Partei Bündnis Sahra Wagenknecht: Demokratie nur für die anderen

Susanne Kühn, Neue Internationale 280, Februar 2024

Die offizielle Gründung der Wagenknecht-Partei brachte wenig Neues. Floskeln wie eine „verantwortungsvolle Politik, die Wohlstand, sozialen Ausgleich und Frieden fördert“ und, bei Erfolg eine „bessere Regierung“ zu sein, sind schon seit dem 23. Oktober bekannt – der Tag an dem das Programm veröffentlicht wurde.

In unserer Sondernummer zur Krise der Linkspartei haben wir das Programm einer ausführlicheren Kritik unterzogen. Die Mischung aus „vernünftiger Wirtschaftspolitik“, die das Wunder verspricht, Lohnabhängigen wie Unternehmer:innen zu nutzen, soll nicht nur Wohlstand bringen, sondern auch Deutschland vor der angeblich drohenden Deindustrialisierung retten. Ansonsten will man Frieden, mehr Demokratie und Wohlstand – allerdings könne das nicht funktionieren, wenn „zu viele“ in Deutschland leben, also müsse die Migration strikt begrenzt werden.

Links ist an der populistischen Mischung nichts. Und auf der Pressekonferenz zur Parteigründung erklärte Wagenknecht für alle, die es nicht ohnedies schon wussten, dass DIE LINKE eh nur noch für „skurrile Minderheiten“ stünde, so dass der Begriff links für ihre Partei fortan nicht verwendet würde. Man kann nur hoffen, dass sie dieses Versprechen hält.

Team Sahra

Statt also inhaltlich in die Tiefe zu gehen, wurden bei der Gründung Vorstand und Spitzenkandidat:innen zur Europawahl, die von 44 handverlesenen Mitgliedern gewählt wurden, präsentiert. Im sechsköpfigen Vorstand, der am 23. Oktober noch erweitert wurde, befinden sich zum einen vier ehemalige Funktionär:innen der Linkspartei, zum anderen zwei Mitglieder aus dem unternehmerischen Lager (Ralph Suikat, Shervin Haghsheno). Allein das macht schon die Ausrichtung der Partei deutlich: nicht auf die Arbeiter:innenklasse, sondern auf den „innovativen“ unternehmerischen Mittelstand zu setzen, diese Speerspitze des „Volkes“. Und dass, obwohl Wagenknecht während ihrer Linksparteizeit nie müde wurde zu kritisieren, dass man das Interesse „der kleinen Leute“ aus den Augen verloren hätte.

Spitzenkandidaten für die Europawahlen wurden Fabio De Masi, ehemaliger Abgeordneter und langjähriger Wagenknecht-Vertrauter, und Thomas Geisel, ehemaliger SPD-Oberbürgermeister von Düsseldorf und überzeugter Anhänger von Gerhard Schröder und Hartz IV. In seinem Austrittsschreiben aus der SPD fordert er die „Ablösung“ des „individuellen Grundrechts auf Asyl“, weil das einen „Freifahrtschein“ für ungezügelte Migration bedeuten würde. Die SPD und die Ampel-Koalition würden sich dieser angeblichen Realität verweigern, während die BSW Deutschland retten und endlich wieder „Leistungsgerechtigkeit“ herstellen würde, statt Menschen vor allem aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und sexueller Orientierung zu fördern! Die Schilderungen – nicht nur des Spitzenkandidaten – erlauben einen Blick in den politischen Abgrund, für den BSW steht.

Festung BSW

Das eigentliche Parteiprogramm soll bis 2025 nachgereicht werden, ausgearbeitet von einer „Expert:innenkommission“. Diese bestimmt der Vorstand, der innere „Kern“ der Bewegung und im Zweifel der Kern des Kerns, Sahra Wagenknecht. Natürlich wollen die Initiator:innen auch eine Partei aufbauen. Damit sich „Wirrköpfe“, „Trittbrettfahrer:innen“ oder Menschen, die noch immer meinen, die Partei Wagenknecht wäre links, fortschrittlich oder gar antikapitalistisch, erst gar nicht in den Laden „verirren“, soll die zukünftige Mitgliedschaft sorgfältig ausgewählt und überprüft werden.

Wer sich gestern noch über die „Verengung des Meinungskorridors“ in der Linkspartei beschwerte, will nun erst gar keinen zulassen. Natürlich nur, um die Vernunft der Partei zu wahren.

„Wir wollen langsam und kontrolliert wachsen, um das Projekt nicht zu gefährden“, heißt es auf der Homepage und auch die veröffentlichen Statuten zeigen: Mehr Demokratie und Meinungsfreiheit mag zwar gefordert werden, für die eigene Struktur gilt das aber nicht unbedingt. Dabei besteht das Problem nicht darin, dass wie in „§ 7 Rechte und Pflichten der Mitglieder“ Mitglieder dazu verpflichtet sind, „sich an der politischen und organisatorischen Arbeit der Partei zu beteiligen“, oder es einen Überprüfungszeitraum von einem Jahr gibt für Leute, die eintreten wollen (§ 4 Aufnahme der Mitglieder). Die Probleme sind vielmehr die mangelnden demokratischen Rechte der handverlesenen Mitglieder, die es ins BSW geschafft haben, den Parteivorstand zu kontrollieren. Dieser muss weder Rechenschaftsberichte vorlegen noch seine Entscheidungen großartig begründen – während die Landes- und Kreisverbände dies gegenüber dem Vorstand tun müssen. Der Parteitag muss alle 2 Jahre zusammenkommen und ist das höchste Gremium (§ 10 Parteitag) – die Möglichkeit, einen Notparteitag einzuberufen, falls man mit der Arbeit des Vorstands nicht zufrieden ist, wird natürlich nicht eingeräumt.

Diese Einbahnstraße der Demokratie wird auch bei der Aufnahme von Mitgliedern ersichtlich. Im Überprüfungszeitraum von einem Jahr, bis man die Vollmitgliedschaft bekommt, kann jedes BSW-Mitglied Einspruch erheben und der Vorstand der Gliederung – oder Parteivorstand höchstpersönlich – überprüft das dann. Da die Ablehnung eines Mitgliedsantrags keiner Begründung bedarf, ist so auf jeden Fall sichergestellt, dass niemand mit „falscher“ Gesinnung eintritt. Statt also ein inhaltliches Programm zur Basis der Entscheidung zu machen, muss man wissen, wie man den Vorständen gefällt. Im Klartext: Die BSW will keine Wiederholung des Aufstehen-Projektes, das lt. Wagenknecht und De Masi an zu viel Offenheit zugrunde gegangen wäre, weil es zu viele „nicht-konstruktive“ Mitglieder gegeben hätte, die dort ihr eigenes Süppchen gekocht hätten. Daher soll es kontrollierte Aufnahmen geben – und die Sicherung der Vorstandsposition ist nun auch gewährleistet.

Und „Was tun“?

Bis zum 27. Januar werden  450 Menschen hinsichtlich ihrer Eignung als Mitglied überprüft. Dabei wird wahrscheinlich auch so manche/r aus der Linkspartei auf der Strecke bleiben, die/der sich eigentlich der neuen Partei anschließen wollte. Dazu gehören die Mitglieder und Anhänger:innen des „Was Tun“-Netzwerkes. Diese linken Mitglieder der Linkspartei erhofften sich letztes Jahr, dass mit der Wagenknecht-Partei eine Formation entstehen würde, in der sie für „eine antimilitaristische, antiimperialistische und an den gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse orientierten Politik“ kämpfen könnten.

Eine Hoffnung, die schnell begraben werden kann. Unter den ersten 450 dürften sich jedenfalls nur wenige aus dem „Was Tun“-Netzwerk befinden. Denn auch wenn das politische Verständnis dieser Strömung stark vom stalinistischen Reformismus geprägt ist, so unterscheidet es sich von Wagenknecht. Auf ihrer letzten bundesweiten Konferenz im Dezember 2023 wurde die BSW zwar einerseits gefeiert, andererseits machte sich auch Skepsis breit. Jede Erwähnung des Wortes Sozialismus fehle und die Position zur Migration hätte einen „falschen Zungenschlag“ (was selbst schon eine extreme Beschönigung der sozialchauvinistischen, ja oft direkt rassistischen Forderungen und Äußerungen der BSW darstellt).

Dass solche Kritiker:innen nicht gerne in der neuen Partei gesehen werden, dämmerte auch einigen Kongressteilnehmer:innen, die sich in ihrer Verzweiflung sogar für einen Verbleib in der LINKEN aussprachen, weil man diese eher „übernehmen“ könne, falls das neue Projekt auch scheitere.

Gescheitert sind schon jetzt alle, immer schon illusorischen Hoffnungen auf eine „linke“ BSW. Dass Wagenknecht und Co. für ihr Projekt keine „Spinner:innen“ mit „unkonstruktiven Beiträgen“ und abschreckenden Forderungen brauchen, dass dort keine Debatten über Programm, Inhalt und Ziel der Partei gewünscht sind, sollte nicht weiter verwundern. Es entspricht einem Projekt, an dessen bürgerlichem, populistischen Charakter Wagenknecht nie einen Zweifel gelassen hatte.




Staatshaushalt: Verschlimmbesserungen

Bruno Tesch, Neue Internationale 280, Februar 2024

Nach der Einigung bis Jahresende 2023 für Budgetkürzungen im kommenden Etatjahr hat das Regierungskabinett aus SPD, Grünen und FDP sich am 8.1.2024 darauf verständigt, diese Einsparvorschläge dem Bundestag zur endgültigen Verabschiedung vorzulegen. Abstriche vom ursprünglichen Entwurf waren notwendig geworden, weil nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes eine Finanzlücke von rund 30 Milliarden Euro im Kernhaushalt, entstanden durch die als Unrecht erkannte Umwidmung aus dem Klima- und Transformationsfonds, aufzufüllen ist.

Zu den gewichtigsten Posten im Sparpaket zählen Schritte zum sektoralen Subventionsabbau, branchenweise steuerliche Aufschläge und Zuschusskürzungen allgemeinerer Art.

Sektorale Einschnitte

Doch gleich die ersten dieser Pflöcke zur Subventionseinschränkung, der Wegfall der Befreiung von der Kfz-Steuer bzw. Stützung von Dieselkraftstoffen im Agrarbereich wurden vom furiosen Proteststurm von Bauern und Bäuerinnen im Verein mit Speditionsunternehmer:innen und anderen Mittelschichten aus der Verankerung gerissen. Sie wurden eilends entweder ganz zurückgenommen oder stufenweise zeitlich gestreckt, wobei auch hier das letzte Wort noch nicht gefallen sein mag.

Weitere Bemühungen zur fiskalischen Defizitdeckung betreffen z. B. die Einführung höherer Ticketsteuern auf Abflüge von deutschen Flughäfen. Je nach Endziel der Reise können sie um ein Fünftel auf 15,53 bis 70,85 Euro pro Passagier:in steigen. Zwar werden direkt damit die Fluggesellschaften belastet, doch die können und werden ihren Kund:innen diese Aufschläge als Fluggepäck aufbürden, damit die Unternehmen nur ein Luftpolster zu tragen haben.

Die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer, die als Erleichterung während der Pandemie in der Gastronomiebranche auf 7 % abgesenkt worden war, wird mit Preiserhöhungen einhergehen, deren Zeche die Restaurationsgäste, aber auch das ohnehin ausgedünnte Personal mit Entlassungen zu begleichen haben werden.

Bürger:innengeld

Von größerer Tragweite, wenn auch weniger in finanzieller Hinsicht, sind die Änderungen, die an die Zahlungen des Bürger:innengeldes geknüpft werden sollen. Es war als Errungenschaft der Ampelkoalition Ende 2022 gesetzlich verankert worden und sah gegenüber der alten Arbeitslosengeld II-Regelung u. a. vor:

  • einen höheren Regelsatz

  • höheres Schonvermögen (bis 40.000 Euro)

  • bei Versäumnissen keine Sanktionen bis hin zur völligen monatsweisen Streichung der Bezüge

  • Wegfall des Vermittlungsvorrangs, d.h. Aus- und Weiterbildung können einer Jobaufnahme vorgezogen werden.

Außerdem wurden im Zusammenhang damit ab Juli 2023 Teilnahmeboni an beruflichen Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen genehmigt. Schüler:innen, Studierende und Auszubildende können bis zur Minijob-Einkunftsgrenze (520 Euro im Monat) anrechnungsfrei hinzuverdienen.

Nun jedoch folgt die Kehrtwende. Jobcenter sollen das Bürger:innengeld für 2 Monate ganz streichen können, obwohl dies 2019 vom Bundesverfassungsgericht untersagt wurde! Nur der Bonus für einen Abschluss soll bestehen bleiben, jener für eine einfache berufliche Weiterbildung, also der Regelfall, entfällt.

Insbesondere die SPD zeigt, was von ihren Versprechungen auf dem Parteitag im Dezember, ihr soziales Profil zu schärfen, wirklich zu halten ist. Die neuen Entwürfe zum Bürger:innengeld kamen aus dem Ressort des Ministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil.

Handelte sich die Regierung mit ihren Vorschlägen zu den Subventionskürzungen noch harsche Kritik der rechten Oppositionsparteien ein, riefen die Verschärfungen bei der Vergabe des Bürger:innengeldes beifälliges Nicken von rechts hervor. Denen gehen die Einschränkungen immer noch nicht weit genug.

Besonders fatal ist auch der Zusammenhang mit dem Vorstoß vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der das Bürger:innengeld für ukrainische Flüchtlinge für einen Fehler hält. Zuvor lieferten jedoch schon Aussagen aus dem Innenministerium um die Sozialdemokratin Nancy Faeser Zündstoff, die die verstärkte und an Vorleistungen geknüpfte Arbeitsaufnahme von Ukrainer:innen anmahnte.

Hier erhält diese Frage zusätzlich eine eindeutig rassistische und antimigrantische Komponente und enthüllt die öffentliche Aufregung um die aufgedeckten Remigrationsplanspiele von AfD und offen rechtsextremen Gruppierungen als absoluten Hohn auf die humanistische Heuchelei der „Parteien der Mitte“. Es fehlt eigentlich nur noch, dass die Idee einer Rückführung der Ukrainer:innen in ihre Heimat als „sicheres Herkunftsland“ laut wird!

  • Sofortige Rücknahme aller Zwangsandrohungen für den Bezug von Bürger:innengeld. Keine Rückkehr zu Hartz IV- Regeln!

  • Voller Zugang zum Bürger:innengeld für alle Migrant:innen!

Rente und Pflege

Ein weiterer Bereich, der von der Einspardebatte betroffen ist, erstreckt sich auf die Altenpflege. Der Eigenanteil an der Heimunterbringung für Pflegebedürftige – er beträgt in Summe derzeit 2.576 Euro monatlich – hat sich per Gesetz gegenüber dem Vorjahr im Schnitt um 238 Euro erhöht und steigt jedes folgende Jahr degressiv an. Zwar schießt der Bund ab 1.1.2024 Geld zu, so stuft sich der Eigenanteil über einen längeren Pflegezeitraum um etwa jeweils 5 Prozentpunkte herab, doch andere Faktoren setzen unter die Gesamtrechnung wiederum ein Minus.

Die Pflegeversicherung trägt nur einen Teil der Kosten. Für Heimbewohner:innen kommen noch Aufwendungen für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen in den Einrichtungen hinzu. Als unausweichliche Folge stellt sich die immer stärkere Verlagerung der Pflege in den häuslichen Bereich durch Angehörige ein. Mit leichter Hand werden hingegen Honorarordnungen für niedergelassene Arztpraxen und Apotheken heraufgesetzt. Solche Reformen reihen sich in eine Gesundheitspolitik ein, die das allgemeinen Wohl längst aus den Augen verloren hat.

Ein besonders perfider, weil schleichender Angriff auf Arbeiter:inneninteressen manifestiert sich in den Plänen zur Steigerung der Rentenbeiträge. Mehr als alle anderen Haushaltsposten ist das staatliche garantierte Rentensystem in Deutschland ein Eckpfeiler in den Etatberechnungen jeder Regierung. Die gesetzliche Altersrente ist als Teil eines Gesamtsozialsystems eng auf die anderen elementaren Sozialversicherungsbereiche der Kranken- und Arbeitslosenversicherung abgestimmt. Die Leistungen in einem Sektor haben Einfluss auf die gesetzlichen Zahlungen in anderen.

Die Renten orientieren sich an den durchschnittlichen Tariflöhnen, deren Höhe allerdings von der Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse abhängt und nicht in staatliche Kompetenz fällt. Der bürgerliche Staat kann zwar Mindestlöhne gesetzlich festlegen, doch verfügt er über keine Instrumentarien zur Kontrolle über deren Einhaltung. Durch Ausweitung prekärer Bereiche, Veränderung von Arbeitsbedingungen und Schlupflöcher zur Befreiung von Sozialleistungen usw. genießen die Unternehmen ständig staatlich gedeckte Vorteile in der Ausbeutung von Arbeitskraft, die sich in der reinen Lohnstatistik nicht niederschlagen.

Mit der Wiedervereinigung ergab sich eine zusätzliche Problematik, die Ost- an die Westrenten anzugleichen und innerhalb dessen auch die Schlechterstellung der Renten von Frauen zu berücksichtigen.

So ist eine vergleichende Berechnung von Löhnen und Renten mit äußerster Vorsicht zu betrachten. Dies umso mehr, da die Löhne mit der 2021 einsetzenden sprunghaften Preisinflation nicht mehr Schritt hielten. Ein eklatanter Reallohnverlust trat zu Tage, dem die Arbeiter:innenbewegung in verschiedenen Tarifrunden erst ab Mitte 2022 hinterherlaufen musste. Da sich die Inflationsrate 2023 wieder abschwächte, kam die „taz“ zu dem irrigen Schluss, die vergleichsweise hohen Abschlüsse in einigen Branchen hätten den Reallohnverlust aktuell wieder ausgeglichen, während die „Wirtschaftswoche“ für das 3. Quartal 2023 etwas realistischer feststellen musste, dass zwar die Spitzengehälter gestiegen seien, in der Fläche aber die allgemeinen Lohnsteigerungen den Reallohnverlust noch nicht wettmachen konnten.

Dies gilt erst recht für die Rentenanpassungen. Sie hinken seit 2021 der Inflation hinterher und da ihre Veränderungen nicht dem Klassenkampfrhythmus unterliegen, d. h. keine raschen Steigerungen zulassen, fielen sie stärker noch als die Löhne hinter den inflationären Preisauftrieb zurück. 2022 stiegen sie im Westen um 5,35 % und im Osten um 6,12 %. Die offizielle Inflationsrate lag im gleichen Zeitraum bei 6,9 %. Im Juli 2023 wurden die Rentenzuwächse auf 4,39 % und die der Ostrente auf 5,86 % abgesenkt.

Zum Ausgleich von Finanzierungsbeteiligungen des Bundes 2020 und 2021 soll die Bundesagentur für Arbeit 2024 und 2025 jeweils 1,5 Milliarden Euro, für die Jahre 2026 und 2027 nochmal 1,1 Milliarden an den Bund zurückzahlen. Der Bund will seinerseits Zuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung für die Jahre 2024 bis 2027 um jeweils 600 Millionen Euro kürzen. Das hört sich, zumal heutzutage nur noch nach Milliarden gezählt wird, nicht nach viel an, hat aber eine um so stärkere Signalwirkung.

„Der Bund steht nicht zu seinem Finanzierungsanteil und bedient sich stattdessen bei der Rentenversicherung und dadurch wird die Reserve der Rentenkasse aufgebraucht“, monierte die Deutsche Rentenversicherung in einer Stellungnahme. Eine Destabilisierung und Aushebelung der gesetzlichen Altersrentensysteme und eine Abdrängung in private Vorsorgeformen, die von Wirtschaftsliberalen favorisierte Aktienrente, droht.

Der Bundeshaushalt 2024 soll Ende Januar vom Bundestag beschlossen werden. Vorher soll der Haushaltsausschuss Mitte Januar über die Änderungen abstimmen.

Der gesellschaftspolitische Wind pfeift steif von rechts. Die Arbeiter:innenbewegung muss sIch warm anziehen und sich neue gemeinsame Kampfziele gegen die arbeiter:innenfeindlichen Pläne setzen.




Gegen Rassismus und die Rechte: Wie die AfD stoppen?

Susanne Kühn, Neue Internationale 280, Februar 2024

Ob in Hamburg, Berlin oder Potsdam, ob in Köln, Frankfurt/Main oder München: Hunderttausende gehen in den letzten Wochen gegen Rechtsruck und AfD auf die Straße. Am Wochenende vom 19. – 21. Januar waren es bundesweit weit mehr als eine Million, davon allein in Berlin und München 300.000 bzw. 200.000. Mitglieder, Anhänger:innen und Wähler:innen eines breiten, klassenübergreifenden demokratischen Spektrums protestieren dort, um ihre Wut, ihre Betroffenheit und ihre Angst vor dem Rechtsruck deutlich zu machen.

Unmittelbarer Auslöser dieser Massenbewegung waren die jüngst von der Rechercheplattform CORRECTIV enthüllten Pläne zur „Remigration“, also zur Vertreibung von Millionen Menschen. Bei einen „privaten“ Geheimtreffen präsentierten der Faschist und bis 2023 Sprecher der Identitären Bewegung, Martin Sellner, Vertreter:innen der AfD, der Werteunion und anderer Rechter und Rechtsextremer ihren „Masterplan“, um „die Ansiedlung von Ausländern rückabzuwickeln“. Asylbewerber:innen, Menschen mit Bleiberecht und „nicht assimilierte Staatsbürger“ sollten von einer zukünftigen Rechtsregierung allesamt deportiert werden. Gemeinsam sollte die nationale und völkische Rechte dazu ideologische, „diskursive“ und natürlich auch handfeste Vorbereitung leisten, um schon jetzt Migrant:innen des Leben möglichst unerträglich zu machen.

Völkisch-rassistische Ziele

Verwundern sollten diese völkisch-faschistischen Ziele, die phantastischen, aber zugleich durchaus ernstzunehmenden und bedrohliche Pläne nicht. Der Zulauf zur AfD in den Umfragen, wiewohl durch die Regierungspolitik und die Krise genährt, geht seit Jahren mit ihrer Radikalisierung selbst einher. Der Thüringer Landesvorsitzende und Rechtsaußen, Höcke, avancierte zum realen Taktgeber der Partei, deren „gemäßigter“ Flügel wurde in den letzten Jahren marginalisiert. Aber in den letzten Wochen trag es Millionen überdeutlich zu Bewusstsein, dass die AfD keine „normale“ rechte Partei ist, sondern dass ihr extremer Rassismus die gezielte Deportation von Millionen anvisiert.

Massenhaftes Entsetzen verursachten die Enthüllungen von CORRECTIV wegen der offenkundigen, sich jedem halbwegs vernünftigen Menschen aufdrängenden Parallele zum Nationalsozialismus, zur Wannseekonferenz und den Plänen zum industriellen Massenmord am jüdischen Volk. Pläne wie die Errichtung eines bis zu zwei Millionen Menschen umfassenden „Musterstaates“ für „Remigrierte“ in Afrika erinnern unwillkürlich an die nationalsozialistischen Pläne, vier Millionen Jüdinnen und Juden nach Madagaskar zu deportieren. Und dieser offene Bezug zum Faschismus verdeutlicht, wie weit nicht nur direkte Nazis, sondern auch immer größere Teile des bürgerlichen Lagers zu gehen bereit sind. Die Verharmlosungen des Treffens als rein „privaten“ Austausch durch AfD-Funktionär:innen und Mitglieder der Werteunion oder die Darstellung von Teilnehmer:innen des Treffens, dass man Sellner „so nicht verstanden“ hätte, sind reine Schutzbehauptungen – sonst nichts. Unglaubwürdig ist dabei nicht nur die AfD, sondern natürlich auch die CDU, die so tut, als wäre die Werteunion nicht aus ihr hervorgegangen.

Die Anwesenheit ihrer Vertreter:innen, die aus dem rechten Flügel der CDU/CSU stammen, beim „privaten“ Treffen verweisen ebenso wie der Aufstieg der Freien Wähler und die anvisierte Bildung neuer rechtskonservative Parteien zwischen AfD und CDU/CSU auf einen Umbruch in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten, der keineswegs bloß als „Protest“, sondern als Abspaltung zur Neuformierung des bürgerlich-rechten Lagers begriffen werden muss.

Die Grenzen der Breite

In jedem Fall hat der Schock über die Enthüllungen eine riesige Demonstrationswelle ausgelöst. Und das ist gut so. Die Bewegung umfasst die radikale Linke, die reformistischen Parteien SPD und DIE LINKE, Gewerkschaften, Fridays for Future, antirassistische Initiativen, Migrant:innenorganisationen, Die Grünen, die Kirchen, FDP und sogar Teile der Unionsparteien. Faktisch also fast alle außer der AfD und offenen Nazis und Rassist:innen.

Auf den Demonstrationen sprechen neben Vertreter:innen der „Zivilgesellschaft“ Redner:innen aller Parlamentsparteien, von Regierung, linker wie bürgerlicher Opposition, auch wenn zweifellos jene aus dem reformistischen und links-bürgerlichen Spektrum dominieren und wohl auch große Mehrheit der Teilnehmer:innen mobilisieren. Kaum jemand, die/der nicht die „Einheit der Demokrat:innen“ beschwört, der Ruf nach dem Verbot der AfD wird laut.

Doch was vielen als größte Stärke der Bewegung erscheint, ihr klassenübergreifender Charakter, die Einheit von Scholz und Merz, aller Parteien bis hin zur Linkspartei, stellt in Wirklichkeit auch ihre Schwäche dar.

Rechtsruck und Rassismus, deren extrem gefährlicher Ausdruck der Aufstieg der AfD zweifellos ist, scheint nur außerhalb der „demokratischen“ Mitte, der anständigen Vertreter:innen der bürgerlichen Verhältnisse zu existieren.

Dabei überbieten sich gerade die Vertreter:innen ebendieser „Mitte“ – von CDU/CSU, FPD, SPD, Grünen und neuerdings auch der BSW – mit unentwegten Forderungen nach „besserer“ Regulation der Migration. Auf ein rassistisches Gesetz folgt faktisch das nächste. Während die EU-Außengrenzen weiter dicht gemacht werden, patrouilliert die Bundespolizei an den deutschen Grenzen.

Während sich Faeser, Scholz, Baerbock und Lindner als Menschenfreund:innen inszenieren, beschließt die Ampel-Mehrheit am 18. Januar im Bundestag das „Rückführungsverbesserungsgesetz“, die jüngste einer Reihe rassistischer Gesetzesverschärfungen. Dies soll lt. Olaf Scholz ermöglichen, dass Asylbewerber:innen „im großen Stil“ abgeschoben werden. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass die Durchsuchungsmöglichkeiten der Polizei ausgeweitet werden. Außerdem sollen Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden, sofern nicht Familien mit Kindern unter zwölf Jahren betroffen sind. Und schließlich sollen Widerspruch oder Klage gegen Abschiebungen keine aufschiebende Wirkung mehr haben. Union und AfD ging das nicht weit genug, aber ein weiterer Schritt Richtung Ausweisung aller „unnützen“ Migrant:innen ist das allemal.

Die fast zeitgleich beschlossene Erleichterung von Einbürgerungen kann das nicht nur nicht aufwiegen. Sie passt vielmehr ins Konzept der „kontrollierten“ Migration, wie sie auch das deutsche Kapital fordert.

Während die Regierung und andere „Demokrat:innen“ die völkische und nationalistische Hetze der AfD verurteilen, heizen sie selbst antimuslimischen und antiarabischen Rassismus an, kriminalisieren die Solidaritätsbewegung mit Palästina und wollen zukünftig Migrant:innen auf ihre „Verlässlichkeit“ hinsichtlich der deutschen Staatsräson überprüfen.

Alle diese rassistischen Maßnahmen und Gesetzesverschärfungen stellen heute für Millionen Migrant:innen und Geflüchtete die unmittelbar größte Gefahr dar. Während die Regierung und die bürgerlichen Kräfte so tun, als würden sie den Nazis offensiv entgegentreten, schieben sie selbst „im großen Stil“ ab, versuchen, den Rechten und CDU/CSU den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie sich deren Forderungen zumindest teilweise zu eigen machen und umsetzen.

Gegen den Rassismus der Rechten – und von Staat und Regierung!

Wer konsequent gegen die völkischen, faschistischen und rechtspopulistischen Kräfte kämpfen und mobilisieren will, darf daher zum Rassismus der Regierung, zu den neuen Abschiebegesetzen, zum antimuslimischen Rassismus und zur Kriminalisierung von politisch oppositionellen Migrant:innen nicht schweigen. Antirassismus muss Kampf gegen diese staatlichen Maßnahmen inkludieren, ansonsten wird er selbst unglaubwürdig.

Zweitens müssen wir uns auch klar von der illusorischen Vorstellung abgrenzen, dass der Rechtsruck und die AfD durch ein Parteiverbot gestoppt werden würden. Damit würden weder der staatliche Rassismus noch Faschismus verschwinden. Vor allem aber verkennt diese Losung, dass das deutsche Kapital in einer zugespitzten Krise oder angesichts massiven Klassenwiderstandes auf AfD und weit rechtere Kräfte zurückzugreifen bereit ist. Schließlich kann die Forderung von bürgerlicher Seite auch leicht zur Begründung von Verboten linksradikaler „antidemokratischer“, außerhalb des „Verfassungskonsenses“ stehender Organisationen herangezogen werden, wie wir es schon heute bei solchen palästinensischer, kurdischer oder türkischer Organisationen sehen.

Um den Zulauf zur AfD zu stoppen, können und dürfen wir uns nicht auf den Staat verlassen und schon gar nicht dürfen wir uns an sie anpassen, wie das die BSW tut. Der Kampf gegen Rassismus und gegen Faschismus muss vielmehr als Teil des Klassenkampfs verstanden werden. Daher müssen wir in der Bewegung gegen die Rechten für die Herausbildung einer antirassistischen Einheitsfront der Gewerkschaften, der linken Parteien, der Migrant:innenorganisationen, der radikalen Linken kämpfen. Dazu müssen sich Linke, internationalistische und alle Organisationen der Arbeiter:innenbewegung an den Massenkundgebungen und Demonstrationen nicht nur beteilten, sondern auch offen und sichtbar für eine internationalistische und klassenkämpferischen Stoßrichtung eintreten.

  • Nein zu allen rassistischen Gesetzen! Stopp aller Abschiebungen! Offene Grenzen und volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die hier leben!

  • Nein zu allen Überwachungsmaßnahmen und zur Kriminalisierung von Migrant:innen und politischen Flüchtlingen!

  • AfD und Nazis organisiert entgegentreten! Gegen rechte Übergriffe und Angriffe: Selbstschutz von Migrant:innen und Gewerkschaften aufbauen!

  • Gemeinsamer Kampf gegen die gesellschaftlichen Wurzeln von Faschismus und Rassismus! Gemeinsamer Kampf gegen Inflation, Niedriglohn, Armut und Wohnungsnot!



Nein zu den Verschärfungen beim Bürgergeld! Kampf gegen alle Kürzungen!

Stefan Katzer, Neue Internationale 280, Februar 2024

Seitdem das Bundesverfassungsgericht im November vergangenen Jahres die haushaltspolitischen Taschenspielertricks der Ampelkoalition entlarvt hat, stellt sich die Frage, wie die nun fehlenden 60 Milliarden Euro eingespart werden können. Der neueste Vorstoß der Regierung sieht vor, auch Einsparungen beim Bürgergeld vorzunehmen und das Sanktionsregime erneut zu verschärfen.

Zur Erinnerung: Die Ampelkoalition hatte Schulden, die zur Bekämpfung der Coronapandemie aufgenommen wurden, nachträglich umgewidmet und das zur Bekämpfung der Pandemie lockergemachte Geld kurzerhand in den sogenannten Klimatransformationsfonds gepackt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Umbuchung für rechtswidrig erklärt. Da das Geld bereits fest eingeplant war, stellt sich die Frage, woher die Milliarden kommen sollen, die nun im Haushalt fehlen.

Die Antwort der Regierung auf dieses Problem zeichnet sich immer deutlicher ab: Anstatt das fehlende Geld bei denjenigen abzuschöpfen, die in den vergangenen Jahren enorme Gewinn- und Vermögenszuwächse verzeichnen konnten, möchte die Regierung lieber notwendige Investitionen weiter aufschieben, weitere Kürzungen im sozialen Bereich vornehmen und zusätzlich den – im übertragenen Sinne –  nackten Leuten in die Taschen greifen, also das fehlende Geld dort holen, wo ohnehin kaum welches vorhanden ist: bei Erwerbslosen und Geringverdiener:innen, die ihren Lebensunterhalt durch den Bezug von Bürgergeld absichern müssen.

Leere Versprechen und faule Kompromisse

Dabei war mit seiner Einführung seitens der Regierung das Versprechen verknüpft, Erwerbslose künftig nicht mehr unnötig zu drangsalieren. Stattdessen sollten die „Klient:innen“ künftig auf Augenhöhe behandelt und der Fokus auf Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen gelegt werden. Im Zuge der Bürgergeldreform wurden dann aber tatsächlich nur kosmetische Veränderungen am „Hartz 4“-System vorgenommen. So wurde etwa das Schonvermögen erhöht und es wurden Anreize geschaffen, an Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. In diesem Zusammenhang werden vom Jobcenter geringfügige Bonus-Beträge ausgezahlt, die für Qualifizierungsmaßnahmen, die nicht auf einen Berufsabschluss zielen, nun wieder gestrichen werden sollen.

Arbeitslosigkeit: eine Frage der Motivation?

Das Problem der Arbeitslosigkeit solchermaßen zu adressieren, heißt in Wahrheit jedoch, es zu verschleiern. Denn das Problem der Arbeitslosigkeit wird letztlich nicht auf seine gesellschaftliche Ursache zurückgeführt – d. i. die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals, durch welche immer mehr variables Kapital, lebendige Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt wird –, sondern auf die Eigenschaften und Einstellungen der Erwerbslosen. Entsprechend dieser falschen, ja verkehrten Problemanalyse fällt auch die Lösungsstrategie der bürgerlichen Parteien aus.

Arbeitslosigkeit wird von ihnen wahlweise als ein Bildungs- oder Motivationsproblem derer behandelt, die in Wirklichkeit deshalb arbeitslos sind, weil die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft dem Kapital keinen Mehrwert verspricht. Ein gesellschaftliches Problem wird so unter der Hand individualisiert und psychologisiert.

Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, statt der gesellschaftlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen selbst zu bekämpfen. Dabei werden die Erwerbslosen zunächst stigmatisiert. Ihnen wird unterstellt, nicht arbeiten zu wollen. Sie werden als „Asoziale“ hingestellt, die auf Kosten anderer ein angenehmes Leben führen.

In einem zweiten Schritt wird politisches Handeln durch (schwarze) Pädagogik ersetzt. Das Problem der Arbeitslosigkeit soll durch eine nachträgliche Erziehung der Arbeitslosen gelöst werden. Diese sollen durch Überwachung, Beschämung, Demütigung und Bestrafung zum richtigen Verhalten „motiviert“ werden. Die Frage, über die sich die bürgerlichen Parteien dann noch streiten, betrifft letztlich nur noch die nach der richtigen „Erziehungsmethode“: bestrafen oder motivieren, Leistungen kürzen oder Anstrengungen belohnen?

„Arbeitsscheue Arbeitslose“ als Ausbeuter:innen des „hart arbeitenden kleinen Mannes“

Das Klischee der arbeitsscheuen Langzeitarbeitslosen, der sich über die Dummheit derer lustig macht, die noch arbeiten gehen, während sie selbst schlau und vor allem dreist genug ist, andere für sich arbeiten zu lassen, erfüllt in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion. Diese besteht in erster Linie darin, die gesellschaftlichen Ursachen des Problems zu verschleiern und die berechtigte Wut über schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne seitens der arbeitenden Bevölkerung auf die Erwerbslosen umzulenken.

Dabei wird denjenigen, die einer Lohnarbeit nachgehen und vielleicht auch ein Gefühl dafür haben, dass sie um ihre tatsächliche Leistung (ihre Mehrarbeit) gebracht werden, suggeriert, ihre wahren Ausbeuter:innen seien nicht etwa die von ihrer Mehrarbeit lebende Kapitalist:innen, sondern faulenzende Arbeitslose, die sie von ihrem Lohn mit durchfüttern müssen. Durch diese perfide Verkehrung der tatsächlichen Zusammenhänge können sich diejenigen, die gegen Arbeitslose hetzen, auch noch als Kämpfer:innen für die Interessen „des kleinen Mannes“ inszenieren – und die BILD-Zeitung sich selbst als deren Sprachrohr.

So war es auch im Falle der nun bevorstehenden Verschärfungen beim Bürgergeld. Vorbereitet und begleitet wurde die Verschärfung von einer Kampagne, in der erneut das Zerrbild der „Arbeitsverweiger:innen“ an die Wand gemalt wurde, die sich auf Kosten der hart arbeitenden Bevölkerung ein angenehmes Leben mache.

Und was soll man sagen: Es hat wieder einmal gezündet. Die SPD ist erneut eingeknickt und verspricht nun, hart gegen sogenannte „Totalverweiger:innen“ vorzugehen. Durch verschärfte Sanktionen bei Leistungsberechtigten, die sich „beharrlich verweigern“, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, soll jährlich ein Betrag von 170 Millionen Euro eingespart werden. Zum Vergleich: Allein durch Steuerhinterziehung gehen dem Staat nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung jährlich ca. 100 Milliarden (!) Euro verloren. Verschärfungen in diesem Bereich sind jedoch nicht geplant. Den von den nun angedrohten Sanktionen Betroffenen droht dabei die Streichung sämtlicher Bezüge (außer für Miete und Heizung). Die vollständige Sanktionierung soll bis zu zwei Monate andauern können.

Die entsprechende Regelung ist allerdings sehr schwammig formuliert. Sie besagt, dass eine „willentliche“ Weigerung, „eine zumutbare Arbeit aufzunehmen“, vorliegen muss, um die Sanktionsmechanismen auszulösen. Diese Formulierung lässt somit viel Interpretationsspielraum, den besonders eifrige Jobvermittler:innen im Zweifelsfall dazu nutzen können, ungerechtfertigte Sanktionen zu verhängen, unter denen die Betroffenen auch dann leiden werden, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass die verhängten Sanktionen doch nicht angemessen waren. Dies wird aller Voraussicht nach besonders Menschen treffen, die nicht deutsch sprechen oder sich gegenüber Behörden ohnehin hilflos fühlen, also vornehmlich rassistisch Unterdrückte und psychisch belastete Menschen.

Neben der Tatsache, dass die von der Regierung prognostizierten Einsparpotentiale durch die nun anvisierten Kürzungsmaßnahmen völlig übertrieben erscheinen, ist daran vor allem problematisch, dass den Betroffenen damit de facto die notwendigen finanziellen Mittel entzogen werden, mit denen diese ihre Existenz sichern können. Ihnen droht die völlige Verarmung.

In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass ca. zwei Millionen Kinder Bürgergeld beziehen. Sanktionen, die sich gegen ihre Eltern richten, treffen natürlich auch sie. Dabei bekommen sie schon jetzt nicht das, was für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig wäre. Weitere Kürzungen wären daher vor allem für sie fatal, da sie sich langfristig auf ihre Entwicklung auswirken können.

Rechte und neoliberale Scharfmacher:innen

Davon lassen sich die Scharfmacher:innen von rechts allerdings nicht beeindrucken. Im Gegenteil. Sie befeuern lieber weiterhin die leidliche Debatte um das sogenannte „Lohnabstandsgebot“ und verteufeln in diesem Zusammenhang die letzte Bürgergelderhöhung von 12 % als arbeitsmarktpolitische Generaldummheit. Sie argumentieren dabei, dass die Erhöhung des Bürgergeldes dazu verführe, sich auf Kosten der Allgemeinheit einen faulen Lenz zu machen. Dabei hält die Erhöhung kaum Schritt mit der dramatischen Inflation und ist folglich keine reale. Zugleich „vergessen“ sie gerne, dass die Erhöhung des Bürgergeldes keine gönnerhafte Wohltat ist, die der Staat nach Lust und Laune gewähren kann oder auch nicht. Vielmehr geht es hier um die Existenzsicherung und um einen Rechtsanspruch, der sich aus dem Grundgesetz herleitet.

Ebenso verschweigen sie die Tatsache, dass das von Ihnen hochgehaltene „Lohnabstandsgebot“ auch anders gewahrt werden könnte als durch die Absenkung des Existenzminimus – nämlich durch die Erhöhung der (Mindest-)Löhne. Gegen die Einführung eines Mindestlohns haben sie selbst aber jahrelang gekämpft. Schon alleine daran erkennt man die ganze Heuchelei dieser Parteien und ihrer Führungsfiguren. Aber auch SPD und Grüne spielen das perfide Spielchen mit und drücken nun die Sanktionen durch, die sie zuvor noch als unmenschlich und weitgehend wirkungslos kritisiert haben.

Widerstand aufbauen, Kürzungen bekämpfen!

Umso dringender ist es, dass sich gegen diese Politik auf den Straßen Widerstand formiert. Dabei kommt den Gewerkschaften eine entscheidende Rolle zu. Als Kampforgane der Arbeiter:innenklasse mit Millionen Mitgliedern wären sie dazu in der Lage, den notwendigen Widerstand zu organisieren. Dafür müssen sie aber endlich mit ihrer sozialpartnerschaftlichen Politik brechen und anfangen, entschlossen für die Interessen der gesamten Klasse zu kämpfen. Um dorthin zu gelangen, müssen die Mitglieder Druck aufbauen und die Führung ihrer Gewerkschaften zum Handeln auffordern.

Der Kampf gegen die Verschärfungen beim Bürgergeld muss dabei mit dem gegen die weiteren Einschränkungen im Asylrecht sowie mit dem für höhere Löhne und gegen Entlassungen verbunden werden. Dadurch kann der spalterischen Politik der Herrschenden entgegengearbeitet und die Einheit der Lohnabhängigen erkämpft werden. Der Kampf gegen die geplanten Verschärfungen und Kürzungen kann aber letztlich nur erfolgreich sein, wenn er von Massenmobilisierungen, Streiks und  Besetzungen getragen wird und weitergehende Forderungen umfasst, die letztlich auf die Überwindung des kapitalistischen Ausbeutungssystems zielen.

  • Weg mit allen Bürgergeldgesetzen und Nein zu den geplanten Sanktionen! Für die Kontrolle der Arbeitsagenturen durch Gewerkschaften und Erwerbslosenkomitees anstelle von Ämterwillkür! Allgemeines, uneingeschränktes Recht auf Weiterbildung und Qualifizierung während der Erwerbslosigkeit!
  • Für die sofortige Wiedereinführung der Vermögensteuer! 115 Mrd. Euro jährlich durch progressive Besteuerung!
  • Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro/Stunde! Für Arbeitslose, Studierende, RentnerInnen, SchülerInnen ab 16, chronisch Kranke, Schwerstbehinderte und Invalid:innen kämpfen wir für ein monatliches Mindesteinkommen, angepasst an die Inflation ,von 1.100 Euro plus Warmmiete! Die Kontrolle darüber den Gewerkschaften!
  • Streiks und Besetzungen im Kampf gegen Massenentlassungen und Schließungen! Entschädigungslose Verstaatlichung und Fortführung/Umstellung der Produktion solcher Firmen!
  • Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Kontrolle der Beschäftigten, der Gewerkschaften unter Einbeziehung von Ausschüssen der Lohnabhängigen und aller nicht-ausbeutenden Schichten der Bevölkerung!



Berliner Polizei attackiert LL-Demonstration 2024

Martin Suchanek, 16. Januar 2024

Mindestens 16 Personen mussten nach Angaben von Demo-Sanis infolge brutaler Angriffe der Polizei mit Knüppeln und Pfefferspray am 14. Januar mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Besonders schwer hatte es einen 65-jährigen Mann getroffen, der ohnmächtig, aus Mund und Nase blutend am Boden lag.

Ursache – oder genauer Vorwand – für den Einsatz mehrerer Hundertschaften war die Solidarisierung mit Palästina durch die Demonstration. Angeblich, so die Polizei-Erzählung wäre die verbotene Losung „From the river to the sea, Palestine will be free“ von einem Redner und Demonstrationsteilnehmer gerufen worden. Infolgedessen wurden eine Reihe Personen festgenommen.

Nachdem weiter vorne laufende Demonstrant:innen und ganze Blöcke zurückliefen, um sich zu solidarisieren, schlug die Polizei richtig los. Zweifellos wird die Polizeiführung, deren Einsatzkräfte nicht zum ersten Mal provokativ die Demonstration angriffen, einen Grund zurechtzimmern, warum auch dieser Einsatz „verhältnismäßig“ gewesen wäre und eigentlich die behelmten Knüppeleinheiten Opfer und nicht Täter:innen gewesen wären.

Klar wird auch das Abgeordnetenhaus über die Provokation, über den Angriff auf das Demonstrationsrecht beraten – mit vorhersehbarem Ausgang: Schuld sind die Demonstrant:innen. Schließlich wird die Solidarität mit Palästina, die immer schon öffentlich denunziert wurde, seit Monaten von Regierungen und Parlamenten kriminalisiert. Auch der „Zivilgesellschaft“, also der bürgerlichen Öffentlichkeit, kann es davon nicht genug geben. So setzt eben die Polizei den politischen Marschbefehl – natürlich nicht nur am 14. Januar – um.

Während antiimperialistische Solidarität kriminalisiert und verprügelt wird, sorgen sich Zehntausende nach den jüngsten Enthüllungen über die rassistischen Deportationspläne von Vertreter:innen der AfD, der Identitären und der Werteunion bei einem „privaten“ Treffen in Potsdam um die deutsche Demokratie. Zweifellos ist die Sorge und Angst um die Errichtung eines rassistischen Abschiebe- und Ausweisungsregimes berechtigt. Die AfD und diverse faschistische Gruppierungen bilden dabei die extreme Speerspitze einer Politik, die den stetigen Forderungen nach einer immer rigideren Migrations- und Flüchtlingspolitik und der geplanten faktischen Abschaffung des Asylrechts durch die EU Vorschub leistet. Vorschub leistet dem Rechtsruck dabei aber auch die Diffamierung der Palästina-Solidarität, von Palästinenser:innen, Araber:innen, Muslim:innen als undemokratisch und antisemitisch sowie die Gleichsetzung von Antisemitismus und Antirassismus. Wer den immer stärker werdenden antimuslimischen Rassismus und die Kriminalisierung und Diffamierung der Palästina-Solidarität nicht bekämpft, der wird letztlich auch den Rechtsruck nicht stoppen können.

Die LL-Demonstration hat sich hier vollkommen richtig verhalten. Sie ließ sich nicht einschüchtern, sondern vielmehr haben sich ihre Teilnehmer:innen gegen die Polizeigewalt gestellt.




8. – 12. Januar: Bauernproteste legen Land lahm

Susanne Kühn, Infomail 1241, 8. Januar 2024

Vom 8. – 12. Januar werden Tausende Bauern und Bäuerinnen mit Fahrtkolonnen, Sternfahrten zu größeren Städten und Blockaden von Autobahnzufahrten und zentralen Verkehrsknoten immer wieder Teile des Landes lahmlegen. Am 15. Januar schließt die Aktionswoche mit einer zentralen Kundgebung in Berlin, um der Ampel den Marsch zu blasen.

Den unmittelbaren Auslöser für die Proteste bildete die geplante Streichung der Subventionen beim Agrardiesel und der KfZ-Steuerbefreiung für die Landwirtschaft. Diese belaufen sich für das Jahr 2024 auf insgesamt ca. 440 bzw. 485 Millionen Euro. Für einen durchschnittlichen Betrieb würde sich die Streichung der Vergünstigungen auf 4.000 – 5.000 Euro pro Jahr belaufen bei einem durchschnittlichen Jahresgewinn von 82.000 Euro im Wirtschaftsjahr 2021/22 bzw. 115.400 Euro im Jahr 2022/23.

Damit steht sicherlich nicht „die Landwirtschaft“ auf der Kippe, wohl aber würden die Streichungen vor allem die kleineren und mittleren Betriebe treffen, da sich hinter diesem statistischen Durchschnitt ernorme Unterschiede verbergen. Natürlich machen die kleineren Betriebe weniger Gewinn, verfügen über weniger Reserven und verbrauchen mehr Sprit im Verhältnis zu ihrer Agrarfläche. Für diese landwirtschaftlichen Unternehmen stellt die Streichung der Subventionen eine erhebliche Einkommenseinsbuße dar – zumal die Steigerung der Durchschnittsgewinne landwirtschaftlicher Unternehmen in den letzten Jahren selbst Resultat eines dauerhaften Zentralisations- und Konzentrationsprozesses ist. Gab es im Jahr 2000 noch 440.000 Unternehmen im Agrarsektor, so waren es 2020 noch 260.000.

Zweifellos ist die Empörung und Wut der kleineren und mittleren Landwirt:innen über die Streichungen und die dazukommende schrittweise Abschaffung der Subventionen für den KfZ-Diesel nachvollziehbar und berechtigt. Diese kleinbürgerliche Schicht wird längst ökonomisch von einem immer unhaltbareren Agrarsystem an den Rand gedrückt, da vor allem die Interessen der großen Betriebe, vor allem aber der Agrarindustrie und Handelskonzerne im globalen Wettbewerb bedient werden. Zugleich sollte auch niemand die Protestaktionen idealisieren. Geführt werden sie von den großen Wirtschaften, die auch den Bauernverband dominieren, politisch eng an CDU/CSU hängen und an einem auf Subventionen basierenden aberwitzigen Agrarsystem. Diese sind eng verbunden mit direkten Kapitalinteressen und einer über Jahrzehnte etablierten Agrarpolitik, die die Konkurrenzfähigkeit der deutschen und europäischen Agrarproduktion sichert und für relativ günstige Preise in Supermärkten sorgt, die letztlich wiederum durch Massensteuern finanziert werden.

In den letzten Wochen ging der Bauernverband zudem ein enges Bündnis mit dem Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), der einen großen Teil des Transportgewerbes vertritt, ein. Die Aktionswoche vom 8. – 12. Januar wird von beiden Verbänden durchgeführt. Während der Bauernverband weiter die Streichung aller Subventionskürzungen will, fordern die Transportunternehmen „Geld für intakte Straßen und Brücken, Lkw-Stellplätze und verlässliche Förderprogramme für einen klimafreundlichen Straßengüterverkehr“.

Am rechten Rand der Proteste machen sich zudem Verbände wie die sog. „Freien Bauern“ und andere reaktionäre kleinbürgerliche Standesvereinigungen breit. Die AfD und auch Nazi-Organisationen wie die Freien Sachsen suchen die Verbindung zu diesem „Volkswiderstand“ und mischen den Ruf nach billigem Diesel mit dem nach noch billigerem Blut und Boden.

Aktionen gehen weiter

Angesichts der Aktionen des Bauernverbandes im Dezember nahm die Ampel-Koalition die Kürzung der KfZ-Steuerbefreiung vollständig zurück. Die Begünstigung für den KfZ-Diesel soll 2024 nur zu 40 % gekürzt und dann schrittweise bis 2026 abgeschafft werden. Das lehnt der Bauernverband ab, der an der Spitze der Proteste steht und bundesweit die weitaus größte Interessenvertretung bildet. Auch wenn die Bundesregierung jammert, dass die geplanten Blockaden und Sternfahrten „unverhältnismäßig“ seien, so sieht der Bauernverband die Chance, sämtliche Forderungen durchzusetzen.

Gemeinsam mit BGL und unterstützt von CDU, CSU und Freien Wählern wollen sie die Ampel-Koalition weiter vor sich hertreiben. Auch wenn der Bauernverband gebetsmühlenartig betont, dass die Proteste „unpolitisch“ wären, so befindet er sich faktisch im Bündnis mit den konservativen Oppositionsparteien.

Diese Kräfte haben (noch) kein Interesse an einem Bündnis mit den rechten Bauernverbänden wie den sog. Freien Bauern oder Teilen von „Landwirtschaft schafft Verbindung“. Daher distanzieren sich der Bauernverband und seine konservativen Verbündeten auch von den rechten Protestaktionen wie der Blockade von Habeck in Schleswig-Holstein, denn schließlich wollen CDU und CSU nicht das System „stürzen“, sondern übernehmen.

Der Bauernverband hofft so, außerdem seine eigene Vormachtstellung unter der Bäuer:innenschaft wieder zu festigen, die in den letzten Jahrzehnten eigentlich schwächer wurde. Phasenweise hatten die Grünen Einfluss gewonnen; die können zurückgedrängt werden. Zugleich machen sich immer wieder auch die inneren Gegensätze unter „den“ Bäuer:innen bemerkbar. Diese reicht schließlich von großen Agrarunternehmen bis hin zu noch relativ kleinen Landwirt:innen, ist also klassenmäßig durchaus heterogen. Darüber hinaus unterminieren auch Interessengegensätze wie z. B. zwischen konventionellen und Öko-Landwirtschaften die „Einheit“ des Verbandes.

Der Angriff auf die Agrarsubventionen dient daher auch als Mittel, eine Einheit herzustellen, die es bei früheren Protesten, z. B. gegen die EU-Glyphosat-Verordnung nicht gab, als Bauern und Bäuerinnen auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden standen. Indirekte Steuern und Agrarsubventionen stellen hingegen traditionell ein Mittel dar, eine Einheit zwischen klassenmäßig heterogenen Kräften wie Kleinunternehmen und Agrarkonzernen herzustellen. Höhere Steuern und Belastungen seien schließlich ein Angriff auf alle Unternehmen. Wie die Subventionen finanziert werden, wird dabei bewusst außen vorgelassen. Dabei liegt gerade hier der Hase im Pfeffer, denn unter den aktuellen Bedingungen müssen diese natürlich aus Steuermitteln finanziert werden – und diese kommen nach Jahrzehnten der Umverteilung der Steuerlast auf die Lohnabhängigen natürlich vor allem von diesen.

Daher müsste eine linke Haltung zu den Forderungen der Landwirt:innen folgendermaßen aussehen: Nein zu den Subventionsstreichungen, da diese tatsächlich die Existenz der kleineren Betriebe bedrohen und massive Einkommenseinbußen bedeuten. Diese Maßnahmen müssten aber durch eine progressive Besteuerung der Unternehmensgewinne – auch im Agrarsektor – finanziert werden. So wäre es möglich, einen Keil zwischen die verschiedenen Schichten der Landwirt:innen zu treiben und die Vormachtstellung der Großbäuer:innen und des Agrarkapitals anzugreifen.

Die Grenzen der kapitalistischen Agrarbranche

Die aktuelle Protestbewegung reflektiert auch eine tiefe Krise des bestehenden landwirtschaftlichen Systems in Deutschland und der EU, der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Die Subventionen oder Vergünstigungen in diesem Sektor bilden mittlerweile einen zentralen Bestandteil der Einkommen landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland (und der gesamten EU). So zogen die landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe in Deutschland ungefähr die Hälfte ihres Einkommens aus Direktzahlungen und anderen Zuschüssen.

Auch wenn in bestimmten Sektoren kleiner Landwirt:innen, z. B. bei einzelnen Nebenerwerbsbäuer:innen das sogar 90 % ausmachen kann, so werden die Großbetriebe (z. B. in Ostdeutschland) sowie Agrarholdings (also große Investor:innen) von diesem System überdurchschnittlich begünstigt.

Dieses Subventionssystem ist selbst ein Resultat der inneren Tendenzen der kapitalistischen Landwirtschaft. Die Preise für zentrale Produkte (z. B. Getreide, Futtermittel, Rinder- und Schweinefleisch, Milchprodukte) werden auf dem Weltmarkt bestimmt. Die Agrarproduktion selbst ist natürlich auch auf ihn ausgerichtet.

Um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher oder europäischer Produzent:innen zu sichern, pumpen die EU und Deutschland seit Jahren Milliarden an Subventionen in diesen Bereich. Solcherart (und aufgrund der höheren Produktivität einer industrialisierten Landwirtschaft) kann der europäische Agrarexport halbkoloniale Konkurrenz verdrängen und sogar deren Inlandsmärkte erobern.

Einen eng damit verbunden Bestimmungsfaktor der gesamten landwirtschaftlichen Produktion bilden die Lieferant:innen von Maschinen, Saatgut, Düngemitteln etc. sowie die Abnehmer:innen (große Agrarkonzerne und Handelsunternehmen). Im Unterschied zur Bäuer:innenschaft sind diese hochgradig konzentriert, bestimmen wenige Konzernen nationale und internationale Märkte, können also den landwirtschaftlichen Produzent:innen Preise diktieren.

Ohne Subventionen würden die Bauern und Bäuerinnen entweder nicht mehr erhalten als diese Preise. Viele Betriebe wären längst pleite, die Zentralisation in der Landwirtschaft noch viel weiter fortgeschritten. Oder sie wären in der Lage, höhere Preise zu verlangen, was massiv steigende Nahrungsmittelpreise zur Folge hätte, die von der Masse der lohnabhängigen Konsument:innen zu bezahlen wären. Um beides zu verhindern, wirken die Agrarsubventionen wie ein Reparaturbetrieb, der ständig nach mehr Subventionen, mehr Stützen schreit, weil für ein im Grunde aberwitziges System eigentlich immer mehr Subventionen nötig werden. Hinzu kommt, dass relativ geringe Lebensmittelpreise auch den Wert der Ware Arbeitskraft senken, so dass sich auch Lohnabhängige in prekären Verhältnisse noch über Wasser halten können. Das heißt, das bestehende Agrarsystem erleichtert auch die Umsetzung und Durchsetzung neoliberaler Arbeitsmarktreformen.

Die aktuellen Proteste bringen auch einen Unmut breiter Schichten der Landbevölkerung mit diesem System zum Ausdruck, das immer schwerer zu finanzieren ist und den Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft zwar bremst, keinesfalls aber aufhält. Zweitens steht dieses System jeder einigermaßen vernünftigen Reorganisation der Landwirtschaft im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit direkt entgegen.

Es ist daher eine gewisse Paradoxie, dass bei den aktuellen Protesten gerade solche Kräfte an der Spitze stehen – CDU/CSU, aber auch der Deutsche Bauernverband –, die über Jahrzehnte dieses milliardenschwere System auf- und ausgebaut und gegen jede Kritik verteidigt haben; ein System, das vor allem dem Agrarkapital sowie den großen Konzernen im Handel Milliardenprofite sichert.

Innerhalb der Bäuerinnen:schaft bildet sich schon länger ein kleinbürgerlicher Widerstand gegen diese Politik des Bauernverbandes. Mit der Expansion der ökologischen Landwirtschaft profitierten einige Zeit die Grünen davon. Doch die Illusionen in deren „andere“ Politik sind bei vielen verblasst, was auch erklärt, warum in der gegenwärtigen Situation Habeck und die Grünen und nicht Lindner und die FDP zur ersten Zielscheibe des Hasses gerieten. Der andere Grund liegt darin, dass seit etlichen Jahren auch eine reaktionäre, kleinbürgerliche, rechte und nationalistische Kritik am Bauernverband stärker geworden ist. Diese lehnt Subventionen grundsätzlich ab und tritt für eine „echte“, das heißt kleinbäuerliche Marktwirtschaft ein, will zurück zur Einheit von Hof, Land und Eigentum. Um die „ehrliche“ deutsche Landwirtschaft zu retten, soll sie von der internationalen Konkurrenz abgeschottet werden. Es sind diese utopischen und gleichzeitig reaktionären Tendenzen, die von den Rechten, von AfD oder auch Faschist:innen aufgegriffen werden. Darin sind sie nicht erfolglos, obwohl sie selbst kein auch nur einigermaßen schlüssiges Konzept vorzuweisen haben. Die AfD fordert sogar die Streichung aller Subventionen in der Landwirtschaft, was, würde es auf einmal umgesetzt, den Ruin Zehntausender Bäuerinnen und Bauern bedeuten würde. Doch wie andere rechte und rechtspopulistische Bewegungen zeigen, wird der Verweis auf die innere Unvernunft solcher Vorschläge, auf ihren aberwitzigen und zutiefst irrationalen Charakter nicht verhindern, dass Kleinbürger:innen solchen Rattenfänger:innen auf den Leim gehen.

Arbeiter:innenklasse

Ein entscheidender Grund, warum die gesamte Krise des Agrarsektors von bürgerlichen Kräften bestimmt und als deren einzige scheinradikale Alternative rechte bis faschistische Gruppierungen auf den Plan treten, liegt darin, dass die Arbeiter:innenbewegung selbst über keine programmatische und politische Antwort verfügt. Sie kann so auch nicht als eigenständige Kraft in Erscheinung treten, zumal sie auch bei den Kämpfen der letzten Jahre über rein ökonomische Forderungen kaum hinauskam.

Natürlich sollten sämtliche Subventionsstreichungen unmittelbar rückgängig gemacht werden. Aber das löst die grundlegenden Probleme überhaupt nicht. Eine Überwindung der Krise des Agrarsektors und eine Neustrukturierung im Interesse der Versorgung und ökologischer Notwendigkeiten setzt voraus, die Eigentumsfrage anzugehen. Das schließt die Enteignung von Grund und Boden sowie der Agrarindustrie und der Handelskonzerne ein.

Auf dieser Basis könnte die Produktion unter Einbeziehung von Ausschüssen der Bauern und Bäuerinnen und Landarbeiter:innen gemäß der Bedürfnisse der Masse der Konsument:innen und ökologischer Nachhaltigkeit reorganisiert werden – und zwar nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene. Dies müsste natürlich nicht nur die Frage einschließen, welche Landwirtschaftsprodukte wie produziert, sondern auch, wie die Maschinen und Transportsysteme entwickelt werden sollen.

Um die Preise für Agrarprodukte zu regulieren, braucht es Preiskontrollkomitees, die ländliche Produzent:innen und städtische Konsument:innen direkt verbinden. Damit höhere Agrarpreise nicht auf Kosten der Lohnabhängigen gehen, müssen Löhne und Einkommen automatisch an diese Preissteigerungen angepasst werden.

Die Arbeiter:innenklasse kann und muss den bäuerlichen Produzent:innen zwar einen Plan für eine vernünftige Reorganisation der Landwirtschaft anbieten, sie kann und muss sie gegen den Druck der Agrarkonzerne verteidigen, aber sie kann ihnen nicht die Beibehaltung des bäuerlichen „unabhängigen“ Betriebs versprechen. Dieser ist selbst auf dem Boden des aktuellen Kapitalismus längst zu einer Fiktion geraten. Die Lösung des Problems besteht nicht in der Rückkehr zu einem „goldenen“ Zeitalter der bäuerlichen Wirtschaft, das es ohnedies nie gab, sondern in der gemeinwirtschaftlichen, demokratisch geplanten Produktion auch in der Landwirtschaft. Dabei können Genoss:innenschaften als Übergangsform vom individuellen Privat- zum Gemeineigentum nützlich sein. Sie sollten daher von der Arbeiter:innenklasse unterstützt werden.

Ein solches Programm würde zwar sicher nicht alle Landwirt:innen, also eine ganze (klein-)bürgerliche Schicht gewinnen. Es wäre aber geeignet, einen Keil zwischen die Bäuer:innenschaft und das Agrarkapital zu treiben und zwischen die reaktionären und die fortschrittlichen Teilen der Landbevölkerung.




Schäuble – ein deutscher imperialistischer Politiker

Martin Suchanek, Infomail 1240, 29. Dezember 2023

Wolfgang Schäuble verstarb am 26. Dezember. Obwohl er selbst nie Bundeskanzler war, prägte er die Politik des deutschen Imperialismus über Jahrzehnte wie kaum ein anderer, gehörte zu den führenden bürgerlich-kapitalistischen Strateg:innen.

Werdegang

Auch wenn er nach seinem Jurastudium als Finanzbeamter tätig war, so führte er im Grunde Zeit seines Lebens das Dasein eines Berufspolitikers. Von 1972 bis zu seinem Tod gehörte er ununterbrochen dem deutschen Bundestag an. Von 1984 bis 1991 fungierte er in den Regierungen Kohl als Minister, zuerst als Chef des Kanzleramtes, dann als Innenminister. 1991 wurde er Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und damit eine zentrale Stütze der Regierung. Vor der kapitalistischen Wiedervereinigung gehörte Schäuble zudem zu den wichtigsten Stützen Kohls gegen die innere Opposition in der CDU (Geißler, Späth, Süssmuth).

Schäuble war maßgeblich an der zur „geistig moralischen Wende“ verklärten konservativ-(neo)liberalen schwarz-gelben Regierungspolitik und am Wiedervereinigungsvertrag beteiligt, wobei er sich als verlässlicher Vertreter der Interessen des deutschen Gesamtkapitals und dessen führender Konzerne erwies.

Kein Wunder also, dass der „Kanzler der Einheit“ Schäuble zu seinem Nachfolger auserkoren hatte, der als Parteivorsitzender und auch als Kanzler „übernehmen“ sollte. Doch Kohls Wahlniederlage gegen Schröder vereitelte die für 2002 anvisierte „Übergabe“ im Kanzleramt. Auch Schäubles Zeit als CDU-Vorsitzender währte nur kurz. 1999 wurden nämlich die Dimensionen der CDU-Spendenaffäre immer deutlicher. Über gut zwei Jahrzehnte hatte die Partei Millionen DM auf Schattenkonten gehortet. Wie so viele andere in die „Affäre“ verstrickte CDU-Politiker:innen bestritt auch der Ehrenmann Schäuble zunächst alle Vorwürfe. Doch die Beweise wurden immer erdrückender. Kohl mutierte vom Ehrenvorsitzenden zur Altlast, Schäuble trat schließlich vom Parteivorsitz zurück, blieb aber Abgeordneter.

An seine Stelle trat Angela Merkel. Ursprünglich als Zwischenlösung betrachtet, wurde sie schließlich 16 Jahre lange Kanzlerin. Und Schäuble machte sich daran, seinem Land wieder als Innenminister zu dienen, als Law-and-Order-Mann, der sich auch mit Schwarzgeldkonten auskannte. Von 2009 bis 2017 erlebte Schäuble seinen internationalen Durchbruch als Finanzminister und neoliberaler Hardliner. Im Rahmen der Troika und der EU setzte er drakonische Bedingungen für das infolge der globalen Krise vor dem Bankrott stehende Griechenland durch, das er mehr oder weniger offen eigentlich aus dem Euro-Raum treiben wollte (was jedoch von Merkel abgelehnt und verhindert wurde). Schäuble, der bis dahin vor allem im deutsch-deutschen Verhältnis (bis 1990) und innenpolitisch hervorgetreten war, machte sich nun einen Namen als beinharter, neoliberaler Einpeitscher und finanzpolitischer Zuchtmeister des deutschen Imperialismus gegenüber seinen untergeordneten europäischen „Partner:innen“. Schäuble gab einen Vorgeschmack darauf, was „deutsche Führung“, deren angeblicher Mangel andernorts gern beklagt wurde, realiter bedeutet.

Von 2017 bis 2021 fungierte er als scheinbar über allen Parteien stehender Bundestagspräsident und – weniger über allen Parteien stehend – als elder statesman der CDU und Quasi-Berater von Friedrich Merz.

Schäubles Bedeutung

Aus der Masse der deutschen Politiker:innen aller, von der herrschenden Klasse als staatstragend anerkannter Parteien – ob nun CDU/CSU, FDP, SPD oder Grünen – stach Schäuble jedoch heraus. Und zwar nicht, weil er besonders exzentrisch oder persönlich bedeutend gewesen wäre. Was das betrifft, unterscheidet er sich wohl wenig von anderen konservativen, aus einer christlichen CDU-Familie stammenden Funktionär:innen seiner Partei.

Was ihn von der für den bürgerlichen Politikbetrieb kennzeichnenden geistig-intellektuellen Mittelmäßigkeit, die charakteristisch für die große Masse der Abgeordneten und Funktionär:innen sämtlicher bürgerlicher Parteien (letztlich auch der AfD und der Linkspartei) ist, unterschied, war jedoch die Tatsache, dass er nicht einfach ein weiterer Parteigänger des Kapitals war, sondern einer seiner strategisch agierenden Vertreter:innen. Geistig-intellektuell war er Kohl, dem Parteivorsitzenden und Kanzler, dem er rund zwei Jahrzehnte diente, sicher überlegen und freilich konnte er sich auf diesem Gebiet mit Merkel messen.

Anders als einige Möchtegern-Geistesgrößen der CDU, die sich mit Kohl oder Merkel überwarfen und daraufhin vom aktiven politischen Geschehen zurückzogen, fungierte Schäuble unter beiden als wichtiger Minister oder Fraktionschef in Schlüsselfunktionen für die eigene Partei, aber auch den Kurs der herrschenden Klasse. Somit wurde er selbst zu einer prägenden Figur, die gewissermaßen zu einer Institution wurde.

Schon früh stand Schäuble für eine, wenn auch auf deutsche Verhältnisse angepasste neoliberale Wirtschafts- und eine rigide Finanzpolitik. Zweifellos reflektiert das auch seine Herkunft aus dem spießigen schwäbisch-protestantischen Bildungsbürger:innentum, seit jeher eine Bastion des deutschen Konservativismus. Vor allem aber ging es ihm dabei immer darum, die Wirtschaftsmacht Deutschlands voranzubringen. Dies schloss durchaus – siehe die Kosten der Wiedervereinigung – auch Schulden für das große Ganze des deutschen Imperialismus ein. Aber bei allen anderen – ob nur den Millionen griechischer Arbeiter:innen und Arbeitsloser, den Lohnabhängigen in Deutschland oder den zahlreichen Gegenreformen, die er als Minister mit vorantrieb – kannte Schäuble keine Rücksicht. Dort betätigte er sich vorzugsweise als „Spardiktator“. Er war zwar wie fast alle Vertreter:innen des deutschen Imperialismus nach 1945 „bekennender Europäer“, also einer von Deutschland und Frankreich geführten EU. An diese wollte er sogar zeitweilig mehr nationale Kompetenzen abgeben und auch die Wahl der Kommission demokratisieren, aber zugleich wollte er eine „strenge“, von Deutschland diktierte Finanz- und Haushaltspolitik garantiert haben.

Diesen inneren Widerspruch bürgerlicher Europapolitik konnte auch Schäuble nicht auflösen. Im Gegenteil, das von ihm maßgeblich vorangetriebene Austeritätsdiktat gegenüber Griechenland war zwar insofern erfolgreich, als es die griechische Regierung vorführte und domestizierte – es offenbarte zugleich aber auch die zentrifugale, die EU und die Euro-Zone selbst auseinander treibende Logik dieser Politik.

Mehr als Kohl und Merkel (und erst recht Schröder) war Schäuble schon immer Transatlantiker und sehr viel enger am Bündnis mit den USA orientiert. Nichtsdestotrotz musste eine erfolgreiche Stärkung der EU und der Euro-Zone unvermeidlich auch die gegensätzlichen Interessen zu den USA hervorbringen. Hier stand Schäuble nach dem Maidan 2014 und damals im Gegensatz zu Merkel und Steinmeier für jenen Flügel des deutschen Imperialismus, der die einzige Chance zur geostrategischen Stärkung der EU und Deutschlands in der Anbindung an die USA als deren Führungsmacht sieht. Daher war seine Unterstützung für Merz im Kampf um die Merkel-Nachfolge in der CDU keineswegs nur Ausdruck einer „Männerfreundschaft“, sondern beruhte auf einer wirklichen geostrategischen Überstimmung.

Die Bedeutung der Strategie

Politische Strategie ist im Klassenkampf für jede Klasse von herausragender Bedeutung. Schließlich ergibt sich ein langfristiges Handeln im Rahmen der immer schärfer ausgetragenen wirtschaftlichen und geostrategischen Konkurrenz auch für die herrschende Klasse nicht „spontan“ oder automatisch, sondern formt sich selbst erst über die Austragung ideologisch-strategischer Auseinandersetzungen und den Klassenkampf.

In den letzten 50 Jahren prägte Schäuble die Politik des deutschen Imperialismus entscheidend mit, er trug maßgeblich zu wichtigen Siegen der herrschenden Klasse – allen voran die kapitalistische Wiedervereinigung – bei. Er vermochte jedoch ebenso wenig wie Kohl, Schröder oder Merkel, die inneren Widersprüche zu überwinden, die den Weltmachtambitionen des deutschen Imperialismus bis heute Grenzen setzen. Doch es ist unvermeidlich, dass diese im Kontext des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt auch die bürgerlich-imperialistische Politik vor immer neue, immer schärfe Alternativen (z. B. verstärkte europäische Integration oder Europa der zwei Geschwindigkeiten, Aufrüstung der EU zu einer Militärmacht, die mit den Großmächten mithalten kann oder militärisch und politisch zurückfällt) stellen werden.

Das heißt, die politisch-strategischen Weichenstellungen, die die Ampel-Regierung mit dem Terminus der Zeitenwende halb anerkennt, zugleich aber auch halb zu dementieren versucht, werden immer mehr in den Vordergrund treten müssen. Die deutsche Bourgeoisie verfügt dabei zur Zeit über keine wirkliche, längerfristige strategische Ausrichtung. Vielmehr befindet sie sich einem inneren Widerstreit, was grundsätzlich die politischen Schwankungen und Instabilität fördert, auch wenn in den letzten Jahren davon fast ausschließlich die Rechte profitierte.

Und das wird auch so bleiben, wenn die Arbeiter:innenklasse, wenn die Linke selbst nicht die Frage nach grundlegenden programmatischen und strategischen Lösungen für die aktuelle Krise beantwortet. Mit Schäuble hat die deutsche Bourgeoisie einen Strategen verloren, der ihre Politik prägte. Das Problem der Arbeiter:innenklasse besteht darin, dass sie über keine revolutionären Strateg:innen verfügt, die ihre Politik prägen.




Entstehung, Programm, Praxis – zum Charakter der Linkspartei

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024

Die Gründung der Partei DIE LINKE 2007 geht auf die Fusion von „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und der „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) zurück. Sie bildete eine Antwort auf die Agenda 2010, auf die sozialdemokratische Dominanz und den Verrat der SPD an der Arbeiter:innenklasse, der auch im Verhältnis zwischen dieser und Lohnarbeiter:innen eine nachhaltige Zäsur bedeutete.

Das Positive daran war sicherlich eine Erschütterung des SPD-Monopols auch in den Gewerkschaften, die – anders als bei den Grünen in den 1980er Jahren – nicht zur Bildung einer „radikalen“ kleinbürgerlichen, später offen bürgerlichen Alternative zur SPD führte, sondern zur Entstehung einer zweiten reformistischen Partei.

Mit Gründung der Linkspartei ist eine zweite, im Grunde linkssozialdemokratische Partei entstanden. Andererseits war DIE LINKE selbst nie mehr als eine Partei zur Reform und Bändigung des Kapitalismus – und wollte auch nicht mehr sein.

Entstehung

Das verdeutlichte bereits ihre Entstehung. Die PDS war trotz ihres parlamentarischen Überlebens eine schrumpfende Partei, die nur in den neuen Bundesländern und Berlin über einen Massenanhang verfügte. Die Mitgliedschaft betrug 1990 noch 285.000 Mitglieder, 1991 172.579 und im Jahr 2006, also vor Fusion mit der WASG, 60.338.

Die ehemalige PDS-Mitgliedschaft wies bei der Fusion einige Besonderheiten in der Sozialstruktur auf, die davon herrühren, dass sie aus der Partei der ehemals herrschenden Bürokratie der DDR hervorging und die dort politisch absolut dominierende gewesen war.

Mehr als 60 Prozent der PDS-Mitglieder waren 2006 älter als 65 Jahre, also Rentner:innen. Die jüngeren sind es jedoch, die im Apparat der Partei, in den Stiftungen, Landtagen, Kommunen usw. als Funktionär:innen tätig sind. Zweitens lag der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Parteimitgliedschaft in der PDS mit 37 Prozent deutlich unter jenem der SPD (57 Prozent). Drittens verfügten 54 % der PDS-Mitglieder über einen Hochschulabschluss gegenüber 33 Prozent bei der SPD, während umgekehrt nur 30 % die Schule mit einem  Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss absolviert hatten – ein extrem geringer Prozentsatz für eine Massenpartei, die sich sozial auf das Proletariat stützt, 2006 auch extrem gering gegenüber 40 Prozent bei der SPD und 50 Prozent in der Gesamtbevölkerung.

Die PDS war zwar auch immer eine reformistische, bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Aber anders als die SPD stützte sich ihre organische Verankerung kaum auf die Gewerkschaften. Diese wurde vielmehr über den Einfluss in anderen Massenorganisationen wie der Volkssolidarität, Mieter:innenvereinigungen, lokalen Verbänden sowie eine historisch gewachsene Verbindung zu den akademisch gebildeten Schichten der ostdeutschen Lohnabhängigen gebildet. Dazu kam ein Massenanhang auch unter sozial schlechter gestellten Teilen der Arbeiter:innenklasse, insbesondere auch Arbeitslosen im Osten.

Das wirkliche neue politische Phänomen bei der Fusion stellte die WASG dar. Diese war ein Resultat der Massenproteste und Mobilisierungen gegen die Angriffe der rot-grünen Regierung – Agenda 2010 und Hartz-Gesetze – und der damit verbundenen Krise der SPD.

Auch beim Blick auf die WASG ist jede nachträgliche Idealisierung fehl am Platz. Schon der Name „Wahlalternative“ war instruktiv dafür, worin die Praxis der zukünftigen Partei bestehen sollte. Zweitens war die WASG von Beginn an von einem „traditionalistischen“ Flügel der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie, ihren akademischen Wasserträger:innen und ehemaligen SPD-Funktionär:innen um Lafontaine dominiert und geführt.

Für diese, die WASG von Beginn an prägende und dominierende Strömung war immer auch klar, wie eine zukünftige neue Partei der „sozialen Gerechtigkeit“ aussehen müsste. Sie sollte eine Wahlpartei sein, die im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften und deren Führungen sowie anderen, vom Reformismus dominierten sozialen Bewegungen (z. B. attac, Friedensbewegung) v. a. an der Wahlurne einen „Politikwechsel“ erzwingt, eine Partei, deren Ziel die Verteidigung oder Wiedererrichtung des „Sozialstaates“ war.

Die WASG litt jedoch an einem inneren Widerspruch, der die reformistische Führung umtrieb und beunruhigte und zugleich das klassenkämpferische Potenzial der neuen Partei zum Ausdruck brachte. Die WASG zog nämlich als Mitglieder nur wenige Bürokrat:innen an, sondern vor allem Arbeitslose und Aktive aus den sozialen Bewegungen. Sie war eine Partei der Hartz-IV-Bezieher:innen; von Arbeitslosen, die damals mit 345 (West) bzw. 331 (Ost) Euro plus Wohngeld über die Runden kommen mussten. In vielen Städten machten diese die Hälfte der Mitgliedschaft oder mehr aus.

Auch wenn diese Schicht der Mitgliedschaft viele der Illusionen in den „Sozialstaat“, den Parlamentarismus und die Möglichkeit einer „Reformpolitik“ teilte, so wollte sie eine aktive Partei bilden, die für die Belange der Arbeitslosen und anderer Unterdrückter und Ausgebeuteter kämpft.

Die WASG war zwar von Beginn an eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Doch die vorherrschende Bürokrat:innenclique verfügte noch nicht über einen starken, verlässlichen Apparat. Noch hatte sich in ihr kein stabiles Verhältnis zwischen Führung und Basis herausgebildet, das in langjährig etablierten reformistischen Parteien fast automatisch die Gefolgschaft der, meist passiven, Mitglieder sicherstellt. Die WASG hingegen war eine reformistische Partei mit einer außergewöhnlich aktiven Mitgliedschaft, was aus ihrer Verbindung zur Arbeitslosenbewegung herrührt.

Für die PDS und heute DIE LINKE oder die SPD war und ist es normal, dass die überwältigende Mehrheit der Mitglieder außer der Beitragszahlung nichts oder wenig tut, zu keinen Versammlungen erscheint oder, wo sie es tut, dort mehr oder weniger passiv agiert und die Vorgaben von oben abnickt. Das stärkt die Führung und das ist im Grunde auch so gewollt. Die aktiven Mitglieder reformistischer Parteien sind in der Regel die Funktionär:innen der Partei bzw. Funktionsträger:innen des bürgerlichen Staates oder korporatistischer Gremien wie Betriebsräten, von Sozialverbänden oder ähnlichem. Und genau diesen „Normalzustand“ einer bürgerlichen Partei – und eine solche, wenn auch besondere Form ist auch eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei – wollten die Spitzen von WASG und PDS mit der Fusion zur Linkspartei bewusst herbeiführen.

Das haben sie mit der Fusion mit der PDS auch geschafft. Von den 12.000 WASG-Mitgliedern machte nur etwas mehr als die Hälfte die Fusion mit. Viele widersetzten sich der bürokratischen Fusion und der Regierungspolitik der PDS, die vor allem in Berlin katastrophal war. Den Höhepunkt erlebte diese Rebellion der Bewegungsbasis in der Kandidatur der Berliner WASG gegen die PDS 2006, wo die PDS 9,2 % der Stimmen verlor und auf 13,4 % absackte. Die Berliner WASG konnte einen Achtungserfolg mit 3,8 % der Erststimmen und 2,9 % der Zweitstimmen (40.504) verbuchen.

Dieser Erfolg der WASG und die Formierung des Netzwerks Linke Opposition (NLO) brachten das Potential eines Bruchs und einer weiteren Radikalisierung zum Ausdruck, der jedoch auch daran scheiterte, dass ein Teil der Linken, die den Wahltritt in Berlin unterstützt hatten, vor dieser Perspektive zurückschreckte und, allen voran die SAV, in den Schoß der Linkspartei zurückkehrte. Neben linken Fusionsgegner:innern blieben v. a. die Arbeitslosen, die unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse, der neuen Partei fern.

Die Entstehung 2007 verdeutlicht auch das reale Verhältnis der Partei zu sozialen Bewegungen. Diese sind solange willkommen, als sie der Partei Mitglieder und Wähler:innen zutragen – nicht jedoch als eigenständiger Faktor, der der Spitze gefährlich werden und die Partei real zu einem Instrument von Klassenbewegungen von unten machen könnte.

Außerdem konnte DIE LINKE diese Verluste durch ein scheinbar stetes Wachstum und Wahlerfolge von 2007 – 2010 leicht kompensieren. Abgesehen von Bayern überwand sie in diesem Zeitraum bei allen westdeutschen Landtagswahlen die 5 %-Hürde. Auch im Osten fuhr DIE LINKE Rekordergebnisse ein, so 2009 in Thüringen (27,4 %) und Brandenburg (27,2 %). Bei den Bundestagswahlen 2009 brachte sie es auf 11,5 % (gegenüber 8,7 % 2005) und 76 Abgeordnete.

Bei ihrer Gründung 2007 hatte DIE LINKE insgesamt 71.711 Mitglieder in 16 Landesverbänden. In den Folgejahren stieg die Zahl auf 75.968 (2008) und 78.046 (2009). 2010 schrumpfte die Mitgliedschaft jedoch um fast 5.000 auf 73.658. Seither ist die Mitgliederzahl der Partei, wenn auch mit einzelnen Ausnahmen, stetig rückläufig. 2023 beträgt sie nur noch 55.000.

Programm und Strategie

Dem reformistischen Charakter der Partei entsprachen von Beginn an ihre programmatischen, strategischen Vorstellungen.

Das Programm der Partei DIE LINKE (Programmatische Eckpunkte, angenommen 24./25. März 2007) trug von Beginn an die Handschrift des keynesianischen, auf die Gewerkschaftsbürokratie und die Arbeiter:innenaristokratie orientierten Mehrheitsflügels der Partei. Als strategisches Ziel der Partei verortet es einen „Politikwechsel“, gestützt auf das Erringen einer „antineoliberalen gesellschaftlichen Hegemonie“.

DIE LINKE bekennt sich in den programmatischen Eckpunkten ihres Gründungsparteitages 2007 ausdrücklich zum freien Unternehmer:innentum. Dort heißt es: „Gewinnorientiertes unternehmerisches Handeln ist wichtig für Innovation und betriebswirtschaftliche Leistungsfähigkeit.“ (S. 3) Der Staat habe nur dafür zu sorgen, dass dieses im kreativen Überschwang nicht über die Stränge schlage und gegen das Gemeinwohl verstoße.

Dahinter steht die alte reformistische Mär, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit im Rahmen der kapitalistischen Verhältnisse durch die Intervention von Staat und Politik, wenn schon nicht überwunden, so erfolgreich abgemildert werden könne – was wiederum impliziert, dass „der Staat“ kein Instrument zur Sicherung zur Herrschaft der Bourgeoisie wäre, sondern über dem Klassengegensatz stünde.

Dabei ist den Strateg:innen der LINKEN durchaus klar, dass eine einfach Mehrheit im Parlament, ein Parteienbündnis von LINKEN und SPD (und evtl. den Grünen) nicht ausreicht, um die Sabotage jeder fortschrittlichen Maßnahme durch die herrschende Klasse, die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die monopolisierten bürgerlichen Medien usw. abzuwehren.

Marx, Lenin und alle anderen revolutionären Marxist:innen haben daraus und aus der Aufarbeitung der Klassenkämpfe und Revolutionen seit Beginn der bürgerlichen Epoche den Schluss gezogen, dass das Proletariat – will es sich befreien, will es dem kapitalistischen Ausbeutungssystem ein Ende setzen – den bürgerlichen Staat nicht einfach übernehmen, nicht auf eine „Regulierung“ des Kapitalmonopols an den Produktionsmitteln hoffen darf, sondern die herrschende Klasse enteignen, den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen und durch die Herrschaft der in Räten organisierten bewaffneten Arbeiter:innenklasse ersetzten muss.

DIE LINKE schlägt hier einen ganz anderen, wenn auch nicht gerade originellen Weg vor. Eine „Reformregierung“ müsse sich auf die „gesellschaftliche Hegemonie“ stützen – sprich darauf, dass auch die „weitsichtigen“ und „sozialen“ Teile der herrschenden Klasse für eine Politik des Klassenausgleichs gewonnen werden müssen.

Eine solche Politik bedeutet notwendigerweise eine Unterordnung der LINKEN unter einen Flügel der herrschenden Klasse, eine Garantie für das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Es bedeutet notwendig eine staatstragende Politik der „Opposition“.

Der Partei schwebt eine Marktwirtschaft ohne große Monopole und Konzerne vor, ein Sozialismus auf Basis von Warenproduktion und pluralen Eigentumsverhältnissen.

DIE LINKE erkennt zwar die Existenz von Klassen und auch des Klassenkampfes an – aber nicht dessen Zuspitzung. Der Kampf für Sozialismus oder eine andere Gesellschaft durch die Linkspartei ist für die Alltagspraxis allerdings weitgehend fiktiv, eine Worthülse. Das drückt sich auch im Sozialismusbegriff aus. Dieser wird nicht als bestimmte Produktionsweise, sondern vor allem als Wertegemeinschaft verstanden. So heißt es im Grundsatzprogramm von 2011:

„Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird.“

Dieser Anklang an Marx ist allerdings auch schon alles, was mit dessen Vorstellung von Sozialismus/Kommunismus und dem Weg dahin zu tun hat. Anstatt einer Revolution als Vorbedingung zur Entwicklung gen Kommunismus sieht der Programmentwurf einen „längere(n) emanzipatorische(n) Prozess (vor), in dem die Vorherrschaft des Kapitals durch demokratische, soziale und ökologische Kräfte überwunden wird und die Gesellschaft des demokratischen Sozialismus entsteht.“ Der Boden des bürgerlich-demokratischen Systems ist ihr als politisches Terrain heilig, die sozialistische Revolution lehnt sie ab.

Das bedeutet aber auch, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer Ziele und Version dieses Sozialismus durch Regierungsbeteiligungen herbeiführen muss. Wo die Linkspartei an der Regierung ist, gestaltet sie die bestehenden Verhältnisse mehr oder minder sozial mit. Dabei akzeptiert sie die Institutionen des bürgerlichen Systems als unüberschreitbaren Rahmen linker Politik, der allenfalls durch einzelne Reformen zu erweitern wäre.

Das entscheidende Problem dieser Konzeption liegt im Verständnis von Klassenkampf und Staat. Der bürgerliche Staat wird als Mittel zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen, als Terrain des Klassenkampfes, nicht als Staat des Kapitals, als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie.

Der Unterschied zum Marxismus besteht dabei nicht darin, dass der Kampf um Reformen und für demokratische Rechte abzulehnen wäre. Er besteht auch nicht darin, dass nicht auch Kämpfe auf staatlichem Terrain ausgetragen werden können und müssen, sondern in der Annahme, dass diese den Klassencharakter des bürgerlichen Staats aufheben könnten. Die Transformationsstrategie begreift ihn als ein ein zu reformierendes Instrument gesellschaftlicher Veränderung hin zum Sozialismus.

Das findet sich auch im noch heute gültigen Grundsatzprogramm von 2011, dem angeblich linken „Erfurter Programm“ wieder:

„DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“

Auch wenn hier nebulös von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gesprochen wird, so bleibt folgendes Kernproblem: Die Transformationsstrategie löst die Dialektik von Reform und Revolution so auf, dass die Revolution als eine in die Breite gezogene, bloß tiefer gehende, grundlegendere und langwierige Reform verstanden wird. Die Revolution bildet dann im Grunde nur eine Fortsetzung ewiger Reform- und Transformationsbemühungen.

Kommunistische Politik betrachtet die Frage gerade umgekehrt. Die Revolution stellt einen Bruch dar, ein qualitativ neues Moment, eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse. So wichtig einzelne Reformen auch sein mögen, so zeichnet sich eine revolutionäre Veränderung durch die Machteroberung einer bisher ausgebeuteten Arbeiter:innenklasse aus. Dabei ist aber nicht die Transformation des bürgerlichen Staates kennzeichnend, sondern vielmehr umgekehrt das Zerbrechen oder Zerschlagen dieses Apparates. Die Herrschaftsinstrumente des Kapitals werden ersetzt durch qualitativ neue vorübergehende Formen politischer Herrschaft, die Räteherrschaft der Arbeiter:innenklasse, also die Diktatur des Proletariats anstelle der des Kapitals.

Vor diesem Hintergrund wird auch die Begrenztheit einer in der Linkspartei gern geführten Debatte zwischen linkem und rechtem Flügel ersichtlich, zwischen kommunaler/parlamentarischer Regierungsarbeit und Bewegungslinker/Parteiapparat. Die gesamte Transformationsstrategie verspricht zwar eine Verbindung dieser, stößt aber unwillkürlich selbst auf das Problem, dass eine bürgerliche Regierung auch mit der Linkspartei eine solche bleibt. D. h., die Partei muss dann notwendigerweise an der Regierung gegen die Interesse der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten handeln und jene der herrschenden Klasse vertreten – oder sie müsste mit ihrem gesamten Konzept brechen. Die Transformationsstrategie, die in der realen Regierungspraxis ohnedies keine Rolle spielt, erfüllt im realen Leben im Grunde nur die Aufgabe einer Rechtfertigungsideologie für die bestehende Praxis.

Wohin das Konzept der Linkspartei führt, zeigt sich an den Regierungen selbst, wenn sie teilweise aktiv in Bewegungen ist. Auch dort nimmt es eine zwiespältige Haltung an, z. B. in der Wohnungspolitik Berlins. Dort wird DWE unterstützt, aber die rot-roten Regierungen hatten mehr Wohnungen privatisiert als jede andere. Wo DIE LINKE regiert, erfüllt sie auch alle repressiven Aufgaben des Staates – z. B. regelmäßige Abschiebungen von Geflüchteten auch in Berlin oder Thüringen etc. Über diese Leichen im Keller spricht die Linkspartei nicht gerne. Dabei bilden sie das notwendige Resultat ihrer Realpolitik.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft als staatstragend. So z. B. der Spitzenkandidat Bartsch, als er an einer Solidaritätskundgebung mit Israel während der Bombardierung von Gaza teilnahm.

Diese alles andere als sozialistischen Politiken sind keine Warzen im demokratisch-sozialistischen Gesicht der Linkspartei, sondern notwendige Folgen ihrer politischen Konzeption. Sie liegen in der Logik einer Partei, die den Kapitalismus nicht überwinden, die Herrschaft der Bourgeoisie nicht brechen, den bürgerlichen Staat nicht zerschlagen, sondern mit verwalten und transformieren will.

Programmatische Methode

Dies erfordert jedoch nicht nur eine Ablehnung, sondern auch eine Kritik der Methode des Programms. Allgemein fällt bei diesem auf, dass es zwar viele Forderungen inkludiert, aber vollkommen unklar ist, welchen Stellenwert sie für die Praxis und Strategie der Partei haben. Dieses Manko ist jedoch durchaus typisch für reformistische Organisationen. Schließlich will die Parteiführung nicht gern an den eigenen Versprechen gemessen werden. Sie will freie Hand haben und sich nicht mit Forderungen ihrer Mitglieder und Anhänger:innen konfrontiert sehen, welche die Erfüllung der Versprechen einfordern und Rechenschaft verlangen könnten.

Insgesamt offenbart der Entwurf ein Programmverständnis, das methodisch im Reformismus und Stalinismus wurzelt. Es ist vom Programmtyp her ein Minimal-Maximal-Programm, d. h. der Sozialismus als „historisches Endziel“ steht – trotz der scheinbaren Verbindung durch einen  längeren „transformatorischen Prozess“ – unverbunden neben (oft durchaus richtigen) Alltagsforderungen. Die Kämpfe um höhere Löhne, gegen Sozialabbau, Hartz IV, Krieg, Aufrüstung usw. sind aber nicht mit dem Ringen um den Sozialismus verwoben. Der Sozialismus ist als Losung im Grunde hier nichts anderes als das Amen in der Sonntagspredigt.

Anstelle eines Minimal-Maximal-Programms bräuchte es ein Programm von Übergangsforderungen. Ein solches müsste soziale, gewerkschaftliche und demokratische Kämpfe gegen Krise, Krieg und Rassismus mit der Perspektive der Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse verbinden. Diese käme allerdings nicht etwa dadurch zustande, dass Forderungen wie „Gegen Entlassungen! Für Verstaatlichung!“ usw. einfach mit der Losung „Für Sozialismus!“ ergänzt werden. Dazu wäre es nötig, dass die Selbstorganisation der Klasse gefördert wird, dass sie sich eigene Machtpositionen und -organe im Betrieb, im Stadtteil und letztlich in der Gesellschaft erkämpft. Solche Forderungen sind z. B. jene nach Arbeiter:innenkontrolle über Produktion, Verteilung, Verstaatlichung, Sicherheitsstandards usw. Es sind Forderungen nach Streikkomitees, die von der Basis direkt gewählt und ihr verantwortlich sind; zur Schaffung von Streikposten, Selbstverteidigungsorganen, Preiskontrollkomitees usw. bis hin zu Räten, Arbeiter:innenmilizen und einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Mobilisierungen und Kampforgane der Klasse stützt.

Diese – und nur diese – Übergangsmethodik würde programmatisch das repräsentieren, was Marx über den Sozialismus sagte: dass er die „wirkliche Bewegung“ ist und nicht etwa nur eine „Vision“ oder „Utopie“, wie es DIE LINKE gern formuliert. Diese Elemente fehlen in deren Programm völlig.

Dieser sicher nicht nur für diese Partei typische Mangel bedeutet konkret, dass die Arbeiter:innenklasse in ihrem Kampf über das, was sie als Führungen und Strukturen vorfindet, nie bewusst und gezielt hinauskommt. Es bedeutet, dass das Proletariat letztlich den reformistischen Parteien, Gewerkschaftsapparaten, Betriebsräten, dem Parlamentarismus oder, noch schlimmer, den spontan vorherrschenden bürgerlichen Ideologien dieser Gesellschaft ausgeliefert bleibt.

Das Fehlen von Übergangsforderungen bedeutet, dass die Klasse sich in ihrem Kampf bürgerlichen Strukturen und Ideen unterordnet. Gemäß der LINKEN soll also die gesellschaftliche Dynamik zur Überwindung des Kapitalismus in den Bahnen der alten Gesellschaft, also zu den Bedingungen der Bourgeoisie erfolgen. Daran ändern auch ein paar Volksentscheide oder ein bisschen mehr „Mitbestimmung“ nichts.

Methodisch wurzelt all das letztlich in einer undialektischen Sichtweise von Geschichte und Klassenkampf. Das Prinzip des Minimal-Maximal-Programmes entspricht der Vorstellung von gesonderten, nicht miteinander verbundenen Etappen der Revolution bzw. des historischen Prozesses allgemein. Wie im Stalinismus, der die Revolution auf die demokratische Phase beschränkte, geht es auch der LINKEN um begrenzte Reformen. Dass selbst diese objektiv oft eine Dynamik Richtung Sozialismus annehmen, selbst die Umsetzung grundlegender bürgerlich-demokratischer Aufgaben im imperialistischen Zeitalter nur durch das Proletariat und unter dessen Führung errungen und durch den Sturz der Bourgeoisie gesichert werden kann, bleibt der LINKEN ein Buch mit sieben Siegeln.

Das marxistische Programmverständnis hingegen geht vom aktuellen Stand des internationalen Klassenkampfes aus und unterbreitet Vorschläge, wie dieser – also Aktion, Bewusstsein und Organisierung – vorangebracht werden kann. Das impliziert auch, konkret zu benennen, welche Kampfformen, Konzepte, Organisationen und Führungen den Kampf behindern, schwächen oder falsch orientieren und wie die Klasse den Einfluss dieser Faktoren überwinden kann.

Das Programm der Linkspartei entspricht deren reformistischem Charakter. Es entspricht den politischen Zielen der zentralen Teile des Apparates und des Funktionärskörpers, der sie dominiert, entspricht der tagtäglichen realen parlamentarischen Praxis, ob nun als Regierung oder Opposition, und auch den gelegentlichen Ausflügen und Interventionen in Bewegungen und linke Gewerkschaftsmilieus, als deren Vertretung sich DIE LINKE betätigt. Das alles sollte niemanden überraschen, zumal die Spitzen der Linkspartei aus ihrem Reformismus auch nie ein Geheimnis gemacht haben.

Umso erstaunlicher und beschämender ist jedoch, dass große Teil der Linken in der Linkspartei jahrelang diese Tatsachen schönredeten. So verkannten sie die Annahme des Erfurter Programm 2011 als „Erfolg“ der Linken in der Partei, weil es den Regierungssozialist:innen angeblich „rote Haltelinien“ bei der Regierungsbeteiligung auferlegt hätte. Christine Buchholz (damals marx21, heute Sozialismus von unten) und Sahra Wagenknecht freuten sich damals noch gemeinsam über das Programm. Gegenüber der Jungen Welt erklärte Buchholz: „Die Art und Weise, wie die Debatte gelaufen ist, stimmt mich da sehr zuversichtlich: Wir haben am Wochenende eine konstruktive Diskussion gehabt, nach der es weder Sieger noch Besiegte gibt. Ich persönlich bedaure z. B., dass unsere ‚Haltelinien‘ geschwächt sind, andere kritisieren andere Punkte – aber die Richtung stimmt.“

Wer solche „Siege“ erringt, braucht keine Niederlagen. Auch die AKL gab sich damals „insgesamt zufrieden“. Am kritischsten äußerte sich noch die SAV. Sie bemängelte zwar „Aufweichungen“ des Programms, lobte aber dessen grundsätzlich richtige „antikapitalistische Stoßrichtung“.

Stagnation, Krisen und Niedergang

Nach den Wahlerfolgen der Anfangsjahre trat freilich Ernüchterung ein, die sich in stagnierenden und fallenden Mitgliederzahlen und Wahlniederlagen widerspiegelte, in Flügelkämpfen und seit 2022 in einer existenziellen Krise.

Dabei formierten sich auch die politischen Flügel teilweise neu. Lange Zeit bildeten die ostdeutschen Realos den sog. Hufeisenflügel mit den angeblichen linken Wagenknecht-Anhänger:innen. Demgegenüber formierte sich die sog. Bewegungslinke, die ihrerseits ein strategisches Bündnis mit den Regierungssozialist:innen gegen Wagenknecht einging – natürlich alles zum Wohl der Partei und ihres Überlebens. Doch dürfen bei diesem allgemeinen Niedergang wichtige Veränderungen der Parteizusammensetzung und Wähler:innenbasis nicht übersehen werden.

Rund 60 % ihrer Mitglieder sind erst nach 2011 eingetreten, die ehemaligen PDS-Genoss:innen sind längst zu einer kleinen Gruppierung geworden. 15 % der Mitglieder sind unter 35. Dies ist mehr als bei jeder anderen Bundestagspartei und stellt auch einen Zuwachs seit Parteigründung dar. Zugleich stellen die Altersgruppen der 50- – 64-Jährigen und der 65- – 79-Jährigen je 27 % der Mitglieder. Die Linkspartei ist vergleichsweise schwach unter der Altersgruppe von 36 – 49 vertreten.

Die Linkspartei hat wichtige Schichten und die Bindekraft zu Arbeitslosen, ärmeren Teilen der Klasse und auch des Kleinbürger:innentums im Osten an die AfD verloren. Dies ist zweifellos Resultat von Regierungspolitik und Anpassung, aber auch eines Rechtsrucks und einer Demoralisierung von Teilen der Lohnabhängigen selbst.

DIE LINKE hat massiv Mitglieder, Verankerung und Wähler:innen in der Fläche im Osten verloren. Ihre, wenn auch oft geschwächte Mitglieder- und Wähler:innenbasis kommt aus Großstädten sowie Städten und Ortschaften zwischen 5.000 und 20.000 Einwohner:innen. In Kleinstädten und auf dem Dorf ist sie wenig bis gar nicht vorhanden. Zugleich hat sie im Westen eine stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenklasse und der Jugend (und somit über längere Zeit auch bei jüngeren Lohnabhängigen) gewonnen. So entspricht der Anteil von „Arbeiter:innen“ unter den Berufstätigen 17 %, der von Angestellten 67 % (darunter 35 % im öffentlichen Dienst). Gleichzeitig dominiert noch immer ein überdurchschnittlich hoher Schulabschluss und Bildungsniveau unter den Mitgliedern, während der Anteil von Arbeitslosen und Auszubildenden geringer als in anderen Parteien ist. Das drückt sich auch in veränderten Größen der Landesverbände und einem stärkeren Gewicht im Westen aus.

Diese Verschiebungen verweisen auch darauf, dass die Linkspartei in den Gewerkschaften und Betrieben, also in der organisierten Arbeiter:innenklasse stärker geworden ist, und zwar deutlich mehr, als dies bei Wahlen zum Ausdruck kommt. Von den Mitgliedern her stützt sich die Partei vor allem auf die mittleren und bessergestellten urbanen Schichten der Lohnabhängigen. Sie verfügt also über eine für eine reformistische Partei eher typische stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenaristokratie als unter der Masse des Proletariats.

Die betrieblichen und unteren gewerkschaftlichen Funktionsträger:innen betreiben zwar nicht einfach dieselbe Politik wie der sozialdemokratisch dominierte Apparat, aber sie fordern diesen nicht heraus, zumal ihre reformistische Politik natürlich auch im Rahmen tarifvertraglicher und sozialpartnerschaftlicher Regulierung bleibt. Die Linkspartei betreibt z. B. eine aktive Politik, ihre jüngeren AnhängerInnen aus den Unis in den Gewerkschaftsapparat zu schicken (z. B. über Organizing- und Trainee-Programme) und so ihre Verankerung zu stärken. Auch die Konferenz zur gewerkschaftlichen Erneuerung, die DIE LINKE zuletzt im Mai 2023 in Bochum mit 1.550 Teilnehmer:innen organisierte, belegt einen gewachsene Verankerung im Gewerkschaftsapparat und unter betrieblichen Funktionär:innen.

Sie hat in den letzten Jahren an Verankerung in sozialen Bewegungen gewonnen, wenn auch nicht ohne Rückschläge und eher indirekt, also über die Zusammenarbeit, informelle Bündnisse mit Teilen der radikalen Linken (IL, Antifa) und Migrant:innenorganisationen (einige kurdische Vereine, Teile von Migrantifa). Der Beitritt von etlichen hundert Menschen aus dem „linksradikalen“ Milieu im November 2023 belegt diesen Trend.

Grundsätzlich kann aber gesagt werden, dass in den letzten 4 – 5 Jahren die Zuwächse im Westen die Verluste im Osten nicht mehr ausgleichen. Die Partei stagniert oder verliert fast überall. Das bildet letztlich auch den Boden für die innere Krise einer parlamentarisch fixierten reformistischen Partei, die um ihr Überleben als solche kämpft.

Dominanz der Funktionär:innenschicht

Über der sozialen Basis und den Mitgliedern und Wähler:innen erhebt sich ein Funktionär:innenapparat, der die Partei führt und prägt. Die Tätigkeit der aktiven Mitglieder ist wesentlich auf Vertretung in kommunalen, regionalen Strukturen, Ländern, Bund vertreten. DIE LINKE verfügt über 6.500 kommunale und sonstige Abgeordnete, über 200 Parlamentarier:innen und hauptberufliche Mitarbeiter:innen. Allein die Zahl der Kommunalpolitiker:innen, darunter hunderte Bürgermeister:innen, beläuft sich auf über 5.000 und diese sind vor allem im Osten tätig.

Der Stiftung der Partei beschäftigt natürlich auch vom Staat gesponsorte hauptamtliche Funktionär:innen – und diese bald in jedem Bundesland. Hinzu kommt noch ein Parteiapparat im Bund und allen Ländern. Wenn man all dies addiert, so kommt die LINKE auf mehrere hundert, wenn nicht tausend hauptamtliche Funktionär:innen, die Einkommen direkt aus dem Parteiapparat oder staatlichen Vertretungsorganen beziehen. Andere erhalten bloß Aufwandsentschädigungen. Hier sind noch gar nicht jene Abteilungen der Arbeiter:innenbürokratie in der LINKEN mitgezählt, die ihre Einkünfte aus anderen Quellen – dem Gewerkschaftsapparat oder als freigestellte Betriebsräte – beziehen.

All diese machen einen selbst für eine bürgerliche Partei untypisch hohen Anteil der Funktionär:innen an der aktiven Mitgliedschaft aus – von Funktionär:innen, die fest in die Tagesgeschäfte des bürgerlichen Systems eingebunden sind, und zwar nicht nur oder nicht einmal in erste Linie in Landesregierungen, sondern vor allem auf der kommunalen Ebene, wo die parteiübergreifende Zusammenarbeit noch viel pragmatischer geregelt wird, wo Klassenzusammenarbeit tägliches Brot darstellt und somit auch eine feste Basis für den Reformismus auf „höheren“ Ebenen abgibt. Diese Funktionär:innen machen insgesamt über 10 % der Mitgliedschaft aus. Ziehen wir in Betracht, dass die Mehrheit der Mitglieder passiv ist, am regelmäßigen Parteigeschehen nicht teilnimmt, so dominiert diese Schicht im Grunde alle größeren Strömungen der Partei. Der Unterschied besteht dann eher darin, mit welchen Milieus (Kommunalpolitik, gewerkschaftliches Organizing, soziale Bewegungen und NGO-artige Kampagnen) sie verbunden sind.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft staatstragend. So z. B. bei der Solidaritätskundgebung mit Israel im Bundestag.

Taktik

Angesichts der aktuellen Angriffe und des gesellschaftlichen Rechtsrucks stellt DIE LINKE weiter eine organisierte Kraft der Arbeiter:innenklasse dar, die zur gemeinsamen Aktion aufgefordert, der gegenüber auf verschiedenen Ebenen (bis hin zur kritischen Wahlunterstützung) die Taktik der Einheitsfront angewandt werden muss. Aber wir dürfen uns dabei keine Illusionen über den Charakter der Partei machen und müssen uns vergegenwärtigen, dass sie nicht nur eine aktive Minderheit der organisierten Arbeiter:innenklasse vertritt, sondern zugleich auch ein Hindernis für den Aufbau einer wirklichen Alternative, einer revolutionären Arbeiter:innenpartei darstellt.

Daher muss die Anwendung einer Einheitsfronttaktik Hand in Hand mit einer marxistischen Kritik und dem Kampf für eine revolutionäre Alternative zur Linkspartei einhergehen.

Natürlich ist es unter den gegebenen Bedingungen notwendig, z. B. in DWE oder den Gewerkschaften gemeinsam zu kämpfen. Es ist auch notwendig, den gemeinsamen Kampf gegen laufende und kommende Angriffe zu intensivieren, von der Linkspartei dies einzufordern.

Heute geht es aber nicht primär darum, gemeinsame Handlungsfelder auszuloten, sondern darum, was die Linkspartei ist und was Sozialist:innen oder Kommunist:innen daraus folgern sollen: Sie sollten sich keinen Illusionen in die Partei hingeben, sondern selbst eine linke Kritik entwickeln und am Aufbau einer revolutionären Alternative zur Linkspartei mitwirken, den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei vorantreiben!

Eine solche Partei wird sicherlich nicht einfach durch lineares Wachstum aus einer der bestehenden kommunistischen oder sozialistischen Kleingruppen oder deren bloßer Vereinigung entstehen können. Es braucht eine Kombination aus gemeinsamem Kampf und gemeinsamer Bewegung mit einer programmatischen Klärung. Das heißt aber auch Überwindung der reformistischen Begrenztheit und Schwächen der Linkspartei, nicht nur des Wagenknecht-Flügels und der Regierungssozialist:innen, sondern auch der sog. Transformationsstrategie.




Zur “Revolutionären Realpolitik” der Linkspartei: Revolution oder Transformation?

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024 ursprünglich veröffentlich im Dezember 2016

Die Berliner LINKE koaliert mit dem Segen der Parteispitze, Bodo Ramelow führt eine Rot-Rot-Grüne Koalition in Thüringen an.

In der Luxemburgstiftung, dem hauseigenen Think Tank, wollen sich deren Vordenker:innen mit der platten Rechtfertigung dieser Politik oder gar den unvermeidlichen Verrätereien durch Teilnahme an den Regierungen allein nicht zufriedengeben. An etlichen Stellen kritisieren sie sogar die allzu euphorischen Anhänger:innen rot-roter oder rot-rot-grüner Koalitionen offen, zu viele Zugeständnisse an die „Partner:innen“ zu machen.

Das ist nicht nur selbstgefälliger, entschuldigender Gestus linker Theoretiker:innen angesichts der unvermeidlichen Niederungen reformistischer Regierungspolitik. Es geht ihnen auch darum, der Partei eine höhere strategische Ausrichtung zu verleihen. Dazu prägen sie seit Jahren Begriffe wie „Transformationsstrategie“, „revolutionäre“ oder „radikale Realpolitik“, um die Programmatik der Linkspartei als eine moderne Version einer „sozialistischen Partei“ zu präsentieren.

Es ist immerhin ein Verdienst dieser politisch-ideologischen Richtung, dass sie in den Veröffentlichungen der Stiftung ihre Anschauungen darlegt; so z. B. in der Broschüre „Klasse verbinden“, herausgegeben im April 2016 vom US-amerikanischen Magazin Jacobin und der Luxemburg-Stiftung, oder im Aufsatz „Rückkehr der Hoffnung. Für eine offensive Betrachtungsweise“ von Michael Brie und Mario Candeias.

Revolutionäre „Realpolitik“

Seit Jahren wird neben Antonio Gramsci ausgerechnet Rosa Luxemburg als Patin für die „Transformationsstrategie“ der Linkspartei ins Feld geführt.

Sie selbst verwendet den Begriff „revolutionäre Realpolitik“ unter anderem in der Schrift „Karl Marx“, die anlässlich seines 20. Todestags verfasst wurde:

„Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik, und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst mit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.

Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, dass bürgerliche Politik vom Standpunkt der materiellen Tageserfolge real ist, während die sozialistische Politik es vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist.“ (Luxemburg, Werke, Band 1/2, S. 375)

Und weiter: „Die proletarische Realpolitik ist aber auch revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewusst nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sie zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.“ (Ebenda, S. 376)

Luxemburg betont zwar, dass Reform und Revolution nicht als ausschließende Momente einander entgegengestellt werden dürfen, hält aber zugleich fest, dass die Revolution das entscheidende Moment dieses Verhältnisses darstellt. Nur in Bezug auf diesen Zweck kann eine revolutionäre (Real-)Politik bestimmt werden.

Sie grenzt sich daher gegen zwei politische Fehler innerhalb der Arbeiter:innenbewegung ab: einerseits den utopischen Sozialismus, andererseits die bürgerliche Realpolitik. Der Revisionismus oder Reformismus des 20. und 21. Jahrhunderts stellen letztlich Spielarten dieser bürgerlichen Realpolitik dar.

Das Revolutionäre an Luxemburgs „Realpolitik“ besteht genau darin, dass sie den Kampf für Reformen als Moment des Kampfes um die revolutionäre Machtergreifung des Proletariats bestimmt.

„Real“politik ist revolutionäre Politik in dem Sinne und Maß, wie eine Partei ihre Taktik auf einem wissenschaftlichen Verständnis der inneren Widersprüche des Kapitalismus und deren Entwicklungslogik aufbaut. Daraus ergibt sich, dass die Revolution nicht „jederzeit“ als reiner Willensakt „gemacht“ werden kann, sondern eine tiefe Krise des Gesamtsystems voraussetzt, eine Zuspitzung der inneren Widersprüche, die zu ihrer Auflösung drängen.

Innere Widersprüche

Für Luxemburg (und generell für den Marxismus) zeigt die Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus zweitens, dass die Arbeiter:innenklasse in der bürgerlichen Gesellschaft noch keine neue, eigene Produktionsweise vorfindet, die sie mehr und mehr ausbauen könnte, sondern dass vielmehr die gegenteilige Entwicklung prägend ist. Der innere Widerspruch zwischen zunehmend gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung spitzt sich zu in der Konzentration des Reichtums in den Händen einer immer kleineren Schicht von Kapitalbesitzer:innen.

Genau deshalb greift Luxemburg auch Bernsteins Idee an, dass Genossenschaften, selbstverwaltete Betriebe und der zunehmende Kampf der Gewerkschaften für soziale Verbesserungen Schritt für Schritt zum Sozialismus führen könnten. Allenfalls stellen sie begrenzte Hilfsmittel zur Verbesserung der Lage der Klasse dar und können, im Fall der Gewerkschaften, Mittel zur Selbstorganisation und für die Entstehung von Klassenbewusstsein werden. Für sich genommen sprengt der gewerkschaftliche Kampf jedoch nicht den Rahmen des bestehenden Systems der Lohnarbeit (und erst recht nicht tun dies selbstverwaltete Betriebe).

Schließlich greift sie die darauf aufbauende, korrespondierende Vorstellung des Revisionismus an, dass der Parlamentarismus, die Sammlung einer numerischen Mehrheit bei Wahlen, Mittel zur erfolgreichen „Transformation“ der Gesellschaft sein könnten. Im Gegenteil: Luxemburg erblickt in der Integrationskraft des bürgerlichen Parlamentarismus auch eine Basis für das Vordringen der bürgerlichen „Realpolitik“ in der Arbeiter:innenbewegung, über „sozialistische“ Regierungen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr den „Sozialismus“ einführen zu können.

Für sie hingegen zielt „revolutionäre Realpolitik“ wesentlich auf den Übergang der politischen Macht von einer Klasse auf die andere, durch das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie, den Übergang der Macht an die Arbeiter:innenräte, auf die Diktatur des Proletariats.

Was die Luxemburg-Stiftung aus Luxemburg macht

Die Theoretiker:innen der Linkspartei rekurrieren zwar gern auf Luxemburgs Begrifflichkeit und präsentieren ihre Strategie so, als würde sie ihr Verständnis von Reform und Revolution aufgreifen.

Dieser Schein wird nicht nur durch Entstellungen ermöglicht, sondern auch durch einen anderen Ausgangspunkt der Theorie Bernsteins und der aktuellen Theoretiker:innen der Luxemburg-Stiftung untermauert. Bernstein behauptete, dass sich Marx und Engels in ihrer Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus geirrt hätten, dass diese nicht nur ihr Tempo überschätzt, sondern auch ihre grundlegende Entwicklungsrichtung verkannt hätten. Demgegenüber hält Luxemburg mit Marx und Engels an der grundlegenden Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems und der ihm innewohnenden Tendenz zum Zusammenbruch fest.

Zu Recht weist sie darauf hin, dass die Leugnung dieser Schlussfolgerungen aus der Marxschen Analyse des Kapitals einer Preisgabe des wissenschaftlichen Sozialismus gleichkommt. Die Überwindung des Kapitalismus stellt dann keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr dar, sondern kann nur moralisch begründet werden.

Anders als Bernstein geht die Luxemburg-Stiftung von einer Systemkrise des Kapitalismus aus.

„Die strukturelle Krise ist nicht gelöst und sie lässt sich im alten Rahmen auch nicht lösen. Die Versuche, den Finanzmarkt-Kapitalismus zu stabilisieren, verlängern nur die Agonie und zerreißen die Europäische Union und unsere Gesellschaften. Die Situation ist jedoch nicht durch Aufbruch gekennzeichnet, vielmehr gilt ein altes Zitat von Gramsci: ‚Das Alte stirbt, das neue kann nicht zur Welt kommen. Es ist die Zeit der Monster.’“ (Brie/Candeias)

Das obige Zitat zeigt aber auch eine Differenz zur marxistischen Analyse. Aus den Fugen geraten ist nicht der Kapitalismus als System, sondern nur der „Finanzmarktkapitalismus“. Bei aller verbalen Radikalität wird so ein theoretisches „Hintertürchen“ für eine reformistisch gewendete „revolutionäre Realpolitik“ geöffnet.

Hinzu kommt, dass der Kapitalismus zwar in einer historischen Krise stecken mag, eine sozialistische Revolution jedoch der Partei auch ausgeschlossen erscheint. Was bleibt also? Eine „Transformationsstrategie“. Was steckt aber hinter diesem unschuldigen Wort? Sind  nicht auch revolutionäre Marxist:innen dafür, erkennen sie nicht auch an, dass der revolutionäre Bruch mit dem Kapitalismus eine ganze Periode des Übergangs einschließt, dass nicht alle überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem nicht die tradierte grundlegende Arbeitsteilung der alten Gesellschaft mit einem Schlag „abgeschafft“ werden können? Standen nicht die frühe Kommunistische Internationale und der Trotzkismus auf dem Boden eines Programms von Übergangsforderungen, das den Kampf für Reformen in eine Strategie zur Machtergreifung einbettet?

Genau diese Ausrichtung ist bei der Luxemburg-Stiftung nicht gemeint.

Da die sozialistische Revolution, die revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse als unmöglich, fragwürdig erscheint, bezieht sich das Ziel der Transformation nicht auf das der „revolutionären Realpolitik“ einer Rosa-Luxemburg,  sondern darauf, dass die „Linke“ sich auf einen „Macht“wechsel auf dem Boden des Parlamentarismus vorbereiten müsse.

In einer offenen Krisensituation entsteht eine radikal neue Situation, in der sich die Eliten spalten, ein Richtungswechsel möglich wird – hin zu einem autoritären Festungskapitalismus wie aber auch hin zu einer solidarischen Umgestaltung. Die Linke muss sich jetzt vorbereiten, daran arbeiten, dass sie fähig wird, in eine solche Situation überzeugend einzugreifen. Darauf ist sie nicht eingestellt.“ (Brie/Candeias)

Wir möchten nicht widersprechen, dass die Linke auf diese Situation nicht vorbereitet ist. Entscheidend ist jedoch, dass die TheoretikerInnen der Linkspartei die eigentliche Alternative, die in einer solchen Phase aufgeworfen wird, verkennen – es geht um Revolution oder Konterrevolution, um Sozialismus oder Barbarei.

Für die Ideolog:nnen der Linkspartei stellt sie sich jedoch anders dar – „autoritärer Festungskapitalismus“ (womit Regierungen wie jene von Trump gemeint sind) oder „solidarische Umgestaltung“.

Hier wird die sozialistische Revolution aus der „revolutionären Realpolitik“ verabschiedet.

Regierung als Ziel

Daher ist es kein Wunder, dass die Strategie in eine Regierungsbeteiligung münden muss. Natürlich ist auch das Zeil einer jeden kommunistischen Strategie, eine revolutionäre Arbeiter:innenregierung zu schaffen. Diese ist aber letztlich nur als Mittel zum Übergang zur Herrschaft der Arbeiter:innenklasse oder, in ihrer eigentlichen Form, als „Diktatur des Proletariats“, möglich. Die „Realpolitik“ der Arbeiter:innenklasse kann nämlich nur vom Standpunkt ihrer zukünftigen Herrschaft und deren Vorbereitung richtig verstanden werden.

Diese grundlegende Schlussfolgerung Rosa Luxemburgs verschwindet bei der Luxemburg-Stiftung gänzlich, wird sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Zur strategischen Zielsetzung wird die „realistische“, „grundlegende“ Reform, die „solidarische Umgestaltung“.

Den Vordenker:innen der Linkspartei ist jedoch klar, dass eine solche „Umgestaltung“ keine Chance hat, wenn sie sich nur auf parlamentarische Mehrheiten stützt. Daher beurteilen sie das Regierungshandeln in Thüringen durchaus skeptisch, weil dieses keinem nennenswerten Druck von außen oder aus der Partei ausgesetzt ist. Sie halten eine Regierung auf Bundesebene erst recht für „verfrüht“ und erkennen, dass eine „Reformregierung“, die den Kurs der Großen Koalition fortsetzt, letztlich einer weiteren Stärkung der Rechten, v. a. der AfD, den Weg bereitet. Wie soll dieses Problem gelöst werden?

„Und schließlich muss die Linke an einer politischen Machtperspektive arbeiten. Dies darf nicht auf Wahlen verengt werden… Die punktuelle, aber konzentrierte Mobilisierung kann durchaus Erfolge zeitigen, sie ist aber immer prekär, wenn die Mobilisierung nicht mit einer nachhaltigen Verankerung und Organisierung verbunden wird. Eine politische Linke in den Vertretungsorganen ohne eine starke, eigenständige, kritische gesellschaftliche Linke, die in den Nachbarschaften, in Betrieben, in Initiativen und Bewegungen verankert ist, muss scheitern.“ (Brie/Candeias)

Die Linkspartei müsse einen „Spagat“ vollziehen zwischen „Bewegungspartei“ („Netzwerkpartei“) und „strategischer Partei“, die die verschiedenen Bewegungen, zusammenführt, Klassenfragen und Fragen der sozialen Unterdrückung vereint und ihnen eine Ausrichtung gibt.

Solcherart könne eine Umgestaltung vollzogen werden, die parlamentarische und institutionelle Mittel des Staates nutzt, den Kampf gewissermaßen „um den Staat und im Staat“ führt und gleichzeitig auch Gesamtstratege der heterogenen Widerstandsmilieus wäre.

Im Gegensatz zu naiven Bewegungslinken sehen sie ein, dass sich aus der Addition der spontanen Initiativen „von unten“, von Bewegungen, sozialen Kämpfen, Platzbesetzungen, Streiks, Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung oder „Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle“, wie manche Projekte übertrieben genannt werden, keine gemeinsame Strategie ergibt. Eine „verbindende“ Partei reicht dazu nicht aus, es braucht eine strategische.

Es erhebt sich aber die Frage, warum Parteien wie Syriza diesen Spagat nicht durchzuhalten vermochten. In der Broschüre „Klasse verbinden“ wird lediglich festgehalten, dass sie die „Bewegungswurzeln“ nicht beibehalten konnte, dass eine  solche Entwicklung auch dem Linksblock in Portugal drohe oder auch die Bilanz der „linken“ Stadtverwaltung in Barcelona diskussionswürdig sei.

Strategische Partei und Staat

Die Lösung liege in einer „strategischen Partei“, die Elemente der „verbindenden Partei“ (Partei der Bewegungen) aufnimmt. Das sei notwendig, damit sie im Zuge der gesellschaftlichen Transformation eine doppelte Aufgabe erfüllen könne. Als Partei müsse sie den Staatsapparat transformieren, in dessen Institutionen eindringen. Dies könne aber nur gelingen, wenn sich ihr Handeln nicht auf den Staatsapparat, Parlament und Regierung konzentriert, wenn sie sich zugleich auf Massenbewegungen außerhalb stützt bzw. von diesen unter Druck gesetzt werden kann.

„Als Linke in die Institutionen zu gehen, ob in Athen, Barcelona oder Madrid, führt in einen politischen Limbo, sofern es nicht gelingt, diese Institutionen zu öffnen für die Initiative der Bewegungen, Nachbarschaftsgruppen und Solidaritätsstrukturen aus der Zivilgesellschaft und damit eine weiterreichende Partizipation aller populären Klassen zu verankern.“ (Candeias, Gedanken zu Porcaros „strategischer Partei“, in: Klasse verbinden, S. 20)

Dazu bedürfe es „eigener ‚stabiler Institutionen‘ jenseits des Staates, die heute zur strategischen Partei und morgen zum sozialistischen Staat einen dialektischen Gegenpol bilden können.“ (Ebenda, S. 20)

Reformismus reloaded

Diese „Institutionen“ sind einerseits politische und gesellschaftliche Bewegungen, andererseits wären es aber auch „Institutionen“, die „schon heute eine ‚materielle Macht‘ ausbilden, die eine Art unabhängige soziale Infrastruktur und produktive Ressourcen einer solidarischen Ökonomie entwickelt, um den Attacken des transnationalen Machtblocks standzuhalten – der oft zitierte Plan C.“ (Ebenda, S. 20). Dieser Plan ist nur eine Reformulierung des alten Revisionismus und der Sozialstaatspläne der Nachkriegssozialdemokratie auf niedrigem Niveau.

Die aktuelle Periode engt den „Spielraum“ für solche Pläne ein, verurteilt sie rasch dazu, zum reinen Reparaturbetrieb zu werden. Daran ändert auch die Verklärung von  selbstverwalteten Betrieben, besetzten Häusern, Nachbarschaftshilfe oder Beteiligungshaushalten zu Institutionen gesellschaftlicher „Gegenmacht“ nichts.

Die Strateg:innen der Linkspartei kommen hier bei Bernstein an – allerdings in einer widersprüchlicheren Form. Der „alte“ Revisionismus oder auch die Politik der Sozialdemokratie der 60er und frühen 70er Jahre versuchten ihre Politik durch angebliche Wandlungen des Kapitalismus zu begründen, die den Boden für eine schrittweise Verbesserung der Lage der Arbeiter:innenklasse und eine immer größere Demokratisierung des Systems abgeben würden.

Die mit Entstellungen der Arbeiten von Luxemburg oder Gramsci getränkte strategische Ausrichtung der Luxemburg-Stiftung akzeptiert hingegen, dass wir in einer Krisenperiode leben. Sie will aber nichts davon wissen, dass diese eine Strategie der revolutionären Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse erfordert.

Syriza ist in Griechenland nicht daran gescheitert, dass der Spagat zwischen „Regierung“ und „Bewegung“ nicht funktionierte. Sie ist vielmehr an den inneren Widersprüchen einer reformistischen Realpolitik gescheitert – einerseits die Lage der Massen verbessern zu wollen und andererseits die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Verelendung, also den Kapitalismus selbst, nicht anzugreifen, sondern „mitzuverwalten“.

Klassencharakter des Staates

Die „Transformation“ des griechischen Staates ist nicht an einzelnen Fehlern von Syriza-Politiker:innen und am mangelnden Druck der Bewegung gescheitert. Sie wurde vielmehr unvermeidliches Opfer dieser Institutionen, weil der bürgerliche Staat selbst nicht zu einem Mittel der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft „transformiert“ werden kann. Genau das vertreten aber der „alte“ wie moderne Revisionismus, indem sie den Klassencharakter des bürgerlichen Staates negieren. Mit Luxemburg werden so auch gleich Marx‘ Lehren aus der Pariser Commune oder Lenins „Staat und Revolution“ entsorgt.

Die „revolutionäre Realpolitik“ entpuppt sich letztlich als bürgerliche, die bei allem Beschwören von „Bewegungen“ und „Gegenmacht“ letztlich auf einen friedlichen, graduellen, parlamentarischen Übergang zum Sozialismus, also auf den Sankt-Nimmerleinstag orientiert.

Für die Strateg:innen der Linkspartei ist der bestehende, wenn auch zu transformierende Staat, das entscheidende politische Instrument. Abgestützt werden müsse dieses durch Eroberung ideologischer Positionen und Vorherrschaft („Hegemonie“) in der Zivilgesellschaft und den Aufbau von „Gegenmacht“. Solcherart wäre eine schrittweise Transformation möglich. Dabei wird die Revolution zu einer Reihe von Reformen. Auch hier befindet sich die Linkspartei in Gesellschaft von Bernstein, nicht von Luxemburg:

„Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die kondensierte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlagen der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen: in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, Werke, Band 1, S. 428)




Gezeter um die Schuldenbremse: Auswirkungen und Hintergründe

Jürgen Roth, Infomail 1238, 12. Dezember 2023

Exemplarisch für die aktuelle Argumentation des Lagers der Hardliner nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil (siehe dazu: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/12/01/bundesverfassungsgericht-bremst-haushalt-aus-fiskalkrise-droht/) stellen sich die FDP-Spitzen gegen die Forderungen von SPD-Chefin Saskia Esken und des DGB, die Schuldenbremse auch für 2024 wegen noch nicht ausgestandener Energiekrise auszusetzen. „Wir werden jetzt gezwungen, mit weniger öffentlichen Subventionen die Wirtschaft zu modernisieren“, tönt ihr Finanzminister und Bundesvorsitzender Christian Lindner. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sekundiert, die Ausgabenwünsche der SPD begründeten sicher keine Notlage. Selbst im Lager der Wirtschaftsweisen bleibt jedoch die Schuldenbremse umstritten. Was sind die tieferen Hintergründe dieser Debatte? Welche Position sollte die Arbeiter:innenklasse beziehen?

Auswirkungen

60 Milliarden Euro werden bis 2027 dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) fehlen. Darunter fallen Projekte wie die Ansiedlung der Halbleiterchipfabriken von Intel bzw. TSCM in Magdeburg bzw. Dresden, aber auch die Wärmeversorgung der Kommunen und der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft und Zusagen für Anschubfinanzierungen auf dem Klimagipfel. Klima- und Wirtschaftsminister Habeck (Bündnis 90/Grüne) verweist auf den irreparablen Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen internationale Wettbewerbsfähigkeit. Unter Verweis auf die Subventionspolitik Großbritanniens und den Inflation Reduction Act der USA spitzt er zu, die Vorhaben im KTF beträfen den „wirtschaftspolitischen Kern“ der BRD.

Da auch der Arbeitsmarkt Schleifspuren der schwachen Konjunktur zeigt, wächst auch der Bedarf an Arbeitsförderungsmaßnahmen. Im Berliner Abgeordnetenhaus warnt die Linksfraktion vor einer Neuauflage der Spar- und Privatisierungsorgien, wie sie kurz nach der Jahrtausendwende allerdings von der eigenen Partei mitgetragen wurden.

Doch woher die Mittel nehmen? Über Kürzungen an anderer Stelle im Etat, wie es FDP und Union fordern? Über Sondervermögen, Steuererhöhungen, Aussetzung oder gänzliche Abschaffung der Schuldenbremse? Um diese Punkte kreist die ganze Diskussion unter den staatstragenden Parteien.

Bundeshaushalt 2024: Attacken und Rettungsversuche

In der Bundestagsaussprache nach der Regierungserklärung des Kanzlers am 28. November wurde eines deutlich: Ein weiteres Aussetzen der Schuldenbremse über 2023 hinaus wird es mit Christenunion und AfD nicht geben. Das BVerfG hatte die nachträgliche Umwidmung von Sondervermögen, eigentlich Schattenhaushalten, ebenso untersagt wie die Mitnahme von nicht verbrauchten Haushaltsposten in folgenden Jahren. Die roten, nicht wählbaren Roben in Karlsruhe hatten sich damit wieder einmal als Blockierer:innen wie seinerzeit beim Berliner Mietendeckel betätigt, als Prellbock für jede ernsthafte Reform, geschweige denn Umwälzung. Das sei allen Linken ins Stammbuch geschrieben, die sich die Transformation zum Sozialismus auf schiedlich-friedlichem parlamentarischem Weg vorstellen!

CDU-Chef Merz setzte sich vehement gegen eine Erhöhung des Bürgergelds ab 1. Januar 2024 und für weitere Einschnitte im größten Posten, dem Sozialetat, ein. Dies war auch ein Wink mit dem Zaunpfahl an seine Parteikollegen im Ministerpräsidentenamt Berlins, Sachsens, Sachsen-Anhalts und Schleswig-Holsteins, die bemängelten, die Schuldenregel verhindere notwendige Investitionen. Auf der gleichen Klaviatur wie Habeck spielten die Fraktionsvorsitzenden von Grünen und SPD, während Linksfraktionschef – mittlerweile Chef ohne Fraktion – Bartsch einen konsequenten Abschied von der Schuldenbremse, aber auch mehr Einnahmen durch „gerechte Steuerpolitik“ forderte.

CSU-Chef Söder steht Merz und der FDP vehement zur Seite in puncto Bürgergelderhöhung und setzt noch einen drauf: Neu ankommende Ukraineflüchtlinge sollen kein Bürgergeld mehr bekommen und andere Geflüchtete erst nach 5 Jahren statt bisher 18 Monaten Anspruch auf Sozialleistungen erhalten.

Eigentlich sollte am 1. Dezember der nächste Haushalt verabschiedet werden. Nun mussten aber erste Anpassungsmaßnahmen für 2023 her. Das betraf Kredite aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) zur Finanzierung der Energiepreisbremse, wodurch die Nettokreditaufnahme des Bundes von 45,6 auf 70,6 Milliarden Euro stieg. Folglich wurde dies mit einer „außergewöhnlichen Notlage“ wie schon in den vergangenen 3 Jahren geltend gemacht. Schwieriger als die Umbuchung dieser längst ausgegebenen Finanzen wird die Aufstellung eines verfassungskonformen Bundesetats für 2024. Laut Lindner fehlen 17 Milliarden Euro plus 13 aus dem KTF. Er kündigte bereits an, die Strom- und Gaspreisbremsen mit Jahreswechsel statt erst Ende März 2024 auslaufen zu lassen. Weitere Möglichkeiten böten zusätzliche Kürzungen öffentlicher sowie Stärkung privater Investitionen und die Erhöhung der Kreditvergabe der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Analyst:innen der Berenberg-Bank rechnen mit einem Loch von insgesamt 130 Milliarden Euro für die Jahre 2024 – 2027.

Mittelfristig bleiben der Bundesregierung 5 Möglichkeiten, um aus der Malaise ständiger Etatnachbesserungen zu entfliehen. Erstens könnte die Schuldenbremse abgeschafft oder reformiert werden, wofür es bei Grünen, SPD und Linkspartei eine Mehrheit gibt. Sonst wäre nächstes Jahr nur eine Neuverschuldung von 15 Milliarden Euro erlaubt. Da FDP und Union dagegen sind, scheitert aber die dafür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Grundgesetzänderung. Die 2. Möglichkeit bestände in Ausgabenkürzungen, die dritte in Steuererhöhungen, die vierte in neuen Sondervermögen, die zudem noch dieses Jahr und wohl ebenfalls mit Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet werden müssten. Wahrscheinlich ist, dass sich die Koalition auf moderate Ausgabenkürzungen festlegen wird, z. B. bei öffentlichen Investitionen (Bahnausbau). Fünftens bliebe die 5. Ausrufung eines Notstandes in Folge. Es ist zu erwarten, dass sich der Konflikt innerhalb wie außerhalb der Ampelparteien genau darum zuspitzen wird. Die Berenberg-Bank rechnet mit einem Deal mit der Opposition: Die Union werde wohl einer Reform der Schuldenregel zustimmen im Gegenzug für weitere Verschärfungen des Asylrechts.

Die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit der Schuldenbremse?

Vielen gilt sie als Garantin solider Ausgabenpolitik, darunter Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD)! Anderen wie der Deutschen Bank (!) erscheint sie bei der derzeitigen schwachen Konjunktur neben Steuererhöhungen als Wachstumsbremse. Die Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, die Argumente ihrer Kritiker:innen aufmerksam zu studieren. Sie wird dann feststellen, dass die allermeisten „Reformer:innen“ gar keine Einwände hegen, wenn es um die Ablehnung von Erhöhung oder auch nur Stabilisierung „konsumtiver“ Ausgaben z. B. für Soziales geht. Das eint sie mit den Befürworter:innen der Schuldenbremse mit dem Unterschied, dass Letztere gerne mit ihr als Totschlagargument gegen aufkeimende Kritik an Sozialkürzungen zu Felde ziehen.

Stellvertretend für die Riege der Reformer:innen verweist Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD, denn auch auf den Nutzen von Staatsausgaben für Investitionen in „die“ Wirtschaft. Ob der Bau von Schulen, Investitionen in Lehr- und Klinikpersonal dazugehören, darüber streitet sich selbst diese Riege, während neue Autobahnkilometer zweifellos gut angelegt seien. Kinder, Kranke und Klima müssen sich nämlich als Wachstumsressourcen erweisen, sprich neue Einnahmen generieren oder/und Kosten sparen. Gegner:innen wie die Freie Porschefahrer:innenpartei FDP bringen das Argument vor, nur Privatinvestitionen könnten Technologien entwickeln, welche sich dann auf dem Markt durchsetzten. Das Problem für den nationalen Gesamtkapitalisten Staat besteht allerdings darin, dass für die klugen, smarten Privatunternehmen in der gegenwärtigen Phase industriellen und technologischen globalen Wettbewerbs die Risiken viel zu groß sind. In dieser allen Kontrahent:innen heiligen Wirtschaftsordnung ist der Erfolg insbesondere kreditfinanzierter Investitionen ebenso stets unsicher wie der der Sparpolitik – staatlicher wie privater! Verschärft wird das Dilemma, für Marxist:innen aus dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate resultierend, noch dadurch, dass die Großmächte den mit Unsicherheiten en masse behafteten Job der kreditfinanzierten Schaffung von Wachstumsmärkten in Konkurrenz gegeneinander verfolgen. Also: Kein Vertrauen in linksbürgerliche Kritiker:innen der Schuldenbremse einschließlich linker Reformist:innen wie DIE LINKE!

Konsequente Kritiker:innen?

Am Rande sei angemerkt, dass die ganze Schuldendebatte die Tatsache der erstmals laut Creditreform seit 2019 in der BRD wieder zunehmenden Privatverschuldung ebenso ignoriert wie die wachsende Zahl sog. Zombiefirmen, deren Kreditneuaufnahmen nur dazu dienen, alte Schulden zu begleichen, ohne dass diese Umschuldungen sie wieder in die Gewinnzone führen können.

Es gereicht Joachim Rock, Abteilungsleiter Sozial- und Europapolitik beim Paritätischen Gesamtverband zur Ehre, dass er unbeirrt von der Engstirnigkeit der Verfechter:innen klassischer wie „alternativer“ keynesianischer Wirtschaftspolitik die Erhöhung des Bürgergelds verteidigt. Er weist nach, dass die Regelsätze für laufendes und kommendes Jahr noch auf Einkommens- und Verbrauchsstichproben aus dem Jahr 2018 stammen – vor der Inflation also! Er wehrt sich auch gegen die Wiedereinführung des 2010 gestrichenen Lohnabstandsgebotes, mit dem stets die Senkung von Sozialleistungen, nicht aber Lohnerhöhungen gerechtfertigt werden sollen. Zu Recht verteidigt er die Erhöhung des Mindestlohns und den Ausbau des Wohngeldes wie die Verdreifachung der Zahl von Anspruchsberechtigten darauf. Es ist völlig richtig, soziale Errungenschaften zu verteidigen, ohne auch nur der Logik der wirtschaftspolitischen Debatte im bürgerlichen Mainstream ein Jota an Zugeständnissen zu gewähren.

Das möchte auch Elsa Egerer tun, ihres Zeichens Dozentin an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz mit Schwerpunkten Plurale Ökonomik und nachhaltiger Gestaltung von Geld- und Finanzmärkten, was immer diese begriffliche Geschwulst auch bedeuten mag. Sie verortet die 2009 eingeführte Schuldenbremse, die die Neuverschuldung des Bundes auf 0,35 % des BIP begrenzt, als Folge der expansiven Fiskalpolitik, mittels der die damalige globale Finanzkrise bewältigt worden sei. Doch in der Folge verteidigt Frau Egerer zwar im Unterschied zu oben genannten Streithähnen und -hennen auch konsumtive Ausgaben, jedoch mit aus der Mottenkiste des Keynesianismus entlehnter Moderner Monetärtheorie:

„… beruht die Schuldenbremse auf einer einseitigen und fehlgeleiteten ökonomischen Lehre […] der ökonomische Sachzwang, der die Schuldenbremse vermeintlich erfordert, existiert nicht. […] Haushaltsregeln sind keine ökonomischen Faktizitäten, sondern das Ergebnis des politischen Willens. […] Geld hingegen muss entgegen der dominanten Erzählung nicht erwirtschaftet werden, sondern entsteht, wenn Kredite vergeben werden. Schuld ist in unserem System die Voraussetzung für Geld.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 25./26. November 2023, S. 3)

Die „Theorie“ dieser ökonomischen Märchentante würde schon beim Monopolyspiel scheitern, zur Erklärung der kapitalistischen Produktionsweise liefert sie erst recht nur Verdunklung.

Lasse Thiele (ND, 1. Dezember 2023, S. 8) ist beizupflichten, wenn er schreibt: „Natürlich muss die Schuldenbremse weg. […] Doch nicht nur die bisweilen sozialpartnerschaftliche Rhetorik der neuen konservativen Kritiker*innen gibt Anlass zum Misstrauen. Auch Mitte-links-Kritik an der Schuldenbremse wirkt wenig emanzipiert von Kapitalinteressen, hängt meist altem keynesianischen Denken an und vertritt oft platten Standortnationalismus.“ Er plädiert für größere politische Tabubrüche: Vermögens- und Erbschaftssteuern, Abbau fossiler Investitionen.

Auch seinen weiteren Ausführungen ist vollständig beizupflichten: „Das Geld zur Beseitigung sozialer und ökologischer Verwerfungen von den Profiteur*innen einzutreiben, ist besser, als es verzinst von ihnen zu leihen. Anders als der Diskurs derzeit suggeriert, würden sich Verteilungsfragen selbst mit einer aufgehobenen Schuldenbremse nicht erübrigen. Nicht nur, wie Spielräume geschaffen werden – durch Schulden, Steuererhöhungen oder Subventionsabbau –, sondern auch, wofür sie genutzt werden und wem sie zugutekommen, bleibt eine Frage politischer Kämpfe. […] Es bleibt richtig, sich als Linke breiten Bündnissen für die Aufhebung der Schuldenbremse anzuschließen. Doch braucht es darin auch eine eigenständige Position. Die sollte über standortnationalistische Sorge um ,unsere Wirtschaft’ hinausgehen, emanzipatorische Maßstäbe für Investitionen anlegen und nicht in der grün-kapitalistischen Wachstumslogik aufgehen, laut der man sich aus der Klimakrise bequem herausinvestieren könnte.“

Das objektive Fazit seiner Gedanken mag er jedoch nicht ziehen: Dieser Wunschzettel bedarf zu seiner dringend notwendigen Realisierung nicht des Weihnachtsmannes, sondern des gewaltsamen Sturzes und entschädigungsloser Enteignung der herrschenden Klasse und ebenso des Aufbaues einer sozialistischen Planwirtschaft!

Tanz ums goldene Kalb

Allem Gesagten fehlt ein zentraler Aspekt, der erst das Gezänk um die Schuldenbremse verständlich macht. Es ist der global entbrannte Kampf nicht nur um Wachstumspfade, sondern um die Rettung des Kapitalstocks und liquiden Vermögens und Einkommens zu seinen historischen Werten. Das übersehen auch viele sich auf den Marxismus berufende Zweifler:innen an der Gültigkeit des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und dessen immanenter Krisentendenz. Sie argumentieren, dass durch technologische Verbilligung des konstanten Kapitals die organische Zusammensetzung sinken und dadurch beschleunigte Akkumulation wieder einsetzen können. Sie ignorieren, dass dies ohne schlagartige, verheerende Entwertung des Anlagevermögens nicht zu haben sein wird. Und genau darum geht es eben auch bei der Schuldenbremse insbesondere in Zeiten, wo selbst die OECD mit alles anderem als einer „weichen Landung“ nach dem Pandemieschock und inmitten hartnäckiger Kerninflation, wachsender Verschuldung und Rezession im Euroraum und darüber hinaus rechnet.

Nachdem sich der kreditstimulierte Kasinokapitalismus zusehends seit 2008/2009 erledigt hat, droht ein Wettlauf darum, wer bzw. welche Macht zuerst sein/ihr fiktives Kapitals als realen Wert retten kann – Flucht in reale Sach- und Vermögenswerte, eben der Tanz um die Vergoldung des eigenen Kälberstalls.

Wenn die Börse in den USA bei der Quartalsmeldung über gestiegene Arbeitslosenzahlen zu einem Kursfeuerwerk abhebt, steckt dahinter die Spekulation, dass eine Rezession zu sinkenden Zinssätzen führen möge, die den Kurs der Geldanleihen in die Höhe treibt. Die Gläubiger:innen blieben dann besser im Geschäft auf Kosten des Bankrottes ihrer Konkurrent:innen und überdies kreditwürdiger und damit wachstumsträchtiger. Es geht also um ein Rattenrennen zur Verhinderung der Entwertung des Anlagevermögens, wenn sich zusehends Geld gebieterisch als Wertmaßstab und weniger als Zirkulationsmittel zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs zur Geltung bringt: Hic Rhodus hic salta! (Hier gilt es, hier zeige, was du kannst!). Die Schuldenbremse entbehrt also durchaus nicht der Logik für die Superreichen. Die Arbeiter:inneklasse muss nicht nur kapitalistischem Wachstum eine Absage erteilen, sondern ans Eingemachte heran: Konfiskation des Produktiv- und Geldvermögens mit Entschädigung nur für Kleinanleger:innen und -sparer:innen.

Brecht die Macht der Banken und Konzerne!

  • Weg mit der Schuldenbremse!

  • Nehmt DIE LINKE und linke SPD, vor alle aber: nehmt die DGB-Gewerkschaften beim Wort: Fordert die Einleitung von Kampfmaßnahmen bis hin zu politischen Massenstreiks und nötigenfalls Generalstreik gegen Sozialklau, Klimawandel, Rezession, Massenverarmung, Verfall der Infrastruktur (Wohnen, Gesundheitswesen, Bildung, öffentlicher Transport, Klimaschutz)!

  • Keine Rücksicht auf Koalitionsräson und konzertierte Aktion! Bruch mit den offen bürgerlichen Parteien und der „Partner:innenschaft“ mit Kapital und Kabinett!

  • Einberufung einer bundesweiten Aktionskonferenz , um einen Mobilisierungs- und Kampfplan gegen die Kürzungen zu diskutieren und zu beschließen!

  • Entschädigungslose Enteignung des Großkapitals, der Banken, Fondsgesellschaften und Großanleger:innen!

  • Entschädigung für Kleinsparer:innen und -anleger:innen!

  • Für einen Sanierungsplan gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle und zu Tariflöhnen!

Ein Kampf gegen die laufenden und drohenden Angriffe darf und soll nicht nur auf Deutschland beschränkte bleiben, sondern muss sich auch gegen die gesamte Austeritätspolitik in der EU wenden. Dazu braucht es europaweit koordinierte Aktionen und politische Massenstreiks – Kämpfe, die ihrerseits die Machtfrage aufwerfen werden, für dies Kampforgane in den Betrieben und Stadtteilen braucht und der Perspektive der Arbeiter:innenregierungen verbunden werden müssen -für ein sozialistisches Rätedeutschland in einer Föderation der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!