zur Kette, die sie an
die Familie schmiedete. Merkmale feminisierter Armut schlagen nun auch voll auf
den Osten Deutschlands durch. Hauptgruppen sind wie im Westen alleinerziehende
Mütter, arbeitslose Frauen und Frauen (Witwen) ohne eigene Versichertenrente.
Dazu kommt, dass bei Frauen aller Altersgruppen Einkommensarmut häufiger
auftritt als bei Männern. Auch schon während der Wende gab es Aktionen von
Frauen für das Weiterbestehen der Kindereinrichtungen und der
fortschrittlicheren Abtreibungsgesetze. Frauen waren auch aktiv im Kampf gegen
den Stalinismus.

Mit wachsendem Selbstbewusstsein der
reaktionären Kräfte ließen die Mobilisierungen der Frauen jedoch nach. Das lag
u. a. auch daran, dass es in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung
in der DDR (SED, FDGB) keine eigenständigen Organisations- und
Artikulationsmöglichkeiten für Frauen gab und in der Wendezeit dieses Problem
kaum gesehen wurde bzw. der Kampf darum durch die Gründung alternativer
Organisationen wie dem Unabhängigen Frauenverband (UFV) ersetzt wurde.

Mit dem Umschlagen der Revolution in die
Konterrevolution änderten sich auch die Themen und die Organisationen der
Frauen. Obwohl sie in Gestalt des UFV 1989 am „Runden Tisch“ teilnahmen, wurden
im Zuge der Restauration ihre Interessen von allen Parteien übergangen.

Der FDGB, dem vor der Wende fast alle
Werktätigen angehörten, löste sich am 30. September 1990 formal auf, nachdem er
auf seinem letzten Kongreß die Satzung so geändert hatte, dass sich der
Organisationsbereich des DGB nun auch auf die fünf neuen Länder und Ost-Berlin
erstreckte. Es gab nur Einzelübertritte vom FDGB in den DGB, die
Organisationsstrukturen in den neuen Bundesländern wurden faktisch neu aufgebaut.
Die Übernahme von FunktionärInnen des FDGB in den DGB war selten.

Im ersten Jahr der Einigung konnte der DGB
im Osten zunächst einen höheren Organisationsgrad verbuchen als im Westen, aber
bedingt durch Arbeitslosigkeit und die Umstrukturierung der Wirtschaft ging er
wieder zurück. Ende 1992 hatte der DGB 11 Millionen Mitglieder, davon 7,9
Millionen in den alten und 3,1 Millionen in den neuen Bundesländern. Der Anteil
der weiblichen Mitglieder betrug in der Gruppe der ArbeiterInnen 32 %, in
der Gruppe der Angestellten 56,4 % und bei den BeamtInnen 22,3 %.

Gewerkschaften

Zum Absinken des gewerkschaftlichen
Organisationsgrades hat die Politik der Gewerkschaftsführung selbst in einem
nicht unerheblichen Maße beigetragen. Das deutsche Kapital zehrt noch heute,
fast ein Jahrzehnt nach der Wende, von der Bereitwilligkeit der
Gewerkschaftsführung, das Proletariat im Kampf gegen die sozialen Auswirkungen
der Restauration zurückzuhalten und die Spaltung in ost- und westdeutsche
ArbeiterInnenklasse zu zementieren. Noch immer erhalten die ArbeiterInnen im
Osten einen geringeren Lohn als im Westen. Wie wenig die von der
Gewerkschaftsführung für den Osten favorisierten Abwiegelungsmodelle wie
„Beschäftigungsgesellschaften“, ABM u. ä., die v. a. dazu dienten,
den Anschein vorübergehender Strukturanpassungsmaßnahmen aufrechtzuerhalten,
geeignet sind, einen „gesamtgesellschaftlichen Ausgleich der sozialen Härten“
der Restauration zu erreichen, wird nun, nachdem der kurze Nach-Wende-Boom
vorbei ist und die Krise auf Gesamtdeutschland durchschlägt, immer
offensichtlicher.

Der seit Juni 1990 festzustellende
überproportionale Anteil von Frauen an den Arbeitslosen ist ein klares Indiz
dafür, dass der Umbau des Wirtschaftssystems in der Ex-DDR keineswegs
geschlechtsneutral verläuft. (8) Der im April 1991 erstmalig in den neuen
Ländern durchgeführte Mikrozensus zeigte, dass die Erwerbsquote der Frauen von
ca. 90 % auf 73 % gesunken war. Zwischen 1990 und 1992 wurden 2/3 der
ostdeutschen Industrie zerstört. 1992 waren nur noch 750.000 in Industrie und
Handel vollbeschäftigt. Das entsprach etwa einem Viertel des
Beschäftigungsstandes von 1990. Die landwirtschaftliche Produktion sank bis
Mitte 1992 auf die Hälfte. 1989 hatte die ostdeutsche Wirtschaft 9,6 Mio.
Beschäftigte. 1992 waren 4 Mio. davon arbeitslos, in Kurzarbeit oder (als
PendlerInnen, PensionistInnen, Hausfrauen u. ä.) vom Arbeitsmarkt
verschwunden. (9)

Arbeitslosigkeit

Dabei erwies sich zunächst nicht so sehr
das Entlassungsrisiko als geschlechtsspezifisch. Vielmehr sind die Chancen, ein
neues Beschäftigungsverhältnis einzugehen, für Frauen geringer. 1995 betrug die
„stille Reserve“, die keine Chance zu einem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt
hat, 2,3 Millionen. Immer größer werdende Zahlen an Langzeitarbeitslosen und
die sinkende Bezugsdauer von Arbeitslosengeld führen dazu, dass die Zahl jener,
die gleich an die Sozialbehörden verwiesen werden, wächst. So gab es 1995
300.000 Beschäftigte, die auf Sozialhilfe angewiesen und 2,5 Mio. Arbeitslose
(Ostdeutschland), die wegen der niedrigen Lohnersatzleistungen teilweise
zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen waren.

Die strukturellen Veränderungen des
Erwerbssystems sind gekennzeichnet durch einen nachhaltigen Branchenumbau.
Grundtendenz ist dabei die Verminderung des Frauenanteils innerhalb der
verschiedenen Wirtschaftsbereiche. Diese Tendenz setzt sich unabhängig durch,
ob es sich um eine Branche im Aufschwung, eine niedergehende oder stagnierende
handelt, oder ob es sich um eher männer- oder frauentypische Erwerbsfelder
handelt:

– In der DDR frauentypische Branchen werden
zu Mischbranchen (Handel, Banken, Versicherungen u. a. Dienstleistungen).
Unter den Bedingungen eines veränderten Arbeitsmarktes reflektieren Männer
verstärkt auf diese Bereiche. In den privatisierten Ex-Treuhandfirmen des
Dienstleistungsbereiches ist bis 1992 der Frauenanteil von 71 % auf
53 % zurückgegangen. Außerdem stagnieren die primären Dienstleistungen und
die einfachen Bürotätigkeiten, während die qualifizierten sekundären
Dienstleistungsbereiche ausgeweitet werden.

  • Mischbranchen werden zu männerdominierten Branchen (übriges verarbeitendes Gewerbe, Landwirtschaft, Verkehr, Bahn, Post).
  • Traditionell schon zu DDR-Zeiten männertypische Branchen schließen sich weiter gegen Frauenerwerbsarbeit ab (Bergbau, Energiegewinnung, Bauwirtschaft, Metall-/Elektroindustrie). (10)

Geschlechtsspezifisch differenzierte
Entwicklungsverläufe sind auch hinsichtlich der beruflichen Stellung zu
beobachten. Bereits im Frühjahr 1991 waren kaum noch Frauen in
Leitungspositionen beschäftigt. Bei hochqualifizierten Führungs- und
Berufspositionen beträgt der Frauenanteil deutlich unter einem Zehntel. (Nur
bei einigen akademischen Berufen sind die Frauen in der Überzahl: Lehrerinnen
55 %, Schulleitung jedoch nur 20 %, Ärztinnen und Apothekerinnen
46 %). (11) Damit haben sich auch die Einkommensunterschiede zwischen
Frauen und Männern weiter verstärkt. Während 1991 von den männlichen
Erwerbstätigen 7 % ein Nettoeinkommen von mehr als 5.000 Mark monatlich
hatten, waren es bei den Frauen nur 0,8 %.

Frauen sind auch häufiger als Männer von
Kurzarbeit betroffen, da sie häufiger in Kleinbetrieben ohne Zuschusszahlungen
tätig sind und sich auf Verwaltungs- und Dienstleistungsberufe konzentrieren,
die auch in kurzarbeitenden Betrieben von Entlassungen betroffen sind.

Einzelne Berufsgruppen sind
überproportional von Frauen besetzt: Tierpflege, Textilverarbeitung,
Warenkaufleute, Bürofachkräfte, ärztliche Pflege- und Hilfsberufe,
Sozialpflegeberufe, Reinigungsdienste. (12) Weniger als 36 Stunden wöchentlich
arbeiten 3,4 % der Männer und 32,6 % der Frauen. 1991 betrug der
Anteil der Frauen bei den Selbstständigen 25,7 %, bei den mithelfenden
Familienangehörigen 84 %, bei den BeamtInnen 22,3 %, bei den
Angestellten 56,2 % und bei den ArbeiterInnen 29,8 %.

Erwerbsneigung

Die Erwerbsneigung ostdeutscher Frauen ist
wie die Orientierung auf die prinzipielle Vereinbarkeit von Beruf und Familie
nahezu ungebrochen. Für 1991 seien folgende Vergleichszahlen für erwerbstätige
Frauen mit Kindern genannt: Von 100 Frauen der Altersgruppe der 25–29-Jährigen
arbeiteten in den neuen Bundesländern 81, in den alten Bundesländern 50; von
der Altersgruppe der 30–34-Jährigen arbeiteten in den neuen Bundesländern 84
und in den alten 54. Eine möglichst kontinuierliche Erwerbstätigkeit der Frauen
gehört nicht nur zu den kulturellen Erfahrungen der Frauen, sondern auch der
Männer.

Ostdeutsche Männer halten es zu 93 %
für selbstverständlich, dass ihre Partnerin erwerbstätig ist, wenn keine Kinder
im Haushalt leben (75 % der westdeutschen Männer). Ist ein Kleinkind zu
versorgen, so sind 54 % der ostdeutschen Männer für eine
Teilzeitbeschäftigung der Frau (21 % der westdeutschen Männer). Unter
diesen Bedingungen plädieren 78 % der westdeutschen Männer für einen Ausstieg
aus dem Beruf (ostdeutsche 37 %). (13) Für die Mehrzahl der ostdeutschen
Frauen vollzieht sich der Ausstieg aus der Erwerbsarbeit nicht als
familienbedingte Unterbrechung, sondern als unfreiwilliger Verlust des
Arbeitsplatzes.

Warteschleife

Dementsprechend zeigen sie durchaus
Mobilität und Flexibilität, wenn es darum geht, sich auf neue
Arbeitszusammenhänge einzulassen: Qualifizierung, ABM-Maßnahmen und
Projektbeschäftigung werden als Mittel gesehen, um sich im Erwerbssystem zu
halten. 2 Mio. insgesamt „entlasteten“ 1995 den Arbeitsmarkt durch solche
„arbeitsmarktpolitischen Instrumente“. 500.000 hatte der öffentlich geförderte
„zweite Arbeitsmarkt“ (ABS, ABM, §249 AFG) zur gleichen Zeit aufgesogen. Die
Beschäftigung von Frauen nimmt auch auf dem „dritten Arbeitsmarkt“ zu, der
durch die Legalisierung der Beschäftigung von Arbeitslosen oder
SozialhilfeempfängerInnen außerhalb des Tarifsystems entsteht und ständig
wächst. Gleichzeitig nimmt die „geringfügige Beschäftigung“ (nicht
versicherungspflichtige Teilzeitarbeit unter 20 Stunden) zu. 1995 waren in der
gesamten BRD 2,5 Mio. „geringfügig beschäftigt“.

Im Zuge härter werdender Verteilungskämpfe
werden sich die geschlechtsspezifischen Differenzierungslinien wie die zwischen
den einzelnen Frauengruppen auch entlang solcher Merkmale wie Mutterschaft oder
kinderlos, alleinerziehend oder mit Partner, Kinderanzahl usw. vertiefen. Die
ausschließliche Zuständigkeit für Haushalt und Kinder schränkt die räumliche
und zeitliche Mobilität der Frauen ein. Die weitere Schließung von
Kinderbetreuungseinrichtungen und die Verkürzung der Öffnungszeiten unter dem
Vorwand der „geburtenschwachen Jahrgänge“ führen zu weiterer Benachteiligung
von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

Frauen, insbesondere Ostfrauen, zählen
schon heute zu den „Unterversorgungsrisikogruppen“ genauso wie kinderreiche
Haushalte in Ost und West. Das materielle Lebensniveau sinkt eindeutig mit
steigender Kinderzahl. Sinkende Geburtenraten (14) wie rückläufige
Eheschließungs- (15) und Scheidungsquoten (16) zeigen, dass auch im Osten die
Risiken der Individualisierung durch eine veränderte Lebensplanung minimiert
werden sollen. (17) Vor allem Alleinerziehende (18) – überwiegend Frauen; der
Anteil der alleinerziehenden Männer betrug 1991 in Deutschland 14 % – sind
in den neuen Bundesländern von den Umstellungen auf dem Arbeitsmarkt betroffen.
Gründe dafür sind v. a. der Wegfall des Kinderbetreuungsnetzes, die
zeitlichen und räumlichen Grenzen für Umschulungsmöglichkeiten oder die durch
die Überbelastung bedingte erhebliche Reduktion von sozialen Kontakten.

Nur 3 % der ostdeutschen Frauen können
sich ein Leben als „Hausfrau“ vorstellen. 2/3 der Frauen würde auch arbeiten,
wenn sie das Geld nicht bräuchten. Aber inzwischen sind es fast 46 %, die
eine Unterbrechung der Erwerbsarbeit für die Kinderbetreuung ins Auge fassen
(Dreiphasenmodell). (19) Arbeitslosigkeit und Mangel an bezahlbaren wie an
Kinderbetreuungseinrichtungen überhaupt zwingen die Frauen oft, zu Hause zu
bleiben. Gleichzeitig sind immer mehr Beschäftigte zu schlecht bezahlter Arbeit
gezwungen. (20)

Ungleichheit

Obwohl sich im Westen Deutschlands die
Quoten der Chancengleichheit durch verbesserte höhere Schulbildung bei Jungen
und Mädchen angeglichen haben, wobei die Mädchen in vielen Positionen sogar
eine deutliche Überlegenheit zeigen, so ist die Schlechterstellung von Frauen
in der späteren Arbeits- und Berufswelt eindeutig dokumentierbar.

Entgegen den Behauptungen der durch die
Wende endlich erreichten „Freiheit“ erweist sich die deutsche
Nachwende-Realität als wenig segensreich für Frauen. Unter dem Druck des mit
der Restauration wiedereingeführten Mehrwertgesetzes als Grundprinzip des
Wirtschaftens sind eine ganze Reihe von sozialpolitischen Errungenschaften der
DDR entweder beseitigt, eingeschränkt oder kaum noch erschwinglich geworden.
Weniger oder kaum noch erschwingliche Kinderbetreuung stellt Frauen stärker als
in der DDR vor die Alternative Beruf oder Kinder.

Wachsender Leistungsdruck in den
Arbeitsverhältnissen erschwert eine Berufstätigkeit für Frauen (v. a. mit
Kindern) zusätzlich. Trotz gewisser Verbesserungen und Erleichterungen im
Alltagsleben ist die traditionelle Rolle der Frau innerhalb von Familie und
Haushalt weiter ungebrochen und teilweise sogar verstärkt worden. Dazu trägt
auch das über die Medien massiv verbreitete tradierte Frauenbild bei.

Vor allem aber ist die Stellung der Frauen
innerhalb der ArbeiterInnenbewegung und im Klassenkampf keine bessere als zu
Zeiten der DDR. Gerade eine solch eigenständige und aktive Beteiligung von
Frauen im Klassenkampf ist aber die entscheidende Bedingung für die Überwindung
der Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen in der Gesellschaft. Der DFD
bildete in der Volkskammer eine eigene Fraktion, der zuletzt 35 Frauen
angehörten und deren hauptamtliche Funktionärinnen – überwiegend SED-Mitglieder
– die Aufgabe hatten, die Politik der Partei im DFD durchzusetzen.

Mit dem Entstehen der Oppositionsbewegung
der DDR Ende der siebziger und in den achtziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts entstanden auch reine Frauengruppen um ökologische oder
friedenssichernde Fragen wie z. B. die Initiative „Frauen für den
Frieden“, die sich aus Protest gegen das 1982 verabschiedete neue
Wehrdienstgesetz gegründet hatte, dem zufolge im Verteidigungsfall auch Frauen
eingezogen werden sollten. Diese Frauengruppen, die zusammen etwa 300
Mitglieder zählten, trafen sich unter dem Dach der evangelischen Kirche.

Noch 1948 hatte die SMAD die Gründung der
Evangelischen Kirche Deutschlands in Eisenach als „kirchliche Vorwegnahme der
staatlichen Wiedervereinigung“ begrüßt. Die katholischen Bistümer Fulda,
Osnabrück, Paderborn und Würzburg ragten in das DDR-Territorium, was zusammen
mit der Gründung der EKD und den alle zwei Jahre im Wechsel stattfindenden
Katholikentagen und evangelischen Kirchentagen eine gesamtdeutsche Klammer
bildete. Obwohl die SED bestrebt war, den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen,
und zuletzt der Anteil der Kirchenzugehörigkeit deutlich unter 30 % (in
den Industriezentren unter 10 %) gesunken war, ließ sich die stalinistische
Partei von der „Weltöffentlichkeit“, die sie an das „welthistorische Erbe“
gemahnte, und im Interesse der „friedlichen Koexistenz“ zu einem
kirchenpolitischen Zickzackkurs verleiten.

Die Kirche stellte den DDR-Oppositionellen
die Kommunikationshilfe zur Verfügung, mit der sie Kontakt mit Gleichgesinnten
außerhalb der DDR unterhalten konnten. Die DDR-Oppositionellen, auch die
Frauengruppen, waren stark von westlichen Ideologien wie Pazifismus und
Feminismus beeinflusst und konnten sich nicht aus der Kleinbürgerlichkeit der
Bürgerbewegung lösen. Ihre Forderungen umfassten Quotenregelungen auf allen
Parteiebenen, für alle Funktionen und Mandate, spezielle Frauengremien im
Staatsapparat, in Parteien und Gewerkschaften sowie flexible, familienorientierte
Arbeitszeiten. Diese Forderungen übernahmen während der Wende – mal stärker,
mal weniger betont – alle Parteien, so auch die DDR-CDU, die mit 46 % den
stärksten Frauenanteil hatte.

Am „Runden Tisch“

Unter dem Slogan „Ohne Frauen ist kein
Staat zu machen“ konstituierte sich im Dezember 1989 der UFV als Dachverband
von damals 20 Gruppierungen. Er ging mit der Grünen Partei eine
Listenverbindung für die Volkskammerwahl ein, die er jedoch wieder löste, weil
sich für ihn durch seine Listenplazierung keine Parlamentssitze ergaben. Im
Februar 1990 gehörten dem Verband bereits 34 Frauengruppen an. Sie gaben sich
ein Statut und ein Programm und öffneten sich 1992 auch für westdeutsche
Mitglieder.

Die Tatsache, dass Mitglieder der Berliner
Basisgruppen ohne Wissen der Provinzgruppen Vorsitz und Sprecherfunktion in der
Organisation übernahmen, zeigt, dass sich Strukturen und Befugnisse trotz aller
Betonung der „Basisdemokratie“ ohne wirkliche demokratische Legitimation
durchsetzten. Die Berliner Gruppen entschieden auch über die Teilnahme und
personelle Vertretung am „Runden Tisch“. Der UFV hatte im Kabinett der
klassenkollaborationistischen Modrow-Regierung einen Ministerrang inne. (21)

Der Verband sah sich als eine eigenständige
politische Interessengemeinschaft von Frauen und als Bestandteil der weltweiten
Frauenbewegung, die „für die Abschaffung unterdrückender Herrschafts- und
Denkstrukturen kämpft, die eine gewaltlose, demokratische, ökologisch stabile,
sozial gerechte und multikulturelle Welt schaffen will“. Grundsätzliche Fragen
wurden allerdings schon bald von akuten existentiellen Problemen überlagert.
Die Frauengruppen setzten sich nun vorrangig für den Erhalt des sozialen
Besitzstandes ein.

Soziale Sicherung der individuellen
Existenz und Wohlfahrt, die sich in erster Linie über Erwerbsarbeit herstellt,
wurde in den letzten Jahrzehnten für Frauen immer wichtiger und hat heute schon
fast den traditionellen Ausgleich der Lastenverteilung über die lebenslange
Versorgerehe abgelöst – auch weil die Verlässlichkeit dieses Arrangements
abnimmt.

Für die BRD – wie für andere
imperialistische Länder auch – gab es in den letzten Jahrzehnten einen Rückgang
der Schwerindustrie und der Fabrikarbeit bei einer gleichzeitigen Ausweitung
der Leichtindustrie und des Dienstleistungssektors. (22) Auffällige Merkmale
dieser Entwicklung der Produktionsstruktur sind der Rückgang der Beschäftigten
in Land- und Forstwirtschaft, der Rückgang der Selbstständigen und mithelfenden
Familienangehörigen, der Anstieg der unselbstständig Beschäftigten auf fast
neun Zehntel aller Erwerbstätigen und der enorme Anstieg der Beschäftigten im
Dienstleistungssektor.

Modernisierungstheorie

Dieser Prozess, der dem Anstieg von
Frauenarbeit zugrunde liegt, wird in der feministischen Debatte mit „Modernisierung
der kapitalistischen Gesellschaft“ bezeichnet und jetzt einfach auf die Ex-DDR
übertragen. D. h., der Restaurationsprozess wird mit nachholender
„Modernisierung“ gleichgesetzt, bei dessen Abschluss sich die Lage der Frauen
auf das westliche Niveau eingepegelt haben wird.

Inhalt der „Modernisierungstheorie“ ist,
dass in allen sich industrialisierenden Ländern Urbanisierung,
Alphabetisierung, politische Teilhabe, Differenzierung und Autonomie, soziale
und geographische Mobilität ansteigen und die traditionelle und lokale
Orientierung notwendigerweise einer nationalen und schließlich kosmopolitischen
weichen müsse. Auf die kapitalistische Wiedervereinigung bezogen heißt das: Die
Mehrheit der BürgerInnen der DDR habe das Gesellschaftssystem der BRD mit Konkurrenz,
Marktwirtschaft, Konsum, Mobilitätsmöglichkeit und Wohlfahrtsstaat als eines
ohne Alternative anerkannt. Eindeutige „Modernisierungsrückstände“ habe es bei
der Ausbildung von sozialen Bewegungen und Pluralismus, von Partizipation und
einer Differenzierung der Lebensformen und Lebensstile gegeben und diese würden
jetzt nachgeholt.

Diese auf reinem Empirismus aufgebaute
Theorie lässt die Grundlagen, auf denen ein Gesellschaftssystem aufgebaut ist,
den Boden, auf dem Urbanisierung, Alphabetisierung, Mobilität oder politische
Teilhabe gedeihen und vergehen können, völlig außer Acht. Soziale Bewegungen
und Pluralismus erscheinen so als „Errungenschaften“ der in der
„Modernisierung“ am weitesten fortgeschrittenen Staaten und nicht als Ausdruck
der Widersprüchlichkeiten des jeweiligen Gesellschaftssystems.

So übersieht der Feminismus eine der
bedeutendsten Veränderungen in der Gesellschaft der Ex-DDR – ihre
Differenzierung in Klassen aufgrund der Änderung der Eigentumsverhältnisse.
Auch die Frauen gehören nunmehr unterschiedlichen Klassen an. Ihre
verschiedenen objektiven Interessen sind mit einheitlich
geschlechtsspezifischer Politik nicht mehr vereinbar.

Denunziation

Zwar schlossen sich die FeministInnen nicht
im vollen Ausmaß der bürgerlichen Meinungsmache an, die alle Errungenschaften
der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Ex-DDR als „stalinistische
Misswirtschaft“ denunzierte, aber sie erklärten, dass der
„Gleichstellungsvorsprung“ für die Frauen der EX-DDR ihnen geschenkt worden sei
und sie jetzt, wo es die „freigiebige“ Hand der Bürokratie nicht mehr gäbe, um
ihre Rechte genauso kämpfen müssten wie die Frauen im Westen.

Im Westen hatte allerdings der Feminismus
wesentlichen Anteil daran, den Kampf der Frauen von dem des Proletariats zu
trennen und ihn auf diese Weise in die Irre zu führen. Auch in der Frage der
Wiedervereinigung ging der Feminismus von einer für alle Frauen geltenden
Ausgangslage aus. Auf der Ost-West-Frauenkonferenz 1990 hatten die westlichen
FeministInnen nur ihre ewige Litanei über das überall gleiche Patriarchat parat
und enthielten sich jeder geistigen Anstrengung über die Aufgaben, vor denen
sich die Frauen in der Ex-DDR angesichts der bevorstehenden Einengung ihres
Lebens durch die Restauration gestellt sahen.

So ignorierte der Feminismus die
grundlegende Aufgabe für das deutsche Proletariat, die Restauration auf dem
Gebiet der ehemaligen DDR zu verhindern und die politische Revolution zu einer
sozialen im Westen auszuweiten. Für ihn gab es die Frage der Errichtung einer
Klassengesellschaft nicht. Die Aufgabe sollte vielmehr heißen, positive
Errungenschaften der Frauen im Osten auch auf den Westen zu übertragen.

Feministische Ingnoranz

Zu den positiven Errungenschaften zählte
für die FeministInnen an vorderster Stelle die Fristenregelung für den
Schwangerschaftsabbruch, aber schon nicht mehr unbedingt der Bestand an
betrieblichen Kinderbetreuungseinrichtungen. So kam von den FeministInnen
bezeichnenderweise keinerlei Unterstützung für den zehnwöchigen Kitastreik im
Frühjahr 1990 im Westen Berlins. Andererseits ist es dem Feminismus strukturell
auch schwer möglich, selbst effektive Kampfschritte zu setzen, da der
Feminismus sich ja eben gerade als „unabhängig“ von der ArbeiterInnenbewegung
sieht und aus diesem Grunde auch nichts dazu unternimmt, in den
ArbeiterInnenorganisationen selbst dafür zu kämpfen, „Frauenthemen“ zu einem
integralen Bestandteil der Politik dieser Organisationen zu machen.
Unterstützung kam vor allem aus dem Ostteil der Stadt, wo es gleichzeitig
Aktionen von Frauen gegen die Schließung von betriebseigenen
Kinderbetreuungseinrichtungen gab.

Der Feminismus besteht auf der unabhängigen
Organisierung von Frauen, um die Gleichheit mit den Männern in der Gesellschaft
durchzusetzen. Er sieht den Kampf der Frauen als abgetrennt und unabhängig vom
Klassenkampf, statt sich dafür einzusetzen, dass der Kampf gegen
Frauenunterdrückung ein Teil des Kampfes der gesamten ArbeiterInnenklasse wird.
Mit dem Argument, dass die Interessen der Frauen sich nicht nur von den Männern
unterschieden, sondern ihnen sogar entgegengesetzt seien, lehnt er eine
gemeinsame Organisierung mit den Männern ab und plädiert für den
Zusammenschluss der Frauen aller Klassen. Diese Position schwächt die
ArbeiterInnenbewegung.

Radikale FeministInnen geißeln die
Unfähigkeit der bürokratischen Gesellschaften und meinen, das Leid der Frauen
dort habe gezeigt, dass der Sozialismus keine Garantie für die Frauenbefreiung
sei. Tatsächlich war die Vergesellschaftung der Hausarbeit in der DDR völlig
ungenügend (wie übrigens, wenn auch in anderer Weise auch im Kapitalismus), die
Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt war groß. Viele Errungenschaften waren
auf einem so schlechten Niveau, so dass kurz nach der Wende viele Frauen froh
waren, zu Hause bleiben zu können, um sich um die Familie zu kümmern. Solange
sie in der schlecht organisierten, häufig monotonen und mühseligen
Betriebsarbeit steckten, schien ihnen das attraktiv. Der radikale Feminismus
übersieht aber, dass diese Gesellschaften nie sozialistisch waren, sondern eine
Bürokratie die der ArbeiterInnenklasse zustehende Macht an sich gerissen hatte.
Der „demokratische“ Kapitalismus wurde von der Opposition (auch von den
Frauengruppen), von westlichen Medien und PolitikerInnen und sogar von den
StalinistInnen selbst als Ausweg aus der Krise der Planung gepriesen.
Inzwischen haben auch die Frauen in der Ex-DDR gemerkt, dass ihnen der
Kapitalismus keine Perspektive bietet.

Der „sozialistische Feminismus“, wenngleich
weniger separatistisch, teilt dennoch die Idee, dass die Strukturen der
Frauenunterdrückung getrennt von anderen Ausbeutungs- und
Unterdrückungsverhältnissen existieren. Diese Idee des eigenständigen
Patriarchats lässt ihn ebenfalls zu der Aussage kommen, dass Frauen sich
„autonom“ organisieren sollten.

Kleinbürgerlich

Die „sozialistischen Feministinnen“
betreiben in Wirklichkeit eine Politik, die den Interessen kleinbürgerlicher
Frauen entgegenkommt (z. B. deren Aufstieg in Führungspositionen). Dabei
bedienen sie sich durchaus systemkonformer Methoden, die sie sonst als typisch
für das patriarchalische Machtgefüge anprangern, wie z. B. im Fall der
gestürzten hessischen Umweltministerin Margarethe Nimsch, die es als ihre
feministische Pflicht ansah, eine Parteifreundin zu begünstigen, oder der
Hamburger Sozialsenatorin, die familienorientiert genug war, einer Institution,
der ihr Mann als Geschäftsführer diente, einen satten Auftrag zuzuschanzen.

Sozialistische FeministInnen stehen häufig
im Dienst der reformistischen Parteien, die zwar verbal für die Emanzipation
eintreten, konkret jedoch häufig Sozialabbau vorantreiben, der zu Lasten der
Frauen geht (z. B. Privatisierung von Betrieben, öffentlichem Dienst und
Sozialfürsorge).

Den „sozialistischen Feminismus“
interessieren die Sorgen und Probleme der Mehrheit der proletarischen Frauen in
Wirklichkeit nicht. Die Begeisterung über den virtuellen Feminismus von
Gleichstellungsbeauftragten, Frauenministerien und Quotenregelungen verleugnet
die Realität, die für die Mehrheit der Frauen, trotz größerer Einbeziehung in
Produktion und gesellschaftliche Funktionen weiterhin in Unterdrückung,
Schlechterstellung, Abhängigkeit vom Mann und Zuständigkeit für die Familie
besteht.

Die Frauenarbeitsgemeinschaft LISA der PDS
fasst „Analyse“ und „Programm“ in zwei Sätze: „Frauen dürfen nicht länger zur
Anpassung an männliche Wert- und Lebensvorstellungen gezwungen sein.
Frauendiskriminierung zu beseitigen, setzt nicht nur rechtliche Gleichstellung
voraus, sondern erfordert Umdenken in allen Lebensbereichen.“ (23)

Das erklärte Ziel der PDS heißt
„demokratischer Sozialismus“ und soll aus Marktwirtschaft mit parlamentarischer
Demokratie und ganz viel sozialer Gerechtigkeit bestehen. Da passt es schlecht,
dass es eben die Marktwirtschaft, das kapitalistische System ist, das aus der Frauenunterdrückung
genügend Vorteile zieht, um sie ständig weiter zu reproduzieren. Nicht der
Kapitalismus, sondern angeblich männliche Wert- und Lebensvorstellungen zwingen
Frauen, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, zwingen sie, zu gebären, zwingen sie
in ungeschützte und Teilzeitarbeitsverhältnisse usw. Warum sollten Männer dann
umdenken und warum hat die PDS – deren Frauenanteil unter dem der Männer liegt
– die von LISA aufgestellten, durchaus begrüßenswerten Forderungen wie
ersatzlose Streichung des §218 StGB oder gleichen Lohn für gleiche Arbeit
überhaupt übernommen?

Reformismus

Vom Stalinismus, der die
ArbeiterInnenklasse im Namen einer „friedlichen Koexistenz mit dem
Kapitalismus“ niederhielt, ist die PDS zu einem sozialdemokratischen
Reformismus konvertiert, der keine Klassen mehr kennt, sondern nur noch
individuelle „Wert- und Lebensvorstellungen“, die je nach Interpretationsbedarf
in von den gesellschaftlichen Verhältnissen abgekoppelte Gegensätze gestellt
werden: „konservativ und reformerisch“, „rechts und links“, „männlich und
weiblich“.

Natürlich ziehen auch die Männer der
ArbeiterInnenklasse handfeste Vorteile aus der Frauenunterdrückung: Sie
erhalten im allgemeinen bessere Löhne und haben meist bessere
Arbeitsbedingungen als die Frauen. Zusätzlicher Nutzen erwächst ihnen daraus,
dass die Frauen den Großteil der Hausarbeit oft zusätzlich zur Lohnarbeit
machen. Die Familienstruktur verfestigt diese Situation, die sexistische
Ideologie der männlichen Dominanz in ihr bringt die Männer dazu, ein Verhalten
anzunehmen, das die Frauen direkt unterdrückt.

Aber die Vorteile, die Männer der
ArbeiterInnenklasse aus der Frauenunterdrückung ziehen, sind in historischem
Ausmaß so gering, dass die Nachteile, die sich aus der Frauenunterdrückung
ergeben, unvergleichlich schwerer wiegen. Flexibilisierte Arbeitszeiten,
schlechtere Arbeitsbedingungen und geringere Löhne der Frauen üben auf jene der
Männer einen ständigen Druck aus. Im Verbund mit der sexistischen Ideologie
wird eine Spaltung innerhalb der Klasse aufrechterhalten, die ihre kollektive
Kraft schwächt. Das Proletariat insgesamt hat ein historisches Interesse am
Sturz des Kapitalismus, um der Frauenunterdrückung die gesellschaftliche
Grundlage zu entziehen. Die Männer der ArbeiterInnenklasse sind daher die strategischen
Verbündeten der Frauen im Kampf gegen das kapitalistische System.

Verschleierung

Diese Tatsache zu verschleiern, sind alle
feministischen Richtungen, erst recht der bürgerliche Feminismus in Gestalt des
Deutschen Frauenrates, bemüht. Der Deutsche Frauenrat (DF) ging 1969 aus dem
„Informationsdienst für Frauenfragen“ hervor, in dem sich 1951 nach dem Zweiten
Weltkrieg neu oder wieder gebildete Frauenverbände zusammengeschlossen hatten.
Er versteht sich in der Traditionslinie des Bundes Deutscher Frauenvereine und
„will Veränderungen ausschließlich auf den üblichen Wegen des herrschenden
Gesellschaftssystems erreichen“. Dazu muß sich der DF als „überparteiliche und
-konfessionelle Dachorganisation“ „am Konsens seiner Mitglieder orientieren“.

Die Vielfalt der Mitglieder spiegelt sich
im Vorstand, in dem die Bundesfrauenvertretung des Deutschen BeamtInnenbundes,
der Deutsche ÄrztInnenbund, der Deutsche JuristInnenbund, die Evangelische
Frauenarbeit, der Katholische Deutsche Frauenbund, der Deutsche Sportbund, der
JournalistInnenbund, der Deutsche Landfrauenverband und – der DGB vertreten
sind. Die Monatszeitschrift des DF „Informationen für die Frau“ wird vom
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert. In allen
16 Bundesländern gibt es Landesfrauenräte, die eng mit dem Deutschen Frauenrat
zusammenarbeiten.

Dass die Existenz dieser Organisation kaum
bekannt ist, obwohl sie nach eigenen Aussagen elf Millionen Frauen
einschließlich Mehrfachmitgliedschaften vertritt, zeigt, wie wenig die Belange
der proletarischen Frauen und damit die tatsächlichen Probleme, vor denen der
Kampf für die Frauenemanzipation gestellt ist, in diesem Gremium zum Zuge
kommen. Zur Erinnerung an die Gründung des BDF vor 100 Jahren organisierte der
Deutsche Frauenrat am 5. März 1994 eine Kundgebung in Bonn gegen die
„fortwährende Benachteiligung der weiblichen Bevölkerung“. Nur drei Tage
später, am Internationalen Frauentag des gleichen Jahres, hatte der DF zur
Benachteiligung von Frauen nicht mehr viel zu sagen.

Diese Organisation existiert trotz aller
gleichstellungspolitischen Phrasen nur, um die Interessen und den Kampf der
Frauen der Aufrechterhaltung des bürgerlichen Systems unterzuordnen. Die
Organisationen der proletarischen Frauen haben darin nichts verloren.

Endnoten

(1) „Beteiligung am Erwerbsleben“, Quelle:
Statistisches Bundesamt.

(2) Mit einer Abiturientenquote von
13 % lag die DDR deutlich unter jener der BRD mit ca. 35 % pro
Altersjahrgang.

(3) Lesart nach „Kleines politisches
Wörterbuch“: „…In der sozialistischen Gesellschaft entwickelt sich die
Familie auf der Grundlage des gleichen sozialen Verhältnisses ihrer Mitglieder
zum sozialistischen Eigentum und der vollen Gleichberechtigung von Mann und
Frau immer mehr zu einer stabilen Lebensgemeinschaft, in der die Fähigkeiten
und Eigenschaften Unterstützung finden, die das Verhalten der Menschen als
sozialistische Persönlichkeit bestimmen. Insbesondere für die Charakterbildung
der Kinder, ihre Erziehung zu gesunden, lebensfrohen, allseitig gebildeten
Menschen und bewussten StaatsbürgerInnen haben harmonische Familienbeziehungen
eine große Bedeutung. Weil die Stabilität der Familie außerordentlich wichtig
für die Weiterentwicklung der ganzen Gesellschaft ist, garantiert die
Verfassung der DDR u. a. jedem/r BürgerIn das Recht auf Achtung, Schutz
und Förderung seiner/ihrer Ehe und Familie…“

(4) In der BRD wurde 1974 der
Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen legalisiert.

(5) Quelle: „Initial 4“: Artikel
„Deutschlands Frauen nach der Wende“ von Hildegard Maria Nickel.

(6) In den alten Bundesländern waren von
den 23,4 Millionen Haushalten 1991 9,4 Millionen, d. h. ca. 40 %
Familienhaushalte, davon 51 % Familienhaushalte mit einem Kind und
37,8 % mit zwei Kindern. In den neuen Ländern und Ost-Berlin sind die
Zahlen ganz ähnlich: 50,9 % Familienhaushalte mit einem Kind, 40,8 %
mit zwei Kindern.

(7) Quelle: „Initial4“: Artikel
„Deutschlands Frauen nach der Wende“ von Hildegard Maria Nickel.

(8) „Erwerbstätige nach
Wirtschaftsbereichen in Deutschland, April 1991“, in: Bernd Schäfer:
„Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland“, S.185.

(9) 1,2 Millionen waren als arbeitslos
registriert. Der größere Teil war in „arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen“
untergebracht bzw. verschwand durch Kurzarbeit, Frühpensionierung u. ä.
aus der Statistik.

(10) Quelle: „Initial 4“: Artikel von
Hildegard Maria Nickel: „Deutschlands Frauen nach der Wende“.

(11) „Frauenanteile in Spitzenpositionen
verschiedener Institutionen, aus Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“, S. 247.

(12) „Typische“ Frauenberufe sind v. a.
HauswirtschaftsgehilfInnen und -verwalterInnen (97,1 %),
SprechstundenhelferInnen (99,6 %), KindergärtnerInnen und -pflegerInnen
(98,6 %), Krankenschwestern und -pfleger (83,6 %) und VerkäuferInnen
(80,2 %) – alle Zahlen 1984 für die alten Bundesländer. (Quelle: Bernd
Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland“).

(13) Quelle: „Initial 4“: Artikel von
Hildegard Maria Nickel: „Deutschlands Frauen nach der Wende“.

(14) Gegenüber 1990 gab es 1991 einen
Geburtenrückgang um 39,6 %. Dieses drastische Geburtentief verringerte
sich 1992 nochmals um 18,1 %. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher
Wandel in Deutschland“).

(15) Der Rückgang der Eheschließungen
gegenüber 1990 betrug 1991 50,4 % und sank 1992 gegenüber 1991 auf
4,5 %. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“).

(16) Der Rückgang der Ehescheidungen betrug
von 1990 auf 1991 72 %. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel
in Deutschland“).

(17) Tabelle „Ehescheidungen in der BRD/DDR
bzw. alten und neuen Bundesländern“, in: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher
Wandel in Deutschland“, S. 127.

(18) 1991 betrug der Prozentanteil
nichtehelicher Geburten in Deutschland 15 % mit einem sehr hohen Anteil von
40 % in den neuen Bundesländern. (Quelle: Bernd Schäfer:
„Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland“).

(19) Quelle: „Initial 4“: Artikel von
Hildegard Maria Nickel: „Deutschlands Frauen nach der Wende“.

(20) Wenn man als Schwellenwert für Armut
zugrunde legt, dass weniger als 50 % des durchschnittlichen
Haushaltsnettoeinkommens verfügbar sind, so mussten 1992 6,5 % aller
westdeutschen Haushalte und 12,7 % aller ostdeutschen Haushalte als arm
bezeichnet werden. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“).

(21) Der einzige größere Erfolg des UFV
war, maßgeblich daran mitgewirkt zu haben, dass für eine Übergangszeit auf dem
Gebiet der Ex-DDR die im Vergleich zum Westen fortschrittlichere
Fristenregelung zum Schwangerschaftsabbruch weiterbestand. Dies spiegelt sich
bis 1992 auch in den Zahlen wider: In den alten Ländern wurden 75.000
Schwangerschaften legal abgebrochen, davon fast 90 % aus „schwerer
Notlage“, in den neuen Ländern (mit etwa einem Viertel der Bevölkerung) wurden
44.000 Schwangerschaften abgebrochen.

(22) „Anteile der Produktionssektoren an
der Gesamtzahl der Erwerbstätigen in Deutschland seit 1950 in %“ und Tabelle
„Beiträge der Wirtschaftsbereiche zum Bruttoinlandsprodukt im früheren
Bundesgebiet in %“ (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“, S.183 f.). – In der DDR betrug 1990 der Anteil des primären
Sektors 8,2 %, des sekundären 44,8 % und des tertiären 47 %,
wobei die völlig andere Struktur des tertiären Sektors zu berücksichtigen ist.
Der Dienstleistungssektor war vernachlässigt, da er als nicht-produktiv galt
und dementsprechend in der Bilanzierung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts
nicht auftauchte.

(23) „Feminismus und PDS“, Internetseite
der Frauenarbeitsgemeinschaft LISA in der PDS.