Dannenröder Wald: Solidarität mit der Besetzung – Autoindustrie enteignen!

ArbeiterInnenmacht-Flugblatt, Infomail 1128, 28. November 2020

Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode! Was ist die A49 anderes als ein Geschenk an VW, Daimler und Co, diesen heiligen Kühen des deutschen Kapitalismus?

Die Klimakrise verlangt nach einer schnellen Verkehrswende, die Ressourcenvernutzung und Ineffizienz des motorisierten Individual- wie Straßengüterverkehrs ebenso. Und doch hält die Grünen, die CDU, Scheuer und DEGES (Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH) bisher nichts davon ab, Räumpanzer und Raupenbagger durch den Danni rollen zu lassen. Verbissen und rücksichtslos halten Bundes- und Landesregierungen am Ausbau fest.

Kapitalinteressen

Rechtlich abgesegnet oder nicht – vom gesamtgesellschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, macht der Ausbau der A49 wie der jeder anderen Asphaltpiste überhaupt keinen Sinn. Bedient werden die Interessen von Autoindustrie, der Bauwirtschaft und generell der herrschenden Kapitalfraktionen – sichert die A49 doch aktuelle und zukünftige Profite.

So wird der Danni jetzt ohne Rücksicht auf Klimawandel und Corona-Gefahr gerodet. Der Wald und die BesetzerInnen werden von Sonderheiten der Polizei belagert, AktivistInnen bespitzelt und festgenommen. In Gefangenensammelstellen gibt es Fälle von Misshandlung. Schwere Verletzungen oder Schlimmeres werden in Kauf genommen.

Kein Opfer ist zu teuer. Auf dem heiligen Betonaltar des deutschen Automobilkapitals bersten krachend die Knochen derer, die die Polizei aus des Waldes Himmel stürzen lässt.

„Verkehrswende“ von Landes- und Bundesregierung

Alle, die vorhaben, 2021 die Grünen in die Regierung zu wählen – schaut auf Dannenrod! Wer glaubt, mit der Partei sei eine Verkehrswende zugunsten der Wälder und des Klimas zu haben, wird hier eines Besseren belehrt. In der Landesregierung halten die Grünen stoisch an der A49 fest. Im Bundestag verweist man auf die Regierung … und ach! Grundsätzlich seien die Grünen ja gegen die Autobahn! Ducken und heucheln! Wer will schon die CDU ein Jahr vor der Bundestagswahl ärgern? Immer dann, wenn‘s konkret um die (vegane) Wurst – oder besser um den Wald – geht, erweisen sich die Grünen als verlässliche PartnerInnen deutscher Auto- und Energiekonzerne. Der Abholzung des Hambacher Forstes wurde ja auch schon mal zugestimmt.

Derweil will Bundesverkehrs(auto)minister Andreas Scheuer (CSU) die Lage erkannt haben und hat vor einigen Monaten – natürlich ohne die A49 in Frage zu stellen – das „Bündnis für unsere Bahn“ mit der Dachstrategie „Starke Schiene“ ins Leben gerufen. In diesem Schienenpakt befinden sich neben anderen das Verkehrsministerium, Schienenindustrien, Deutsche Bahn und die Gewerkschaft EVG. Was haben wir davon zu erwarten? Sage und schreibe 25 % soll der Schienengüterverkehr am gesamten Warentransport irgendwann (wann ist unklar) mal ausmachen. Heute sind es etwa 18 %. Die Milliarden, die angeblich für einen nie dagewesenen Rückenwind für die Eisenbahn sorgen, sind nicht mehr als eine leichte Brise, die den vorhandenen Investitionsstau im Schienennetz kaum auflösen kann.

Wenn in der jetzigen Wirtschaftskrise überhaupt jemand dick staatlichen Rückenwind verspürt, dann ist es der Kernsektor des deutschen Kapitals. Anstatt die Schiene durchgehend zu elektrifizieren, wird darüber sinniert, Autobahnen wie bei Darmstadt unter Oberleitung zu setzen, damit die Vormachtstellung des Lkw einen grünen Anstich bekommt. Das Konjunkturpaket der Regierung enthält zwar keine Kaufprämie für reine Verbrennerautos, dafür dann umso mehr für die ähnlich große ökologische Blödsinnigkeit E-Auto. Soviel zur „Verkehrswende“ der Regierung und Konzerne.

Und die echte Verkehrswende?

Zeit für freundlichere Töne, für eine solidarisch gemeinte Kritik. Wir teilen den Ruf nach einer echten Verkehrswende, also der Verlagerung des Verkehrs zu ressourcen- und emissionsärmeren Fortbewegungsarten. Die BesetzerInnen um „Wald statt Asphalt“ gehen noch weiter und nehmen den Kapitalismus ins Visier, fordern einen radikalen Systemwandel und Klimagerechtigkeit. Das teilen wir auch. Aber: Das fehlende Salz in der Suppe ist unserer Meinung nach, dass ein radikaler Systemwandel konkrete Forderungen und einen konkreten Weg weit über Waldbesetzungen hinaus braucht. Wie kann der aussehen?

Derzeit müsste der Kampf mit dem gegen die Wirtschaftskrise politisch verbunden werden. Massive Entlassungen finden statt oder werden kommen. Die ökologische wird durch die Wirtschaftskrise und die brutaler werdende Konkurrenz weiter verschärft werden. Es braucht die Verbindung der Kämpfe und den Aufbau eines Antikrisenbündnisses, das für Massenstreiks bis hin zum Generalstreik gegen alle Entlassungen, Lohnkürzungen – ja überhaupt das Abwälzen der Krise auf die breite Bevölkerung – eintritt und zugleich ein Notprogramm gegen die Klimakrise einfordert.

Klassenkampf

Damit ein Generalstreik gegen die Klimakatastrophe nicht nur angekündigt, sondern auch real werden kann, muss die ArbeiterInnenklasse zur zentralen Kraft der Bewegung werden. Dies bedeutet jedoch keineswegs nur, ja nicht einmal in erster Linie, eine Veränderung der Aktionsform – es bedeutet vor allem eine Änderung des eigentlichen Ziels: die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer globalen, demokratischen Planwirtschaft. Nur so kann ein „System Change “ Wirklichkeit werden.

Von einem Generalstreik und Massenstreiks sind wir derzeit noch weit, sehr weit entfernt. Die ArbeiterInnenklasse tritt in der Umweltbewegung bisher nicht als zentrale Akteurin in Erscheinung. Das liegt aber nicht daran, dass ArbeiterInnen chronisch passiv wären, dass sie ihre Jobs in der Autoindustrie so lieben oder ihnen das Thema egal ist, zumal es im Nahverkehr eine große Zahl von Beschäftigten gibt, die sich sehr für eine Verkehrswende starkmachen.

Die Passivität breiter Teile der ArbeiterInnenklasse gegenüber der Umweltbewegung rührt viel eher daher, dass die SozialpartnerInnenschaft der DGB-Gewerkschaften sie ruhigstellt, andererseits aber auch daher, dass die Umweltbewegung die Lohnabhängigen bisher nicht ansprechen konnte. Um sie zu erreichen, braucht es ein Programm, das klarmacht, dass nicht sie für die Verkehrswende zahlen soll – sei es durch Jobverlust oder CO2-Steuer –, sondern die Konzerne und BesitzerInnen großer Vermögen zur Kasse gebeten werden.

Letzten Endes heißt die Verkehrswende für uns viel mehr als „weg von der Straße hin zur Schiene, zu Bussen, zu Füßen und Fahrrädern“. Sie bedeutet vor allem auch so wenig wie möglich, so viel wie nötig Verkehr. Das heißt, diesen so zu reorganisieren, dass dort, wo Menschen leben, weder Lkw noch Güterzüge durch ihre Schlafzimmer brettern. Das heißt letztlich, Stadt und Land umzukrempeln, dass Verkehr  nicht mehr an den Bedürfnissen des Kapitals, sondern denen  der Menschheit ausgerichtet werden soll.

Konkret geht‘s um:

  • Kein A49-Ausbau, sofortiger Stopp aller Autobahnprojekte – beteiligt Euch an Demonstrationen um Dannenrod, unterstützt die BesetzerInnen und das Camp! Freiheit für alle Inhaftierten und politischen Gefangenen des Dannis und der Autobahnblockaden!
  • Stattdessen: massiver Ausbau der Schienenwege im Kernnetz wie auch in der Fläche, durchgehende Elektrifizierung, ausschließliche Speisung aus regenerativen Energien!
  • Massive Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene! Ausbau von Gleisanschlüssen zu Fabriken! Beförderungszwang zum Transport auf der Schiene für Unternehmen ab einer bestimmten Produktionsgröße! Für einen kostenlosen Nah- und Berufsverkehr! Mit der Main-Weser-Bahn gibt es eine Schienentrasse, die sich hinsichtlich Kapazität und Einzugsgebiet ausbauen ließe und Güter- und Personenverkehr der Region aufnehmen könnte!
  • Für den Aufbau eines Antikrisenbündnisses, das den Kampf gegen die Klimakrise mit der Abwehrschlacht gegen soziale Angriffe, Entlassungen und Kurzarbeit verbindet! Ein Anfang dafür kann die „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG)“ sein – unterstützt diese!
  • Keine einzige Entlassung in der Transportindustrie wegen Verkehrswende oder Wirtschaftskrise! Verteilung der Arbeit auf alle! Für die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Schnellstmögliche Umstrukturierung der gesamten Industrie, demokratisch geplant und kontrolliert durch die ArbeiterInnenklasse!
  • Bezahlung der Verkehrswende durch eine massive Steuer auf Profite und große Privatvermögen! Die KapitalistInnen haben die Krise zu verantworten, also müssen sie dafür zahlen!
  • Enteignung des gesamten Verkehrssektors unter ArbeiterInnenkontrolle, erkämpft durch Massenstreiks und Fabrikbesetzungen!
  • Weder B3 noch A49 noch Güterzugtrasse vor der Tür! Restrukturierung, Aufhebung der Kluft zwischen Stadt und Land, so dass Lebensräume und Verkehrswege weitgehend voneinander getrennt sind!
  • Entwicklung eines integralen Notfallplanes fürs Klima durch die ArbeiterInnenklasse, der die Produktion an den Bedürfnissen der breiten Menschheit ausrichtet statt an Profitinteressen – nur so kann so wenig wie möglich Verkehr produziert werden!

Die Besetzung braucht solidarische Unterstützung. Der Aktionstag von Ende Gelände vom 22.11. (EG goes Danni) deutete an: Nur massenhaft kann die Rodung wirklich gestoppt werden! Ohne eine Mobilisierung, die Tausende auf die Straße, zur Besetzung und zu den Blockaden bringt, die in den umliegenden Orten und in den Betrieben verankert ist, ziehen Polizei und Landesregierung den Bau rücksichtslos durch. Doch nicht nur in Dannenrod, auch in Wiesbaden, in Berlin und anderen Großstädten bräuchte es Großdemos!

Es ist klar, dass wir mit bloßen Appellen an die Autoindustrie, an Scheuers Ministerium, ja generell an den bürgerlichen Staat, an die Grünen, die SPD-Führung und an IG-Metall-Betriebsräte bei VW und Co. das Klima nicht retten werden. Die BesetzerInnen im Baum haben das erkannt. Es ist auch klar, dass die Rettung des „Dannis“ alleine noch lange keine Verkehrswende bedeutet. Also lasst uns  weitergehen: vom abstrakten „System Change“ hin zu konkretem Antikapitalismus!




Solidarität mit dem Generalstreik der indischen Gewerkschaften!

Martin Suchanek, Infomail 1127, 26. November 2020

Seit dem Morgen des 26. November erfasst ein weiterer Generalstreik Indien. Die Gewerkschaften rechnen mit bis zu 250 Millionen TeilnehmerInnen. Begleitet wird die Arbeitsniederlegung außerdem von Massenaktionen von Bauern/Bäuerinnen und LandarbeiterInnen gegen neue drakonische Gesetze, die Farm Laws, die die Arbeit auf dem Land (de)regulieren sollen.

Zur Vorbereitung und Durchführung des Generalstreik haben sich zahlreiche landesweite Verbände und regionale Organisationen in der  Joint Platform of Central Trade Unions (CTUs; Vereinigte Plattform der Gewerkschaftszentralen) zusammengeschlossen.

Diese besteht aus folgenden Verbänden Indian National Trade Union Congress (INTUC), All India Trade Union Congress (AITUC), Hind Mazdoor Sabha (HMS), Centre of Indian Trade Unions (CITU), All India United Trade Union Centre (AIUTUC), Trade Union Coordination Centre (TUCC), Self-Employed Women’s Association (SEWA), All India Central Council of Trade Unions (AICCTU), Labour Progressive Federation (LPF) und United Trade Union Congress (UTUC). Politisch repräsentieren sie das volle Spektrum von der bürgerlich-nationalistischen Kongresspartei nahestehenden Verbänden über die den kommunistischen Parteien verbundenen bis hin zu unabhängigen, teilweise radikaleren klassenkämpferischen Organisationen. Wenig überraschend fehlt mit Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS), der „gewerkschaftliche“ Arm der regierenden, hinduchauvinistischen Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), die sich faktisch wieder einmal als gelber Verband von StreikbrecherInnen betätigt.

Historischer Angriff

Der Generalstreik am 26. November richtete sich – wie schon jene der letzten Jahre, die mehr als 100 Millionen Lohnabhängige mobilisieren konnten – gegen einen fundamentalen Angriff durch die KapitalistInnenklasse und die Modi-Regierung. Die Regierung brachte seit 2019 vier neue Arbeitsgesetze in die Look Sabha (Parlament) ein, die 44 bisher gültige ersetzen sollen. Im Grunde sollen damit die Überreste der Beziehungen zwischen Kapital und Lohnarbeit, wie sie nach der Unabhängigkeit Indiens etabliert wurden, endgültig beiseitegeschoben werden. Dieser Prozess begann zwar mit der neoliberalen Wende der Kongress-Partei und der Öffnung der indischen Wirtschaft nach 1980, beschleunigte sich jedoch seit dem Ausbruch der globalen Krise 2007 und der Regierungsübernahme der hindu-chauvinistischen Bharatiya Janata Party (BJP) 2014. Das ist auch der Grund, warum sich entscheidende Fraktionen des Großkapitals vom Kongress, der traditionellen Partei der indischen Bourgeoisie, abwandten und, ähnlich den imperialistischen Großunternehmen, in der BJP die verlässliche Sachwalterin ihrer Interessen sehen.

Die Ideologie des Hindutva, nach der Indien ausschließlich den Hindus gehöre und in der religiöse Minderheiten wie Muslime, Indigene, die „unteren“ Kasten, Frauen und sexuelle Minderheiten BürgerInnen zweiter Klasse sein sollen, bildet den Kitt, um große Teile der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums und rückständige ArbeiterInnen vor den Karren des Kapitals zu spannen. Die „größte Demokratie der Welt“ bildet die Fassade für die zunehmend autoritäre, bonapartistische Herrschaftsform des Regimes Modi, das sich dabei auf extrem reaktionäre und auf faschistische Massenorganisationen stützen kann. In den letzten Jahren forcierte sie die Angriffe auf demokratische Rechte und ging brutal gegen  Proteste vor, die sich gegen die nationalistische „Reform“ der Melde- und Staatsbürgerschaft richteten. Vielerorts, wie in Delhi provozierten Parteiführer der BJP Pogrome gegen Muslime und Protestierende. Indien annektierte Kaschmir und beendete dessen formal autonomen Status endgültig. Die „Reform“ der Arbeitsgesetze stellt ein, wenn nicht das klassenpolitische Kernstück der Politik der Modi-Regierung dar. Hier nur einige zentrale Aspekte:

  • Das neue Arbeitsgesetz erlaubt die fristlose Entlassung ohne weitere Angabe von Gründen und ohne Zustimmung der Behörden von bis zu 300 Beschäftigten. Bisher war diese Zahl auf 100 ArbeiterInnen festgelegt. Dies schafft wichtige Beschränkungen der Unternehmenswillkür in Klein- und Mittelbetrieben ab, die in den letzten Jahren ebenfalls zunahm.
  • Das Fabrikgesetz von 1948 galt bislang für alle Betriebe mit mehr als 10 Beschäftigten, sofern sie mit Elektrizität versorgt wurden, und für alle mit mehr als 20, die diese nicht haben. Jetzt werden diese Zahlen verdoppelt, auf 20 bzw. 40 Beschäftigte.
  • Diese Methode durchzieht zahlreiche andere Bestimmungen der neuen Arbeitsgesetze. Die Mindestzahl an regulär Beschäftigten, ab denen sie überhaupt erst gelten, wurde deutlich erhöht, oft auf das Doppelte oder Dreifache der ursprünglichen Zahl. Dies betrifft insbesondere Mindeststandards für Arbeitssicherheit.
  • Erhöht wurde außerdem die Quote für LeiharbeiterInnen unter den Beschäftigten.

All diese Maßnahmen zielen auf die Ausweitung der UnternehmerInnenfreiheit. Die weitgehende Entrechtung, die schon heute die Lage eines großen Teils der indischen ArbeiterInnenklasse prägt, der in verschiedene Formen der Kontraktarbeit (wie  Tagelöhnerei, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, …) gezwungen wird, soll weiter ausgedehnt werden. Auch bisher „regulär“ Beschäftigte sollen von ihr erfasst werden.

Zugleich werfen diese Maßnahmen auch ein bezeichnendes Licht auf das Geschäftsmodell des indischen Kapitalismus. Die vom Weltmarkt und den internationalen Finanzmärkten abhängige halbkoloniale Ökonomie kann die Profitabilität der wachsenden kleineren Kapitale nur sichern, wenn diese weiter die Arbeitskräfte extrem ausbeuten, also unter ihren Reproduktionskosten kaufen und verwerten können. Ansonsten sind sie nicht in der Lage, sich auf dem Markt zu halten, die Vorgaben von Konkurrenzbedingungen, die das multinationale Großkapital aus den imperialistischen Ländern diktiert, zu erfüllen. Zugleich begünstigt diese Form der Überausbeutung auch die indischen Großkonzerne, die ihrerseits um größere Anteile am Weltmarkt ringen.

Diese Ausweitung selbst erschwert schon die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Organisierung massiv, die durch neue legale Einschränkungen zusätzlich eingeschränkt werden sollen.

Ergänzt werden die Angriffe auf die Arbeitsgesetze auch durch drastische Verschlechterungen für die Landbevölkerung, also für die ärmsten Schichten der Bauern und Bäuerinnen sowie für LandarbeiterInnen. Das ist auch der Grund, warum das All India Kisan Sangharsh Coordination Committee (AIKSCC) den Generalstreik unterstützt und mit Aktionstagen am 26. und 27. November verbindet.

Über die Forderung nach Abschaffung der gesamten reaktionären Reformen des Arbeitsgesetzes hinaus verlangen die Gewerkschaften außerdem eine monatliche staatliche Unterstützung von 7.500 Rupien (rund 85 Euro) für alle Familien, die keine Einkommenssteuer zahlen müssen, sowie 10 Kilogramm kostenloser Lebensmittel für alle Bedürftigen. Diese und ähnliche Forderungen verdeutlichen, dass die Corona-Pandemie und die kapitalistische Krise Millionen ArbeiterInnen und  Bauern/Bäuerinnen in Not und Elend stürzen, sie gegen Armut, Hunger und Tod ankämpfen müssen.

Internationale Solidarität und Perspektive

Der Generalstreik der indischen Gewerkschaften erfordert unsere Solidarität – und zwar weltweit.

Zugleich macht er aber – gerade vor dem Hintergrund etlicher Massenstreiks der letzten Jahre – deutlich, dass die ArbeiterInnenbewegung und alle Bewegungen von Unterdrückten gegen das Hindutva-Regime eine Strategie brauchen, die über beeindruckende, aber auch nur auf einen Tag beschränkte Aktionen hinausgeht. Die Regierung Modi wird sich davon nicht stoppen lassen. Das haben die letzten Jahre gezeigt. Wie die letzten Monate verdeutlicht haben, wird sie auch die Pandemie und die Krise zu nutzen versuchen, weitere Angriffe durchzuziehen.

Es geht daher darum, dem permanenten Angriff einen permanenten Widerstandskampf entgegenzusetzen – auf den eintägigen Generalstreik einen unbefristeten gegen die Arbeitsgesetze und für ein Mindesteinkommen und Mindestlohn für alle in Stadt und Land vorzubereiten und durchzuführen.

Die Koordinierung der Gewerkschaften und BäuerInnenorganisationen muss sich einer solchen Aufgabe stellen und zur Bildung von Aktionskomitees in den Betrieben, den Stadtteilen, in den Gemeinden und auf dem Land aufrufen, also Kampforgane bilden, die alle Schichten der Lohnabhängigen und der Klein- und MittelbäuerInnen einschließen, unabhängig von Religion, Nationalität, Kaste, Geschlecht oder sexueller Orientierung.

Angesichts der staatlichen Repression und der reaktionären hinduchauvinistischen Verbände müsste ein solcher Streik auch Selbstverteidigungsstrukturen aufbauen.

Ein politischer Generalstreik, der das Land dauerhaft lahmlegt, würde unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und somit auch die Möglichkeit und die Notwendigkeit, vom Abwehrkampf zur Offensive überzugehen. Diese erfordert freilich mehr als nur gewerkschaftlichen Widerstand. Sie erfordert die Verbindung dieses Kampfes mit dem gegen alle Formen der Unterdrückung, die Verbindung des Kampfes gegen die BJP-Regierung mit dem gegen den Kapitalismus, den Aufbau einer revolutionären politischen Partei der ArbeiterInnenklasse, die sich auf ein Programm von Übergangsforderungen stützt und die für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung kämpft, die eine Räteherrschaft errichtet, das Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt.

Zur Zeit existiert keine politische Kraft in Indien, die ein solches Programm vertritt. Die verschiedenen kommunistischen Parteien haben sich vom revolutionären Sturz des Kapitalismus faktisch schon lange verabschiedet, die radikale Linke ist zersplittert und oft desorientiert. Die politische Krise zu überwinden, erfordert daher nicht nur die Unterstützung der Mobilisierungen der ArbeiterInnenklasse und sozialen Bewegungen. Alle, die nach einer sozialistischen und internationalistischen Antwort suchen, stehen auch vor der Aufgabe, in Diskussion um die programmatischen Grundlagen einer revolutionären Partei zu treten und deren Aufbau in Angriff zu nehmen.




OB-Wahl in Stuttgart: Für Rockenbauch stimmen – und die nächsten Kämpfe vorbereiten!

Gruppe ArbeiterInnenmacht Stuttgart, Infomail 1127, 25. November 2020

In Stuttgart wird ein neues „Stadtoberhaupt“ gewählt. Im ersten Wahlgang am 8. November hat erwartungsgemäß kein/e KandidatIn eine absolute Mehrheit erreichen können, so dass im zweiten Wahlgang am 29. November die Entscheidung fallen wird. Der 2012 gewählte Fritz Kuhn (Grüne) trat nicht erneut an. Die CDU kandidiert mit Frank Nopper, um den höchsten Posten im Rathaus zurückzuholen, den sie von 1974 bis 2012 gestellt hatte. Er erhielt im ersten Wahlgang die meisten Stimmen (31,8 %), auf ihn folgten Veronika Kienzle (17,2 %, Grüne), Marian Schreier (15,0 %, z. Zt. parteilos, SPD-Mitgliedschaft ruht), Hannes Rockenbauch (14,0 %, Stuttgart Ökologisch Sozial/Die Linke), Martin Körner (9,8 %, SPD). Die KandidatInnen aus der Fraktion der Quer-, Schief-, Rechts- und WenigdenkerInnen sind im Ergebnis kaum der Rede wert: Malte Kaufmann (2,2 %, AfD), Michael Ballweg (2,6 %, parteilos, Querdenken 0711). Zur Stichwahl haben Kienzle, Körner, Kaufmann sowie Heer (0,8 %) und Reutter (4,4 %) zurückgezogen. Somit sind Nopper, Schreier und Rockenbauch die aussichtsreichsten Kandidaten.

Einschätzung des Ergebnisses

Nopper hat zwar mit Abstand am besten abgeschnitten. Er hat aber von allen CDU-KandidatInnen seit 1945 das schlechteste Ergebnis eingefahren. 2012 konnte Fritz Kuhn die Wahl gegen den CDU-Kandidaten für sich entscheiden. Dies geschah vor dem Hintergrund dessen, dass die Grünen – gerade im Südwesten – unter bürgerlichen WählerInnenschichten zu einer starken Konkurrenz für die CDU geworden sind. Der Wahlsieg der Grünen bei der baden-württembergischen Landtagswahl und die Bildung einer grün-roten Koalition 2011 hatten dies schon angekündigt. Im Wahlsieg 2012 schlugen sich auch die Niederlagen der Bewegung gegen S21 nieder. Deren kämpferischer Flügel hatte zwar keine großen Illusionen in die Grünen, aber er konnte nach der erfolgten (und verlorenen) Volksabstimmung, nach Baubeginn und dem Niedergang der Massenbewegung der weitverbreiteten Ablehnung des Bauprojekts keine weitere Perspektive mehr geben. Die Grünen vermochten mit dem „Realo“ Fritz Kuhn und als eine Kraft, die in der Bewegung mitgegangen ist, ohne eine kämpferische Rolle zu spielen, diese Stimmung aufzugreifen. Sie mussten gar keinen Anti-CDU-Wahlkampf führen, um diejenigen abzugreifen, die von den Konservativen die Schnauze voll hatten. Gleichzeitig blieben die Grünen anschlussfähig ans bürgerliche Lager.

Aufgrund der heute ganz anderen Ausgangslage konnte Kienzle an Kuhns Wahlerfolg nicht anknüpfen. Dass sie im Vergleich zum ersten Wahlgang 2012 (Kuhn 36,5 %) prozentual mehr als die Hälfte eingebüßt hat, überrascht dennoch. Kienzle kommt eigentlich aus dem linken Flügel der Grünen. Sie setzte sich im Wahlkampf aber kaum programmatisch von Kuhn ab, sondern beschränkte sich auf grüne Gemeinplätze, die man mit „Wirtschaft, Klima, Diversität“ zusammenfassen kann. Wer von Kuhns rechter Politik enttäuscht war, den konnte Kienzle so nicht zurückgewinnen. Sie bekam im Gegenteil ernsthafte Konkurrenz von Rockenbauch, der sein Ergebnis im Vergleich zu 2012 (10,4 %) deutlich gesteigert hat.

Fehde in der SPD

Die SPD nominierte ihren Fraktionsvorsitzenden Martin Körner als Kandidaten. Zusätzlich kandidierte Marian Schreier, ebenfalls SPD-Mitglied und aktuell Bürgermeister der Stadt Tengen. Seine Kandidatur stieß auf die Ablehnung der Stuttgarter SPD, er muss daher bis zum Abschluss der Wahl seine Mitgliedschaft ruhen lassen. Erst recht seit seiner Weigerung, seine Kandidatur im zweiten Wahlgang zugunsten eines gemeinsamen Anti-Nopper-Kandidaten zurückzuziehen, wird er als rücksichtsloser Karrierist gesehen, und diese Einschätzung ist nicht ungerechtfertigt.

Er hat Verbindungen zum rechten SPD-Flügel und hat als Redenschreiber für Peer Steinbrück gelernt zu formulieren, ohne etwas zu sagen. Eine solide Grundausbildung in Dampfplauderei gehört zweifellos zu seinen Qualitäten. Warum er gegen den Kandidaten seiner eigenen Partei antritt, begründete er nicht etwa mit inhaltlichen Positionen, sondern mit dem populistischen Scheinargument, dass die Entscheidung, wer der beste Kandidat sei, ohnehin nur den WählerInnen zustehe.

Das wiederum sagt uns aber eigentlich mehr über den Zustand und die Rolle der Stuttgarter SPD als über Schreiers Charakter. Bereits in der OB-Wahl 1996 tauchte mit Joachim Becker als sogenannter unabhängiger Bewerber im zweiten Wahlgang unangekündigt ein zweiter SPD-Kandidat auf, der letztlich die krachende Niederlage für die SPD und den haushohen Sieg für Wolfgang Schuster (CDU) verstärkte. Die SPD segelte in Stuttgart jahrelang im Windschatten der CDU bzw. des rechten parteilosen OB Klett. Sie gehörte von Anfang an zu den UnterstützerInnen von S21 und setzte diese Haltung selbst zu den Hochzeiten der Bewegung gegen S21, 2010 – 2011, gegen alle Widerstände – auch in der eigenen Mitgliedschaft – durch.

Im Vorfeld der aktuellen Wahl führten die SPD und ihr Kandidat Martin Körner – bereits vor Kuhns Ankündigung, nicht mehr zu kandidieren – Gespräche mit der FDP und den „Freien Wählern“ über einen möglichen gemeinsamen Kandidaten. Das Fehlen eines eigenen politischen Profils der Stuttgarter SPD ließe sich kaum bildlicher ausdrücken. Das blamable Wahlergebnis von unter 10 % für Körner ist die Strafe dafür. Dass der Querschläger Schreier mit 15 % deutlich besser abschneidet, setzt dem noch eins drauf: Offenbar haben in Stuttgart sozialdemokratische KandidatInnen mehr Chancen, je weiter sie von der biederen Rathaus-SPD entfernt sind. Nach Körners Rückzug hieß es zunächst, die SPD werde im zweiten Wahlgang dann doch Schreier unterstützen. Am Ende entschied sie sich dazu, sich doch besser ganz rauszuhalten und keinen Wahlaufruf abzugeben. Ihrer Tradition, durch Danebenstehen der CDU ins Amt zu helfen, bleibt sie jedenfalls treu.

Rockenbauch

Rockenbauch hat als einziger Kandidat einen Wahlkampf geführt mit konkreten und greifbaren Zielen, die wichtige soziale Fragen in Stuttgart aufgreifen. So tritt er für einen kostenlosen Nahverkehr ein. Martin Körner (SPD) vertrat das Ziel eines 365-Euro-Jahrestickets, die übrigen KandidatInnen beschränkten sich auf unverbindliche Allgemeinplätze. Rockenbauch fordert die Verdopplung des Bestands städtischer Wohnungen und die Absenkung der städtischen Kaltmieten auf 5 Euro pro Quadratmeter und die Klimaneutralität Stuttgarts bis 2030. Diese Forderungen unterstützen wir ebenso wie viele seiner Ziele zur Stadtentwicklung und Verkehrsplanung. Seine Kandidatur wird von weiten Teilen der Stuttgarter Linken unterstützt, einschließlich Fridays for Future, [’solid], Migrantifa. Sein Stimmenanteil im ersten Wahlgang war grob doppelt so hoch, wie bei überregionalen Wahlen für die Linkspartei in Stuttgart in den vergangenen Jahren üblich. Dieser Erfolg geht auf seine konkreten, greifbaren Forderungen zurück und auf seine Verankerung in der Linken.

Dabei ist klar, dass das Amt eines „Stadtverwaltungshäuptlings“ der Umsetzung vieler Ziele enge Grenzen setzt. Ein Programm „linker Stadtpolitik“ erfordert daher eine viel umfassendere Orientierung auf eine Bewegung, die in der Lage ist, diese auch gegen die Kapitalinteressen politisch durchzusetzen – nicht nur auf lokaler Ebene, sondern landes- und bundesweit. Ein linker Bürgermeister, der auf lokaler Ebene etwa den Auswirkungen der Mietspekulation etwas entgegensetzen will, kann dies nicht kraft seines Amtes und einer Mehrheit im Gemeinderat umsetzen – er wird nicht nur auf den Widerstand des gewachsenen (und nach wie vor CDU-lastigen) städtischen Beamtenapparates stoßen, sondern prinzipiell auf eben die Klassenkräfte, die den Mietenwahnsinn vorantreiben.

Wir rufen zur Wahl Rockenbauchs auf, weil er der Kandidat einer Bewegung ist, deren Losungen er aufgreift. Nun kann die Kritik des Kompetenzrahmens, der für OberbürgermeisterInnen gesetzt ist, natürlich nicht die Kandidatur selbst treffen. Aber es ist unbedingt notwendig zu sagen, dass die Ziele seines Wahlprogramms – wie der kostenlose Nahverkehr und die Absenkung der Mieten – eine Kampfperspektive erfordern. Es ist notwendig, eine Bewegung der betroffenen Lohnabhängigen, MieterInnen, etc. hierfür aufzubauen.

Dies gilt erst recht für die Frage der Arbeitsplätze, die im industriellen und industrienahen Bereich so bedroht sind wie schon lange nicht mehr. Tausende Jobs bei Bosch, Daimler, Mahle und in vielen kleineren Betrieben sind gestrichen worden und weitere Kürzungen stehen an. Dieses Thema greift Rockenbauch nur zaghaft auf, er organisiert Foren mit BetriebsrätInnen und Beschäftigten der betroffenen Betriebe. Einen kämpferischeren, linkeren Ansatz hat aber auch nicht die lokale LINKE zu bieten, die sich unter Riexingers Führung scheut, andere Perspektiven als die total auf „soziale“ Abwicklung des Abbaus fixierte IG Metall zu präsentieren. Rockenbauch selbst ist übrigens nicht Mitglied der LINKEN, hat aber schon für die Landtagswahl 2016 für diese kandidiert.

2012 zog Rockenbauch nach dem ersten Wahlgang zurück und überließ Kuhn das Feld. Er wendete die Logik des kleineren Übels an: lieber „einer von uns“, auch wenn er kein linkes Programm hat, als wieder CDU. Er verzichtete auf die Weise darauf, den zweiten Wahlgang zu nutzen, um UnterstützerInnen gegen den zu erwartenden grünen Verrat bei S21 zu mobilisieren. Er wiederholte den Fehler in diesem Jahr mit dem Versuch, eine Anti-CDU-Allianz mit SPD und Grünen zu schmieden. Das Vorhaben, Kienzle als gemeinsame Kandidatin eines „sozial-ökologischen Lagers“ aufzustellen, scheiterte nur an der Weigerung Schreiers, seine Kandidatur zurückzuziehen.

Für das „sozial-ökologische“ Bündnis verzichtete Rockenbauch auf weite Teile seines Programms. Bei der Wohnungspolitik trat anstelle der bislang vertretenen Mietsenkung auf 5 Euro pro qm ein Mieterhöhungsstopp für die nächsten 8 Jahre. Anstelle konkreter Zielvorgaben beim Wohnungsbau traten unverbindliche Bekenntnisse, anstelle der im Wahlkampf vertretenen Forderung nach Enteignung leerstehender Gebäude tritt „Intensivierung des Leerstandsmanagements, z. B. über Ansprache von Eigentümer*innen“. Damit sollte klar sein, wie wenig ein Bündnis mit der bürgerlichen grünen Partei wert ist. Der Preis dafür ist in jedem Fall Aufgabe des eigenen Programms.

Diese von reformistischen Parteien wie LINKE und SPD abgekupferte und für deren KandidatInnen typische Vorgehensweise, Forderungen nur zur Wahlwerbung zu nutzen und dann auf den Verhandlungstischen von Koalitionen zu opfern, lehnen wir ab. Letztlich unterscheiden sich „linke“ von „rechten“ Regierungen oft nur durch einige kosmetische Züge und, wessen Klientel mehr Staatsknete erhält. Ein Vorgehen, das immer wieder und wieder die WählerInnen enttäuscht und sie von den reformistischen, im Grunde bürgerlichen ArbeiteInnenparteien abwendet.

Unser Wahlaufruf für reformistische Parteien – und auch KandidatInnen wie Rockenbauch – bedeutet also keinesfalls Zuspruch für deren Unterordnung unter den bürgerlichen Politikbetrieb oder deren Programm. Zugleich aber repräsentiert Rockenbauch als Kandidat der Linkspartei und der sozialen Bewegungen jene Teile der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten, die gegen die Politik von CDU, Grünen, … ankämpfen wollen und von der SPD die Schnauze voll haben.

Wir rufen dazu auf, am 29. November für Hannes Rockenbauch zu stimmen – und zugleich den Kampf vorzubereiten, der nötig sein wird, um gegen die CDU einen kostenlosen Nahverkehr, bezahlbare Mieten und die klimaneutrale Stadt durchzusetzen und den Kampf gegen alle Entlassungen und Kürzungen aufzunehmen!




Frankfurter Linke und Palästina: Kein Antirassismus ohne Antiimperialismus

Stefan Katzer, Infomail 1126, 25. November 2020

Am 3. Oktober fand in Frankfurt eine Demonstration in Solidarität mit jenen Geflüchteten statt, die von der EU in Lagern gefangen gehalten, drangsaliert und abgeschoben werden. Die Demonstration „Moria befreien!“ richtete sich die gegen die mörderische Politik der Herrschenden, „die seit Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten Menschen aus dem globalen Süden trifft“ – so die Ankündigung der organisierenden Gruppen. Man sollte meinen, dass sich bei diesem Thema alle linken Kräfte einig sind. Und tatsächlich wurde von verschiedenen Gruppen für die Demo mobilisiert, darunter Migrantifa Hessen, Black Power Frankfurt, Fridays for Future, Seebrücke Frankfurt, Free Palestine FFM u. a.

Mit der scheinbaren Einigkeit zwischen den Gruppen war es allerdings schnell vorbei und die tiefgreifenden Unterscheide bezüglich zentraler Fragen des antirassistischen und antiimperialistischen Kampfes wurden sichtbar, nachdem auf der Demonstration vereinzelt auch Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf bekundet und eingefordert wurde. Free Palestine FFM wurde daraufhin zur Zielscheibe zahlreicher verbaler Angriffe von antideutschen Gruppierungen, der bürgerlichen Presse bis hin zu VertreterInnen der CDU, die der Gruppe Antisemitismus vorwarfen.

Auch viele der an der Demonstration beteiligten Strömungen distanzierten sich öffentlich. Sowohl Fridays for Future als auch die Seebrücke Frankfurt fühlten sich dazu veranlasst, die vermeintlich antisemitischen Parolen zu verurteilen. Auch Migrantifa Hessen veröffentlichte ein Statement, in dem sie sich dafür entschuldigte, „isrealbezogenem Antisemitismus“ eine Bühne geboten zu haben, und ankündigten, den Vorfall gründlich aufarbeiten und die politische Arbeit vorerst einstellen zu wollen.

Was war passiert?

Der Vorwurf des Antisemitismus bezog sich einerseits auf die Rede von Free Palestina FFM, deren antiimperialistische Position einfach nur denunziert wurde. Einen Nachweis des Vorwurfs ersparten sich hingegen die „KritikerInnen“, frei nach dem Motto, das Antizionismus ohnedies nur Antisemitismus sein könne.

Zum anderen bezog sich der Vorwurf auf den Spruch „Palestine will be free, from the river to the sea“, der während der Demonstration gerufen wurde. Dieser wurde so ausgelegt, als handele es sich dabei um einen Aufruf zur Vertreibung bzw. Ermordung der in Israel lebenden Jüdinnen und Juden zwecks Errichtung eines „ethnisch reinen“ Staates „Palästina“.

Menschen, die es gewohnt sind, in völkischen Kategorien zu denken, kommt es scheinbar nicht in den Sinn, dass „Palästina“ auch der Name eines multiethnischen, binationalen ArbeiterInnenstaates sein könnte. Uwe Becker (CDU) jedenfalls, Bürgermeister der Stadt Frankfurt am Main und Antisemitismusbeauftragter des Landes Hessen, sah in der Forderung einen Ausdruck „antisemitischen Israel-Hasses“.

Ohne jegliche Begründung wurde der im Raum stehende Vorwurf, bei der gerufenen Parole handle es sich um Antisemitismus, weiterverbreitet. Auch bürgerliche Medien wie die Frankfurter Rundschau trugen zur Verwirrung bei, indem sie „israelfeindliche Parolen“ kurzerhand mit „Antisemitismus von links“ gleichsetzten – ohne dies näher zu erläutern.

Grundlegend für diese Art der „Kritik“ an antiimperialistischen Positionen ist die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus. Mag diese von einigen ansonsten progressiven Gruppen auch aufgrund mangelnder Erfahrung, moralischen Drucks oder Unfähigkeit zur Differenzierung vollzogen werden, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie bewusst als Mittel eingesetzt wird, die Vertreibung und Unterdrückung der PalästinserInnen zu relativieren, wenn nicht aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen und zugleich den Widerstand zu delegitimieren. Der Zionismus wird als vermeintlich klassenneutrale Ideologie „des jüdischen Volkes“ präsentiert und der Staat Israel als die angeblich einzig mögliche Form der politischen Selbstbestimmung jüdischer Menschen angepriesen. Dabei dient diese Ideologie heute vor allem dazu, die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung zu legitimieren und die Klassenspaltung im „jüdischen Volk“ zu verdecken. Sie ist keinesfalls „klassenneutral“ und kann dies auch gar nicht sein.

Wir sehen als revolutionäre SozialistInnen vielmehr die Notwendigkeit, zwischen dem zionistischen Staat mitsamt seinem bürgerlich-kapitalistischen Charakter und den dort lebenden Juden und Jüdinnen zu differenzieren: Auch in dieser Klassengesellschaft wird Politik nicht von und im Interesse der werktätigen Mehrheit der Menschen gemacht, sondern werden nichtjüdische wie auch jüdische Menschen unterdrückt. Ebenso werden die PalästinenserInnen vom israelischen Staatsapparat niedergehalten, dem daran gelegen ist, sich ihre Ressourcen und Territorien einzuverleiben. Dass der israelische Staat sich dabei auch Mechanismen der Apartheid bedient, wurde selbst von der UNO wiederholt festgestellt.

Diesem System von Ausbeutung und Unterdrückung stellen wir eine antiimperialistische Perspektive entgegen, welche den Befreiungskampf der PalästinenserInnen und das  Ringen der israelischen ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten als gemeinsamen Kampf für einen säkularen sozialistischen Staat begreift, in dem kein Mensch mehr ausgebeutet oder aufgrund seiner religiösen Überzeugung, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung oder seiner Herkunft unterdrückt wird. Für uns ist klar, dass dies nur durch den bewussten Bruch der werktätigen Massen im Nahen Osten mit der zionistischen Ideologie sowie durch eine sozialistische Perspektive erkämpft werden kann.

Die Forderung nach einem freien, multiethnischen Palästina schließt somit keineswegs die Vertreibung oder gar Ermordung der im heutigen Israel lebenden Jüdinnen und Juden ein, wie dies die KritikerInnen von Antideutschen bis CDU gerne behaupten. Das Gegenteil ist der Fall.

Jüdische ArbeiterInnenklasse und Befreiung

In Wirklichkeit kann sich die jüdische ArbeiterInnenklasse in Israel nicht selbst befreien und zu einem Klassensubjekt werden, wenn sie nicht mit dem zionistischen Staat und seiner rassistischen Ideologie bricht, die sie an das „eigene“ Kapital und den Imperialismus ketten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Stellung der jüdischen Lohnabhängigen nicht grundsätzlich von der der ArbeiterInnenklasse der herrschenden Nation in anderen SiedlerInnenkolonien oder in imperialistischen Staaten.

Die jüdische ArbeiterInnenklasse bildet in Israel einen Teil der herrschenden Nation, während die PalästinserInnen ein unterdrücktes Volk darstellen. Natürlich gibt es auch unter diesem – wie unter allen unterdrückten Nationen – fortschrittliche und reaktionäre, proletarische, kleinbürgerliche und bürgerliche Strömungen, Weltanschauungen und politische Kräfte. Am grundlegenden Unterdrückungsverhältnis, der verharmlosend als „Konflikt“ bezeichneten permanenten Vertreibung und Enteignung der palästinensischen Bevölkerung ändert das jedoch nichts.

Diese Analyse muss aber den Ausgangspunkt für eine marxistische Einschätzung, der politischen Taktik und Programmatik bilden, nicht die Bewertung von Ideologien und Einstellungen der Unterdrückten. Um den nationalen Gegensatz zu überwinden, bedarf es keiner abstrakten Appelle an „Völkerverständigung“ und Toleranz. Vielmehr erfordert dies ein Programm, das den Kampf für die Befreiung der PalästineserInnen, z. B. für das Rückkehrrecht aller Vertriebenen, die Schaffung eines demokratischen Staates für alle, die in Palästina/Israel leben, mit dem für eine soziale Umwälzung verbindet. Dies ist aber unmöglich, ohne den zionistischen Staat selbst in Frage zu stellen.

Wer das Existenzrechts eines rassistischen Staats für sakrosankt erklärt, muss letztlich die weitere Unterdrückung der PalästinenserInnen billigend in Kauf nehmen, weil dies die Anerkennung der Vertreibung und der bisherigen Resultate der Kolonisierung inkludiert – unabhängig von allen sonstigen Absichten. Damit fällt man nicht nur allen palästinensischen und internationalistischen Kräften in den Rücken, die gegen die Unterdrückung kämpfen, sondern auch der antizionistischen Linken in Israel und der jüdischen ArbeiterInnenklasse. Warum? Damit diese selbst zu einem fortschrittlichen politischen Subjekt werden kann, müssen RevolutionärInnen darum kämpfen, dass sie mit dem Zionismus bricht und den Befreiungskampf der PalästinenserInnen unterstützt.

Dies ist, nebenbei bemerkt, auch der wirksamste und letztlich einzig effektive Weg, reaktionären Ideologien unter den PalästinserInnen – sei es dem (klein-)bürgerlichen Nationalismus, sei es dem Islamismus – den Boden zu entziehen und die proletarischen und linken Kräfte im Befreiungskampf zu stärken.

Ideologische Nebelkerzen

Die gängige bürgerliche Sichtweise und jene der Antideutschen besteht jedoch darin, vom eigentlichen Unterdrückungsverhältnis abzusehen, dieses allenfalls als Randerscheinung zu betrachten. Der deutsche Imperialismus hat natürlich gut Gründe, den „Konflikt“ als einen zwischen der israelischen „Demokratie“ und schlecht behandelten, aber allzu radikalen PalästinenserInnen darzustellen, die auf Terror und Islamismus setzen würden. Damit oder mit ähnlichen Ideologien wird die Politik Israels prinzipiell gerechtfertigt. Dass in den letzten Jahren die Hamas und andere islamistische Gruppierungen v. a. in Gaza erstarkten, dient als zusätzliche Rechtfertigung für Besatzung und Vertreibung, die zum „Verteidigungsakt“ uminterpretiert werden.

In Wirklichkeit werden damit jedoch nur die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Die Unterstützung Israels bildete schon lange vor der Entstehung von Hamas und anderen islamistischen Gruppierungen, also als die palästinensische Befreiungsbewegung von säkularen, bürgerlichen oder linken kleinbürgerlichen Kräften geprägt war, einen Teil der außenpolitischen Strategie des deutschen Imperialismus. Die Unterstützung des Zionismus folgt letztlich ökonomischen und geostrategischen Interessen – und sonst nichts.

Wenn die BRD-Regierungen von historischer Verantwortung für den industriellen Massenmord am jüdischen Volk und für Antisemitismus sprachen, so hatte das nie mit einer Anerkennung der Verantwortung des BRD-Imperialismus oder ernsthafter Aufarbeitung zu tun, sondern diente letztlich nur zur ideologischen Rechtfertigung und Verschleierung eigener Ziele. Alles anders sind ideologische Nebelkerzen, die auch dadurch nicht erhellender wirken, dass sie von verschiedenen liberalen, linken und natürlich den antideutschen Gruppierungen nachgeplappert werden.

Der von uns und vielen anderen InternationalistInnen und AntiimperialistInnen vertretene Antizionismus folgt hingegen als Konsequenz aus der Analyse des Klassencharakters des zionistischen Staates und seiner Rolle als von imperialistischen Kräften abhängiger Regionalmacht.

Taschenspielertrick

Diese Form des Antizionismus mit dem israelbezogenen Antisemitismus reaktionärer Gruppierungen gleichzusetzen, ist eine perfide Verleumdung, um den berechtigten Widerstand der palästinensischen Bevölkerung und auch israelischer AntizionistInnen zu diskreditieren.

Es ist wichtig, dass alle linken Gruppen mit einem emanzipatorischen Anspruch diesen Unterschied begreifen und sich diesbezüglich nicht von reaktionären Kräften an der Nase herumführen oder unter Druck setzen lassen. Wer den Kampf gegen Antisemitismus dem gegen Besatzung und Unterdrückung entgegenstellt, betreibt eine Spaltungspolitik im Interesse der Herrschenden!

Andererseits streiten wir nicht ab, dass es israelbezogenen Antisemitismus gibt und dieser effektiv bekämpft werden muss. Die faschistische Organisation Der III. Weg etwa verwendet den Begriff „Israel“ synonym für „die Juden“ auf ihren Plakaten mit der Aufschrift „Israel ist unser Unglück“. Hier wird der Antizionismus vorgeschoben, um den Hauptinhalt, den Antisemitismus, zu verdecken. Ist damit jegliche Form des Antizionismus diskreditiert?

Um deutlich zu machen, warum dies nicht der Fall ist, sei ein anderes Beispiel genannt:  Sogenannte „völkische AntikapitalistInnen“ geben vor, den Kapitalismus überwinden zu wollen und für den Sozialismus zu kämpfen. Sie verfolgen dabei das Programm eines „nationalen Sozialismus“. Wie beim (vermeintlichen) Antizionismus ist hier nicht der (vermeintliche) Antikapitalismus der Rechten das Problem, sondern das konkrete Programm, das sie verfolgen und das sie dem Zionismus bzw. Kapitalismus entgegenstellen. Dieses Programm ist durch und durch reaktionär.

Der Antisemitismus unter palästinensischen Organisationen wie z. B. der islamistischen Hamas muss ebenfalls als extrem reaktionäre Ideologie bekämpft werden, auch wenn er anderer Wurzeln hat als der von deutschen FaschistInnen. Diese Gruppierungen und ihre AnhängerInnen stellen letztlich die extremste Form von ParteigängerInnen des deutschen Imperialismus dar, der ihre Auffassung nach bei der Aufteilung der Welt noch immer zu kurz gekommen sei. Islamistische Organisationen wie die Hamas hingegen greifen – ganz im Gegensatz zu deutschen Nazis – die reale, barbarische Unterdrückung der PalästinenserInnen auf und verknüpfen sie mit reaktionären Zielen, antisemitischen Erklärungsmustern und deuten den Konflikt von einer nationalen in eine sektiererische Frage um.

Auch diesen Kräften muss sich die gesamte Linke entschlossen entgegenstellen. Wo diese wie im Fall der Hamas einen bedeutenden Einfluss auf die unterdrückten Massen haben und teilweise auch Aktionen des Widerstandes anführen, benötigt die ArbeiterInnenklasse eine korrekte Einschätzung der Ursachen der Unterdrückung neben politischen Taktiken, um die Massen von diesen Kräften wegzubrechen. Das heißt die ArbeiterInnenklasse – ob nun die jüdische in Israel oder die in den imperialistischen Ländern – muss eine klare Position zur Unterstützung der Unterdrückten einnehmen. Ansonsten wird sie bei diesen vollkommen zu Recht kein Gehör finden.

Eine internationalistische Linke muss daher immer wieder deutlich machen, dass und wie die Kämpfe gegen Kapitalismus, Antisemitismus, Rassismus, Sexismus und andere Formen der Unterdrückung zusammenhängen und weshalb die reaktionären Kräfte keine Lösungen für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten anzubieten haben.

Hierfür wurden nun auch in Frankfurt die ersten Schritte gesetzt. Im Anschluss an die Demonstration kam es zu ersten Ansätzen der Vernetzung zwischen verschiedenen antiimperialistischen und antirassistischen Gruppen, angestoßen durch die Gruppe „Studis gegen rechte Hetze“. Diese Vernetzung sollte verstetigt und wenn möglich weiter ausgebaut werden. Die gegenseitige Unterstützung antiimperialistischer Kräfte auch gegen physische Angriffe sog. Antideutscher und anderer reaktionärer Gruppen wäre sinnvoll, um Veranstaltungen und Demonstrationen zu schützen und gemeinsam Aktionen zur Solidarisierung mit Befreiungskämpfen und gegen imperialistische Interventionen durchzuführen.




Selbstbestimmung und der Krieg in Bergkarabach

Marcel Rajecky, Infomail 1126, 23. November 2020

Der Krieg in Bergkarabach könnte sich dem Ende nähern, nachdem Armenien, das zur Verteidigung des von ArmenierInnen bewohnten Staates mobilisiert hatte, und Aserbaidschan am 9. November ein Abkommen unterzeichnet hatten. Die Kämpfe begannen Ende September und führten zu Tausenden von zivilen und militärischen Opfern, zur Vertreibung von bis zu 90.000 Menschen und drohten ständig, zu einem Krieg regionaler und sogar imperialistischer Mächte zu eskalieren.

Während das Abkommen vorgibt, diesen jahrzehntelangen Streit endgültig beizulegen, ist es wahrscheinlicher, dass es die Tür zu einer neuen Phase des Krieges ganz öffnet. Karabachs Bewegung für Selbstbestimmung wird mit diesem Abkommen sicherlich nicht verschwinden, ebenso wenig wie die konkurrierenden und wechselnden regionalen und imperialistischen Mächte mit Interessen in dieser kritischen Region.

Darüber hinaus werden die Krisen, mit denen der Kapitalismus in Armenien und Aserbaidschan konfrontiert ist, nicht verschwinden. Während sich die Proteste der ArmenierInnen gegen die Kapitulation ihrer herrschenden Klasse leicht in allgemeine Proteste gegen die Regierung verwandeln könnten, ist ein ähnliches Erwachen der ArbeiterInnenklasse in Aserbaidschan ebenso wahrscheinlich, da sie erkennen wird, dass die Eroberung von Karabach ihr keine Arbeitsplätze, gerechte Löhne oder anständige öffentliche Dienstleistungen bieten kann.

Reaktionärer Krieg und repressiver Frieden

Am 27. September drangen aserbaidschanische Truppen in die Republik Arzach (bis 2017: Republik Bergkarabach) ein, den abtrünnigen Kleinstaat, der sich in einem Krieg zwischen 1988 und 1994 größtenteils auf dem Territorium der ehemaligen Republik Bergkarabach gebildet hatte. Die aserbeidschanische Seite rechtfertigte ihre Invasion mit der Behauptung, es befreie die Territorien, die gemeinhin als die „sieben Bezirke“ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um die ehemals mehrheitlich von AserbaidschanerInnen bewohnten Gebiete, die nicht zur ehemaligen Republik Bergkarabach gehörten, aber in diesem Krieg erobert wurden. Die Regierung in Baku behauptete, damit solle die Wiederansiedlung von Hunderttausenden vertriebener Aseris ermöglicht werden.

In Wirklichkeit konzentrierte sich die Invasion jedoch fast ausschließlich auf die Gebiete des ehemaligen Bergkarabachs, die nie eine aserbaidschanische Mehrheit hatten und seit ihrer Abtretung an Aserbaidschan durch Stalin wiederholt ihren Wunsch nach Unabhängigkeit geäußert haben.

Stepanakert, die Hauptstadt von Arzach, stand fast ununterbrochen unter Feuer, was zur Evakuierung der 50.000 EinwohnerInnen führte. Währenddessen begannen die aserbaidschanischen Streitkräfte ihre Invasion, beschossen und eroberten schließlich die großen Städte im Süden und im hohen Norden des Territoriums, wobei sie von Israel bereitgestellte Drohnen und Streumunition einsetzten und auf ihrem Vormarsch Hinrichtungen im Fernsehen zeigten.

Nachdem Aserbaidschan Schuschi, die zweitgrößte Stadt von Arzach, die strategisch günstig in den Hügeln nur neun Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt, erobert hatte, blieb Armenien keine andere Wahl, als sich zu ergeben. Als Gegenleistung für Aserbaidschans Versprechen, Stepanakert nicht einzunehmen, stimmte Armenien zu, einen Transportkorridor durch sein Territorium zuzulassen, der Aserbaidschan mit seiner Exklave Nachitschewan verbindet. Aserbaidschan wird nicht nur die sieben Bezirke in Besitz nehmen, deren armenische EinwohnerInnen nicht mit einer Rückkehr rechnen sollen, sondern darf auch alle von ihm eroberten Gebiete in Bergkarabach behalten, einschließlich der armenischen Städte Schuschi, Hadrut und Talisch.

Imperialistische Interessen

Das nun gültige Friedensabkommen wurde von Russland vermittelt und stellt weitgehend das von Moskau gewünschte Ergebnis dar, indem es seine Interessen auf beiden Seiten des Konflikts sorgfältig gegeneinander abwägt. Einerseits hatte es Armenien geholfen, den vorangegangenen Krieg zu gewinnen, und seitdem ist das Land für Moskau wirtschaftlich und militärisch von entscheidender Bedeutung geworden. Russland kontrolliert ganz oder teilweise Armeniens Telekommunikation, Bankwesen, Energie, Gas, Metallproduktion und Eisenbahnen; es betreibt auch eine Militärbasis im Land.

Inzwischen ist Aserbaidschan seit dem Ende des Krieges zu einem ebenso wichtigen „Partner“ geworden. Es hat Russland während der Tschetschenienkriege geholfen, und die beiden Länder pflegen eine umfassende handelspolitische und militärische Zusammenarbeit. Russland war daher bestrebt, den Krieg so bald wie möglich zu beenden. Seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Armenien erstreckten sich nicht auf Karabach, und es verhielt sich während der Invasion Aserbaidschans neutral, unter der klaren Bedingung, dass der Feldzug nicht über die Grenze nach Armenien führen durfte.

Seine Beziehungen zu beiden Ländern ermöglichten es Russland nicht nur, die Verhandlungen zu erleichtern, sondern auch seine eigenen Interessen durchzusetzen. Die 2.000 SoldatInnen starken russischen Einheiten, die in Bergkarabach stationiert werden sollen, sind angeblich „Friedenstruppen“, aber ihre tatsächliche Rolle wird darin bestehen, den Widerstand der verbleibenden ArmenierInnen gegen Aserbaidschan  polizeilich zu überwachen und in dieser kritischen Region Druck auf die Türkei und die USA auszuüben.

Die Türkei vertrat eine ganz andere Position, indem sie aktiv einen aserbaidschanischen Sieg forderte und sie über ihre Vertretungen in Syrien mit Waffen und mehreren tausend KämpferInnen unterstützte. Die Forderung, eigene „Friedenstruppen“ in Karabach zu behalten, wurde jedoch von Russland abgelehnt. Während die Vereinigten Staaten von Amerika während des Krieges ein Vakuum für die Türkei und Russland hinterlassen haben, droht die Stationierung russischer Truppen die Lage völlig zu verändern. Washington hat umfangreiche Interessen in Aserbaidschan, insbesondere an einem Handels-, Glasfaser- und militärischen Luftraumkorridor, der knapp über das Territorium hinausgeht, auf dem russische Truppen stationiert werden sollen. Während die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan vorerst beigelegt sind, besteht weiterhin die Möglichkeit, dass die Region zum Schauplatz künftiger  Konfrontationen zwischen imperialistischen Mächten wird.

Wie geht es weiter mit Karabach?

Abgesehen von den Manövern der regionalen und imperialistischen Länder hat der Kampf um die Selbstbestimmung des Volkes von Bergkarabach eine große Niederlage erlitten. Nur wenige ArmenierInnen aus Karabach oder den sieben Bezirken werden in ihre Heimat zurückkehren, und viele sind zu Flüchtlingen in Armenien und darüber hinaus geworden. Inzwischen sind die Grenzen der Republik Bergkarabach auf einen Bruchteil derer des ehemaligen Territoriums reduziert worden, und das neu besetzte Gebiet soll in Aserbaidschan integriert werden.

Die Massenbewegung, die Karabach im 20. Jahrhundert erfasste, ist weitgehend untätig geblieben, seit sie ihr Ziel der faktischen Unabhängigkeit erreicht hat. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass diese Bewegung in Opposition sowohl zu den russischen Truppen als auch zum aserbaidschanischen Staat wieder auftauchen wird.

Dies wird ebenso wahrscheinlich mit Mobilisierungen für eine Ablehnung des Abkommens beginnen, eine Forderung, die SozialistInnen unterstützen würden. Daneben müssen sie für das Selbstbestimmungsrecht von Arzach eintreten und gleichzeitig das Rückkehrrecht der in früheren Konflikten vertriebenen AserbaidschanerInnen anerkennen.

Keiner der Kriege im Kaukasus hat eine der komplexen nationalen Fragen der Region „gelöst“. Sie haben lediglich die Vorherrschaft der kapitalistischen Klassen über nationale Minderheiten verstärkt und gleichzeitig die anhaltende Verarmung der Region im Namen des Profits überwacht.

Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, müssen SozialistInnen für den Aufbau von ArbeiterInnenparteien kämpfen, die zwar die demokratischen Rechte der Nationalitäten der Region verteidigen, aber dem Programm der permanenten Revolution verpflichtet sind, in dem die ArbeiterInnenklasse, indem sie die Macht für sich selbst übernimmt, die Produktivkräfte der Region durch Gesellschaftseigentum und demokratische Planung entwickeln wird.




Der Abschluss für den Öffentlichen Dienst und die Linke

Mattis Molde, 21. November, Infomail 1127

Die erste große Tarifrunde nach Beginn der Pandemie und der Vertiefung der Wirtschaftskrise ist vorbei. Der öffentliche Dienst hat Maßstäbe auch für die nächsten Runden gesetzt. Aber es ging nicht nur um die ökonomischen Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Es ging um mehr. Es ging darum, wie sich die ArbeiterInnenklasse politisch aufstellt in einer entscheidenden historischen Phase, in der sich eine Krise des kapitalistischen Systems entfaltet, die tiefer und länger zu werden verspricht als die vor 10 Jahren, ja jetzt schon mit der von 1931 verglichen wird. Die begleitet ist von Krisen der politischen Systeme nicht nur in Halbkolonien, sondern auch in den Zentren der Macht wie in den USA und der EU. Die dominiert wird von rechten Massenmobilisierungen und Wahlerfolgen, in der es aber auch Gegenbewegungen gibt.

Ausverkauf

Das Kapital und sein Staat haben sich in dieser Tarifrunde von Anfang an klar positioniert. Das war zu erwarten. Die ver.di-Führung ignorierte das anfangs trotzdem und streute ihren Mitgliedern Sand in die Augen, als sie von einer „Politik der ausgestreckten Hand“ schwadronierte. Als diese Vorgangsweise scheiterte, erklärte sie es zum Ziel der Warnstreiks, dass die Arbeit„geber“Innen „endlich ein Angebot vorlegen“. Die Forderung von 4,8 % mit einer Laufzeit von einem Jahr war damit schon unauffällig ersetzt. Entsprechend haben die SpitzenverhandlerInnen das „respektlose“ erste Angebot der Arbeit„geber“Innenverbände in der letzten Verhandlung nur durch Umverteilung unter den Beschäftigten modifiziert, im Volumen kaum erhöht und dann zu „respektabel“ umgetauft. Diese Einschätzung macht nur dann einen Sinn, wenn man einen Streik von vorneherein ausschließt, wie es offensichtlich die ver.di-Führung getan hat, und noch nicht einmal eine Streikvorbereitung als Drohpotential aufbaut. Das macht diese Niederlage zur Kapitulation. Das haben wir an anderer Stelle ausführlich dargelegt. Eine Niederlage zu erleiden, ist eine Sache, eine andere, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.

Viele linke Gruppen und Personen haben das Ergebnis analysiert und fast alle kommen zum Schluss, dass es ein schwacher Abschluss war, der meilenweit von der Forderung entfernt war. Aber die meisten betonen, dass immerhin weitergehende Angriffe auf die Beschäftigten abgewehrt worden seien. So titelt die SAV: „Angriff abgewehrt, Gegenoffensive verpasst“. Ähnlich sieht das Olaf Harms in der UZ „Licht und Schatten“. Die Sol (Sozialistische Organisation Solidarität) meint: „Kampfkraft nicht genutzt“ und „ernüchterndes Ergebnis“. Auch RIO nennt das Ergebnis „,mager“. Die Rote Fahne schreibt „das Ergebnis: ein fauler Kompromiss, weil die volle gewerkschaftliche Kampfkraft nicht eingesetzt wurde“.

Apparat

Alle diese Einschätzungen sind näher an der Realität als die selbstgefällige Lobhudelei, die ver.di selbst verbreitet. Letztere wird nicht besser dadurch, dass ein Teil der Mitglieder das Einknicken der Verhandlungsführung unterstützte oder keine Alternative dazu sah. Aber sehr viele protestieren auch gegen diesen Abschluss auf Webseiten von ver.di oder in öffentlichen Medien. Aus den Kreisen der vielen GewerkschaftssekretärInnen, von denen etliche in linken Organisationen wie DIE LINKE, IL oder marx21 politisch organisiert sind, ist kein Anflug einer Kritik zu hören, alle tragen brav die Entscheidung mit. Sie verwechseln die Disziplin innerhalb einer ArbeiterInnenorganisation, beschlossene Aktionen auch gemeinsam durchzuführen, mit einer  innerhalb eines Apparates gegen diese Organisation: In einer Phase, in der ein Abschluss diskutiert werden soll, vertreten diese „Hauptamtlichen“, wie sie sich selber nennen, die Linie der Spitze und bekämpfen die Kritik, die von der Basis geäußert wird. Das Gleiche gilt für die breite Masse der betrieblichen SpitzenfunktionärInnen, der sogenannten Ehrenamtlichen, der linken wie der rechten.

Diese Einstellung der „Linken“ in der Struktur von ver.di ist verheerend. Sie führt erstens dazu, dass sich die Kritik aus der Basis nicht wirklich innerhalb der Gewerkschaft ausdrücken kann. Diejenigen, die innerhalb der Strukturen Funktionen innehaben, weigern sich, sich zum Sprachrohr der Kritik zu machen. Sie überlassen die Basis sich selbst und sind hauptverantwortlich dafür, wenn jetzt gerade kritische KollegInnen den Laden verlassen. Zweitens sind damit auch die nächsten Niederlagen vorprogrammiert. Dies wird innerhalb von ver.di vor allem der ÖPNV sein mit den Tarifverträgen Nahverkehr. Für die ganzen schlechter und schwächer organisierten Beschäftigtengruppen ist das Signal, das ver.di gegeben hat, eine wirkliche Entmutigung.

Diese Verweigerung der Linken im ver.di-Apparat, sich zum Sprachrohr der kritischen Teile der Gewerkschaftsbasis zu machen, wird übrigens voll auch von der Partei DIE LINKE getragen. Der Vorstand hat bisher kein einziges Wort der Kritik veröffentlicht und damit gezeigt, dass die Partei in dieser Frage als Wasserträgerin des reformistischen ver.di-Apparates fungiert und null Unterschied zur SPD darstellt. Auf unterer Ebene der Linkspartei gab es kritiklosen Jubel (Niedersachsen:), leichte Kritik (z. B. Oberhausen), aber auch kommunale MandatsträgerInnen, die sich von Anfang an mit Blick auf ihre Gemeindefinanzen gegen die Forderungen gestellt hatten.

Zurückbleiben

Aber auch die Gruppen und Organisationen, die Kritik an dem Abschluss üben, müssen sich fragen, ob ihre Antworten ausreichend sind. So ist das Bemühen, dem Abschluss noch etwas Gutes abzugewinnen, mehrfach problematisch: Erstens führt es zu falschen oder unzureichenden Schlussfolgerungen bezüglich der betroffenen KollegInnen. Zweitens zu falschen Perspektiven für die weiteren Tarifrunden und alle Abwehrkämpfe gegen die Krise.

Erstens gehört es zum ABC jeglicher Verhandlung auf jeglichem Gebiet, dass auch weitergehende Forderungen aufgestellt werden, auf die im Laufe der Verhandlungen verzichtet werden kann. Frank Werneke beispielsweise hat ja sehr offen zum Thema Laufzeit erklärt, dass die Forderung nach einem Jahr nie ernst gemeint gewesen sei, „weil da ja dann Bundestagswahl“ wäre. Warum das nicht gehe, ist damit noch nicht erklärt, aber anschaulich dargestellt, wie die Spitzen der Bürokratie zur „demokratischen Beschlüssen“ stehen. Natürlich stellt auch die andere Seite weitergehende Forderungen als Verhandlungsmasse auf. Linke sollten daraus lernen, nicht Scheinerfolge zu preisen oder kleine Lichter im großen Schatten auszumachen.

Zum Zweiten ist es eine sehr gängige Methode bei Tarifabschlüssen, diese möglichst nicht nachrechenbar zu gestalten: Tariferhöhungen, die in die Lohnstruktur eingehen, werden mit Einmalzahlungen vermengt. Gerne können einzelne Positionen in einzelnen Bereichen zeitlich verschoben, manchmal können bestehende Zahlungen angerechnet werden. Das Ganze dann unterschieden nach Einkommenshöhe usw. Das lässt jede Menge Spielraum für Schönrechnerei.

Ver.di hat diesmal vor allem auf den Trick gesetzt, die Minderheit der Beschäftigten in Krankenhäusern besserzustellen gegenüber allen anderen, die Reallohnverlust erleiden werden. Die Krankenhausbeschäftigten, die noch im öffentlichen Dienst arbeiten und für die der Tarif gilt, stellen übrigens auch nur die Minderheit der Gesamtbeschäftigten in diesem Sektor dar. Ver.di hat also als Preis für diese Abschlusskosmetik mit einer neuen Spaltungslinie bezahlt, mit einem hohen Frust bei der Masse der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und besonders bei denen, die an anderer Stelle im Gesundheitswesen arbeiten, zum Beispiel als RettungssanitäterInnen oder in den Gesundheitsämtern.

Es ist also ein Fehler für Linke, dies mit dem reinen Geldbeutelblick zu analysieren und als „gut für die einen, schlecht für die anderen“ zu befinden. Die Spaltung schwächt die gesamte Klasse, auch diejenigen, die noch ein paar Rosinen abbekommen. Sie ist vor allem schlecht in einer Zeit, in der die Klasse als Ganzes angegriffen wird und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch, wo dieser Angriff vom bürgerlichen Staat organisiert wird, aber auch von rechten PopulistInnen. Heute, wo es so bitter nötig ist, dass wir die Perspektive „uns als Klasse gemeinsam gegen Kapital und Staat zu wehren“ gegen nationalistische und rassistische Demagogie verbreiten, sind der Reallohnverlust und die Entsolidarisierung durch diesen Tarifabschluss politisch verheerend. Sie stellen genauso eine Spaltung der Klasse dar wie die Standortpolitik der IG Metall, die die Beschäftigten dazu erzieht, ihre Interessen auf Kosten der LeiharbeiterInnen und der KollegInnen bei der Konkurrenz im eigenen Konzern, in anderen Unternehmen oder in anderen Ländern zu sichern.

Die Halbherzigkeit in der Analyse, das Bemühen, auch da noch Licht zu sehen, wo keines ist, fällt im Grunde auf die Strickmuster der Bürokratie für Tarifabschlüsse und zugleich auf deren ökonomistische, unpolitische Herangehensweise herein. Das wird dann auch bei Schlussfolgerungen deutlich, die von den meisten Linken gezogen werden. Fast alle weigern sich, eine Niederlage zu erkennen, wo sie stattfindet. Aber aus Niederlagen muss man lernen. Das gilt für Linke ebenso wie für gewerkschaftliche AktivistInnen und die große Masse.

Die entscheidende Antwort auf eine Führung, die bewusst Niederlagen organisiert, ist der Kampf für eine neue!

Kritik von links auf halbem Wege

Dies formuliert am klarsten die VKG: „Festzuhalten ist: Zu einem solch umfassenden Kampf war die Gewerkschaftsführung offenbar nicht bereit, einen solchen wagen sie seit langem nicht mehr zu führen. Und von der Basis her gab es die große Druckwelle nicht, die den Apparat in diese Richtung unter Druck gesetzt hätte. Dies hängt auch damit zusammen, dass auf gesamtgewerkschaftlicher Ebene eine sichtbare klassenkämpferische Strömung fehlt, die für Unentschlossene eine Orientierungshilfe oder Ermutigung hätte sein können. Diese gilt es aufzubauen.“ Leider scheut sich auch diese Erklärung, eine Niederlage als das zu bezeichnen, was sie ist. Unsere GenossInnen im Koordinationskreis der VKG sind hier in der Minderheit geblieben.

Auch die Sol, ebenfalls Teil der VKG , fordert in ihrer Erklärung: „Nun geht es darum, eine kämpferische Opposition innerhalb von ver.di aufzubauen, um zukünftig wirkliche Verbesserungen zu erreichen.“

Die SAV, obwohl auch Teil der VKG, kann sich in ihrer eigenen Erklärung nicht dazu entschließen, eine Opposition in den Gewerkschaften als Perspektive anzugeben. Sie beschränkt sich darauf, von der Gewerkschaftsführung den Bruch mit der Großen Koalition und der SPD zu fordern: „Für eine solche politische Kampagne muss sich die Gewerkschaftsführung aber mit den Parteien in der Großen Koalition im Bund anlegen, anstatt der SPD bei den Wahlen weiter die Treue zu halten.“

Ja, sie kritisiert die ver.di-Führung nur dafür, eine „Gelegenheit verpasst“ zu haben, „Kämpfe zusammenzuführen und die nötige gesellschaftliche Antwort in diesen Zeiten zu geben und den Widerstand aufzubauen.“ Ob Werneke für solche guten Ratschläge ein offenes Ohr hat?

Olaf Harms in der UZ beschreibt sehr richtig, was politisch nötig wäre: der Kampf gegen Fallpauschalen und Privatisierung sowie für Arbeitszeitverkürzung (AZV): „Es gilt nun nicht nachzulassen, den gestiegenen Kampfgeist auch angesichts der offensichtlichen Widersprüche in dieser Krise zu nutzen, weiter zu diskutieren und zu kämpfen: Für mehr Personal, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen. Eine Erhöhung des Personals in den Krankenhäusern ist entsprechend des tatsächlich vorhandenen Bedarfes mittels einer Personalbemessung notwendig. Mit den bestehenden Fallpauschalen ist das nicht zu machen – sie müssen weg. Nach der überfälligen Angleichung der Arbeitszeiten von Ost an West muss endlich die Forderung über eine grundlegende Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich verhandelt werden – 30 Stunden die Woche sind genug. Und es geht um den Kampf gegen Privatisierungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge.“

Aber er verschweigt, dass diese Forderungen und Ziele bewusst von der Führung aus dem Tarifkampf ausgeklammert worden waren: Die AZV war schon ein Beschluss des letzten Gewerkschaftstages. Dass die Privatisierung und die Fallpauschalen angegriffen werden sollten, dafür gab es Beschlüsse vor der Tarifrunde. Die Frage nicht aufzuwerfen, warum die Bürokratie, das verhindern wollte und verhinderte, heißt letztlich, deren Politik abzudecken und den BasisaktivistInnen zu raten, einfach tapfer weiterzukämpfen, so wie es auch die reformistischen FührerInnen der Gewerkschaften immer nach Niederlagen tun.

Auch RIO greift in ihrer ersten Stellungnahme einen richtigen Ansatz auf: Sie schlägt vor, von der Basis her die Ablehnung des Tarifergebnisses zu organisieren. „Das Verhandlungsergebnis muss von allen Beschäftigten abgestimmt werden und das Abstimmungsergebnis sollte mit einfacher Mehrheit für die Bundestarifkommission (BTK) und alle Gremien von ver.di bindend sein.“ In einem anderen Artikel wird gefordert: „Es braucht, besonders jetzt nach dem Tarifabschluss, demokratische Online-Versammlungen der Beschäftigten und ein Programm, um gewerkschaftlich Druck für weitere Kämpfe aufzubauen.“ Wie aber eine Bewegung der Basis in einer Organisation organisiert werden soll, deren Organisationsstrukturen von der Bürokratie beherrscht werden, sagt RIO nicht – auch wenn sie generell eine scharfe Kritikerin der Bürokratie ist. Der Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung kann aber nicht mit einer spontanen Bewegung von unten gleichgesetzt werden, insbesondere wenn jeder Spontaneismus von Corona gedämpft wird.

Bleiben noch die Stimmen aus dem postautonomen Spektrum. Im AK schrieben Daniel und Lisa (IL) noch vor dem Abschluss zu Recht, dass „ es sich bei den aktuellen Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst um eine Schlüsselauseinandersetzung in den heraufziehenden Verteilungskämpfen um die Finanzierung der Krisenkosten handelt. Ihre politische Bedeutung geht jedoch über eine bloße Umverteilung von Geldern hinaus, denn diese Tarifrunde ist auch ein feministischer Kampf: Sie betrifft wichtige Bereiche des öffentlich verwalteten gesellschaftlichen Reproduktionssektors.“ Aber schon da verzichteten sie darauf, die Führung dieser Tarifrunde durch ver.di auch nur mit einem Wort an dieser politischen Erkenntnis zu messen. Vielmehr wird die Unverschämtheit der Arbeit„geber“Innen beklagt und ver.di noch für den „Gesundheitstisch“ gelobt. Dabei war schon damals klar, dass dieser keineswegs die ursprünglichen, schon fallengelassenen Forderungen nach Privatisierung, Abschaffung der Fallpauschalen, Personalbemessungsschlüssel verfolgen würde, sondern die Spaltung der ÖD-Belegschaften vorbereitete.

So fokussiert der Artikel auf die Bewusstseinserweiterung der Beschäftigten:

„Wir haben es den erfolgreichen Kämpfen der letzten Jahre zu verdanken, dass es überhaupt zu einem Konflikt kommt und ver.di eine Nullrunde – und damit den Einstieg in die nächste Runde Austeritätspolitik – nicht einfach akzeptiert. Auch dass der Widerspruch zwischen Dankbarkeit und materieller Anerkennung so deutlich zutage tritt, ist ein Erfolg der vergangenen Kämpfe von Krankenhausbeschäftigten. Es ist unsere Aufgabe als radikale Linke, genau in diese Widersprüche zu intervenieren und uns mit den Beschäftigten aktiv zu solidarisieren.“ Also ver.di ist irgendwie scheiße und hätte am liebsten ’ne Nullrunde akzeptiert, aber wir haben keine politische Kritik daran, solidarisieren uns mit den Beschäftigten, helfen ihnen aber nicht gegen die Bürokratie. Das ist eine „radikale Linke“ so recht nach dem Geschmack von Frank Werneke.

Ähnlich die RAS aus Stuttgart. Ihre Unterorganisation „Solidarität und Klassenkampf“ benennt in ihrer Analyse viele der Schwachstellen des Ergebnisses und geht von einer starken Ablehnung dessen aus: „Deshalb fordern wir auch alle Beschäftigten auf, bleibt ver.di Mitglieder! Nichts wäre falscher, als auszutreten und unsere Kampfkraft zu schwächen.“ (https://solidaritaet-und-klassenkampf.org/2020/10/ein-respektables-ergebnis-oder/) Aber der Vorwurf der Schwächung wird keineswegs an die Führung gerichtet und es wird auch kein Kampf gegen diese propagiert jenseits dessen, das Ergebnis in Abstimmungen abzulehnen.

Das Fehlen einer expliziten Kritik am Vorgehen des Apparates in Verbindung mit der Perspektive, dass die Beteiligung an den Streiks nur größer werden müsste, um mehr Druck auf die Arbeit„geber“Innenseite aufzubauen, um ein besseres Ergebnis zu erzielen, bedeutet: Es wird letztlich die Schuld der Gewerkschaftsbasis in die Schuhe geschoben, die halt noch nicht so weit sei.

Stattdessen sollen die Unzufriedenen für den Sozialismus kämpfen: „Wir wollen aber mehr als die Gewerkschaften. Uns geht es nicht nur um ein paar Prozente mehr oder weniger, sondern um ein grundlegend anderes System.“ Der Weg dahin ist natürlich „lang“. Deshalb tut es auch den reformistischen BürokratInnen nicht weh, wenn die GenossInnen der RAS ihnen heute brav keine Steine in den Weg legen.

Hoher Aktivismus, wie ihn die RAS und ihr Umfeld an den Tag legen, ist gut. Aber er ist kein Mittel um die rechten, prokapitalistischen Positionen des Gewerkschaftsapparats zu bekämpfen. Einflussnahme der Basis, wie sie RIO propagiert, ist nötig im Kampf gegen die Bürokratie, aber sie braucht noch Organisierung unabhängig von jener und ein entsprechendes politisches Kampfprogramm. Die VKG und die darin aktiven Gruppen haben den Schritt gemacht, die aktuellen Kämpfe mit dem permanenten Eintreten für den Aufbau einer antibürokratischen Opposition in den Gewerkschaften zu verbinden.

Es sind Auseinandersetzungen wie dieser Tarifkampf, die aufzeigen, was das Ziel einer solchen Opposition sein muss: Eine Verankerungen in den Betrieben aufzubauen und eine Struktur, die die das Monopol der Bürokratie in der Propaganda und der Aktion durchbrechen kann: eine klassenkämpferische Basisbewegung.

Wir wenden uns an alle kritischen und unzufriedenen KollegInnen genauso wie an die Organisationen der radikalen Linken, die diesen Abschluss kritisch bewerten: Zieht die entscheidende Konsequenz aus dieser Niederlage: Bauen wir gemeinsam die VKG auf, bündeln wir unsere Kräfte gegen die Bürokratie und führen wir eine solidarische Debatte, um unsere Differenzen zu klären!




Novelle des Infektionsschutzgesetzes: Regierung lässt Notstandbefugnisse parlamentarisch absegnen

Martin Suchanek, Infomail 1126, 19. November 2020

Bundestag und Bundesrat können auch rasch handeln. An einem einzigen Tag, am 18. November, stimmten sie die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes durch, so dass sie nach Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten schon am Folgetag in Kraft tritt.

Große Koalition plus

An der Corona-Politik wird sich damit nichts Grundsätzliches ändern. Die Große Koalition und die Landesregierungen werden weiter versuchen, die Profitinteressen des Großkapitals zu wahren, eine Schließung von Großkonzernen und der Schulen zu vermeiden – und zugleich die Infektionszahlen nach unten zu drücken, indem vor allem das öffentliche Leben im Konsum- und Freizeitbereich eingeschränkt wird.

Wie sehr die Bundesregierung dem Kapitalinteresse verpflichtet ist, verdeutlichen die Milliarden, die in die Rettung von Konzernen wie der Lufthansa gepumpt wurden, während für die Unterbringung von Obdachlosen, für den Ausbau von Testkapazitäten, für die Vorbereitung der Schulen auf eine 2. Welle der Pandemie Zeit verloren ging und kein Geld lockergemacht wurde.

Im Bundestag stimmten 413 Abgeordnete für die Gesetzesänderung, 235 dagegen, 8 enthielten sich. Im Bundesrat erhielt es 49 von 69 Stimmen. In beiden Kammern konnte sich die Regierung auf eine klare Mehrheit aus CDU/CSU, SPD und Grünen stützen, die gewissermaßen als erweiterte „Mitte“ agierte und so die bisherige Politik von Bund und Ländern legitimierte.

Erklärter Zweck des Gesetzes war schließlich auch, die Corona-Politik der Großen Koalition auf eine parlamentarische Basis und eine „solidere“ rechtliche Grundlage zu stellen, also bei etwaigen Klagen vor den Gerichten nur selten zu scheitern. Aus diesem Grund wurde auch der ursprüngliche Entwurf vom 12. November noch rasch „nachgebessert“, seine Substanz blieb allerdings unverändert. Auch wenn ein zentraler und berechtigter Kritikpunkt der parlamentarischen Opposition am neuen Gesetz darin liegt, dass es die Machtbefugnisse der Regierungen in Bund und Ländern ausweitet, so verdeutlicht die Abstimmung auch, dass das nicht den Kern des Problems darstellt. Auch auf parlamentarischem Weg würde im Grunde derselbe politische Kurs verfolgt werden.

Erstmals seit Beginn der Pandemie stellten sich dem Gesetzesvorhaben aber auch eine rechte und eine linke Opposition entgegen.

Rechte Kritik

Die rechte zerfällt dabei in eine marktliberale, die von der FDP vorgetragen wird, die im Grunde eine Regierungspolitik mit Restaurant- und Kulturbetrieb haben will. Wenn sie von der Einschränkung der „Freiheit“ spricht, meint sie vor allem die Gewerbefreiheit. Beherzt springen FPDlerInnen den Kleingewerbetreibenden bei, machen sich für das „Recht auf Arbeit“ der Selbstständigen stark. Geld soll deren Rettung jedoch möglichst nichts kosten. Soziale Sicherung für Selbstständige oder in die Scheinselbstständigkeit Gedrängte oder für Kleinbetriebe will die FDP im Namen des Grundrechts auf freie Berufsausübung sparen. Aufsperren! lautet die liberale Devise, natürlich mit tollen Hygienekonzepten.

Auf diese will die AfD auch gleich verzichten. Der Rechtspopulismus und seine rechten bis rechtsradikalen Fußtruppen schwadronieren von der Merkel-Diktatur, vergleichen das Infektionsschutzgesetz allen Ernstes mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD will selbst bei diesem Aberwitz nicht stehen bleiben und erklärt: „Die heutige Gesetzeslage ist eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab.“

Mit solchen Vergleichen will sich die AfD zum parlamentarischen Arm und parteipolitischen Ausdruck einer rechtspopulistischen Bewegung auf der Straße machen – von Corona-LeugnerInnen, VerschwörungstheoretikerInnen, NationalistInnen, RassistInnen und AntisemitInnen bis hin zu offenen Nazis. Demagogisch greifen sie die berechtigte Existenzangst vor allem kleinbürgerlicher Schichten auf – und versprechen ihnen Rettung durch eine Rücksichtslosigkeit. Wer die Corona-Gefahr leugnet, braucht auch für den  vielbeschworenen „Mittelstand“ oder den Gesundheitssektor kein Geld, sondern setzt auf das Überleben der „Tüchtigen“, nimmt den Tod von abertausenden gesundheitlich Gefährdeten billigend in Kauf.

Linkspartei

Doch nicht nur eine liberale und eine rechtspopulistische Opposition erhoben ihr Haupt. Auch die Linkspartei setzte sich von der Politik der „nationalen Einheit“, die sie am Beginn der Pandemie mitgetragen hatte, ab. Sie votierte gegen die Änderungen zum Infektionsschutzgesetz und begründete dies vor allem damit, dass nur das Parlament weitreichende Einschränkungen zum Infektionsschutz erlassen und dieses Recht nicht an die Regierung delegiert werden dürfe. Darüber hinaus setzte sie sich recht entschieden von den rechtspopulistischen ReaktionärInnen auf der Straße und von der AfD ab.

Schließlich verwiesen Abgeordnete und Stellungnahmen der Linkspartei immer wieder auf die Versäumnisse der Regierungspolitik und deren Ausrichtung an den Kapitalinteressen. Die Forderung nach einer Vermögensabgabe, die in den nächsten Jahren über 300 Milliarden einbringen soll, und nach einer vorausschauenden Gesundheitspolitik im Interesse der Bevölkerung bringen nicht nur eine reformistische Kritik an der Regierung zum Ausdruck. Sie stellen auch einen Ansatzpunkt für die gemeinsame, außerparlamentarische Aktion auf der Straße und in den Betrieben, für den Aufbau einer Antikrisenbewegung dar. Wir fordern daher von der Linkspartei, ihren parlamentarischen Reden und ihrem Abstimmungsverhalten auch Taten folgen zu lassen und gemeinsam mit sozialen Bewegungen, klassenkämpferischen GewerkschafterInnen und der radikalen Linken den Aufbau eine solchen Bewegung in Angriff zu nehmen.

Hände weg vom Demonstrations- und Versammlungsrecht!

Mit der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes wurde im Wesentlichen die bisherige Regierungspolitik abgesegnet und parlamentarisch legitimiert. An wichtigen Punkten handelt es sich aber auch um eine Verschärfung der Gesetzeslage.

Entscheidende, politisch gefährliche Änderungen im Infektionsschutzgesetz finden sich im Paragraph 29a, der die Befugnisse zur Einschränkung von verfassungsmäßigen Grundrechten durch die Bundes- und Landesregierungen auflistet und somit die bisherige Praxis der Regierungen, Einschränkungen dieser Rechte auf dem Wege von Beschlüssen der staatlichen Exekutivgewalt auf den Weg zu bringen, rechtlich absichern soll.

Im Grunde stattet das Gesetz die Regierungen mit Befugnissen aus, die denen von Notstandsmaßnahmen gleichkommen. Hinzu kommt, dass etliche der Bestimmungen recht dehnbar formuliert wurden, was der Exekutivgewalt entsprechenden Spielraum für die Einschränkung von Grundrechten gewährt – einschließlich unterlässlicher demokratischer Rechte wie des Demonstrations- und Versammlungsrechts, ohne die die ArbeiterInnenklasse und soziale Bewegungen ihre Interessen nicht verteidigen können.

Auch wenn die Regierung gerne betont, dass bundesweite Demonstrationsverbote nicht vorgesehen seien, lassen allein schon Vorschläge von PolitikerInnen der Großen Koalition oder aus der Polizei Zweifel an diesen Versprechungen aufkommen.

So fordert der Hamburger Erste Bürgermeister Tschentscher ein Verbot von Demonstrationen in den Innenstädten. Diese könnten, gibt sich der Sozialdemokrat kulant, auch am Stadtrand oder auf der grünen Wiese stattfinden. VertreterInnen der Polizei widersprechen zwar und geben sich scheinbar als SchützerInnen des Versammlungsrechts aus, um als „Kompromiss“ eine Begrenzung der TeilnehmerInnenzahlen auf 500 bis 1.000 Menschen ins Spiel zu bringen. Demoverbot light, gewissermaßen.

Diese Gefahr der willkürlichen, klassenpolitisch motivierten Einschränkung demokratischer Rechte müssen wir ernst nehmen. Schon im ersten Lockdown wurden diese faktisch ausgehebelt. Dass die Gewerkschaften, SPD und auch Linkspartei diese Politik im Interesse der „nationalen Einheit“ mitgetragen und im Fall des DGB gleich freiwillig auf die Erster-Mai-Kundgebungen verzichtet haben, machte die Sache nicht besser. Wie die Einschränkung demokratischer Rechte auf der ArbeiterInnenklasse lastet, verdeutlichten  die Tarifrunden im öffentlichen Dienst oder im Nahverkehr, als Warnstreiks als Gesundheitsrisiko, Streikende als mögliche „Superspreader“ diffamiert wurden – als ob die Arbeit von Tausenden in stickigen Büros oder Berufsverkehr in überfüllten Bussen und Bahnen weniger gesundheitsgefährdend wären als Streikposten und Massendemos mit Masken und Sicherheitsabstand an der frischen Luft.

Grundrechte und Klassenpolitik

Bei verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten denken die meisten Menschen zuerst an wichtige demokratische Errungenschaften, die einzelne BürgerInnen oder deren Agieren gegenüber staatlichen Eingriffen schützen – also z. B. das Recht auf Meinungs-, auf Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, auf Schutz der Privatsphäre, Wahlrecht, rechtliche Gleichheit unabhängig von Geschlechtszugehörigkeit, sexueller Orientierung, von Herkunft usw.

All diese Errungenschaften mussten über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte von der ArbeiterInnenbewegung, der Frauenbewegung und anderen demokratischen und sozialen Bewegungen erkämpft werden – und etliche wie z. B. die rechtliche Gleichheit aller MigrantInnen ohne deutsche StaatsbürgerInnenschaft sind selbst bis heute längst nicht errungen.

Doch neben diesen bürgerlich-demokratischen Rechten, die wir unbedingt verteidigen und ausweiten müssen, beinhalten die Grundrechte in der kapitalistischen Gesellschaft auch solche Dinge wie die Gewerbefreiheit, das Recht auf Privateigentum an den Produktionsmitteln usw. Diese stellen keine willkürlichen Zusätze zu oben genannten Rechtsgarantien formal gleicher StaatsbürgerInnen dar, sondern eigentlich den Kern der Grundrechte unter kapitalistischen Bedingungen.

Dies erklärt auch, warum sich rechte wie linke KritikerInnen der Bundesregierung alle gern auf „Grundrechte“ berufen, wenn sie deren Corona-Politik verurteilen. Der zwiespältige Charakter eben dieser Grundrechte bringt es mit sich, dass dieser Bezug von allein Seiten mit einer gewissen Berechtigung erfolgt, weil sich beide auf Rechtsgarantien für die BürgerInnen einer kapitalistischen Gesellschaft beziehen.

Vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse bedeutet das, dass wir wichtige Grundrechte erkämpfen, nutzen und verteidigen müssen, weil sie die Organisations- und Kampfmöglichkeiten sichern und ausweiten helfen.

Andere wiederum dienen letztlich nur der Verteidigung des Kapitals und müssen eingeschränkt, letztlich im Zuge einer Revolution aufgehoben werden. Beim Recht auf Eigentum, heilige Kuh und Kern aller bürgerlichen Verfassungen und Menschenrechtskataloge, tritt dies am deutlichsten zutage.

Doch genau das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die damit einhergehende Verfügungsgewalt des Kapitals über die Arbeit müssen wir angreifen – und zwar sowohl im Kampf für effektiven Gesundheitsschutz wie um eine Antikrisenprogramm im Interesse der Lohnabhängigen.

Das Problem der Regierungspolitik besteht nämlich nicht nur in der Einschränkung wichtiger Grundrechte – und insbesondere von Demonstrations- und Versammlungsrecht. Es besteht auch darin, dass um alle Maßnahmen, die die Rechte des Kapitals einschränken, ein möglichst großer Bogen gemacht wird. So wurden monatelang die Zustände auf den Schlachthöfen wider besseres Wissen toleriert und auf die „Selbstkontrolle“ der Unternehmen gesetzt. So findet eine Kontrolle von Infektionsschutz in der Großindustrie faktisch nicht statt.

Hinzu kommt, dass wir uns bei der Kontrolle weder auf das Parlament noch auf staatliche Behörden verlassen können. Vielmehr müssen wir den Kampf um effektiven Gesundheitsschutz und notwendige Maßnahmen zur Verhinderung von Lohn- und Einkommensverlusten mit der entschädigungslosen Enteignung wichtiger Betriebe z. B. im Gesundheitswesen und dem Kampf für ArbeiterInnenkontrolle verbinden.

Hierzu haben wir einen Vorschlag für ein Aktionsprogramm entwickelt, das den Kampf gegen die Corona-Gefahr und die kapitalistische Krise miteinander verbindet.




Thailand: Die Monarchie wankt, wie kann sie gestürzt werden?

Robert Teller, Infomail 1126, 18. November 2020

Es gibt viele Länder, die sehr gut, wenn nicht besser, ohne König auskommen. Und es gibt Thailand, wo bereits der Hashtag #WhyDoWeNeedAKing als Majestätsbeleidigung gilt. Die Protestbewegung der vergangenen Monate hat sich in dieser Frage zu einem Punkt zugespitzt, wie es in früheren Jahren (etwa bei den Rothemden-Protesten) nicht denkbar war. In Bangkoks Schulen wird nach Anordnung des Militärs jeden Morgen die Hymne des Königshauses gesungen. Aber die Monarchie stellt in Thailand keine Folklore dar, sie ist aufs Engste verknüpft mit dem herrschenden politischen und wirtschaftlichen System. Das Königshaus ist der größte Grundbesitzer im Land, hält Unternehmensanteile mit Milliardenwert und unterstützte die beiden Militärputsche 2006 und 2014 gegen demokratisch gewählte Regierungen. Dieses Bollwerk der Reaktion ist nun ins Gerede gekommen und zum Gegenstand von Massenprotesten geworden – drakonischen Strafvorschriften zum Trotz, mit denen es sich gegen jede Kritik abschirmt.

Auslöser

Die aktuelle Protestwelle wurde ausgelöst durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 23. Februar, die bürgerlich-liberale „Future Forward Party“ (FFP; Partei Neue Zukunft) zu verbieten, die bei den Parlamentswahlen 2019 die drittmeisten Stimmen erhalten hat, aber nicht an der Regierung beteiligt wurde. Das Verbot wurde von dem Militär nahestehenden RichterInnen mit einer angeblich rechtswidrigen Parteispende des Unternehmers und Parteigründers Thanathorn Juangroongruangkit in Höhe von 191 Millionen Baht (ca. 5,3 Millionen Euro) begründet. Ähnliche Vorwürfe wurden schon oft von Militär und Staatsapparat gegen oppositionelle oder missliebig gewordene bürgerliche Parteien erhoben, die von Militär und Königshaus als Bedrohung ihrer Privilegien wahrgenommen werden. Das Verbot der FFP zeigt auf, wie sehr sich die herrschende Clique vor populären Oppositionskräften fürchtet – selbst wenn diese ein rein bürgerliches Programm vertreten und auf Grundlage des derzeitigen undemokratischen, pseudodemokratischen Systems auch kaum eine Aussicht auf die Regierungsmehrheit haben.

Die ersten Proteste wurden im Februar von StudentInnen der Thammasat-Universität in Bangkok organisiert. Andere Universitäten und Schulen schlossen sich rasch an. Die Aktionen fanden jedoch unter erheblich erschwerten Bedingungen zu Beginn der Pandemie statt und konnten nach Verhängung eines strikten Lockdowns mit Schließung der Universitäten und Schulen nicht aufrechterhalten werden.

Die Proteste flammten im Juli jedoch wieder auf, mit den größten Demonstrationen seit dem Putsch von 2014. Sie fanden an symbolträchtigen Orten und an bekannten Universitäten statt, aber sie beschränken sich nicht auf die Hauptstadt, sondern breiteten sich auf mindestens 20 Regionen des Landes aus. In ihnen drückt sich eine Wut aus über diktatorische Maßnahmen gegen die Meinungsfreiheit und andere bürgerliche Freiheiten, wie sie die Junta seit 2014 nicht nur gegen „Rothemden“, sondern gegen alle anwendet, die den Umbau des Landes unter der Herrschaft des Militärs offen kritisieren. Einer von vielen solchen Fällen stellt der eines Mannes aus Khon Kaen dar, der ein T-Shirt mit folgendem Aufdruck trug: „Ich habe den Glauben in die Monarchie verloren“. Er bekam ungebetenen Besuch von der Polizei, und als er sich weigerte, das T-Shirt abzulegen, wurde er am 9. Juli in Khon Kaen zwangsweise in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Die Student Union of Thailand initiierte Proteste und einen Aufruf, dem sich viele andere anschlossen.

Forderungen

DemonstrantInnen forderten die Auflösung des 2019 neu zusammengesetzten Parlaments, ein Ende von Schikanen gegen RegierungsgegnerInnen und eine neue Verfassung, um die unter der Militärjunta 2016 ausgearbeitete zu ersetzen. Doch die Bewegung wirft mehr auf als nur bestimmte bürgerlich-demokratische Grundrechte. SchülerInnen protestieren an ihren Schulen gegen körperliche Züchtigung und Demütigungen durch ihre LehrerInnen, StudentInnen an den Universitäten gegen die geltenden Haarschnitt- und Kleidungsvorschriften. LGBTIAQ-AktivistInnen fordern die Gleichstellung homosexueller PartnerInnenschaften, die Überarbeitung von Lehrbüchern und die Anerkennung ihrer sexuellen Identität in den Schulen und in der Öffentlichkeit. Frauen fordern die Legalisierung der Abtreibung. Alle diese Themen waren bislang tabuisiert. Sie in Frage zu stellen, dazu gab es unter der Herrschaft des Militärs keinen Zentimeter Raum. Diesen hat sich die Bewegung genommen, und so scheint auch die Unantastbarkeit der Monarchie mittlerweile nicht mehr als etwas „Heiliges“. Dabei haben die DemonstrantInnen die Beseitigung der Monarchie ursprünglich gar nicht offen auf die Tagesordnung gesetzt. Es war zu einem guten Teil die Reaktion der Regierung, die sie in diese Richtung gedrängt hat, indem sie die AktivistInnen, die sich für beschränkte demokratische Reformen ausgesprochen haben, pauschal beschuldigte, GegnerInnen der Monarchie zu sein.

Reaktion

Die Regierung antwortet mit Repression, aber auch mit Angeboten an die parlamentarischen Kräfte in der Opposition, sich an Konsultationen mit der Regierung um mögliche Reformen zu beteiligen. Am 15. Oktober wurde der Ausnahmezustand verhängt und alle Versammlungen mit mehr als 5 Personen waren untersagt, was Erinnerungen an den Putsch von 2014 weckte. Viele bekannte AnführerInnen der Bewegung wurden verhaftet. Am folgenden Tag wurde an der Pathumwan-Kreuzung in der Nähe des zentralen Siam-Platzes in Bangkok eine friedliche Demonstration von 2.000 DemonstrantInnen mit Wasserwerfern aufgelöst, wobei Reizstoffe und blaue Farbe zum Einsatz kamen, wie Videos belegen. Die Protestbewegung reagierte mit unangekündigten dezentralen Demonstrationen, um die Repression der Bullen zu erschweren.

Trotz Ausnahmezustand und Stilllegung der Metro gingen am 17. Oktober insgesamt 23.000 Menschen auf die Straße. Die Repression hatte ihren Zweck verfehlt und nur die Liste der Forderungen verlängert, die gegen die Regierung gerichtet wurden. So forderten sie als Reaktion auf den Ausnahmezustand den sofortigen Rücktritt von Premierminister Prayut Chan-o-cha. Die Demonstrationen hielten an, und nach wenigen Tagen musste Prayut den Ausnahmezustand aufheben. Das zeigt zwar, dass die Regierung in der Defensive ist und planlos agiert. Aber eine Entscheidung ist noch nicht gefallen, und die Regierung hat zumindest auch noch Reserven in der Schublade, so die Mobilisierung von rechten, royalistischen Kräften, die für die alte „Ordnung“ eintreten, Chaos stiften und das Militär zum Eingreifen auffordern – zur „Rettung von Monarchie und Ordnung“.

Am 17. November kam es zu neuerlichen Zusammenstößen zwischen Protestbewegung und Polizei vor dem Parlament in Bangkok anlässlich einer Debatte um die Verfassung. Auf der Tagesordnung stand der Vorschlag, hinkünftig die Mehrheit des Senats, also der zweiten Kammer, vom Volk wählen zu lassen und nicht mehr vom Militär zu ernennen. Im Abgeordnetenhaus verfügen die dem Militär und der Monarchie nahestehenden Parteien aufgrund des undemokratischen Wahlrechts freilich über eine klare Mehrheit, so dass die Chancen auf eine legale Reform praktisch null sind. Kein Wunder also, dass es zu Protesten kam und DemonstrantInnen versuchten, vor das Parlament zu gelangen, das mit Stacheldraht, Barrikaden und Wasserwerfern geschützt wurde. Mindestens 40 Demonstrierende wurden dabei verletzt. 5 erlitten laut Aussagen von Menschenrechtsorganisationen Schusswunden. Am Rande der Aktionen kam es auch zu Auseinandersetzung mit AnhängerInnen der Monarchie, die jede Verfassungsänderung ablehnen.

Die letzten Monate verdeutlichen einerseits das Durchhaltevermögen der Protestbewegung und ihre Popularität, andererseits schafft sie bisher auch nicht, die Konfrontation weiterzutreiben. Dies ist aber notwendig, soll sie nicht wie frühere Bewegungen enden. Bevor wir uns mit der Perspektive der Opposition beschäftigen, müssen wir uns zuerst aber vor Augen halten, gegen welches System sie antritt und wie dieses mit dem Kapitalismus im Land verbunden ist.

Regierung, Militär, Monarchie, Kapital

Premierminister Prayut Chan-o-cha regiert Thailand seit dem letzten Putsch im Mai 2014. Seitdem hat die Militärjunta daran gearbeitet, eine bürgerlich-demokratische Fassade aufzubauen, die die Macht des Regimes nicht zu berühren imstande ist. Die ersten 5 Jahre nutzte Prayut als Kopf der Militärjunta u. a., um die Wahlen im März 2019 so „vorzubereiten“, dass er wieder eine Regierung bilden kann, ohne auch nur annähernd über eine demokratische Mehrheit zu verfügen, die aus allgemeinen, geheimen und gleichen Wahlen hervorgegangen wäre. Nach der 2016 in Kraft getretenen Verfassung wird das gesamte Oberhaus des Parlaments vom Militär ernannt, während zuvor zumindest die Hälfte der Sitze in Wahlen bestimmt wurden. Das heißt, die Streitkräfte können jeden Beschluss des Unterhauses blockieren.

Thailands herrschende Klasse ist in sich zerstritten und unfähig, ihre Interessen in einer „demokratischen“ Form zum Ausdruck zu bringen. Ein wichtiger Teil unterhält enge Verbindungen mit der Staatsbürokratie und dem Militär, einschließlich des staatlichen und vom Militär kontrollierten industriellen Sektors. Andere Teile haben sich wiederholt vom staatlich-militärischen Apparat distanziert und bei den Massenprotesten von 2009 und 2013/2014 gegen die Regierung gestellt. Der herrschende militärisch-monarchistische Block dagegen hat selbst außerhalb des Staatsapparates und eines gewissen Klientelismus keine soziale starke Basis. Die mit ihm verbundenen Parteien fürchten selbst „normale“, also nicht von Militär und Monarchie kontrollierte und eingehegte bürgerliche Verhältnisse.

Den städtischen und ländlichen Massen vermögen sie kein glaubwürdiges Programm zu präsentieren, das diese einbindet und ihre soziale Krise aufgreift. Daher ist das Militär darauf angewiesen, das Königshaus in Anspruch zu nehmen, um seinen Machtanspruch zu legitimieren. So hängt die Regierung von der Unterstützung des Militärs und der Staatsbürokratie ab. Das Militär sieht seine Macht mit dem Weiterbestehen der Monarchie verknüpft und es scheint unmöglich, das eine ohne das andere haben zu wollen. Ein Bestandteil der politischen Krise ist also die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, ihre politische Herrschaft so zu gestalten, dass ihre verschiedenen Flügel ebenso wie die Massen demokratisch integriert werden. Während sich in der bürgerlichen Demokratie der „demokratische Wille“ wie von selbst scheinbar über die Klassen erhebt, bleibt die herrschende Fraktion der thailändischen Bourgeoisie an eine vormoderne Monarchie im Bündnis mit der Militärbürokratie gebunden, und damit an ganz rustikale polizeistaatliche Methoden, dem Volk seine Herrschaft zu „vermitteln“.

Einen zweiten Bestandteil der Krise bildet eine soziale Verwerfung, die in den Städten wie auf dem Land Millionen in Armut gestürzt hat. Thailands Regierung lässt sich für ihr erfolgreiches Management der Pandemie feiern, aber dieser „Erfolg“ lastet hart auf den Schultern der Bevölkerung. Obwohl die Regierung umfassende Lohnersatzleistungen gewährt hat, zeigen Umfragen, dass die Hälfte der Haushalte massive Einkommensverluste erleiden mussten und eine Mehrheit der informell beschäftigten ArbeiterInnen keine Unterstützung erhält. Der Tourismus ist auf null geschrumpft und das Bruttoinlandsprodukt wird 2020 um 8 % zurückgehen.

Massenbewegung und bürgerliche Führung

Als StudentInnen der Thammasat-Universität am 10. August ihr 10-Punkte-Programm verlasen, war dies zweifellos ein sehr mutiger, und für viele auch ein radikaler Schritt. Sie forderten die Abschaffung des Strafrechtsparagraphen, der Majestätsbeleidigung sanktioniert; außerdem Offenlegung und Kontrolle der Finanzen des Königshauses, die Auflösung diverser Staatsinstitutionen der Monarchie und ihre „Entpolitisierung“, also deren Trennung vom Militär und seinen Parteien.

All das geht in die richtige Richtung, aber jeder dieser Schritte stößt auf starken Widerstand von Staat und Militär. Die entscheidende Frage ist, wie dieser überwunden werden kann. Dadurch, dass grundlegendste demokratische Forderungen in diesem Land sehr radikal wirken, können auch bürgerliche Parteien, die vom Militär unterdrückt oder weggeputscht werden, in Massenbewegungen eine populäre Rolle einnehmen. Aber der Konflikt etwa zwischen den Shinawatras oder Thanathorn Juangroongruangkit und dem Militär ist nur ein relativer, nicht einer von unterschiedlichen Klasseninteressen. Beide – der ehemalige, weggeputsche Ministerpräsident Shinawatra wie auch der liberale Oppositionspolitiker Thanathorn Juangroongruangkit – stammen direkt aus den Kreisen des thailändischen Großkapitals. Thanathorn hat nicht die Massen mobilisiert, die jetzt auf der Straße sind, und er verfügt auch über keine Strategie, wie die Bewegung die Macht des Militärs brechen kann. Er warnt vielmehr vor einer Zuspitzung und vor einer offenen Konfrontation mit dem herrschenden Regime. Er appelliert an die Verantwortlichen, auf die Bewegung zuzugehen. Das ist keine Perspektive, mit der die Bewegung vorankommt, mit der sie auch nur ihre demokratischen Forderungen konsequent durchsetzen kann. Kurz gesagt, die Bourgeoisie ist keine revolutionäre Klasse, und ihre politischen Parteien können diese Krise nicht lösen. Sie wollen allenfalls eine Neuverteilung der Macht und der Pfründe im Staatsapparat innerhalb der KapitalistInnenklasse.

Die Bewegung braucht hingegen ein Programm, mit dem sie die Macht des Militärs herausfordern kann, indem sie die Proteste der StudentInnen und der städtischen Jugend mit der ArbeiterInnenklasse und den ländlichen Massen vereint und sie in Aktionskomitees und -räten organisiert. Sie sollte für eine verfassunggebende Versammlung kämpfen, die nicht durch den bürgerlichen Staat, sondern durch Komitees der Massen vorbereitet und kontrolliert wird. Um der Gefahr eines Putsches entgegenzuwirken, sollte die ArbeiterInnenbewegung unter den SoldatInnen für ihre Ziele werben und sie auffordern, im Falle des Falles mit der militärischen Führung zu brechen. Falls es zum Putsch kommt, sollte ein unbefristeter Generalstreik ausgerufen werden. Diese Maßnahmen müssen jetzt vorbereitet werden – und dafür ist es notwendig, dass SozialistInnen um die Führung der Bewegung kämpfen, um zu verhindern, dass sie von ihren bürgerlichen FührerInnen in einem Deal mit dem staatlich-militärischen Establishment geopfert wird. Das erfordert aber zugleich selbst eine politische Kraft, eine ArbeiterInnenpartei, gestützt auf ein revolutionäres Programm aufzubauen, dass den Kampf um demokratische Rechte, den Sturz der Monarchie mit dem für die sozialistische Revolution verbindet.




Trotz Corona treibt hessische Polizei Räumung des Dannenröder Forstes voran: Tag X – Unterstützt die Besetzung unter Einhaltung der AHA-Regeln!

Erich Orkan, Infomail 1126, 15. November 2020

Seit einem Monat treibt das Räumungsgeplänkel in angrenzenden Wäldern wohl die Infektionszahlen im Landkreis Marburg durch die kasernierte Polizei und die mangelnden Abstandsregeln in den Einsatzfahrzeugen und beim Baumräumen selbst in die Höhe. Jetzt wagt sich die Hessische Landesregierung während des Lockdowns an die Räumung des Kerngebiets, die wohl Monate andauern wird. Der vielbeschworene Schutz der Umwelt war der CDU ohnehin nie einen Cent wert, die Grünen haben ihn längst für ihre Regierungsposten ad acta gelegt. Offenkundig wird jetzt auch auf jeden Infektionsschutz gepfiffen.

Anscheinend sollen die Bullen eine Mutation des Virus ausbrüten. Haha, Spaß beiseite, hier zeigt sich schon auch die Einheit des Gesundheits- und Umweltkampfes!

Wir fordern den sofortigen Räumungsstopp und den Rückzug aller Polizeieinheiten! Der  Rücktritt der schwarz-grünen Landesregierung ist eigentlich wegen Verstoßes gegen den Seuchenschutz längst überfällig. Ein dringlicher Antrag der Linkspartei im Hessischen Landtag wegen Gefährdung den Einsatz auszusetzen wurde ebenso abgelehnt wie die Klage eines Besetzers.

Der Widerstand der gut eingerichteten BesetzerInnen ist trotz des Auftretens der Virus- und Repressionsmaschine helden- oder besser beispielhaft. Aber sie befinden sich seit Wochen in der Defensive, mehr und mehr Wald wird gerodet. Um den BesetzerInnen die Aussichtslosigkeit ihres Widerstandes vorzuführen und die RodungsgegnerInnen in der Bevölkerung zu entmutigten, wird bereits südlich des Waldes die Autobahn gebaut.

Auch der bereits stattfindende Lkw-Baustellenverkehr vermittelt eine Vorstellung über die Zukunft der Region. Überall auch Patrouillen des Polizeistaats.

Der Wald in Deutschland ist aber überall bedroht. Die WaldbesetzerInnen zeigen uns allen eine wichtige Form des Widerstandes. Schafft also ein, zwei, viele Dannis!

Die Besetzung braucht also unsere Solidarität. Eine massenhafte Beteiligung ist wichtig, wenn Räumung und Bauarbeiten direkt blockiert werden sollen. Ohne eine Mobilisierung, die Zehntausende auf die Straße, zur Besetzung und Blockaden bringt, die in den umliegenden Orten und in den Betrieben verankert ist, drohen Polizei und Landesregierung, den Bau der Autobahn durchzuziehen. Ergänzt werden müssten diese durch Massendemonstrationen in der Landeshauptstadt Wiesbaden oder anderen Großstädten.

Die Kämpfe gegen die Umwelt- und Klimakatastrophe sind Teil aller gegen die Abwälzung der Kosten der Krise und für effektiven Gesundheitsschutz, letztlich für eine andere, sozialistische Gesellschaft. Die Gewerkschaften, Bewegungen wie Fridays for Future, linke Parteien und die radikale Linke müssen jetzt Unterstützung leisten und sich für den Tag X bereitmachen, den Tag, an dem die Rodung des Waldes und die Räumung der Besetzung starten wird.

  • Kommt alle in den Danni! Maske auf und 2,5 m Abstand! Zieht Euch warm an, es ist genug Platz!



Nigeria: Jugend erhebt sich im #END SARS-Aufstand

Bernie McAdam, Infomail 1126, 14. November 2020

Am 7. Oktober löste ein in Umlauf gebrachtes Video eine Massenrevolte der nigerianischen Jugend aus, auf dem zu sehen ist, wie PolizeibeamtInnen der „Special Anti-Robbery Squad“ (SARS; Sondereinheit zur Bekämpfung von Raubüberfällen) einen Teenager töten. Der Mann, der das Video aufgenommen hatte, wurde festgenommen und es kam unter dem Hashtag #END SARS zu Massenmobilisierungen auf den Straßen. Die Polizei setzte Tränengas ein, um die Proteste aufzulösen. Stattdessen weiteten diese sich jedoch auf alle Ballungsräume Nigerias aus, insbesondere auf die größte Stadt Lagos sowie die Hauptstadt Abuja.

Ein solcher Aufstand zeichnete sich schon lange ab. Die Ermordung des Teenagers in Ughelli war kein einmaliger Akt der Brutalität, sondern der Wendepunkt für Jugendliche, die seit vielen Jahren unter den Schikanen und dem Terror der SARS gelitten hatten. Ihre BeamtInnen hatten sich für Morde, Erpressungen, Entführungen und Vergewaltigungen einen berüchtigten Ruf erworben, wobei die Jugend am häufigsten in der Schusslinie stand. Amnesty International hat in den letzten drei Jahren über mindestens 82 Fälle von Folter, Misshandlung und Mord durch SARS berichtet. Diese Zahl dürfte eine gewaltige Untertreibung sein.

Am 11. Oktober löste Präsident Muhammadu Buhari die SARS-Einheit auf und gründete eine neue namens „Special Weapons and Tactics“ (SWAT; Spezialwaffen und -taktiken). Im Grunde war es dieselbe Einheit unter einem anderen Namen. Doch niemand ließ sich von diesem Trick täuschen, war es doch bereits das fünfte Mal in fünf Jahren, dass sie „reformiert“ wurde. Es folgten mehr und größere Proteste und #END SARS wurde zu #END SWAT. Buhari reagierte mit noch mehr Repression und versuchte am 20. Oktober, eine 24-stündige Ausgangssperre in Lagos durchzusetzen. Lagos ist mit 14,5 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt Afrikas, einige Schätzungen gehen sogar von 23 Millionen in der gesamten Metropolregion aus.

In der Nacht setzten sich die DemonstrantInnen über die Ausgangssperre hinweg. An der Mautstation Lekki in Lagos eröffnete das Militär das Feuer, wobei mindestens zwölf Menschen getötet und viele weitere verwundet wurden. Ursprünglich leugneten sie es, aber Reuters berichtete, dass an diesem Tag in ganz Nigeria 46 Menschen getötet wurden. Die Revolte weitete sich aus und verstärkte sich durch Straßensperren und Angriffe auf Polizeistationen und Mautstellen. Es kam auch zu Plünderungen, was angesichts der weit verbreiteten extremen Armut nicht überrascht. Bewaffnete Schlägertrupps griffen in mehreren Gebieten friedliche DemonstrantInnen an, zweifellos orchestriert von der Polizei.

Die internationale Solidarität war groß und kam einerseits von prominenten MusikerInnen wie Rihanna, Beyoncé (Knowles-Carter), Noname (Fatimah Nyeema Warner), Drake (Graham), Diddy (Sean Combs), Trey Songz und Jack (Patrick) Dorsey (Mitgründer von Twitter), die die Jugend unterstützen, sowie durch Demonstrationen in den USA und in London. Auch in Nigeria hat der Sohn des verstorbenen Afrobeatpioniers Fela Kuti, Seun Kuti, der selbst Musiker ist, die Regierung und die Polizei verurteilt. Felas Familie ist seit langem Ziel des Militärs. Seun steht in dieser Tradition und war versessen, darauf hinzudeuten: „Wenn die Reichen plündern können, dann können es die Armen auch“, ein Hinweis auf den Diebstahl nigerianischer Ressourcen durch den Imperialismus und seine AuftraggeberInnen.

Auf der Kippe

Die Jugendrevolte findet vor dem Hintergrund einer großen Krise der nigerianischen Wirtschaft statt. Tatsächlich machen Jugendliche unter 18 Jahren die Hälfte der Bevölkerung aus und Arbeitslosigkeit hat sie besonders hart getroffen. Die nigerianische Arbeitslosenquote für das zweite Quartal 2020 liegt bei 27,1 Prozent, was 21,7 Millionen Menschen ohne Arbeit bedeutet. Weitere 28,6 Prozent sind unterbeschäftigt. Bei den 15- bis 34-Jährigen sind 13,9 Millionen Menschen arbeitslos.

Zwischen 2000 und 2014 wuchs Nigerias BIP um durchschnittlich 7 Prozent pro Jahr. Nach dem Verfall des Ölpreises in den Jahren 2014 – 2016 sank das BIP-Wachstum auf 2,7 Prozent im Jahr 2015. Das Land ist der größte Ölexporteur Afrikas. Im Jahr 2016 erlebte die Wirtschaft die erste Rezession seit 25 Jahren. Seither lebt die Hälfte der Bevölkerung weiter in Armut.

Die Auswirkungen der Pandemie werden sich als katastrophal erweisen. Die Weltbank berichtet, dass der Einbruch des Ölpreises die Wirtschaft voraussichtlich in eine schwere Rezession stürzen wird, die schlimmste seit den 1980er Jahren. Öl macht mehr als 80 Prozent der nigerianischen Exporte, 30 Prozent der Kredite des nigerianischen Bankensektors und 50 Prozent der gesamten Staatseinnahmen aus. Mit dem Rückgang des Ölpreises werden die Einnahmen voraussichtlich von bereits niedrigen 8 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf voraussichtlich 5 Prozent im Jahr 2020 sinken.

In der Zwischenzeit frisst die Pandemie private Investitionen auf und verringert die Geldüberweisungen aus der Diaspora an nigerianische Haushalte. Dies ist von besonderer Wichtigkeit für die Wirtschaft, so machten die Überweisungen im Jahr 2012 beispielsweise 5 Prozent des BIP aus. Die nigerianische Gemeinschaft in den USA trägt wesentlich dazu bei, da sie die am besten ausgebildete und professionellste aller MigrantInnengemeinschaften dort verkörpert. Trump konnte seinen Dank dafür, dass er dem Land seine Talente entzogen hat, nur durch ein Reiseverbot für NigerianerInnen (aus vermeintlichen Sicherheitsgründen!) zum Ausdruck bringen.

Es gibt natürlich noch andere Probleme, mit denen Nigeria konfrontiert ist, nicht zuletzt der islamistische Boko-Haram-Aufstand im Nordosten, der über 20.000 Tote und 2 Millionen Vertriebene gefordert und 6 Millionen Menschen durch die Verschärfung der Armut in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Weltbank hat die fürstliche Summe von 200 Millionen US-Dollar Kredit zur Unterstützung dieser Krise im Nordosten zur Verfügung gestellt, ein Tropfen auf den heißen Stein, der jedoch zu den zahlreichen Darlehen und Krediten hinzukommt, die das Land seit 1958 angehäuft hat.

Nigeria ist durch seine Schulden sehr stark an den Weltimperialismus gebunden, der in Gestalt der multinationalen Öl- und Gaskonzerne seine Ressourcen erbarmungslos ausbeutet und im Nigerdelta eine Umweltverschmutzung epischen Ausmaßes verursacht. Hinzu kommen Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF), die die Zinsen für Kredite einstreichen und die Sparagenda für die Regierungen festlegen. Der IWF hat vor kurzem einen Notfallkredit in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar bewilligt, um den Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft entgegenzuwirken.

Schon vor diesem Darlehen gab es unter Buhari eine Steigerung der Staatsverschuldung um 73 Milliarden US-Dollar. Seine Reaktion darauf war, selbst mitten in der Pandemie zu kürzen. In diesem Jahr wurde eine ganze Reihe von Sparmaßnahmen umgesetzt, darunter Erhöhungen der Preise, der Mehrwertsteuer, der Brennstoff- und Strompreise usw. Die beiden Gewerkschaftsverbände, National Labour Congress (NLC) und Trades Union Congress (TUC), riefen im September zu einem unbefristeten Generalstreik auf, um die Benzin- und Strompreiserhöhungen zu stoppen.

Am Vorabend des Streiks gaben die GewerkschaftsführerInnen jedoch nach und brachen ihn ab, ohne irgendwelche Zugeständnisse von der Regierung zu erhalten. Es hatte großen Druck von der Basis gegeben, die unbedingt Aktionen durchführen wollte, weshalb es in der Folge einen Sturm von Denunziationen aus Gewerkschaftsgrundeinheiten und Straßenproteste gegen diesen Ausverkauf gab. Dies veranschaulicht die Notwendigkeit einer alternativen kämpfenden Führung in den Gewerkschaften und einer, die in der Lage ist, sich zu organisieren und eine breite Basisopposition in der gesamten Bewegung aufzubauen, die sich auf die Perspektive stützt, auch ohne die Führung zu handeln, wo nötig.

Von der Rebellion zur Revolution

Das Ausmaß des #END SARS-Aufstands zeigt, dass es hier nicht nur um SARS ging, sondern vielmehr um eine tief sitzende Entfremdung der Jugend von der endemischen Korruption und Armut, die Nigeria befallen hat. Die Bewegung war spontan und führerlos. Frühe Mobilisierungen beanspruchten keine politische Führung und verteilten keine Flugblätter. Die Militanz verstärkte sich parallel zum Ausmaß der Angriffe der Polizei und des Militärs, als die DemonstrantInnen begannen, den Sturz der Regierung zu fordern.

Diese fünf Forderungen sind aus der Bewegung hervorgegangen:

  • Die sofortige Freilassung aller verhafteten DemonstrantInnen.
  • Gerechtigkeit für alle verstorbenen Opfer von Polizeibrutalität und angemessene Entschädigung für ihre Familien.
  • Die Einrichtung eines unabhängigen Gremiums, das die Untersuchung und Strafverfolgung aller Berichte über polizeiliches Fehlverhalten beaufsichtigt (innerhalb von 10 Tagen).
  • Psychologische Beurteilung und Umschulung (die von einem unabhängigen Gremium bestätigt werden muss) aller entlassenen SARS-BeamtInnen, bevor sie wieder eingesetzt werden können, im Einklang mit dem neuen Polizeigesetz.
  • Ein erhöhtes Polizeigehalt, damit sie für den Schutz von Leben und Eigentum der BürgerInnen angemessen entlohnt werden.

Die Forderungen fassen den berechtigten Ruf nach einem Ende der Repression perfekt zusammen, aber der „Mangel an Politik“ oder, genauer gesagt, die Illusionen in den Staat, kommen in den letzten beiden Forderungen klar zum Ausdruck. Die Polizei ist, ebenso wie die Streitkräfte und die Justiz, ein integraler Bestandteil der Kontrolle des kapitalistischen Staates über die Ausgebeuteten und Unterdrückten. Ihre repressive Rolle wird sich nicht dadurch ändern, dass man ihnen mehr Geld gibt! Revolutionäre SozialistInnen müssen klar benennen, dass es keine friedliche Reformierung dieser Organe gibt, solange der Kapitalismus bestehen bleibt.

Es ist jedoch noch verblüffender, dass einige SozialistInnen inmitten eines Massenkampfes gegen die Polizei fordern, eine korrupte und brutale Polizeieinheit mit einer Gehaltserhöhung zu belohnen. Diese Forderung wurde von zwei der sogenannten revolutionären Gruppen in Nigeria aufgegriffen. Die dem kürzlich gespaltenen Committee for a Workers‘ International (CWI) angehörige Democratic Socialist Movement (DSM) und seiner ehemaligen Mehrheit und Abspaltung (International Socialist Alternative) zugehörige Movement for a Socialist Alternative (MSA) plädieren beide dafür, dass Polizeigewerkschaften neben Gemeindekomitees die Polizei kontrollieren sollten.

Es ist sicherlich notwendig, Forderungen zur Polizei in Bezug auf ihre Entwaffnung und Schwächung ihrer repressiven Rolle zu stellen, aber dies kann nicht außerhalb eines Kampfes zur Zerschlagung des kapitalistischen Staates und zum Aufbau neuer Selbstverteidigungsorgane für ArbeiterInnen und die Jugend stattfinden. Die Polizei beschäftigt keine „ArbeiterInnen in Uniform“, sondern die AgentInnen an vorderster Front des Staates, deren Existenzgrund hauptsächlich auf der Niederschlagung des Kampfes der ArbeiterInnenklasse beruht. Wir sollten die Polizeigewerkschaften aus den Gewerkschaftsverbänden hinauswerfen, so wie wir alle StreikbrecherInnen ausschließen würden.

Dieselben Gruppen haben zu Recht dafür plädiert, dass sich die organisierte ArbeiterInnenklasse solidarisch zeigt, aber sie haben kein zielgerichtetes Aktionsprogramm skizziert, das den derzeit begrenzten in einen allgemeinen Kampf um die Macht der ArbeiterInnen verwandeln könnte. Die Liga für die Fünfte Internationale ist der Ansicht, dass ein solches Programm die Hauptwaffe einer revolutionären Partei zur Bereitstellung einer Übergangsstrategie zum Sozialismus sein sollte. Die Hauptachsen eines solchen Programms wären: Bildung von Aktionsräten und einer ArbeiterInnenmiliz mit dem Ziel einer ArbeiterInnenregierung, die diesen Organen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Das Versäumnis dieser Gruppen, diese Schlüsselforderungen für eine revolutionäre Organisation aufzustellen, steht im Einklang mit ihrem Nachtraben hinter der Bewegung und ihrem Unverständnis der marxistischen Staatstheorie.

Wie weiter?

Die #END SARS-Bewegung befindet sich derzeit an einem Scheideweg. Die „Koalition der Protestgruppen“ sagt: „Wir werden die physischen Proteste depriorisieren“, „aufräumen“ und online gehen und, noch bedenklicher: „Wir haben eine vielfältige Gruppe vorgeschlagen, die die verschiedenen Koalitionen repräsentieren soll; von Prominenten bis AktivistInnen, von JuristInnen bis StrategInnen, von JournalistInnen bis UnternehmerInnen.“ Wohl kaum eine Ansprache an die ArbeiterInnen und Armen! Wer trifft eigentlich diese Entscheidungen, wenn immer behauptet wird, es gäbe keine AnführerInnen?

Die anfängliche Spontaneität und Dynamik der Rebellion dürfen nicht zerstreut, sondern müssen in einer Bewegung gebündelte werden, die sich demokratisch treffen, vorwärtsweisende Forderungen formulieren und über eine politische Richtung entscheiden kann. Demokratie ist von wesentlicher Bedeutung. „Führungslose“ Bewegungen haben nämlich durchaus AnführerInnen, die jedoch niemandem Rechenschaft schuldig sind. Ohne klares Ziel riskieren sie, dass die Bewegung sich ohne klaren Weg nach vorn zerstreuen, wenn nicht gar auflösen könnte und Präsident Buhari auf diese Weise seinen Kopf aus der Schlinge zöge.

Aus diesem Grund sollten demokratische Massenversammlungen der Jugend organisiert werden, um die Kontrolle über die Bewegung zu übernehmen. Diese Gremien könnten zu embryonalen Aktionsräten mutieren, organisiert in allen Regionen. Sie sollten sich vernetzen und auf nationaler Ebene koordiniert werden. Sie sollten versuchen, ArbeiterInnenorganisationen, StudentInnen, Frauen, Arbeitslose und natürlich die Jugend einzubeziehen. Die Räte sollten die standhaftesten Verteidiger demokratischer Rechte sein, aber es ist entscheidend, dass auch ein Kampf gegen die Sparpolitik und Korruption Buharis und des Imperialismus aufgenommen wird. Sie sollten einen Generalstreik organisieren, um die Regierung Buhari zu stürzen.

Der Kampf gegen SARS hat Hunderttausende von Jugendlichen gegen den Staat zusammengebracht, einen Staat, der für Korruption, endemische Armut, Umweltverschmutzung und Kollaboration mit dem Imperialismus steht. Die radikalisierte Jugend muss politische Antworten und Lösungen für die sich entfaltende Wirtschaftskrise in Nigeria fordern und die Einheit mit der organisierten ArbeiterInnenklasse anstreben. Es ist unerlässlich, dass die nigerianische ArbeiterInnenklasse ihre Solidarität mit der Jugend zeigt. NLC und TUC haben die Jugend verbal unterstützt, zeigen aber keine Anzeichen für Aktion. Anstatt also auf diese BürokratInnen des Ausverkaufs der Gewerkschaftsverbände zu warten, muss die Basis in den Betrieben und in den Gewerkschaftsgruppen unabhängig innerhalb der Gewerkschaften mobilisieren und zur Unterstützung der Jugend und zur Verteidigung ihres Lebensstandards streiken.

Wie wir bereits gesehen haben, wird jede gegen den Staat gerichtete Bewegung physisch angegriffen werden. Das gilt für Demonstrationen ebenso wie für Streiks. Die Frage der Selbstverteidigung gegen die Streitkräfte und staatlich geförderte Schlägertrupps ist von entscheidender Bedeutung. Sie kann nicht durch Aufrufe zur Reform der Polizei weggewischt werden. Demokratische Versammlungen, die auf Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend basieren, sollten nicht nur Ordnerdienste für Demos leisten, sondern disziplinierte und bewaffnete Einheiten organisieren, die eine wirksame Form der Verteidigung am Arbeitsplatz wie auch in der Wohngemeinde darstellen.

Die Entwicklung von Aktionsräten und ihre Verteidigung wird auf konkrete Weise die Frage aufwerfen, wer in der Gesellschaft regiert. Wir fordern alle FührerInnen der ArbeiterInnenklasse auf, mit dem Kapitalismus zu brechen und eine ArbeiterInnenregierung auf der Grundlage demokratischer ArbeiterInnenräte zu bilden, um die Krise im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu lösen. Das bedeutet, die Schulden bei IWF/Weltbank zu streichen, die Industrie und die Banken zu enteignen und die Kontrolle der ArbeiterInnen über sie anzuerkennen. Es bedeutet auch, die ernsten Landprobleme in Nigeria wie im Konflikt zwischen Bauern/Bäuerinnen und HirtInnen anzugehen und die Unterstützung der armen Landbevölkerung zu gewinnen.

Schließlich wird diese Perspektive ohne eine revolutionäre Partei nicht verwirklicht werden können. Seit dem Ende der Militärherrschaft 1999 wurde Nigeria durch einen doppelten Fluch in Gestalt zweier korrupter offen bürgerlicher Parteien, dem „All Progressives Congress“ und der „People‘s Democratic Party“ gebeutelt. Die NLC-BürokratInnen haben halbherzige Versuche unternommen, eine kleine nigerianische ArbeiterInnenpartei zu gründen. Die Notwendigkeit einer neuen ArbeiterInnenmassenpartei wird von Tag zu Tag offensichtlicher, und RevolutionärInnen würden in ihr für einen vollständigen politischen Bruch mit den Bossen und dem Kapitalismus und für ein revolutionäres sozialistisches Programm eintreten.

Die Linke in Nigeria wie die DSM und die MSA, die beide anscheinend die „Sozialistische Partei Nigerias“ aufbauen, sowie die „Campaign for a Workers‘ and Youth Alternative“ (CWA; Kampagne für eine ArbeiterInnen- und Jugendalternative) der Internationalen Marxistischen Tendenz und die „Joint Action Front“ (Gemeinsame Aktionsfront, Koalition von ArbeiterInnen- und BürgerInnengruppen) sollten eine neue MassenarbeiterInnenpartei fordern. Parallel dazu sollten sie für ein revolutionäres Programm kämpfen, das unmissverständlich zur Zerschlagung des kapitalistischen Staates durch ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen in Nigeria aufruft. Ein ArbeiterInnenstaat, der sich auf Delegiertenräte von Arbeitsplätzen, Schulen, Universitäten, Gemeinden usw. stützt und von einer ArbeiterInnenmiliz verteidigt wird, muss sich an die Aufgabe machen, einheimisches und ausländisches Kapital zu enteignen und die nigerianische herrschende Klasse auf den Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen.