Aufruf zum Internationalistischen Block beim globalen FFF-Aktionstag

Internationalistischer Block in Berlin, 12.00 Brandenburger Tor, ArbeiterInnenmacht Infomail 1078, 25. November 2019

Wir rufen zum globalen Klimastreik von Fridays for Future am 29. November und zu den Aktionen von Ende Gelände im Lausitzer Braunkohlerevier vom 29.11. bis 01.12. auf.

Gemeinsam mit Arbeiter_Innen, Schüler_Innen, Student_Innen
und Arbeitslosen unterstützen wir diese Aktionen.

Es ist längst keine graue Theorie mehr: Viele Menschen
leiden unter den Folgen des Klimawandels, vor allem in den ärmeren Regionen der
Welt. Tödliche Hitzewellen, massives Artensterben, Überschwemmungen oder
jahrelange Dürren sowie gezielte staatliche Eingriffe in das Ökosystem
entziehen vielen Menschen ihre Nahrungs- und Lebensgrundlage. All dies sind
Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels.

Auch ist es längst keine
graue Theorie mehr, wer für diesen verantwortlich ist.

Es sind nicht

  • die
    Milliarden Lohnabhängigen, die um über die Runden zu kommen, ihre Arbeitskraft
    verkaufen müssen,
  • die
    Bauern und Bäuerinnen, die weltweit mit immer weniger und schlechterem Land
    überleben müssen,
  • die
    KonsumentInnen, die von Hartz IV und prekären Jobs leben müssen,
  • auch
    nicht die Beschäftigten in der Braunkohleindustrie in der Lausitz.

Es sind jene kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse,

  • die Mensch und Natur
    unterwerfen und  Arbeiter_Innen auf
    der ganzen Welt ausbeuten
  • die die Atmosphäre,
    Böden mit Monokulturen vereinnahmen,
  • die Rohstoffe der sog.
    „Dritten Welt“ plündern,
  • natürliche Ressourcen
    als Waffe gegen Mensch und Natur einsetzen und damit

ganze Ökosysteme  im Interesse kapitalistischer und
imperialistischer Systeme nachhaltig zerstören.

Gemeinsam wollen wir die Verhältnisse sichtbar machen und
benennen, die durch Konkurrenz und die Jagd nach immer größerem Profit
angetrieben werden. Die Unmenschlichkeit des globalen kapitalistischen,
imperialistischen Systems ist kein Betriebsunfall „falscher“ oder „schlechter“
Politik – es ist diesem immanent und zwar auf globaler Ebene.

Dass die Auswirkungen auf andere Länder vernachlässigt
werden, bringt einige Absurditäten der aktuellen „Klimapolitik“ und auch des
sog. „Green New Deal“ zutage. Beispiel Elektromobilität: Es soll hierzulande
flächendeckend auf Elektroautos gesetzt werden, da Verbrennungsmotoren der
Atmosphäre schaden. Dabei werden allerdings in großen Mengen Materialien wie
Lithium verbaut, die in halbkolonialen Staaten wie Bolivien und Chile abgebaut
werden. Die Natur wird dort vergiftet und ausgetrocknet, gleichzeitig werden
die Arbeiter_Innen vor Ort dadurch keinen Reichtum erlangen. Sie sollen in
Armut und Elend die wichtigen, aber billigen Rohstoffe abbauen, die die
gewinnbringenden Produktionen der imperialistischen Nationen sichern.

So
steht aktuell das 12.000 Jahre alte Hasankeyf am Tigris in der Kurdistan-Region
in der Türkei kurz vor seiner Zerstörung durch den von der Türkei
fertiggestellten Ilisu-Staudamm. Dabei setzt die Türkei Wasser als Waffe ein.
Die Flutung durch diesen Staudamm führt zu einer Massenvertreibung der dort
angesiedelten Bauern und Bäuerinnen, die ihre Heimat zugunsten wirtschaftlicher
und politischer Interessen verlassen müssen und damit weitgehend ihre
Lebensgrundlage verlieren. Das Ökosystem des Tigris, einer der letzten
größeren natürlichen Flüsse des Mittleren Ostens, wird nachhaltig zerstört.
Dies hat verheerende Folgen für die Trinkwasserversorgung fast aller Großstädte
in der Region bis hin zu Auswirkungen in den Nachbarstaaten. So wird es zur
Austrocknung der Mesopotamischen Sümpfe im Süden des Irak kommen, was wiederum
zu vermehrten Sandstürmen im Süden des Iran führen wird.

Sobald es jedoch in der Konkurrenz um Macht und Rohstoffe zu
Konflikten kommt, werden diese selten direkt geführt, sondern durch
Stellvertreter_Innenkriege, der Finanzierung antidemokratischer Kräfte und der
Flut  von Waffenexporten auf dem
Rücken der Unterdrückten halbkolonialer Staaten ausgetragen.

Einen dieser Kriege im Rahmen einer Assimilierungspolitik zu
Lasten der kurdischen Bevölkerung erleben wir zur Zeit in Rojava (Nordsyrien),
in das die Türkei einmarschiert ist und das sie nun in Absprache mit Russland,
dem Assad-Regime und mit Unterstützung des Westens neu aufteilt. In Palästina
und Kaschmir erleben wir eine Verschärfung von Besetzung, Unterdrückung,
Vertreibung der Bevölkerung. In Bolivien wird Evo Morales weggeputscht. Dies
sind nur einige Beispiele dafür, wie eng Imperialismus, Ausbeutung,
Unterdrückung und der Kampf um Ressourcen verzahnt sind.

Die deutsche Regierung und die EU unterstützen Kriege und
Unterdrückung, weil sie Länder „befrieden“, die EU gegen Geflüchtete weiter
abschotten und selbst bei der Neuordnung der Welt mitmischen wollen. Für die
Auswirkungen der imperialistischen Politik und der kapitalistischen Konkurrenz
wollen sie nicht zahlen. Im Gegenteil: Menschen, die als Resultat dieser
Konflikte und der Folgen des Klimawandels zur Flucht genötigt werden, können
kaum noch auf Asyl in den reichen Staaten hoffen, da diese sich mehr und mehr
mit Hilfe von Zäunen, von Grenzen, Kontrollen und letztlich Waffengewalt gegen
Migration abschotten.

Dabei sind es eben die imperialistischen Länder, die den
Klimawandel und die Klimazerstörung zugunsten wirtschaftspolitischer Interessen
in einem wesentlichen Maß zu verantworten haben und die auch Schuld an den
Konflikten sind, die zu Flucht und Vertreibung führen. Der Kampf gegen Krieg,
Ausbeutung, Klimawandel und Kapitalismus muss daher ein internationaler Kampf
sein.

  • Lasst
    uns den Klimastreik von FFF mit Arbeitsniederlegungen in den Betrieben und
    Protestaktionen verbinden!
  • Entschädigungslose
    Enteignung der Klimakiller, der großen Konzerne, unter Kontrolle der
    Beschäftigten und Gewerkschaften! Ausstieg aus der Kohle durch Verstaatlichung,
    Weiterbezahlung aller Beschäftigten zu ihren Löhnen und Umstellung der
    Produktion unter Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung!
  • Massive
    Besteuerung des Kapitals, der Reichen und Vermögensbesitzer zur Finanzierung
    der notwendigen Maßnahmen zum Klimaschutz – hierzulande wie den Ländern des
    globalen Südens!
  • Öffnung
    der Grenzen für alle MigrantInnen und Geflüchteten!
  • Nein zu
    allen imperialistischen Kriegen und Interventionen!
  • System
    change, not climate change!



Geschenk an Netanjahu

Robert Teller, Infomail 1078, 25. November 2019

Die US-Regierung hat erklärt, die israelischen Siedlungen in
der Westbank nicht mehr als Verletzung internationalen Rechts anzusehen. Keine
andere Regierung weltweit außer der israelischen hat jemals die Siedlungen als
rechtmäßig anerkannt.

Mit einer Begründung hielt sich die US-Administration nicht
lange auf: „Wir erkennen die Realität in dem Gebiet an“, so Außenminister
Pompeo – und schon wird Unrecht zu Recht.

Dabei erklärt selbst die 4. Genfer Konvention den Transfer
der eigenen Bevölkerung einer Besatzungsmacht in besetztes Gebiet als illegal.
Eine Vielzahl an Rechtsgutachten ebenso wie UNO-Resolutionen bestätigen das
Offensichtliche, dass dieser Tatbestand in der Westbank erfüllt ist – zuletzt
die Resolution 2336 von 2016. Der Schritt kann also nicht als eine „neue
Rechtsauffassung“ verstanden werden, sondern als die offene Anerkennung und
Akzeptanz der Tatsache, dass internationales Recht, wenn es im Widerspruch zu
den strategischen Zielen des Staates Israel steht, für diesen keine Bedeutung
hat. Die Anerkennung der Siedlungen durch die US-Regierung folgt auf die
Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt und der Annexion der Golanhöhen, die
allesamt Verletzungen internationalen Rechts darstellen.

Die Entscheidung ist ein weiteres Wahlkampfgeschenk an den schwer
angeschlagenen Premierminister Netanjahu, der sich voraussichtlich zum dritten
Mal in Folge Neuwahlen stellen muss.

Die Siedlungen sind seit der Eroberung der Westbank im
Sechstagekrieg 1967 zentraler Bestandteil des Besatzungssystems und der andauernden
ethnischen Säuberung Palästinas, d. h. der Vertreibung und
Marginalisierung der PalästinenserInnen. Die militärisch bewachten Siedlungen
sollen den Souveränitätsanspruch des israelischen Staates in den besetzten
Gebieten untermauern.

Die israelische Rechte beabsichtigt, mittelfristig das
Jordantal und die Siedlungen zu annektieren, was nichts anderes als die
Legalisierung des Status quo wäre. Sie denkt nicht daran, auch nur einen Teil
der Westbank einem zukünftigen palästinensischen Staat zu überlassen, denn jede
noch so beschränkte Form palästinensischer Selbstbestimmung wäre eine
permanente Gefahr angesichts der Millionen Vertriebenen, die sich mit ihrem
Schicksal nie abgefunden haben und ihr Recht auf Rückkehr fordern. Die von der
offiziellen palästinensischen Vertretung ebenso wie von der restlichen
„Staatengemeinschaft“ gepriesene „Zweistaatenlösung“ ist also tot.

Die zahme „Kritik“, die u. a. die deutsche
Bundesregierung formuliert, richtet sich nicht gegen die Ungerechtigkeit der
aggressiven Politik Israels und der USA gegenüber den PalästinenserInnen,
sondern dagegen, dass diese den eigenen Standpunkt als verlogene Utopie
entlarvt. Die Abwendung vom „Friedensprozess“ ist zwar eine Absage an den
bisherigen „internationalen Konsens“, dass eine Lösung in Verhandlungen mit der
Autonomiebehörde gefunden werden müsse. Dass bislang keine andere Regierung den
USA bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt gefolgt ist, zeigt auch, dass
diese Politik riskant ist. Sie ist aber folgerichtig und keineswegs eine
Kehrtwende, sondern die logische Fortsetzung der Politik der vergangenen 25
Jahre. Israel will in der Westbank kein zweites Gaza, sondern einen Raum für
die Expansion des SiedlerInnenstaates schaffen. Mittlerweile ist,
„Friedensprozess“ hin oder her, die Gesamtzahl der SiedlerInnen in der West
Bank auf über 600.000 angewachsen. Dann braucht es langfristig auch keine
palästinensische Mitverwaltung der Besatzung.

Die eigentliche Gefahr für den israelischen Staat liegt aber
gerade darin, dass er die PLO-Fraktionen, die durch ihr Festhalten an der
Illusion der Zweistaatenlösung seit 25 Jahren den Widerstand gegen die
Besatzung lähmen, politisch diskreditiert und blamiert. Sie liegt darin, dass
die Kollaboration der reaktionären arabischen Regime mit Israel und die
„Friedenspolitik“ des deutschen und europäischen Imperialismus ihre
Scheinlegitimation verlieren.

Die sog. Zweistaatenlösung entpuppt sich mit jedem Schritt
als diplomatische Fiktion. RevolutionärInnen sollten dies zum Anlass nehmen, in
Palästina und in der weltweiten Solidaritätsbewegung für die einzig mögliche
fortschrittliche Lösung einzutreten: einen einzigen, sozialistischen Staat
Palästina, der allen BewohnerInnen, allen Nationalitäten unabhängig von
Religion und Herkunft die gleichen Rechte garantiert, einschließlich des
Rückkehrrechts für die Flüchtlinge.




Spanien: Hält die Verbindung der SozialistInnen mit den PopulistInnen?

Dave Stockton, Infomail 1078, 25. November 2019

Die
Parlamentswahlen vom 10. November, die zweiten in diesem Jahr und die vierten
seit 2015, haben wieder einmal ein instabiles Parlament ohne absolute Mehrheit
für eine Partei hervorgebracht. Sie markierten auch einen Rechtsruck, so wie
bei den Wahlen im April ein Linksruck stattgefunden hatte. Dies ist
unvermeidlich, wenn die reformistischen Parteien der Linken ein Ergebnis
verplempern und ihre opportunistische Linie, sowohl politisch als auch
wirtschaftlich, fortsetzen.

Katalonien und
die Forderung der EU nach anhaltender Sparpolitik werden über einem neuen
Ministerium wie ein Damoklesschwert hängen. Unterdessen sollte der Aufstieg der
extremen Rechten, in Form von Santiago Abascals Vox, die immer noch mächtigen
linken Kräfte im spanischen Staat anspornen, aufzustehen und zu erkennen, dass
direkte Massenaktionen, der Klassenkampf auf den Straßen und an den
Arbeitsplätzen, der einzige Weg sind, eine Katastrophe zu vermeiden.

Pedro Sánchez‘
Sozialistische Partei PSOE ist mit 120 Sitzen immer noch die größte Partei im
Kongress und hat beschlossen, eine Koalition mit Pablo Iglesias‘ Unidas
Podemos, UP, zu bilden, obwohl Sánchez dies seit den Wahlen im April vermieden
hatte. Jetzt, da die PSOE jedoch 3 Sitze und UP 7 verloren und Vox ihre Sitze
mehr als verdoppelt hat, von 24 auf 52, sieht Sánchez keine Alternative.

Aber auch
gemeinsam wissen die beiden Parteien nur 155 Mitglieder des Kongresses hinter
sich, und 176 Sitze werden für eine absolute Mehrheit benötigt. Darüber hinaus
verfügt die PSOE über einen bedeutenden rechten Flügel, der die Idee einer
Verbindung mit Podemos verabscheut und sich ein Bündnis mit Parteien der
Rechten oder rechten Mitte wie Ciudadanos (BürgerInnen) gewünscht hätte. Diese
Option verflüchtigte sich mit dem Zusammenbruch von Ciudadanos von 57 auf nur
10 Sitze. Ihr Führer und Gründer, Albert Rivera, legte nicht nur seine Parteimitgliedschaft,
sondern auch seinen Sitz im Parlament nieder, um ins Privatleben
zurückzukehren.

Eine Ehe im
Himmel … oder in der Hölle?

Die
theatralische Umarmung, mit der Sánchez und Iglesias ihren Regierungspakt feierten,
war offensichtlich von Iglesias’ Seite her herzlicher. Gegen den Widerstand
sowohl von Sánchez als auch von der antikapitalistischen Linken in Podemos
hatte er sich für einen Vorwahlpakt mit der PSOE eingesetzt. Jetzt ist klar,
dass er bereit ist, mit der PSOE den ganzen Weg zu gehen.

„Sánchez weiß,
dass er auf unsere absolute Loyalität zählen kann. Es ist an der Zeit, alle Kritikpunkte
hinter sich zu lassen … und Seite an Seite an der historischen und spannenden
Aufgabe zu arbeiten, die vor uns liegt.“ Seine Ausrede für das Abstreifen der
früheren ätzenden Kritik von Podemos war, dass eine von PSOE und Podemos
geführte Regierung „der beste Impfstoff gegen die extreme Rechte“ sein würde.

Der hohe Preis,
der gezahlt werden müsste, um Vizepremier zu werden, war im September klar.
Damals sagte Iglesias, wenn der Oberste Gerichtshof eine schwere Strafe gegen
die katalanischen UnabhängigkeitsführerInnen verhängen würde: „Offensichtlich
haben wir bereits gesagt, dass wir, obwohl wir eine Position des Dialogs
bezogen, das Gesetz und die Führungsposition der PSOE akzeptieren werden“.

Kein Wunder,
dass Sánchez nach ihrer Umarmung sagte: „Danke für die Großzügigkeit.“

Beide Führer
läuteten die Bedeutungsveränderungen für das Wort „progressiv“ ein. Sánchez
betonte: „Es wird in jedem Fall eine progressive Regierung sein. Eine
progressive Regierung, die aus fortschrittlichen Kräften besteht, die sich für
den Fortschritt einsetzen werden.“

Iglesias
seinerseits schwärmte: „Ich freue mich, heute zusammen mit Pedro Sánchez
bekanntzugeben, dass wir eine vorläufige Einigung über die Bildung einer
fortschrittlichen Koalitionsregierung erzielt haben, die die Erfahrung der PSOE
mit dem Mut von Unidas Podemos verbindet“.

Doch selbst dann
wird diese Koalition im 350-sitzigen Kongress, der unteren Kammer der Cortes,
des spanischen Zweikammernsystems, keine Mehrheit finden.

Sowohl die
SozialistInnen als auch Podemos wurden durch die Wahl tatsächlich geschwächt.
Die Partei von Iglesias litt unter der Konkurrenz durch ihren Mitbegründer und
Hauptideologen Íñigo Errejón. Seine Partei Más País, (Mehr Land), die
Podemos-IU bereits bei den Madrider Stadtwahlen im Mai niedergedrückt hatte,
gewann im November drei Sitze. Errejón begrüßte auch den Koalitionsvertrag und
sagte, seine drei Abgeordneten würden für die Amtseinsetzung von Pedro Sánchez
im Kongress stimmen.

Tatsächlich war
die Seifenblase der linken PopulistInnen, die Idee, dass sie sowohl die PSOE
als auch die rechte Partido Popular, PP, die Parteien von la Casta, die Kaste,
wie sie das korrupte politische Establishment nannten, hinwegfegen könnten,
längst zerplatzt. In den vergangenen sechs Monaten hatte Sánchez Iglesias‘
Aufruf zur Bildung einer Koalition abgelehnt und gesagt, dass ihm der bloße
Gedanke Alpträume bescherte. Alptraum für den einen – ist ein Traum für den
anderen wahr geworden? Wir werden es in den kommenden Monaten sehen.

Katalonien, das
größte Hindernis

In ihrer Koalitionsvereinbarung
erklären die beiden linken Parteien: „Die spanische Regierung wird der
Gewährleistung des sozialen Friedens in Katalonien und der Normalisierung des
politischen Lebens Priorität einräumen. Zu diesem Zweck wird sie den Dialog in
Katalonien organisieren und nach Formulierungen suchen, die zu einem
gemeinsamen Verständnis und zur Versöhnung führen, immer im Rahmen der
Verfassung.“

Die gemeinsamen
Versprechen von Dialog und Gehorsam gegenüber der Verfassung stehen im
Mittelpunkt der widersprüchlichen Lage, der sich die RegierungspartnerInnen
gegenübersehen.

Um seine
Amtseinführung sicherzustellen und eine Regierung zu bilden, braucht Sánchez
die Unterstützung der regionalen nationalistischen Parteien. Die Baskische
Nationalpartei hat 6 Sitze und die EH Bildu, Baskenland versammelt, fünf.
Selbst mit ihrer Unterstützung reicht dies nicht aus, um eine stabile Regierung
zu bilden. Sánchez braucht die KatalanInnen oder zumindest die größten ihrer
Gruppen. Hier stellt reaktionäre Tradition der PSOE, die Partido Popular und
die Verfolgung und Unterdrückung der Unabhängigkeitsparteien, die nun 23 Sitze
im Kongress einnehmen, durch den Obersten Gerichtshof zu unterstützen, die
Partei vor ein Dilemma.

In Katalonien
gibt es die beiden wichtigsten nationalistischen Parteien, die Esquerra
Republicana, Republikanische Linke von Katalonien-Souveränität, ERC-S, mit 13
Sitzen und Junts pro Katalonien, Gemeinsam für Katalonien, JxCat, mit 8. Die
Esquerra möchte eindeutig eine PSOE-U-Podemos-Regierung unterstützen, hat aber
unter dem Druck von JxCat die Bedingung gestellt, dass die Koalition eine
moderierte Diskussion mit den katalanischen Parteien auf die Tagesordnung
setzt. Sánchez hat es oft abgelehnt, dass die Selbstbestimmung auf der
Tagesordnung steht. Darüber hinaus führt Esquerra eine Abstimmung ihrer
Mitglieder zu diesem Thema durch, und die linke CUP mit zwei Sitzen will eine
einheitliche Front, um jegliche Verhandlungen mit Sánchez abzulehnen.

Zur Zeit sind
weder die PSOE noch die U-Podemos bereit, den Zorn des Obersten Gerichtshofs
oder ihres eigenen rechten Flügel zu riskieren, indem sie den KatalanInnen
etwas Wesentliches anbieten. Selbst wenn sie es täten, würde die reaktionäre Justiz
des spanischen Staates schnell eingreifen und dies für verfassungswidrig
erklären.

Carles
Puigdemont, ehemaliger Präsident der Katalanischen Generalitat (Gesamtheit der
politischen Selbstverwaltungsinstitutionen), bleibt im Exil, weil die Madrider
Gerichte versuchen, ihn nach Spanien ausliefern zu lassen. Am 14. Oktober
verurteilte der Oberste Gerichtshof von Madrid neun der für das Unabhängigkeitsreferendum
verantwortlichen AnführerInnen und von Madrid im Oktober 2017 abgesetzten
MinisterInnen zu Gefängnisstrafen von 9 bis 13 Jahren.

Dazu gehören der
Vizepräsident Oriol Junqueras, Außenminister Raül Romeva und Innenminister
Joaquim Forn. Zu ähnlichen Strafsätzen verurteilt wurden auch Carme Forcadell,
Präsidentin des katalanischen Parlaments und die „zwei Jordis“, Jordi Sànchez
von der katalanischen Nationalversammlung und Jordi Cuixart von Òmnium
Cultural, deren Organisationen für die Massendemonstrationen und Streiks um das
Referendum verantwortlich gemacht wurden.

Die Verkündigung
dieser Urteile führte zu dreiwöchigen Massenprotesten mit gewalttätigen
Zusammenstößen zwischen Polizei und jungen DemonstrantInnen, die in den größten
Städten Kataloniens Barrikaden errichteten. Ein Generalstreik brachte eine
halbe Million Menschen auf die Straßen von Barcelona. Die Polizei feuerte
Gummigeschosse ab und setzte Gaskanister und Wasserwerfer ein. Dutzende wurden
verhaftet und verletzt.

Der derzeitige
Präsident der Generalitat, Quim Torra, verurteilte die Gewalt der
DemonstrantInnen und forderte deren Einstellung. Pedro Sánchez weigerte sich
jedoch, mit Torra zu sprechen, und behauptete, dessen Verurteilung sei nicht
eindeutig genug. Damit setzte die PSOE ihre Linie fort, die polizeiliche
Repression zu unterstützen und sich zu weigern, mit den katalanischen AnführerInnen
zu verhandeln, wenn sie nicht auf die Hauptforderungen ihrer AnhängerInnen
verzichteten.

Der Oberste
Gerichtshof erhöhte den Druck und rief Torra auf, am 18. November wegen
„Ungehorsams“ vor ihm zu erscheinen, nämlich wegen seiner Langsamkeit, gelbe
Bänder von öffentlichen Gebäuden zu entfernen, die Symbole der Solidarität mit
den inhaftierten AnführerInnen der Unabhängigkeitsbewegung sind. Die
RichterInnen konnten ihn verurteilen, damit er entlassen und vom Amt
ausgeschlossen wird.

Auch wenn die
bürgerlichen katalanischen NationalistInnen es verabscheuen würden, den Weg zu
einer rechten Koalition zu öffnen oder eine große Koalition aus PSOE und PPS zu
sehen, könnten sie die Regierung kaum lange unterstützen, da ihre AnführerInnen
im Gefängnis schmachten und die von Diktator Franco geschaffene Militärpolizei
Guardia Civil regelmäßig auf DemonstrantInnen auf den Straßen von Barcelona,
Girona, Lleida (Lérida) und Tarragona losging.

Andererseits ist
es sicher, dass der mächtige rechte Flügel der PSOE, wenn Sánchez versucht, sie
zu begnadigen, geschweige denn dem Antrag auf ein legales Referendum über die
Selbstbestimmung stattzugeben, sich auflehnen würde, um es zu verhindern. Ganz
zu schweigen von den Eingriffen des Obersten Gerichtshofs und von König Felipe
VI., der in der Verfassung die „unauflösliche Einheit und Beständigkeit“ des
spanischen Staates verkörpert. Es gäbe auch die „Kleinigkeit“ der
Massenmobilisierungen durch Vox und die extreme Rechte.

Die
Vox-Mitglieder sind offene BewunderInnen von Franco und seiner blutigen
Unterdrückung, beschuldigen muslimische Migranten, hinter einer Welle von
Bandenvergewaltigungen in Südspanien zu stecken, wollen alle sezessionistischen
Parteien ächten, die Autonomieregierung für Katalonien beenden und die
Todesstrafe für Verrat, einschließlich des Strebens nach Unabhängigkeit,
wiederherstellen. Der Aufstieg von Vox ist die spanische Version der
rechtspopulistischen Welle in Polen, Italien, Frankreich, Ungarn, Deutschland
und natürlich in Brexit-Großbritannien.

Kampf gegen die
Sparpolitik

Seit der Großen
Rezession 2008 und der Staatsschuldenkrise ist Spanien wie andere
Mittelmeerstaaten der Europäischen Union zu massiven Einschnitten bei den
Sozialausgaben gezwungen und litt unter einer strafenden Arbeitslosigkeit, die
2013 auf einen Höchstwert von 26,95 Prozent stieg und bei der die
Jugendarbeitslosigkeit 50 Prozent erreichte. Eine große Zahl junger
SpanierInnen ist auf der Suche nach Arbeit in andere EU-Länder gegangen. Erst
2017 erreichte das spanische Bruttoinlandsprodukt das Niveau vor 2008, jedoch
scheint sich das Wachstum nun wieder zu verlangsamen.

Die Vereinbarung
zwischen der PSOE und U-Podemos verpflichtet eine neue Regierung, an einer
„ausgeglichenen Haushaltspolitik“ festzuhalten, bei der neue Sozialprogramme
aus höheren Einnahmen bezahlt werden müssen. Das Wahlmanifest von Podemos hatte
umfangreiche Regierungshaushalte zugesagt, um ein Jahrzehnt wilder Sparpolitik
umzukehren. Da Brüssel eine strenge Finanzpolitik forderte und Spanien nach
fünf Jahren der Erholung eine wirtschaftliche Verlangsamung erfuhr, bestand
Sánchez darauf, in Gestalt der stellvertretenden Wirtschaftsministerin Nadia
Calviño, einer ehemaligen hochrangigen Beamtin der Europäischen Kommission, die
Geschicke in „sichere Hände“ zu übergeben, wie es die EU wünschte.

Ein weiteres
Dilemma ist die Forderung der beiden größten spanischen Gewerkschaftsverbände,
der Comisiones Obreras, CCOO, ArbeiterInnenkommissionen, und der Unión General
de Trabajadores, UGT, der Allgemeinen ArbeiterInnenunion, nach der Aufhebung
der Arbeitsreform 2012 von PP-Premier Mariano Rajoy, die den Weg zu einem
weiteren Rückgang der Reallöhne und unsicheren Teilzeit- und
Zeitarbeitsverträgen für ArbeiterInnen, insbesondere für Jugendliche, ebnete.
Vor allem auf dieser Basis ist die Arbeitslosigkeit auf rund 15 Prozent
gesunken.

Es bedarf einer
massiven Mobilisierung der ArbeiterInnen, um eine Koalitionsregierung zu
zwingen, den Forderungen der ArbeiterInnenschaft nachzukommen.

Für das Recht
auf Selbstbestimmung

Das derzeit
brennendste demokratische Recht ist das Recht der KatalanInnen auf
Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf ein Referendum, das die
Möglichkeit beinhaltet, sich vom spanischen Staat zu trennen. Bisher zeigen
Meinungsumfragen, dass die Mehrheit der katalanischen BürgerInnen trotz oder
wegen der Repressionen aus Madrid dies nicht wünscht. Nur eine freie
Abstimmung, bei der beide Seiten ohne Unterdrückung ihre Sache verfechten
können, könnte dies entscheiden. Zu diesem Zweck sollten die Guardia Civil und
alle „spanischen“ Polizeikräfte zurückgezogen und ein gleichberechtigter Zugang
zu den Medien gewährleistet werden.

Es ist ein
Skandal, dass die PSOE den Obersten Gerichtshof und das bestehende verfassungsmäßige
Verbot der katalanischen Selbstbestimmung unterstützt, und offenbart, wie weit
von der Demokratie, geschweige denn vom Sozialismus entfernt die Partei ist und
wie wenig sie das Vertrauen der ArbeiterInnen verdient, dass die Partei sie gegen
die sozialen und wirtschaftlichen Angriffe des Großkapitals verteidigen wird.
Obwohl Podemos die Definition Spaniens als plurinationalen Staat, die
verfassungsmäßige Definition Kataloniens als Nation und das Recht auf ein
Unabhängigkeitsreferendum unterstützt, behaupten die PopulistInnen ausweichend,
dass dies nur beratend der Fall sein sollte.

Dennoch sollten
RevolutionärInnen sich nicht für die Abspaltung der autonomen Region einsetzen,
es sei denn, eine Mehrheit hat ihren Willen dazu bekundet. Katalonien, als der
am weitesten entwickelte Teil des spanischen Staates, ist keine wirtschaftlich
ausgebeutete Kolonie oder Halbkolonie. Die NationalistInnen, die sich darüber
beklagen, dass die Steuern der Region den unterentwickelten Teilen des
spanischen Staates zugutekommen, zeigen lediglich ihren Appetit, ihre eigene
Kapitalakkumulation zu maximieren.

Der Hauptgrund
für die Ablehnung der Unabhängigkeit besteht darin, dass sie die Einheit der
ArbeiterInnenklasse auf der gesamten Halbinsel und sogar in Katalonien selbst
schwächen würde, wo eine Mehrheit in soliden ArbeiterInnenklassengebieten gegen
eine Trennung ist. Nicht zuletzt wird es den Kampf gegen die Überreste des
Francoismus und des spanischen Imperialismus schwächen.

Neben der
nationalen Frage beinhaltet der Kampf für Demokratie die Notwendigkeit, das
gesamte schmutzige Erbe der Franco-Diktatur zu beseitigen, das 1978 von den
reformistischen Parteien im Moncloa-Pakt akzeptiert und in die Verfassung
eingebettet wurde, einschließlich der Monarchie, des Senats und des Obersten
Gerichtshofs. Die Kommunistische Partei Spaniens (PCE) und die PSOE haben
dieses Verfassungssystem mitverantwortet, und letztere hat es unter den
Ministerpräsidenten Felipe González (1982-1996) und José Luis Zapatero
(2004-2011) erhalten.

Dieser gesamte
reaktionäre Schrott muss weggefegt werden, aber dazu bedarf es revolutionärer
Massenaktionen, nicht nur Wahlen. Es sollten Wahlen zu einer souveränen
verfassunggebenden Versammlung abgehalten werden, die auf einem
Verhältniswahlsystem ohne Mindestschwelle und mit Stimmen für alle Personen
über 16 Jahre basieren. Die Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien sollten
solche Wahlen überwachen und Kampagnen führen für eine ArbeiterInnenregierung
auf der Grundlage der ArbeiterInnenorganisationen, die ihnen gegenüber
rechenschaftspflichtig ist.

Nicht zuletzt
mit dem Aufstieg von Vox besteht eindeutig die Notwendigkeit, andere
demokratische Rechte zu verteidigen und zu erweitern, darunter das Recht der
Frauen auf Schwangerschaftsabbruch, Gleichstellung von LGBTQ+ und der
Geschlechter auf staatlicher und regionaler Ebene. Es muss eine
antifaschistische Einheitsfront der ArbeiterInnenklasse, einschließlich
Verteidigungsgruppen, gebildet werden, um ArbeiterInnen im Kampf oder MigrantInnen
unter Beschuss zu schützen.




Solidarität mit dem Massenaufstand im Iran

Martin Suchanek, Infomail 1078, 22. November 2019

Seit Tagen
werden das Internet und die elektronische Kommunikation im Iran effektiv
blockiert. Bereits am Wochenende, als sich Massenproteste, Demonstrationen und
Aufstände nach dem dramatischen Anstieg der Benzinpreise um mindestens 50 %
über das ganze Land ausbreiteten, wurden Mobiltelefone, Mail-Verkehr und
Nachrichtendienste immer wieder unterbrochen. Seit Dienstag, den 19. November,
ist das Land von unabhängigen oder offeneren Formen der Kommunikation effektiv
abgeschottet. Auch wenn die Maßnahme als „temporär“ angekündigt wurde und
ursprünglich auf 24 Stunden beschränkt sein sollte, wurden die
Kommunikationsverbindungen im Land und die „unkontrollierte“ Berichterstattung
nach außen weitgehend gestoppt.

Für den 22.
November wurde eine teilweise Öffnung des Netzes angekündigt. Die
ultrareaktionären RevolutionswächterInnen proklamierten gar ihren Sieg über die
Massenbewegung. Ob es der reaktionären Regierung wirklich gelungen ist, diese
niederzuschlagen, bleibt abzuwarten – die Ursachen für das Aufbrechen der
Unruhen, die bis zu einer Aufstandsbewegung anwuchsen, werden jedenfalls nicht
verschwinden.

Abriegelung

Der Grund für
die Abriegelung des Landes von der internationalen Öffentlichkeit war klar und einfach.
Das iranische Regime hat alle seine repressiven Kräfte versammelt, um eine
Massenbewegung niederzuschlagen, die Demonstrationen, Proteste gegen die Kräfte
des Regimes, seine Sicherheitskräfte, Marionetten, Symbole und Gebäude umfasst.
Im Gegensatz zur Bewegung von 2009 und den Massenprotesten von 2017/18, wo die
städtische Mittelschicht, StudentInnen, die Intelligenz zentral waren, obwohl
besonders jene von 2017/18 auch rasch die ArbeiterInnenklasse ergriffen,
standen und stehen im aktuellen Kampf die am meisten ausgebeuteten Sektoren der
Lohnabhängigen und das enorm vergrößerte Subproletariat im Mittelpunkt der
Mobilisierungen und Aktivitäten.

Innerhalb
weniger Tage, manchmal nur weniger Stunden, hatte sich die Bewegung über das
ganze Land ausgebreitet. Am Wochenende waren nicht nur Schulen und
Universitäten geschlossen, sondern auch Geschäfte und Fabriken.

Bereits in den
Wochen vor dem Massenaufstand konnte man eine Zunahme von Protesten und Streiks
beobachten, wie z. B. bei ZuckerrohrarbeiterInnen in Haft Tappeh (Haft
Tepe), die eine lange Tradition von ArbeiterInnenkämpfen haben, oder in den
Stahlwerken in Ahvaz (Ahwas). Themen wie die monatelange Nichtzahlung von
Löhnen lösten auch immer wieder Arbeitskämpfe aus.

Am Wochenende
des 16./17. November nahmen die Proteste vielerorts die Form eines spontanen
Aufstands an, eines Ausbruchs der Verzweiflung, des Zorns und der Wut der
Unterdrückten und Verarmten. Tankstellen, Rathäuser, manchmal auch Polizeiämter
und Gebäude der „Revolutionsgarden“, der halbfaschistischen Milizen des
Regimes, wurden gestürmt und niedergebrannt. In Schiras, einer Stadt im
südlichen Iran, schienen die DemonstrantInnen für einige Zeit die Kontrolle
übernommen zu haben.

Angesichts der
verzweifelten wirtschaftlichen Situation der Massen, des Niedergangs der
iranischen Wirtschaft kommt der Ausbruch wie eine Todeswarnung für das Regime.

Reaktion des
Regimes

Aber es kämpft
um jeden Preis um sein eigenes Überleben. Die Regierung ließ schon bald keinen
Zweifel, dass sie mit allen Mitteln gegen die Bewegung vorzugehen gedenkt und
diese, falls notwendig, im Blut ertränken will. Laut Amnesty International
wurden bis zum 19. November bereits 106 Menschen bei Zusammenstößen mit der
Polizei oder den bewaffneten Milizen des Regimes (Revolutionsgarden und ihre
Unterabteilung, die Basidsch-Milizen; Basidsch-e Mostaz’afin: dt. =
Mobilisierte der Unterdrückten) getötet. Mitglieder der Protestbewegung
berichteten sogar von Zahlen bis zu 200, bevor die Kommunikation weitgehend
abgeschottet wurde.

Die Bedrohung
durch eine Massenbewegung, die das Regime stürzen könnte, hat vorerst die
„HardlinerInnen“ und den „gemäßigen“ Flügel des islamistischen Regimes vereint.
Alle verurteilen den Aufstand als „Vandalismus“ oder vom Imperialismus
gesponserten „Terrorismus“. Einige der FührerInnen der DemonstrantInnen, die
verhaftet und sogar mit der Todesstrafe bedroht wurden, wurden im Fernsehen
gezeigt, wo sie „gestehen“, dass sie im Namen der USA, Israels oder
Saudi-Arabiens handelten. Solche „Geständnisse“ sind so vertrauenswürdig wie
die jedes Schauprozesses.

Seit Dienstag
behaupten Rohani und andere VertreterInnen des Regimes sowie die staatlich
kontrollierten Medien, dass sich die Situation „normalisiert“ habe. Dies klang
und klingt eher nach einer selbstgefälligen Nachrichtenpolitik, wenn man
bedenkt, dass die Nachrichtensperre aufrechterhalten blieb, dass jede
„unkontrollierte“ Verbindung zur Außenwelt blockiert wurde. Aber es war und ist
auch klar, dass das Regime alle Ressourcen mobilisiert, über die es verfügt –
sein Monopol auf die Medien, den repressiven Apparat, die Gerichte, die
Polizei, die Paramilitärs, die Institutionen der Islamischen Republik, die wie
die Moscheen auch mit Teilen der Gesellschaft verbunden sind und die
reaktionären Schichten zu Manifestationen für das Regime mobilisieren können.
Angesichts der sehr realen Bedrohungen durch den US-Imperialismus, die
Wirtschaftssanktionen und das westliche Ziel, einen „Regimewechsel“
durchzusetzen, gelingt es den Mullahs und ihren AnhängerInnen weiter, ihre
Politik bei Teilen der Bevölkerung fälschlich als „Antiimperialismus“ zu verkaufen.
Folgerichtig versuchen sie, die Massenbewegung als von ausländischen,
US-imperialistischen, zionistischen und saudischen Kräften geführt und geleitet
darzustellen.

Es liegt auf der
Hand, dass diese ebenso wie die „weicheren“ europäischen ImperialistInnen und
reaktionäre Kräfte des Exils und der internen „Opposition“, die von MonarchistInnen
über Liberale bis hin zu den von den USA gesponserten ehemaligen Linken der Volksmudschahedin
(Modschahedin-e Chalgh-e Iran) reichen, die Situation auszunutzen versuchen.
Außenminister Pompeo und andere VertreterInnen der US-amerikanischen Regierung
werden nicht müde, ihre „Solidarität“ mit dem iranischen Volk zu verkünden und sprechen
seit Jahr und Tag offen vom „regime change“.

Wirtschaftliche
und soziale Ursachen für die Bewegung

Es ist jedoch
einfach eine Lüge, dass die gegenwärtige Bewegung, die Massenaufstände, die wir
erlebt haben, von den USA oder anderen imperialistischen oder regionalen
Mächten initiiert, orchestriert oder geführt werden. Sie stellen vielmehr den
Ausbruch der Wut, Verzweiflung und Verelendung der verarmten Massen gegen ein
diktatorisches, klerikales kapitalistisches Regime dar.

Die Bewegung
wurde selbst durch Maßnahmen des Regimes ausgelöst, durch die Aufhebung der
Subventionen für Benzin. Am 14. November kündigte die Regierung diese Maßnahme
an, die innerhalb weniger Stunden auch umgesetzt wurde. Die Menschen hatten
daher keine Zeit, sich auf die Rationierung des Benzins und die Erhöhung der
Preise vorzubereiten. Diese steigen um 50 % für die ersten 60 Liter, die
man kauft, für jeden weiteren Liter werden sie gar um 300 % angehoben!

Während die
Benzinpreise im Iran zwar extrem niedrig sind (etwa 7,5 Eurocent/Liter bis
letzten Freitag), waren sie eines der letzten Mittel, mit dem das Regime und
der iranische Kapitalismus die Masse der Bevölkerung, der ArbeiterInnenklasse
und der Armen wirtschaftlich einigermaßen integrierten. Genau dieser Teil der
Bevölkerung wird am stärksten vom Preisanstieg und der wahrscheinlichen Zunahme
der Inflation betroffen sein, die laut IWF bereits im Oktober 2019 35,7 %
erreicht hatte. Noch pessimistischer ist die Einschätzung des Statistischen
Zentrums für den Iran (SCI), das eine Gesamtinflationsrate von 47,2 %
kalkuliert. Bezüglich der Erhöhung der Preise für Lebensmittel und Treibstoff
errechnete es für das letzte Jahr einen durchschnittlichen Anstieg von 63,5 %,
für Immobilienpreise einen von 82 % (Zahlen der Deutschen Welle, Iranische
Wirtschaft sinkt unter Gewicht von Sanktionen,
https://www.dw.com/en/irans-economy-plummets-under-weight-of-sanctions/a-50950471).

Der Grund für
den Preisanstieg liegt auf der Hand. Die Krise der iranischen Wirtschaft wurde
seit Mitte 2018 durch die US-Wirtschaftssanktionen und das Embargo, dem die
europäischen Verbündeten der USA folgten, extrem verschärft. Seither schrumpfte
die Wirtschaft nach Schätzungen der Weltbank um rund 8,7 %. Der IWF
rechnet sogar mit 9,5 %. Die Ölexporte sanken um 80 % und die
Staatsschulden stiegen. Preissubventionen, eindeutig ein Mittel zur
Verhinderung sozialer Unruhen und zur Einbeziehung der Masse der Bevölkerung,
sind ein Obolus, den das iranische Regime nicht mehr zahlen will und den es
sich möglicherweise auch nicht mehr leisten kann. Dabei wurden die Subventionen
für Benzin und andere Güter (und die damit verbundenen
Umverteilungsmechanismen) bereits in den letzten zehn Jahren reduziert –
teilweise als Folge der Forderungen des IWF nach einer „Umstrukturierung“ der
Wirtschaft.

Die Situation
wurde durch die Embargos, Handelsboykotte und Sanktionen verschärft. Hinzu
kommt, dass das fixe Kapital, Maschinen und Infrastruktur des Landes,
überaltert ist und kaum noch ersetzt wird. Wir haben es also mit einer
chronischen Wirtschaftskrise zu tun.

Lage der
ArbeiterInnenklasse

Es sind vor
allem die ArbeiterInnenklasse, die Armen, die Landbevölkerung und die national
unterdrückten Teile der Gesellschaft, die den Preis dafür zahlen müssen.
Bereits in den letzten Perioden war der iranische Kapitalismus von einer
dramatischen Verarmung großer Teile der Lohnabhängigen geprägt.

Man vergisst
oft, dass der Iran nicht nur eine theokratische Diktatur ist, sondern auch ein
kapitalistisches Land, das in den letzten Jahrzehnten eine starke Deregulierung
des Arbeitsmarktes und der Arbeitsgesetze durchgesetzt hat, Reformen, die
eindeutig der KapitalistenInnenklasse zugutekamen, aber auch wichtigen Teilen
der Mittelschicht, der Kleinbourgeoisie und des Staatsapparates.

Nach Angaben des
SCI lag die offizielle Arbeitslosigkeit im September bei 10,5 %. Dies
verdeckt jedoch die tatsächliche Höhe von Arbeitslosigkeit und
Unterbeschäftigung, da nach einer kürzlich erfolgten Neudefinition der
Beschäftigung jeder Mensch, der für eine Stunde pro Woche unter Vertrag steht,
als beschäftigt gilt!

Dennoch bleibt
die Jugendarbeitslosigkeit selbst nach offiziellen Angaben bei 26 %. Wenn
man bedenkt, dass die Hälfte der 80 Millionen Einwohner des Iran unter 25 Jahre
alt ist, zeigt sich, dass das derzeitige System für die Jugend keine Zukunft
bietet.

Darüber hinaus
hat die Regierung in den letzten 15 Jahren UnternehmerInnen ermöglicht,
ArbeiterInnen nach einer dreimonatigen Probezeit ohne Bezahlung zu entlassen,
eine Praxis, die bei Neueinstellungen und jungen Menschen weit verbreitet ist.
Insgesamt haben schätzungsweise rund 93 % der Beschäftigten in Industrie
und Handel nur befristete Verträge. Kurz gesagt, die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse
ist verarmt und umfasst ein riesiges Subproletariat.

Noch stärker
betroffen sind die Lohnabhängigen in den ländlichen Regionen oder aus national
unterdrückten Bevölkerungsgruppen. Kein Wunder, dass der Aufstand der letzten
Tage in Regionen wie Chuzestan,
Kermānschāh und Fars, alles
„unterentwickelte“ Regionen mit großen arabischen und kurdischen Minderheiten,
besonders ausgeprägt war.

Was nun?

Angesichts der
wirksamen Abschottung des Landes ist es schwierig, die weitere Entwicklung der
Bewegung zu beurteilen.

Der schnelle
Ausbruch und die Ausbreitung spiegeln das enorme Maß an Wut und Verzweiflung,
Entfremdung der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft und sogar
großer Teile der „Mittelschicht“ vom Regime wider.

Angesichts des
diktatorischen Charakters der islamistischen Herrschaft, ihrer Durchdringung
aller Bereiche des sozialen, wirtschaftlichen und privaten Lebens wird leicht
verständlich, dass diese von Elend und sozialer Entvölkerung getriebene
Bewegung schnell einen politischen Charakter angenommen hat.

Dies belegen
viele Berichte, in denen DemonstrantInnen den Sturz des Regimes forderten, das
Elend mit der islamischen und kapitalistischen Diktatur verknüpften, aber auch
die Richtung der gewalttätigen Aktionen. Die Massen plünderten keine kleinen
Geschäfte oder „randalierten“ nicht blind. Ihre Aktionen richteten sich gegen
Tankstellen, Banken oder Gebäude des Regimes und der Repressionskräfte. Mit
anderen Worten, sie richteten sich gegen die herrschende Klasse und ihre
Institutionen.

Die rasante Ausbreitung
– obwohl die elektronische Kommunikation zunächst sicherlich erleichtert wurde
– spiegelt natürlich auch eine weit verbreitete, spontane Wut wider, die  durch steigende Preise nur entfacht
werden musste. Es spiegelt möglicherweise auch einige, wenn auch schwache
Formen der Verbindung zwischen Teilen der StudentInnen wider, aber auch von
GewerkschafterInnen, die unter illegalen oder halblegalen Bedingungen arbeiten.
Niemand sollte übersehen, dass gerade kämpferische ArbeiterInnen brutal unterdrückt
und verfolgt sind. Allein im Raum Teheran saßen schon vor den Massenprotesten
über 700 KämpferInnen der ArbeiterInnenklasse im Knast.

Verbindungen
zwischen den Städten und AktivistInnen sind jedoch eindeutig sehr schwach und
es fehlt ihnen eine politische und strategische Ausrichtung. Dies spielt in die
Hände des Regimes, da es über einen zentralisierten Apparat, nationale Medien,
die Kontrolle über die Wirtschaft verfügt – Mittel, die es gezielt zur
Zerstörung der Bewegung und jeder organisierten proletarischen Opposition
einsetzt. Darüber hinaus ist die Bewegung, obwohl sie eindeutig über starke
Wurzeln bei den Armen und der ArbeiterInnenklasse verfügt und in der Lage war,
den staatlichen Kräften in einigen Regionen zu widerstehen, nicht in der Lage
gewesen, sich mit einfachen Soldaten zu verbinden, um sie an ihre Seite zu
bringen und so den Repressionsapparat von innen zu schwächen.

Daher stellt das
Fehlen einer landesweiten Organisation und Ausrichtung einen enormen Nachteil,
ja eine grundlegende Schwäche dar angesichts der bewaffneten Macht des Regimes
und der unmittelbaren Gefahr, die Bewegung im Blut zu ertränken. Deshalb müssen
sich die ArbeiterInnenbewegung und die internationale Linke jetzt mit den
ArbeiterInnen und Jugendlichen des Iran solidarisieren!

Sie müssen die
Lüge zurückweisen, dass diese HandlangerInnen der westlichen imperialistischen
Mächte, Israels oder Saudi-Arabiens seien.

Gleichzeitig
müssen sie auch vor diesen falschen, heuchlerischen „FreundInnen“ des
iranischen Volkes warnen. Sie müssen ihre Heuchelei, ihre eigene Unterdrückung,
z. B. von Frauen in
Saudi-Arabien, des Volkes im Jemen, der PalästinenserInnen oder die Plünderung
der gesamten Welt durch die US-amerikanischen und europäischen Mächte
aufdecken. Sie müssen darauf hinweisen, dass die US-Sanktionen gegen den Iran
auch eine Ursache für das Elend der Bevölkerung sind, dass der Westen die
Bevölkerung für seine Zwecke aushungern lässt. Sie müssen darauf hinweisen,
dass die westlichen bürgerlichen PolitikerInnen zwar die Unterdrückung der
Bewegung ablehnen, aber über das wirtschaftliche und soziale Elend schweigen.
Kein Wunder, denn der IWF rechtfertigte tatsächlich den Anstieg der
Benzinpreise, um die Schulden des Iran zu decken und das Land
„umzustrukturieren“.

Und natürlich
muss man auch vor den liberalen, monarchistischen oder proimperialistischen,
fälschlich zur Linken gerechneten Formationen der „Opposition“ warnen und diese
bekämpfen.

Politische
Ausrichtung

Die iranische
ArbeiterInnenklasse wird jedoch nur dann in der Lage sein, das Regime zu
besiegen und gleichzeitig zu vermeiden, in die Hände dieser falschen „FreundInnen“
zu fallen, wenn sie sich als politische Kraft versteht, wenn sie die politische
Führung übernimmt.

Dies erfordert
einerseits in zugespitzten Krisen die Schaffung von Massenorganisation für den
Kampf – nicht nur von Gewerkschaften, sondern auch von Aktionsräten, von
Milizen zur Selbstverteidigung und von Soldatenräten, um diese auf die Seite
der ArbeiterInnen und Jugend zu ziehen. Die Geschichte hat gezeigt, dass das
Regime nicht reformierbar ist, dass es eine Revolution braucht, um es zu
stürzen. Aber es muss eine Revolution sein, die nicht nur die herrschende
politische und staatliche Form verändert. Es muss eine Revolution sein, die
nicht nur eine klerikale Diktatur stürzt, sondern auch die
KapitalistenInnenklasse und die GroßgrundbesitzerInnen enteignet, die den
islamistischen Staatsapparat zerschlägt, ihn durch eine ArbeiterInnen- und
Bauern-/Bäuerinnenregierung ersetzt und die Wirtschaft auf der Grundlage eines
demokratischen Plans neu organisiert, der die Bedürfnisse der Vielen, nicht der
Wenigen befriedigen soll.

Wie die
Auswirkungen der imperialistischen Sanktionen gezeigt haben, wäre selbst ein
solches Regime der ArbeiterInnenklasse nicht in der Lage, die Dinge in nur
einem Land zu ändern. Die iranische Revolution müsste mit den Massenbewegungen
im Irak, im Libanon, mit den palästinensischen und kurdischen Befreiungskämpfen
verbunden, also über die gesamte Region ausgeweitet werden zum Kampf um eine
Sozialistische Föderation des Nahen und Mittleren Ostens.

Es droht, dass
die Kräfte der Konterrevolution, dass der iranische Staat den Aufstand
zerschlagen werden, bevor sich die ArbeiterInnenklasse politisch so weit
entwickelt, dass sie ihren Kampf mit diesen Aufgaben verbindet. Wir müssen
unser Möglichstes tun, um die Zerschlagung der Bewegung zu verhindern. Aber
selbst wenn es dem Regime gelingen sollte, diese mit brutaler Gewalt
niederzuringen, so wird es nicht in der Lage sein, die wirtschaftliche und
soziale Grundlage für eine dauerhafte Stabilität zu schaffen. Weitere Ausbrüche
wären wahrscheinlich, ja würden unvermeidlich folgen.

Die Bewegungen
und Aufstände der letzten 10 Jahre verweisen aber auch auf ein
Schlüsselproblem, das alle Bewegungen des Nahen und Mittleren Ostens, ja
weltweit betrifft – die Führungskrise der ArbeiterInnenklasse, das Fehlen eines
klaren revolutionären Programms und einer Strategie, um die demokratischen,
sozialen und wirtschaftlichen Forderungen mit dem Kampf um die Macht verbindet.

Keine spontane
Bewegung, keine reine Gewerkschaftsbewegung kann die dafür notwendige Führung
schaffen. Die politisch bewusstesten und entschlossensten KämpferInnen und mit
der ArbeiterInnenklasse verbundene Intellektuelle müssen den Aufbau einer
revolutionären, kommunistischen Partei in Angriff nehmen. Eine solche Partei
muss auf einem Programm von Übergangsforderungen beruhen. Sie muss in der Lage
sein, unter Bedingungen extremer Unterdrückung, unter Illegalität zu handeln
und in Massenbewegungen zu wirken, die aufgrund der tiefen Krise rasch
ausbrechen und schnell einen revolutionären Charakter annehmen können. Die
Gründung einer solchen Partei, die Klärung ihres Programms und die Verbindung
des Kampfes mit dem Aufbau einer neuen revolutionären Fünften Internationale ist
eine unverzichtbare Aufgabe – im Iran und darüber hinaus.




Es sind immer die gleichen: die, die Arbeitsplätze vernichten und das Klima killen!

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), Aufruf von GewerkschafterInnen zur Unterstützung des globalen Klimastreiks am 29. November und der Aktionen von Ende Gelände!, Infomail 1078, 19. November 2019

Die
Klima-Proteste bringen das Land und die ganze Welt in Bewegung und ein Großteil
unserer Gewerkschaften unterstützen sie. Das ist gut so!

Denn die
eigentlichen Verursacher der Klimakatastrophe, die großen Konzerne – seien es
die Energie- oder die Automobilkonzerne – interessiert es nicht, ob sie die
Umwelt zerstören und damit die ganze Menschheit in eine existentielle Krise
stürzen. Für sie zählt nur der Profit.

Aber die
Realität ist auch, dass viele Betriebs- und Personalräte und große Teile der
Belegschaften jede Umweltsünde mitmachen, wenn die Unternehmen mit
Arbeitsplatzvernichtung drohen. Dann werden weiter Wälder für Braunkohle
abgeholzt, Kernkraftwerke weiterbetrieben und dicke Verbrennermotoren in überdimensionierte
SUVs gebaut.

Die Realität
ist, dass aus solchen Betrieben so gut wie keine Mobilisierung zum Klimastreik
am 20.9. stattgefunden hat und es gab schon früher die Bilder vom Hambacher
Forst, als ArbeiterInnen gegen die DemonstrantInnen standen. Beim „Kohlegipfel“
der Bundesregierung stimmten auch die VertreterInnen einem extrem späten
Ausstieg und Milliardensubventionen für die Konzerne zu.

So bleibt von
der Solidarität mit der globalen Umweltbewegung und den Aktionen von Friday for
Future nur ein Lippenbekenntnis mit schalem Beigeschmack.

Verantwortlich
dafür sind auch die Führungen der großen Gewerkschaften wie der IG Metall und
der IG BCE, die den notwendigen Kampf gegen die zunehmenden zerstörerischen
Auswirkungen der fossilen Energieerzeugung und der Autoindustrie (um nur die
Augenscheinlichsten anzuführen) gegen den Erhalt von Arbeitsplätzen stellen,
selbst wenn sie bei anderen Gelegenheiten von „ökologischer Erneuerung“ und
Maßnahmen gegen den Klimawandel sprechen. Und damit die Durchsetzung dieser
beiden Ziele in den Augen der meisten Beschäftigten als unüberwindbaren
Widerspruch hinstellen. Das führt auch dazu, dass GewerkschafterInnen bei
Auseinandersetzung auf unterschiedlichen Seiten stehen. Während die IG BCE
zusammen mit RWE Pro-Kohleabbau-Demos organisierte, unterstützte ver.di
(richtigerweise) die Gegendemo.

Diese Spaltung
wollen und müssen wir aber überwinden. GewerkschafterInnen dürfen sich nicht
länger vor den Karren „ihrer“ Unternehmen spannen lassen. Wenn jetzt die
Unternehmen mit der Vernichtung von zehntausenden Stellen drohen, dann werden
dieses Problem und der Druck noch größer. Alle Konzernzentralen begründen den
Abbau mit der Konjunktur, aber alle, die das irgendwie können, schieben die
Schuld auf die Klimabewegung und die „Politik“, die angeblich nicht im
Interesse der Arbeitsplätze entscheide.

Das ist
verlogen und dagegen wehren wir uns: alle Bundesregierungen haben immer Gesetze
nach dem Wunsch der Unternehmen gemacht, besonders aber für die Autoindustrie
und die Energie-Branche. Genau deshalb wurden die Klimaziele, die auf einem
anderen Papier standen, nicht erreicht, während e.on, RWE, EnBW und Vattenfall
der Ausstieg aus Atom und Braunkohle mit Milliardengeschenken vergoldet wurden.
Diese Zugeständnisse an die Profitinteressen retten letztlich auch keine
Arbeitsplätze, sondern verschärften nur die ökologische Krise und treiben
außerdem einen Keil zwischen die Lohnabhängigen.

Wenn die IG
Metall als größte Industriegewerkschaft verlangt, dass „die Transformation
ökologisch und sozial sein soll“, dann ist das Ziel richtig. Aber die Erfahrung
hat gezeigt, dass die Unternehmen solange sie können die Umwelt schädigen, wenn
es Profit bringt. Genauso wie sie alle anderen Kosten ihrer Entscheidungen auf
die Gesellschaft abwälzen, von den krankmachenden Arbeitsbedingungen bis zur
Arbeitslosigkeit, wenn das ihre Kassen klingeln lässt.

Die
SchülerInnen haben richtig erkannt, dass Demos, die niemand weh tun, die
politisch Verantwortlichen nicht beeindrucken. Sie haben mit Schulstreiks
begonnen. Am 20.9., dem internationalen Streiktag kam plötzlich die Frage auf,
ob Gewerkschaften ebenfalls zum Streik aufrufen, ob das erlaubt sei. Am 29.
November findet der nächst globale Aktionstag statt – und die Gewerkschaften
sind gefordert, diesen nicht nur verbal, sondern durch betriebliche Aktionen
und Arbeitsniederlegungen zu unterstützen.

Wir sagen, es
ist nötig: Es ist nötig, weil die Unternehmen nicht einfach weiter
Entscheidungen auf Kosten unserer Zukunft fällen dürfen! Es ist nötig, weil die
Regierungen nicht weiter die Unternehmen finanziell entlasten dürfen! Es geht
nicht nur um Demos während der Arbeitszeit, es geht um die Wahrnehmung des
politischen Streiks, um den nötigen ökonomischen und politischen Druck ausüben
zu können. Dazu braucht es eine Perspektive, die den Kampf gegen den
Klimawandel als Teil des Kampfes für die Interessen der gesamten arbeitenden
Bevölkerung begreift. Wir treten dafür ein:

  • umweltschädliche Produktion zu stoppen, den schnellst möglichen Ausstieg aus dem Braunkohletagbau durchzusetzen und die Beschäftigten ohne Einkommensverlust umzuschulen.
  • die Entscheidungen über Forschung und Entwicklung offenzulegen und betrieblich und gesellschaftlich durch die lohnabhängigen Beschäftigten und KonsumentInnen zu kontrollieren.
  • Arbeitsplatzverlagerung zu blockieren und Betriebsschließungen zu verhindern
  • eine kollektive Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochenstunden sofort bei vollem Lohn- und Personalausgleich durchzusetzen
  • eine Konversion durchzusetzen, die nicht auf Kosten der Arbeitsplätze geht, sondern die Beschäftigten in diesen Prozess einbeziehen. Denn sie verfügen über das Know-how wie zukünftige umweltfreundliche Arbeitsplätze aussehen können.
  • die Kapitalsteuern massiv zu erhöhen und die Vermögenssteuer wieder einzuführen.
  • die großen Konzerne unter Kontrolle der Beschädigten zu enteignen, um einen demokratischen Plan zum ökologischen Umbau der Produktion und der Infrastruktur durchzusetzen!

Wir fordern die
DGB-Gewerkschaften auf, am 29.11. den globalen Klimastreik zu unterstützen und
sich mit den Aktionen von „Ende Gelände“ vom 29.11. zum 1.12. zu
solidarisieren!

Vernetzung für
kämpferische Gewerkschaften (VKG), verabschiedet am 10.11.2019




Nieder mit dem reaktionären Putsch in Bolivien!

Dave Stockton, Infomail 1077, 17. November 2019

Was als Protest gegen angebliche Unregelmäßigkeiten bei den
bolivianischen Präsidentschaftswahlen begann, der von der Geschäfts- und
Grundbesitzerelite mithilfe halb-faschistischer Straßenbanden angeheizt wurde,
endete mit einem polizeilichen und militärischen Staatsstreich. Er erzwang den
Rücktritt von Evo Morales, dem ersten gewählten indigenen Präsidenten
Boliviens. Nach einer Meuterei der Polizei am 8. November und einem Ultimatum
vom Chef der Streitkräfte trat er zurück und floh ins Exil nach Mexiko.

Die Vizepräsidentin des Senats, Jeanine Áñez, eine
rechtsgerichte Konservative, hat die Funktionen der Interimspräsidentin an sich
gerissen und Neuwahlen versprochen. Diese sollen als Feigenblatt herhalten, um
den Interessen der kapitalistischen und Land besitzenden Oligarchie des Landes
den Schein verfassungsmäßiger Legitimität zu verleihen. Das eigentlich Ziel
besteht darin, fortschrittliche soziale und wirtschaftliche Errungenschaften
umzukehren, die in den Jahren 200–2008 durch Massenkämpfe und die Reformen von
Morales und seiner Partei, der „Bewegung zum Sozialismus“, MAS, in über 14
Jahren in der Regierung erzielt wurden.

Der Putsch wurde von Anfang an von der US-Regierung, ihrem
Instrument, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und ihren Verbündeten
in Lateinamerika und Europa unterstützt. Die argentinische und die mexikanische
Regierung haben den Putsch verurteilt. Das Parlament der Europäischen Union
beeilte sich jedoch, um Áñez anzuerkennen und damit den Putsch zu unterstützen.
Auch die deutsche Bundesregierung begrüßte den Machtwechsel im Interesse des
westlichen Imperialismus.

Immerhin solidarisierte sich Jeremy Corbyn, Vorsitzender der
Labour Party in Großbritannien, mit Morales und erklärte:

„Es ist schrecklich zu sehen, wie Evo Morales, der zusammen
mit einer mächtigen Bewegung so viel sozialen Fortschritt gebracht hat, vom
Militär aus dem Amt gedrängt wurde. Ich verurteile diesen Putsch gegen das
bolivianische Volk und stehe mit ihm für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und
Unabhängigkeit.“

Die Liga für die Fünfte Internationale verurteilt diesen
Putsch aufs Schärfste und fordert die ArbeiterInnenbewegung weltweit auf, alles
in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Widerstand der bolivianischen
ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und indigenen Völker gegen diese schamlosen
konterrevolutionären Akt zu unterstützen und die Anerkennung der UsurpatorInnen
zu verhindern. Das Problem bestand nicht darin, dass Evo Morales bei seinen Reformen
zu radikal war oder bei den GrundbesitzerInnen und KapitalistInnen zu
diktatorisch vorging. Ganz im Gegenteil.

Morales‘ Schicksal zeigt, dass Maßnahmen der teilweisen
Umverteilung und der Arbeit innerhalb der militärisch-polizeilichen Maschine
des bürgerlichen Staates keine dauerhaften Reformen erreichen können,
geschweige denn Sozialismus. Nur eine antikapitalistische Revolution, die von
den arbeitenden Massen selbst gemacht und getragen wird, eine Revolution, die
nicht auf halbem Weg endet, kann das tun.




Britannien: Vom Kampf um den Wahlsieg zum Kampf um die Macht

Red Flag, Infomail 1077, 17. November 2019

Nach drei Jahren des Streits um Brexit hat das
Parlament für eine vorgezogene Parlamentswahl am 12. Dezember gestimmt.

Die Kampflinien für die Wahl sind klar.

Auf der einen Seite stehen Boris Johnsons
Tories, unterstützt von Donald Trump, die darauf abzielen, das zu vollenden,
was Thatcher begonnen hat. Eine Tory-Regierung wird einen vom Brexit
angeheizten Blitzkrieg gegen die noch vorhandene Rechte der ArbeiterInnen, gegen
den Umweltschutz und die Überreste des zerschlagenen britischen
„Wohlfahrtsstaates“ entfesseln.

Gegen sie steht Jeremy Corbyns Labour Party mit
einer halben Million Mitgliedern und einem Programm, das verspricht, die
arbeiterInnenfeindliche Sparpolitik zu beenden, einen umweltfreundlichen
Gesellschaftsvertrag (green new deal) einzuleiten und den Menschen in einem
Referendum das letzte Wort über Brexit zu geben.

Zwischen den Ambitionen der beiden
Regierungskandidaten stehen Brexit – und die LiberaldemokratInnen und
Brexit-Partei, die sich positioniert haben, um die internen Spaltungen in
Labour und den Tories auszunutzen.

Die Schottische Nationalpartei, die SNP, und die
Liberalen kamen Boris Johnson zu Hilfe, indem sie den Weg zum von ihm
favorisierten Wahltermin unterstützten. Die Liberalen kalkulierten, dass dies
der beste Zeitpunkt sei, um Labours Stimmen in England, die in überwältigender
Mehrheit für den Verbleib in der EU eintreten, streitig zu machen und die SNP hofft,
die 2017 verlorenen Sitze wieder einzunehmen.

Für die schottischen NationalistInnen ist die
Ausbeutung von Brexit einfach, denn die Abstimmung für das Verlassen der EU war
überwiegend ein englisches Phänomen und ist Wasser auf die Mühlen ihrer
Kampagne für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum.

Die LiberaldemokratInnen stellen sich zwar als
prinzipielle Zuflucht für die weiterhin den Verbleib in der EU unterstützenden
Labour-WählerInnen dar, sind aber mehr damit beschäftigt, die Aussichten auf
eine linke Labour-Regierung zu zerstören als damit, Brexit zu stoppen. Deshalb
haben sie auf eine Wahl gesetzt, die zu einer harten, rechtsgerichteten
Pro-Brexit-Mehrheit führen könnte, und eine Koalition mit einer von Corbyn
geführten Labour Party ausgeschlossen. Es ist keine Überraschung, dass die
Juniorpartei des britischen Kapitalismus die Tories objektiv unterstützt, auch
wenn sie Gefahr läuft, den Tory- Brexit auszulösen, von dem sie behauptet, ihn
abzulehnen.

Die Brexit-Wahl

Alle Wahlen werden als entscheidende oder
historische bezeichnet, aber der Urnengang vom 12. Dezember stellt wirklich
eine existenzielle Frage darüber, welche Zukunft die britischen ArbeiterInnen
und KapitalistInnen wollen. Obwohl die Mehrheit der britischen Bosse Brexit
nicht will, wollen sie noch weniger eine radikale, wenn auch reformistische Labour-Regierung
und eine ArbeiterInnenklasse mit enormen Erwartungen.

Für die herrschende Klasse Großbritanniens ist
Brexit ein Kampf darum, wie man die Widersprüche einer niedergehenden,
zweitklassigen imperialistischen Macht bewältigen kann. Ihre weltweiten
finanziellen Interessen bedeuteten in der Vergangenheit immer ein
militärisch-strategisches Bekenntnis zu einer Rolle als Juniorpartnerin des
US-Imperialismus. In jüngster Zeit steht dies im Widerspruch zu ihrem Status als
führendes Mitglied der EU, die von den US-Interessen zunehmend als Rivalin
wahrgenommen wird.

Im Mittelpunkt von Brexit steht die Wahl
zwischen der Aufrechterhaltung und Vertiefung der wirtschaftlichen und
politischen Beziehungen zu Europa oder dem Fungieren nicht nur als
Juniorpartnerin des US-Imperialismus, sondern als dessen Außenposten an der
europäischen Grenze. Für Trump und den Gründer der Unabhängigkeitspartei,
Farage, wäre das Vereinigte Königreich ein nützliches Instrument in den
zunehmend hektischen Handelskriegen und politischen Auseinandersetzungen nicht
nur mit der EU, sondern auch mit China und Russland.

Bei aller Bedeutung von Brexit jedoch ermöglicht
eine Parlamentswahl, dass die gesamte Bandbreite der Fragen des
wirtschaftlichen und politischen Lebens zum Tragen kommt. Hier hat Labour nach
fast zehn Jahren Tory-Herrschaft einen Vorteil. Das staatliche
Gesundheitswesen, Wohnen und Obdachlosigkeit, die Umwelt, die Flüchtlingskrise
sind alles entscheidende Fragen, aber mit ihnen umzugehen bedeutet, Rechnungen
mit Brexit zu begleichen: mit der extrem rechten Strategie, das Vereinigte
Königreich aus der EU herauszuführen und eine neoliberale Offensive zu starten.
Ein von Brexit verursachter wirtschaftlicher Zusammenbruch wird die
Mobilisierung der Ressourcen für große Reformen erheblich erschweren.

Eine Tory-geführte Regierung wird eine
beispiellose Offensive der herrschenden Klasse einleiten, die darauf abzielt,
die internationale Wettbewerbsfähigkeit Großbritanniens wiederherzustellen. Sie
würde planen, Großbritannien in einen Tummelplatz für MilliardärInnen mit
niedrigen Löhnen und Steuern zu verwandeln, auf dem US-amerikanische private
Gesundheitsunternehmen, SpekulantInnen der City of London und
Hedgefonds-ParasitInnen zu KuponschneiderInnen an britischen Gesundheits-,
Bildungs- und Sozialsystemen geraten.

Obwohl Johnson und andere MinisterInnen gesagt
haben, dass das Thema Gesundheitswesen bei Gesprächen über ein Handelsabkommen
mit Trump „vom Tisch“ sei, lügen sie. MinisterInnen und MinisterialbeamtInnen
hatten sechs geheime Treffen mit US-Gesundheitsfirmen. Ein Brexit-induziertes
Handelsabkommen mit Trump bedeutet eine Speisekarte aus verfälschten
Lebensmitteln, Abzockmedizin und dem Abschluss der Privatisierung des
Gesundheitswesens.

Die Labour Party verspricht zwar ein zweites
Referendum, eine Wahl zwischen dem Abkommen, das sie mit der EU auszuhandeln
hofft, und dem Verbleib in der EU, das entscheiden soll, ob Britannien die EU
verlässt oder nicht. Aber das wird die pro-amerikanische Rechte nicht zum
Schweigen bringen. Sie wird selbst einen solchen „Labour-Brexit“ als Betrug brandmarkten,
weil er das Vereinigte Königreich in der EU-Zollunion belassen würde, mit einem
engen Verhältnis zum einheitlichen Binnenmarkt und seinen „gleichen Wettbewerbsbedingungen“.
Das würde nicht nur dazu führen, dass das Vereinigte Königreich aggressiven
US-Unternehmen keine Grenzen setzt, sondern es auch dazu verpflichten, die
Entscheidungen der EU-Mitgliedstaaten zu befolgen, bei denen es kein
Mitspracherecht hat.

Darüber hinaus wird ein Labour-Brexit
Großbritannien immer noch zum Fokus für die wachsenden Gegensätze der
Vereinigten Staaten mit der EU machen, da eine zukünftige Tory-Regierung
jederzeit beschließen könnte, die Zollunion zu verlassen.

Das Brexit-Projekt steht unter Kontrolle einer aggressiven
Minderheit der Bourgeoisie. Die Geschehnisse vollziehen sich in einer
Weltordnung, in der wir in eine Zeit der Neuausrichtung und des Konflikts
eintreten, und in der es auch um die Kontrolle über den strategischen Platz
Großbritanniens geht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass SozialistInnen das
Brexit-Gerangel nur als einen Streit zwischen Bossen verurteilen, der für die
ArbeiterInnen unwichtig ist.

Es kann nicht die Aufgabe von SozialistInnen
sein, die britischen Bosse zu beraten, welcher Rahmen von Handelsregeln und
politischen Beziehungen für sie am vorteilhaftesten ist. Für uns gibt es kein übergeordnetes
nationales Interesse, d. h. es gibt kein gemeinsames Interesse zwischen
der britischen ArbeiterInnenklasse und der sie beherrschenden Klasse.

Brexit muss im Interesse der ArbeiterInnenklasse
auf beiden Seiten des Kanals gestoppt werden. Die Brexit-BefürworterInnen
erzielten ihren knappen Sieg, indem sie über die EU als alleinige Ursache für
die Schließung oder den Niedergang von Industrien, überlastete
Gesundheitsdienste logen und durch die Boulevardpresse offen rassistische
Ängste vor der Migration schürten. Sich zu weigern, Partei zu ergreifen oder,
schlimmer noch, selbst vor dem Nationalismus zu kapitulieren, würde nur
bedeutet, die eigene Niederlage vorzubereiten.

Labour hätte die rassistischen und
nationalistischen Vorurteile mit Zähnen und Klauen bekämpfen und die realen
wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Bereichen angehen sollen, in
denen sie am meisten Einfluss hatte. Jeremy Corbyns Zweideutigkeit zielte
jedoch darauf ab, die Minderheit der Labour-WählerInnen für einen Austritt
zusammen mit der Mehrheit für Verbleib zu halten. Sie war nicht, wie er
behauptete, „kreativ“. Vielmehr war sie destruktiv für die internationale
Solidarität, die wir brauchen werden, wenn Labour gewinnt und von der
Hochfinanz, der britischen City und der amerikanischen Wall Street angegriffen
wird. Wir werden sie noch mehr brauchen, wenn Johnson uns in Trumps Hinterhof führen
sollte. Nicht zuletzt beachtete die Zweideutigkeit von Labour die Menschen aus
der ArbeiterInnenklasse, die für Brexit gestimmt haben, bei weitem nicht genug,
um geduldig mit ihnen zu argumentieren, dass sie falsch lagen und dass die
wirkliche Ursache für ihre „abgehängten“ Gebiete, Niedriglöhne und unsicheren
Arbeitsplätze vor allem der britische Kapitalismus und nicht nur oder nicht
einmal in erster Linie der EU-Kapitalismus war.

Grenzen von Labour

Das Programm der Labour Party muss noch vom
„Clause V Committee“, einer Kommission von VertreterInnen der
Parlamentsfraktion, der Partei- und Gewerkschaftsführungen und des
Schattenkabinetts unter Vorsitz von Corby, beschlossen werden. Labour Campaigns
Together, eine Koalition von basisdemokratischen Kampagnen, drängt darauf, dass
das Manifest die auf dem Parteitag verabschiedeten politischen Versprechungen –
offene Grenzen und ein Ende des rassistischen Einwanderungssystems, den grünen
New Deal, den Wohnungsbau usw. – in das Manifest aufnimmt. Dies ist wichtig und
würde einen historischen Bruch mit dem Muster des Vorsitzenden und seiner
BeraterInnen, der GewerkschaftsführerInnen und der Parlamentsfraktion der
Partei bedeuten, die Labour-Politik zu ignorieren, von der sie glauben, dass
die WählerInnen sie für unannehmbar halten würden, anstatt sie zur Abstimmung
zu stellen. Ein Warnschuss wurde jedoch abgegeben, als die Abgeordnete Diane
Abbott sich unmittelbar nach dem Parteitag weigerte, die Entschließung zur
Migration zu unterstützen, und sagte, dass Labour „ein neues System von
Arbeitsvisa“ für diejenigen einführen würde, die in das Vereinigte Königreich
einreisen wollen. Dies ist eine chauvinistische Politik der „britischen Jobs
für britische ArbeiterInnen“, die weit davon entfernt ist, die in Großbritannien
geborenen ArbeiteInnen zu schützen, sondern den UnternehmerInnen die Peitsche
über die MigrantInnen in die Hand geben wird, um Tarifverhandlungen zu
untergraben und einen Unterbietungswettbewerb nach unten auszulösen.

Selbst wenn alle fortschrittlichen Parteitagsbeschlüsse
enthalten bleiben sollten, würde das Programm der Labour Party, obwohl es das
linkeste seit 1974 und 1983 wäre und eine bedeutende Umverteilung der
Ressourcen von den Reichen auf die Armen darstellt, dennoch die kapitalistische
Kontrolle über die entscheidenden Hebel der Wirtschaft intakt lassen. Mit
Ausnahme von kosmetischen Vorschlägen für die ArbeiterInnenvertretung in
Aufsichtsräten und einem begrenzten Programm zur Wiederverstaatlichung
öffentlicher Versorgungsunternehmen bleiben der Kern der Wirtschaft, das
verarbeitende Gewerbe und die Rohstoffindustrie, der private Verkehr, vor allem
die Banken und Investmentfonds, in privater Hand. Die Währungs- und
Anleihemärkte, die Ratingagenturen wären immer noch in der Lage, eine Labour-Regierung
wie in den 1960er und 1970er Jahren „vom Kurs abzubringen“. Der einzige Grund,
warum sie es Blair und Brown nicht angetan haben, war, dass es dazu keinen
Anlass gab.

Kurz gesagt, die bescheidenen Vorschläge von
Labour sind ausdrücklich darauf ausgerichtet, die britische kapitalistische
Industrie zu fördern. Ihre zentrale Politik, riesige Summen zur Finanzierung
von Investitionen zu leihen, soll für „Geschäftsinteressen“ schmackhaft sein,
denn dies ist im Wesentlichen eine Subvention des Staates (und der
ArbeiterInnenklasse) an die Privatwirtschaft. Das Nichteingreifen in das
private Eigentum der Wirtschaft würde eine von Corbyn geführte Regierung völlig
der Gnade von UnternehmeInnen und SpekulantInnen überlassen. Angesichts des auffrischenden
Gegenwinds einer internationalen Wirtschaftskrise werden sie absolut keine
Absicht zur friedlichen Partnerschaft hegen.

Die Gefahr besteht darin, dass Labour die
ArbeiterInnenklasse unvorbereitet und entwaffnet in die großen Klassenkämpfe
stolpern lässt, die auf uns zukommen.

Von einer Labour- zu einer
ArbeiterInnenregierung

Schon jetzt ist die Form des Labour-Wahlkampfs
klar: Er ist eine linkspopulistische Kampagne, die einzelne Bosse wie den
Sports Direct-Besitzer Mike Ashley oder SteuerhinterzieherInnen wie Amazon zur
Kritik auswählt, ohne den Konkurrenzkampf um den Profit zwischen den Bossen als
solchen anzugreifen, der die Grundlage des kapitalistischen Systems bildet. Das
ist das ultimative Gesetz, das ihr rücksichtsloses Verhalten, ihren ständigen
Druck auf Löhne, Bedingungen und Arbeitsplätze als Teil ihres Überlebenskampfes
rechtfertigt.

Die Realität sieht so aus: ArbeiterInnen werden
in einer Firmenkette oder einem multinationalen Unternehmen, die/das von
widerwärtigen und medienhungrigen MilliardärInnen geleitet wird, ausgebeutet.
Tausende mehr befinden sich in genau der gleichen Situation in Leicesters
Bekleidungsfabriken, bei den Reinigungskräften in Regierungsabteilungen oder
NullstundenarbeiterInnen bei den britischen Eisenbahnen.

Die Rücksichtslosigkeit oder den Mangel an
Mitgefühl eines/r bestimmten ChefIn aufzudecken, ist gute Agitation, aber kein
Ersatz für ein ernsthaftes antikapitalistisches Programm, das darauf abzielt,
die Tyrannei des Privateigentums durch Gemeineigentum zu ersetzen. Wir brauchen
ein Programm, das das Profitstreben in der Produktion unterdrückt, um das zu
produzieren, was die Gesellschaft braucht. Ein Programm, das die räuberische
Ausbeutung und Verschmutzung unserer natürlichen Umwelt durch die Planung zur
Nutzung und Verteilung der Ressourcen unseres Planeten stoppt.

Dennoch müssen wir uns bewusst sein, dass das
Reformprogramm von Labour, so bescheiden es auch im historischen Vergleich sein
mag, für die britische KapitalistInnenklasse in ihrer jetzigen Position völlig
inakzeptabel ist. Sie werden ihren vierzigjährigen Angriff auf die Zugeständnisse,
die in der Nachkriegsperiode an die ArbeiterInnenklasse gemacht wurden nicht
aufgeben, angetrieben von der Notwendigkeit, unrentable Industrien zu zerstören
und neue Märkte für Gewinne – wie das Gesundheitswesen – zu erschließen, „nur“
weil es eine Klimakrise gibt. Die Rahmenbedingungen für die neoliberale
Offensive haben sich nicht grundlegend verändert. Tatsächlich haben die Krise
von 2008 und ihre Folgen sie verschärft.

Eine Labour-Regierung wird mit der Behinderung,
Sabotage und nackten Aggression seitens der Gesamtheit der kapitalistischen
Klasse, ihrer Medien, ihrer Verbündeten in den Sicherheits- und
Militäreinrichtungen und nicht nur einiger weniger Einzelpersonen oder US-Unternehmen
konfrontiert sein. Es wird keine einfachen Siege geben, ob moralisch oder, was
noch wichtiger ist, in materieller Hinsicht und durch die Erringung
gesellschaftlicher Kontrolle.

Für den Sieg bei dieser Wahl zu kämpfen,
bedeutet sicherlich, die gesammelte Erfahrung in den Bereichen WählerInnenregistrierung,
Haustürbesuche, WählerInnenmobilisierung zu nutzen und die Menschen nicht nur
an das zu erinnern, was die Tories getan haben, sondern auch an die kriminelle
Verantwortung der Liberalen für die Sparpolitik. Mehr noch, es muss auch eine
Kampagne sein, die die Menschen darauf vorbereitet, eine linke Regierung nach
ihrer Wahl unter Druck zu setzen und gegen die herrschende Klasse zu
verteidigen.

Das bedeutet eine Massenkampagne, nicht nur im
Sinne von Massenwerbung, sondern auch, in den Massen das politische
Bewusstsein, die Aufgewecktheit für die Aufgaben und das Vertrauen in ihre
gemeinsame Stärke zu nähren. Wie wir 2017 gesehen haben, können die
traditionellen Methoden der Massenaktion: große Kundgebungen, die von den
Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in den großen Zentren der
ArbeiterInnenklasse unterstützt werden; politische Massenversammlungen in den
Gemeinden und Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse, um Labours Programm, seine
Umsetzung und die Ausrichtung der Kampagne zu diskutieren, wirksam
funktionieren.

Anstelle einer populistischen Kampagne, die die
Illusion eines regulierten Kapitalismus verbreitet, sollte Labour seine
Kampagne für eine „grüne industrielle Revolution“, also die Durchsetzung
ökologischer Nachhaltigkeit, ernst nehmen. Das bedeutet, die notwendigen
antikapitalistischen Maßnahmen in einer Kampagne zu fördern, die den
Kapitalismus als Feind und den Sozialismus als Lösung bezeichnet.

Labours Programm hängt hauptsächlich von der Kreditaufnahme
bei den Banken und Weltfinanzinstituten ab. Ein kurzer scharfer
Investitionsstreik, Kapitalflucht, ein Run auf das Pfund, eine Medienoffensive,
bei der prominente Parlamentsabgeordnete der Labour Party zitiert werden, um
ihre AnhängerInnen zu demoralisieren und zu desorientieren, und das
unvermeidliche Gemurmel von ungenannten „Quellen“ im Sicherheitsestablishment,
das sind die bewährten und vertrauten Waffen aus dem Arsenal der herrschenden
Klasse, mit denen sie versuchen werden, eine Labour-Regierung in die Schranken
zu verweisen.

Als Reaktion darauf muss eine Labour-Regierung
Kapitalkontrollen einführen, die eine Verstaatlichung und ArbeiterInnenkontrolle
der Banken und Finanzinstitute erfordern; ArbeiterInnenkontrolle über die
Fernseh-, Druck- und Online-Medien; die Verstaatlichung von Unternehmen, die
sich der Regierung widersetzen; und die Inspektion der Geschäftsgeheimnisse,
die in den Computern ihrer ChefInnen enthalten sind. Bisher waren wir auf den
Mut einzelner InformantInnen angewiesen. Was wir brauchen, ist ein umfassender
Kampf um  ArbeiterInneninspektion;
die Forderung, dass die ChefInnen ihre Bilanzen in der Industrie, den Banken
und den großen Einzelhandelsketten offenlegen.

Solche Maßnahmen gehen von der
Massenmobilisierung zur Verteidigung der Maßnahmen der Labour Party aus, aber
dazu bedarf es der Aufdeckung dessen, was die KapitalistInnen planen, der
Bekämpfung ihrer Sabotage mittels ArbeiterInnenkontrolle und, wann immer sie
aufgedeckt wird, der Forderung, dass die Unternehmen und das Privatvermögen der
Schuldigen beschlagnahmt und für das öffentliche Wohl eingesetzt werden.

Nicht zuletzt sollte man nicht vergessen, dass
kurz nach der Wahl von Jeremy Corbyn zum Labour-Vorsitzenden ein „hochrangiger
General“ der „Sunday Times“ sagte, dass die Armee „alle möglichen, fairen oder
schmutzigen Mittel einsetzen würde“, um zu verhindern, dass ein „Einzelgänger“
für die Sicherheit des Landes verantwortlich ist. „Die Armee würde das nicht
zulassen…..man würde mit der sehr realen Aussicht auf ein Ereignis
konfrontiert, das tatsächlich eine Meuterei wäre.“

Seitdem hat Corbyn sein früheres Versprechen
fallengelassen, das Atomwaffenprogramm Trident aufzugeben und die britische
Nato-Mitgliedschaft in Frage zu stellen. Die Generäle verabscheuen Corbyn und seinen
Vize McDonnell und betrachten ihre früheren Anti-Kriegsaktivitäten als
einfachen Verrat.

Deshalb sollte die ArbeiterInnenbewegung
ernsthaft darüber nachdenken, wie sie sich der Erpressung durch das Militär
widersetzen kann, wie sie sicherstellen kann, dass sich die einfachen
SoldatInnen weigern, bei einer Meuterei von OffizierInnen jeglicher Art
Schachfiguren zu spielen, ja wie man sie für die Seite einer
ArbeiterInnenregierung gewinnen kann.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Umwandlung
einer Labour-Regierung in eine echte ArbeiterInnenregierung die Mobilisierung
der Gewerkschaften und ganzer ArbeiterInnenklasse erfordert, um eine Gegenmacht
zum kapitalistischen Staat aufzubauen und ihn durch einen zu ersetzen, der auf
der ArbeiterInnenklasse und ihren Organisationen – ArbeiterInnenräten, Milizen,
SoldatInnenräten – fußt und diesen Rechenschaftspflicht ist. Dazu müssen diese
bestehenden Organisationen der Klasse selbst gründlich demokratisiert werden,
um die bürokratische Trägheit und die reformistische Strategie zu überwinden,
die sie passiv und untätig lässt. Schließlich wird ein solcher Machtkampf gegen
die herrschende Klasse in Britannien die Solidarität und Hilfe unserer
Schwestern und Brüder in Europa erfordern, damit wir gemeinsam mit ihnen ein
sozialistisches Europa schaffen können, als unseren ersten Beitrag zur
sozialistischen Welt, der den Beginn der Zukunft der Menschheit einläuten wird.




Libanon, Irak – blüht der Arabische Frühling wieder auf?

Dilara Lorin, Infomail 1077, 14. November 2019

Ägypten, Irak, Libanon – hier gehen die Menschen
seit Wochen massenhaft und militant auf die Straße, weil sie ihre schlechte
Lebenssituation nicht mehr hinnehmen! Die Arbeitslosenzahl ist sehr hoch, vor
allem unter den Jugendlichen, und gleichzeitig stiegen in Libanon und Irak die
Steuern. Libanon ist im arabischen Raum dafür bekannt, dass auf viele Produkte
nicht nur Steuern erhoben, sondern diese immer wieder mal erhöht werden. Diesmal
sollte wieder eine Steuererhöhung kommen, wie auf Internet, WhatsApp etc. Und
genau das wollten die Menschen nicht mehr hinnehmen. Diesmal aber entfacht dies
eine Massenbewegung, an der sich die große Mehrheit der Bevölkerung beteiligt.
Unzählige Videos und Bilder dokumentieren, wie die großen Plätze überfüllt
wurden. Selbst in den Seitenstraßen beteiligten sich die EinwohnerInnen, so
dass zeitweise ganze Städte oder Wohngebiete vollzählig an den Protesten
teilnahmen. Dabei werden die Rufe nach mehr Freiheit, mehr Mitbestimmung und
Demokratie immer lauter. Gleichzeitig sind die Massen wütend auf die Korruption
und die Aufteilung der Pfründe nach religiösen/sektiererischen Linien unter den
wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes. Während sich die Taschen
der Reichen füllen, werden jene der Armen noch leerer gemacht.

Ähnlich auch im Irak. Die Worte eines
Demonstranten zeigen deutlich, wie groß der Hass auf die Bourgeoisie und ihre
Parteien ist: „Diese Männer repräsentieren uns nicht. Wir wollen keine Parteien
mehr. Wir möchten nicht, dass jemand in unserem Namen spricht.“

Die DemonstrantInnen bestritten jegliche
Verbindungen zu Parteien und Milizengruppen, denn diese sehen sie auch als Teil
der zahlreichen Probleme an. In der südlichen Stadt im Irak Nasiriya haben
DemonstrantInnen Büros von 6 politischen Parteien angezündet. Diese hatten
versucht, die Situation auszunutzen.

Irak – die militantesten Demonstrationen seit
Jahren

Der Irak ist der fünftgrößte Ölproduzent der
Welt, aber die Bevölkerung bekommt von diesem „Reichtum“ nichts mit aufgrund
der massiven Korruption der Regierung und Verwaltung. 22 % der Bevölkerung
leben laut den Vereinten Nationen in absoluter Armut und 25 % der
Jugendlichen sind laut der Weltbank arbeitslos, die Dunkelziffer liegt noch
viel höher. Seit 17 Jahren gibt es gravierende Korruption und Ungerechtigkeit
im Irak, und auch der Sieg über den „Islamischen Staat“ (IS) vor zwei Jahren,
welcher von der USA so sehr gefeiert wurde, veränderte nichts an der
Lebenssituation der IrakerInnen.

Die Massenarbeitslosigkeit, das Fehlen der
wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen und die brutale Gewalt des Staates
gegen die DemonstrantInnen bewegte Tausende auf die Straße. Im Bezirk Sadr City
von Bagdad, wo 3,5 Millionen Menschen leben, wurde die Demonstration brutal
niedergeschlagen. Insgesamt wurden in den Protesten im ganzen Land bis zu 300
Menschen getötet und bis zu 6.000 verletzt. Die Regierung hat den Zugang zu
WhatsApp und Facebook eingeschränkt, um die Mobilisierungen zu stoppen.

Die Protestierenden verlangen den Sturz von
Premierminister Adil Abd al-Mahdi. Die irakischen Regierungen sind seit 2003 im
Grunde in Koalitionen rivalisierender Parteien, um die Ressourcen des Landes zu
plündern. Und die Forderungen der Massen gehen noch weiter, sie verlangen mehr
Mitbestimmung, sie sprechen sich gegen das Mullah- Regime aus, welches bis
heute viele wichtige Teile der irakischen Politik koordiniert und es werden
Rufe laut wie: „Iran raus raus, Bagdad bleibt frei.“

Vor allem die Jugend, die seit zwei Jahrzehnten nichts
gesehen und erlebt hat außer Krieg, Terror, Verelendung, Arbeitslosigkeit und
Armut findet sich in den ersten Reihen der Demonstrationen, Streiks und
Besetzungen.

So entstanden auf dem Tahrir-Platz in Bagdad
nach einer Woche der Proteste Formen der Selbstorganisation. Es gibt freies
Essen und Strom. Street Art zeigt den Geist der Massen. Eines der höchsten
Gebäude am Tahrir-Platz, in welchem sich
ein türkisches Restaurant befand, wurde besetzt und ist zum Symbol der
andauernden Proteste im Land geworden.

Am vergangenen Wochenende haben die ArbeiterInnen
von Basra den Hafen der Stadt und die Ölfelder bestreikt.

Und der Staat versucht mit allen Mitteln, die
Protestierenden zu unterdrücken. Mit Tränengas und Scharfschützen der Polizei
versuchen sie, die Menschen auf den Straßen zu zerstreuen.

Bis jetzt hat die Regierung zwei verzweifelte
Pakete von sozialen Reformen versprochen. Aber wenn einmal die Massen
entschlossen sind, die korrupte Bande von PolitikerInnen, Geistlichen und Gelehrten
loszuwerden, ist es unwahrscheinlich, dass solche schwachen Abhilfemaßnahmen
die Dinge für lange Zeit zum Schweigen bringen. Die nächste Konfrontation und
weitere Zuspitzung sind vorprogrammiert.

Libanon

Auch hier finden Massenproteste gegen Korruption
einerseits sowie gegen die klientelistische Aufteilung des Landes und den
politischen Einfluss entlang konfessioneller Linien andererseits statt. Auf den
Straßen von Beirut hört man sogar den Slogan „Klasse gegen Klasse“, auch wenn
die Bewegung insgesamt nicht nur von den proletarischen, sondern auch den
kleinbürgerlichen Schichten der Bevölkerung getragen wird.

Und auch im Libanon sehen wir, dass wie in der
Arabischen Revolution die Straßen und Plätze besetzt wurden, auch wenn das Land
– anders als Irak, Syrien, Ägypten oder Libyen – keine Diktatur war.

Das Land an der Mittelmeerküste ist jedoch tief
verschuldet. Die Staatsverschuldung erreicht 150 % der
Wirtschaftsleistung. Aber auch im Libanon sind wichtige Dienstleistungen nicht
bis kaum vorhanden. Es gibt keine Züge oder öffentlichen Nahverkehr. Für
Stunden fällt auch die Stromversorgung immer wieder aus. Die Menschen in Beirut
bekommen ihr Wasser per Lastwagen und aufgrund der seit 2015 nicht mehr
funktionierenden Müllentsorgung verschmutzt die Küste am Beiruter Flughafen,
weil hier der Müll am Strand abgelagert wird. Vor allem die sehr hohe Armuts-
und Arbeitslosenrate brachte die Massen zu Hunderttausenden auf die Straße: 37 %
der Jugendlichen sind arbeitslos. Auf die gesamte Bevölkerung bezogen beträgt
die Arbeitslosenrate 25 %. Außerdem leben rund 28,5 % der Menschen
unterhalb der Armutsgrenze und am stärksten sind die Geflüchteten im Libanon
betroffen. Dabei ist anzumerken, dass im Land bis zu 1,5 Millionen Geflüchtete
leben. 65 % der Geflüchteten aus Syrien fristen ihr Dasein unterhalb der
Armutsgrenze so wie 65 % der palästinensischen Flüchtlinge und 89 %
der palästinensischen Flüchtlinge, die aus Syrien kamen.

Als weitere Steuern auf die Nutzung von WhatsApp
kommen und die ArbeiterInnen und Jugendlichen wieder zur Kasse gebeten werden
sollten, reichte es der Bevölkerung. An vorderster Front stehen oft Jugendliche
und Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, die es satt haben, dass durch die
starke Elitenbildung und Korruption mehr Geld den Reichsten und PolitikerInnenfamilien
zugutekommt, diese dann in riesigen Villen mit Swimmingpool leben, während mehr
als 3,2 Millionen Menschen in vollkommener Armut leben (Bevölkerungsanzahl
insgesamt 5,9 Millionen).

Der Präsident das Landes, Michel Aoun, kündigte
an, den Libanon mit einem 3-Punkte-Plan aus der wirtschaftlichen und sozialen
Krise zu führen. Zuvor hatte schon Hariri, der Premierminister, Reformen
angekündigt. Aber alle diese vorgeschobenen Maßnahmen konnten die Massen bislang
nicht täuschen. Saad Hariri trat schließlich am 29. Oktober nach massenhaften
Protesten zurück.

Er hatte seinen Rücktritt angekündigt, nachdem
die schiitische Hisbollahmiliz und die Amal-Bewegung, eine konservative und
populistische Partei der SchiitInnen im Libanon, ein Protestcamp zerstört und
die DemonstrantInnen auf dem Märtyrerplatz im Zentrum von Beirut verprügelt
hatten. Die Hisbollah präsentierte sich in der Vergangenheit zwar oft als
„soziale Kraft“ und Vertreterin der Armen, aber sie ist selbst eine wichtige
Stütze des herrschenden Systems. Während ihr Vorsitzender Nasrallah verbal zu
Beginn „Verständnis“ für die Proteste bekundete, so lehnte er doch den
Rücktritt Hariris ab. Die Hisbollah stellt nicht nur eine wichtige Verbündete
des Iran und des Assad-Regimes in Syrien dar, sie ist auch eine der wichtigsten
politischen Kräfte im Land, verfügt über eigene militärische Stärke und
kontrolliert wichtige Transportknotenpunkte wie Flughafen und Häfen. Die
schiitische Miliz rief ihre AnhängerInnen dazu auf, an den Protesten nicht
teilzunehmen, nachdem in den von ihr beherrschten Stadtteilen Beiruts und in
den Hochburgen im Süden des Landes Menschen ebenfalls gegen Korruption und
Misswirtschaft auf die Straße gingen.

Über konfessionelle Grenzen hinaus

Der politische Einfluss im Land war seit seiner
Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht immer unter verschiedenen
konfessionell verankerten Parteien aufgeteilt und umkämpft. Umso
beeindruckender ist es, dass heute die Menschen unabhängig von ihrer religiösen
Zugehörigkeit Seite an Seite für eine revolutionäre Erneuerung kämpfen. Trotz
aller Gewalt, mit der man gegen die Demonstrierenden vorgeht, lassen sich die
Menschen nicht unterdrücken und mundtot machen. Vor allem Generalstreiks legten
und legen weiterhin viele Produktionsstätten des Landes lahm. Man lernt aus den
Fehlern des Arabischen Frühlings und Gewerkschaften sind mit an der vordersten
Front dabei. Und nicht nur die Organisierung der ArbeiterInnenklasse in
Gewerkschaften verdeutlicht das Potential. Teilweise zeigten die Aktionen auch
antikapitalistischen Charakter. So wurde die Losung „Nieder mit dem Kapital“ von
den Demonstrationen durch die Straßen von Beirut getragen, bis es die Bankiers
und politischen FührerInnen hören konnten.

Seit Wochen sieht man, wie Beirut und Tripoli
brennen und es auf den Hauptstraßen keinen Platz mehr gibt, da sie von Menschen
überfüllt sind. Am 13. November wandte sich Präsident Aoun an die DemonstrantInnen
und erklärte, dass er eine TechnokratInnen-Regierung gründen werde. Wer damit
nicht einverstanden sei, solle in ein anderes Land auswandern. Dies zeigt das
zynische Gesicht dieses Staates und den Unwillen der Herrschenden, einen
Schritt auf die demonstrierenden Massen zuzugehen. Am gleichen Tag starb Alaa
Abou Fakher, ein Mitglied der progressiven Sozialistischen Partei, bei einer
Straßenblockade in Beirut. Er ist der erste Märtyrer der aufkommenden Rebellion
im Libanon.

Eins wird in diesen Protesten deutlich: Die
Menschen sind bereit, mit ihrem Leben dafür zu kämpfen, dass es Veränderungen
gibt, die ihren Interessen entsprechen und nicht derjenigen, die alles besitzen
und die ArbeiterInnenklasse ausbeuten und verelenden lassen.

Im Irak wie im Libanon erheben die Massen
politisch-demokratische und soziale Forderungen – es kommt darauf an, diese zu
verbinden und zu bündeln. Heute bilden demokratische Ziele – Abschaffung des
Klientelismus, der Korruption, Verfassungsreform – den Kern der Forderungen auf
den Straßen. RevolutionärInnen müssen diese z. B. durch die Forderung nach
verfassunggebenden Versammlungen aufgreifen und mit der Errichtung von
Kampforganen der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten – Aktionsräten,
Selbstverteidigungsorganen – verbinden. Auf diesem Weg könnte die
Massenbewegung zu einer revolutionären Bewegung werden, wo der Kampf für
demokratische und soziale Rechte mit dem für eine sozialistische Umwälzung
verbunden wird.

Perspektive

Es scheint, als sei der Arabische Frühling nach
einer langen Eiszeit der Konterrevolutionen und Diktaturen wieder erblüht, als
würden Länder wie Ägypten, Irak oder der Libanon von einer neuen Welle der
Revolutionen erfasst. Die Massen zeigen ihre Widerständigkeit auf den Straßen,
sie besetzen wichtige Straßen und Transportknotenpunkte. Die ArbeiterInnen
streiken mehrere Tage und legen die Produktionen des Landes lahm. Vor allem die
Streiks, Massendemonstrationen und Besetzungen der Straßen und Gebäude zeigen
die Macht der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, und dass, wenn sie
einmal den Schleier des Kapitalismus und Nationalismus überwunden haben, auch
die Korruption und Misswirtschaft erkennen.

Es bleibt die Frage, ob sie aus den Fehlern des
im Jahr 2010 aufkommenden Arabischen Frühlings lernen und eine Strategie sowie
eine Führung finden, um eine Revolution angehen zu können, die die Macht in die
Hände der unteren und unterdrückten Klassen legt und eine demokratische
Organisierung der ArbeiterInnenklasse gewährleistet, um es auch den
KonterrevolutionärInnen wie den Generälen und Staatsoberhäuptern und dem
Imperialismus unmöglich zu machen, diese Revolution zu zerschlagen.

Wir rufen zur internationalen Solidarität mit
all jenen auf, die auf den Straßen von Bagdad und Beirut kämpfen. Was wir
brauchen, ist eine unabhängige, massenhafte und militante Organisierung der unterdrückten
und ausgebeuteten Klassen, um die Staatsapparate des Nahen Ostens, deren Grenzen
mit dem Lineal der ehemaligen Kolonialmächte gezogen wurden, zu zerschlagen und
eine Sozialistische Föderation des Nahen Osten auszurufen – von Rojava bis Palästina,
von Libanon bis Irak.




Chile – „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre!“

Chris Clough, Infomail 1076, 6. November 2019

Chile schließt
sich einer wachsenden Liste von Ländern an, die derzeit eine Massenrevolte für
eine bessere Welt erleben, frei von Korruption, Armut und Sparpolitik. Dazu gehören
derzeit Ecuador, Libanon, Hongkong, Sudan, Irak und Chile.

Wie kam es zu
den Protesten?

Chile hat
inzwischen wochenlang Unruhen, Proteste und Massenstreiks gegen die Regierung
des Milliardärs Sebastián Piñera erlebt. Die Demonstrationen begannen als
Reaktion auf eine Fahrpreiserhöhung in der U-Bahn von Santiago um 30 Pesos (ca.
4 Cent) für einfache Fahrten.

Chile ist die Nation
unter den OECD-Staaten, in denen die Schere zwischen Arm und Reich am weitesten
auseinanderklafft. 36 Prozent der städtischen Bevölkerung leben in extremer
Armut. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt inzwischen 26,5 Prozent des
gesamten chilenischen Bruttoinlandsprodukts. Chile hat zehn MilliardärInnen auf
der Forbes-Liste, mit einem Gesamtvermögen von rund 40 Milliarden US-Dollar,
was etwa 16 Prozent des BIP entspricht. Unterdessen können es sich 50 Prozent
der Menschen nicht leisten, in die privatisierten Rentenfonds einzuzahlen und
erleiden so im hohen Lebensalter großen Mangel. Junge Menschen erleiden lange
Zeiträume der Arbeitslosigkeit und 30 Prozent ihrer Arbeitsplätze sind
befristet.

Die derzeitigen
HerrscherInnen Chiles und ihre imperialistischen UnterstützerInnen hatten kein
Verständnis für die Unzufriedenheit, die unter der Oberfläche brodelte. Nur
eine Woche vor dem Ausbruch der Demonstrationen hatte die „Financial Times“
einen Artikel veröffentlicht, in dem Chile als „Leuchtturm der Stabilität und
des guten Managements“ bezeichnet wurde. Piñera selbst erklärte, dass
Chile im Verhältnis zu anderen lateinamerikanischen Nationen „wie eine Oase
aussieht, weil wir eine stabile Demokratie haben [und] die Wirtschaft wächst“.

Angesichts der
ohnehin schon hohen Lebenshaltungskosten und niedrigen Einkommen war die Erhöhung
der Metrofahrpreise der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die
StudentInnen besetzten die Stationen und öffneten die Ketten an den Einlasssperren,
um den Massen freien Verkehr zu ermöglichen. Als die Polizei mit roher Gewalt
reagierte, verbreitete sich der Widerstand wie ein Lauffeuer im ganzen Land.
Bald gab es Kämpfe mit der Polizei und Gebäude wurden niedergebrannt. Abgeordnete
im Unterhaus des Parlaments verließen ihre Kammer und 20.000 PolizistInnen
wurden aus der ganzen Stadt zusammengezogen, um wichtige Regierungsgebäude zu
verteidigen, während Tausende von DemonstrantInnen die Institutionen der
herrschenden Elite belagerten.

Aber natürlich
ist die Geschichte viel mehr als das. Wie eine populäre Losung der Bewegung
verkündet: „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre!“ Ein Hinweis auf
die Jahrzehnte seit dem Ende der von den USA und Britannien unterstützten
Diktatur, in denen die meisten repressiven Institutionen des Regimes, die
Ergebnisse massiver Privatisierungen und die von ihnen geschaffene
wirtschaftliche Ungleichheit weitgehend unberührt blieben.

Als Reaktion auf
diese Bewegung setzte die Regierung nicht nur die bereits gehassten Carabineros
(dem Verteidigungsministerium unterstellte Nationalpolizei), sondern auch das
Militär erstmals seit dem Ende der verhassten Diktatur von Augusto Pinochet im
März 1990 auf der Straße ein.

Bisher wurden bislang
20 Menschen getötet, 123 Menschen von Armee und Polizei verwundet und über
5.500 verhaftet, wobei schreckliche Berichte über Folter und sexuelle Gewalt über
sie verbreitet wurden. Der Staat erklärte eine Ausgangssperre auf Grundlage von
Gesetzen aus der Verfassung der Diktatur von 1980. Aber nichts davon hat die
Menschen abgeschreckt, die entschlossen sind, ihre Forderungen nach
Gerechtigkeit fortzusetzen.

Die Bewegung
breitete sich am 19. Oktober in den Armenvierteln der Hauptstadt Santiago aus,
wo die Menschen der Ausgangssperre mit Cacerolazos (Schlagen auf Töpfe und
Pfannen) trotzten. Piñera reagierte mit der Erklärung, „wir befinden uns im Krieg
mit einem/r mächtigen FeindIn“ und verteidigte die blutigen Aktionen der
Polizei mit dem Argument, dass „die Demokratie nicht nur das Recht, sondern die
Pflicht hat, sich mit allen Mitteln zu verteidigen“. Ja, Kugeln gegen ein
unbewaffnetes Volk.

Organisierte
ArbeiterInnenklasse

Die organisierte
ArbeiterInnenklasse trat nun in den Kampf ein; Kupferbergleute (die etwa 30
Prozent des weltweiten Kupfers produzieren) marschierten mit dem Ruf nach einem
Generalstreik auf den Lippen aus ihren Betrieben heraus. Sie schlossen sich den
HafenarbeiterInnen an, die über 20 Häfen geschlossen haben; LKW-FahrerInnen,
die die Autobahnen blockiert haben und BusfahrerInnen, die nach der Ermordung
eines/r ihrer KollegInnen durch die Polizei ihre Arbeitsstätte verließen.

Diese Aktionen
bringen die Nation zum Stillstand und lähmen die Fähigkeit der KapitalistInnen,
Profite zu erzielen. Das Vereinigte ArbeiterInnenzentrum (CUT;
Gewerkschaftsdachverband) und der Mesa Social (Sozialausschuss) riefen einen
eintägigen Generalstreik aus, der im ganzen Land stark befolgt wurde. Am 26.
Oktober waren die Straßenproteste die größten in der Geschichte des Landes, da über
eine Million Menschen in die Straßen der Hauptstadt Santiago strömten, etwa 5
Prozent der gesamten Bevölkerung des Landes.

Angesichts einer
Bewegung von solcher Größe war Präsident Piñera gezwungen, seine Meinung zu ändern
und den DemonstrantInnen den Rücktritt aller seiner MinisterInnen, aber nicht
seinen eigenen, anzubieten.

„Der Marsch, den
wir gestern gesehen haben, war ein massiver und friedlicher Marsch. Wir alle
haben die Botschaft gehört. Wir haben uns alle verändert“, erklärte er.

Er sprang beinah
über seinen Schatten, als er eine so genannte Sozialagenda anbot, die eine Erhöhung
des Mindestlohns, zusätzliche Rentenfinanzierung und eine Besteuerung der
Reichen vorsieht. Aber die Reaktion der Massen war klar, Krümel vom Tisch würden
nicht mehr ausreichen, sie kämpfen für grundlegende Veränderungen.

Das ist nicht
verwunderlich, vor allem angesichts der Geschichte Chiles. 1973 wurde die
sozialdemokratische geführte Volksfrontregierung von Salvador Allende in einem
blutigen, von der CIA unterstützten Putsch zur Einsetzung Pinochets gestürzt.
Das Militär begann sofort, die Massenbewegung, die Allende unterstützte,
zusammenzutreiben und zu zerstören.

In den folgenden
Jahren leisteten die berüchtigten neoliberalen Ökonomen, die „Chicago Boys“,
Pionierarbeit mit der so genannten Schockdoktrin, der raschen Privatisierung
von Industrie, Bildung und sogar von Sozialhilfe, der Umkehrung der
fortschreitenden Reformen der Allende‘schen Regierung der Volkseinheit und
sogar derjenigen der ChristdemokratInnen, die Allende vorausgegangen waren.
Diese neue Wirtschaftsdoktrin sollte bald die ganze Welt umspannen, verstärkt
eingesetzt durch PolitikerInnen wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher.

Das Ergebnis ist
ein kapitalistisches System zunehmender Ungleichheit, in dem eine kleine
Minderheit riesige Vermögen auf Kosten von Arbeitsplätzen, Löhnen, kollektiver
Organisation und Menschenrechten angesammelt hat. Chile, das erste Land, an dem
auf diese Weise herumexperimentiert wurde, leidet noch heute unter den Folgen.
Seine herzlose herrschende Klasse hat den Reichtum, den sie durch den Verkauf
der reichen Ressourcen Chiles an multinationale Konzerne in den imperialistischen
Kernländern erzielt hat, gehortet.

Falsche
Strategien

Die größte Kraft
unter den protestierenden Massen ist die Frente Amplio, die 2017 gegründet
wurde. Wie ihr Name, die „breite Front“, vermuten lässt, setzt sie sich
aus vielen kleinen Parteien zusammen, darunter Kräften aus der massenhaften
StudentInnenbewegung 2011 in Chile, aber auch aus der Liberalen Partei, einer bürgerlichen
Partei, die Verbindungen zum rechten Flügel unterhält. Bei den Parlamentswahlen
2017 gewann sie 20 Prozent der Stimmen und 20 von 155 Abgeordneten. Ein so
heterogenes Organ kann eindeutig keine klare Strategie vorantreiben, obwohl es
eine konstituierende Versammlung fordert, um die Überreste der Pinochet-Ära zu
beseitigen.

Unterdessen
forderte die Kommunistische Partei Chiles, obwohl sie den Aufruf zu einem
Generalstreik unterstützte, die ArbeiterInnen auf, aus Angst vor Zusammenstößen
mit der Armee nicht auf die Straße zu gehen. Sie kritisiert die Einladung von
Piñera zum Dialog, aber nur, weil er die Kräfte der Bevölkerung ausschließt.
Sie sieht den Weg nach vorn eindeutig darin, ihn zu weiteren Reformen zu drängen,
anstatt einen umfassenden Kampf einzuleiten, um ihn und mit ihm das gesamte
Post-Pinochet-Regime, das so viel von dem neoliberalen Erbe des Generals bewahrt,
zu Fall zu bringen.

Stattdessen
fordert die KP Reformen: ein neues Rentensystem, angemessene Löhne, die die
Armutsgrenze überschreiten, eine 40-Stunden-Woche, die Beendigung des
Ausnahmezustands und die Untersuchung der Repression, eine konstituierende
Versammlung zur Schaffung eines parlamentarischen Einkammersystems und das
Einfrieren von Reformen der Steuer-, Renten- und Arbeitsgesetze zugunsten der
Reichen. Die chilenische KP beendet die Liste mit den Worten: „Piñera muss
antworten. Er und seine Regierung sind für diese Krise verantwortlich.“

Kurz gesagt, die
KP-FührerInnen wiederholen die katastrophale Politik von vor einem halben
Jahrhundert. Sie streben Reformen innerhalb eines kapitalistischen Systems an,
das noch weniger in der Lage oder bereit ist, diese zu gewähren, außer als vorübergehende
Maßnahmen, um die Massen von der Straße zu holen. Sie sehen nicht, dass Chile
in eine revolutionäre Situation geraten ist, die revolutionäre Maßnahmen und
keine parlamentarischen Reformen erfordert.

Jede Strategie,
die die Machtstrukturen in den Händen der PolitikerInnen und Generäle der
KapitalistInnenklasse ruhen lässt, ist zum Scheitern verurteilt, ja sie öffnet
den Weg für noch schrecklichere Unterdrückung. Obwohl die Forderung von Frente
Amplio und KP nach einer konstituierenden Versammlung richtig ist, würde ihre Überlassung
in Händen der jetzigen Regierung und der staatlichen Behörden eine solche
Konstituante in eine echte Zwangsjacke stecken.

Sie wäre nicht
wirklich souverän und auch nicht in der Lage, die revolutionären Maßnahmen zu
ergreifen, die das Land braucht. Dazu gehört auch die Untersuchung und
Bestrafung derjenigen, die für die Verbrechen der Militärdiktatur sowie für die
Morde und Folterungen der letzten Tage verantwortlich sind.

Welche Lehren
sind zu ziehen?

Die Lehren aus
dem Jahr 1973 müssen gezogen werden, als Allende und seine von der KP unterstützte
Sozialistische Partei behaupteten, dass es einen Weg gäbe, das Leben der
arbeitenden Bevölkerung radikal zu verbessern, ja sogar eine sozialistische
Revolution mit ausschließlich friedlichen Mitteln unter Nutzung des
kapitalistischen Staates durchzuführen. Die Antwort der KapitalistInnen darauf
war eine ständige wirtschaftliche Sabotage, während Allende im Amt war, und als
das den Willen des Volkes nicht brach, entfesselten sie das Monster Pinochet.

Wenn die
Bewegung vermeiden will, die Tragödien der Vergangenheit erneut zu durchleben,
darf sie nicht in einen Verhandlungskompromiss mit Piñera hineingezogen werden.
Die ArbeiterInnenklasse kann nicht die Organe des kapitalistischen Staates, d. h.
die Parlamente, die Polizei, die Justiz, übernehmen und sie für ihre eigenen
Zwecke nutzen. Die ArbeiterInnenparteien, die dies tun, dienen unweigerlich der
Bourgeoisie, wenn sie nicht das Schicksal von Allende erleiden.

Die
ArbeiterInnenklasse und die Jugend beginnen laut Berichten bereits mit der
Schaffung von Koordinierungsorganen, die die Dynamik und Energie der
Massenbewegung bewahren und steuern können. Diese müssen sich zu vollwertigen Räten
der ArbeiterInnen und Armen mit Verteidigungsorganen entwickeln, wenn sie sich
der Herausforderung stellen wollen, Piñera zu verdrängen. Solche Organisationen
wurden im Laufe der Geschichte dutzende Male gegründet, darunter in den 1970er
Jahren in Chile mit den damaligen Cordones Industriales.

Diese
scheiterten nur, weil sie bzw. ihre politischen Führungen nicht rechtzeitig
erkannten, dass die Gewinnung der MannschaftssoldatInnen, die Zerstörung des
militärischen Oberkommandos, eine dringende Notwendigkeit war. Kurz gesagt, sie
haben das unbedingte Gebot der Errichtung einer ArbeiterInnenregierung und Durchführung
einer sozialistischen Revolution nicht erkannt.

Stattdessen setzten
sie unter Führung von Allende und der Sozialistischen Partei sowie der Chilenischen
Kommunistischen Partei und den Gewerkschaften auf die falsche Strategie der
Volksfront, ein Bündnis mit dem angeblich „demokratischen“ Flügel der
KapitalistInnen, den ChristdemokratInnen. Letzterer übergab sie schließlich der
zarten Gnade von Augusto Pinochet, der selbst von Allende ernannt wurde, welcher
sich für seine demokratische Empfehlung gegenüber den Massen verbürgte.

Um eine ähnliche
Katastrophe abzuwenden, müssen die Werktätigen in Chile auf ihre eigenen
Organisationen und ihre eigene Macht setzen, eine Macht, die bereits große
Zugeständnisse erzwingt und von Tag zu Tag stärker werden kann, wenn sie nicht
in Verhandlungen gelockt wird.




Diskutieren geht nicht! Veranstaltungsreihe zum Antisemitismus wird bekämpft – Rede und Versammlungsrecht verteidigen!

Stellungnahme der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1075, 3. November 2019

Zu den wenigen „guten“ Traditionen der „Linken“ in
Deutschland gehört die gemeinsame Nutzung von Veranstaltungsräumen in einer
Stadt. Trotz mancher ideologischer und methodischer Differenzen versuchen
Organisationen, diese Räume gemeinsam zu nutzen und auch diese zu erhalten. So
geben sich bei vielen Veranstaltungsräumen Gruppierungen die Klinke in die
Hand, die sonst kaum gegenseitig solidarisch wären. Das gehörte hierzulande
lange zur Normalität, gewissermaßen auch eine „demokratische“ Errungenschaft.

Seit mehreren Jahren sind jedoch linke, antiimperialistische
und palästina-solidarische Gruppierungen mit Versuchen sog. „antideutscher Gruppierungen“
konfrontiert, dass Veranstaltungen verhindert werden, die ihrer
pro-imperialistischen Haltung zum „Nahostkonflikt“ nicht entsprechen.

Zur Zeit trifft dies auch unsere Organisation. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Antisemitismus – eine marxistische Analyse“ wollen wir in mehreren Städten die Ausgabe 51 des „Revolutionärer Marxismus“, des theoretischen Journals der Gruppe ArbeiterInnenmacht, vorstellen. Dieses Vorhaben wird zur Zeit in jeder Stadt torpediert und diffamiert, wo wir eine materialistische Kritik des Antisemitismus zur Diskussion stellen wollen. So wurden zuletzt unsere geplanten Veranstaltungen in Berlin (Mehringhof) und in Stuttgart (Falkenbüro) abgesagt.

So begründete das Falkenbüro die Absage damit, dass die
„antideutsche Szene“ Druck ausgeübt habe, dem nachzugeben es sich gezwungen
sah. Der Mehringhof möchte dieses „konfliktbehaftete“ Thema nicht in seinen Räumlichkeiten
diskutiert haben. So argumentiert zumindest die Mehrheit der dortigen Projekte
und/oder Organisationen.

In Dresden mobilisiert die antideutsche Szene unter anderem
auch mit Drohungen gegen den dortigen kurdischen Verein und hat eine Demonstration
gegen unsere Veranstaltung ankündigt.

Auch außerhalb der Veranstaltungsreihe nehmen diese
politischen Angriffe zu. So soll in den kommenden Wochen eine Veranstaltung
über den sogenannten „linken Antisemitismus“ in Kassel stattfinden, womit sie
die Nichtanerkennung der zionistischen Besatzungspolitik in Palästina meinen.
Hier soll die pseudowissenschaftliche Gleichsetzung von Antisemitismus und
Antizionismus am Beispiel der kommunistischen Jugendorganisation REVOLUTION und
dem Friedensratschlag in Kassel konstruiert werden. In Frankfurt am Main soll
es eine ähnliche Veranstaltung am Beispiel des aufgelösten und von staatlicher
Repression betroffenen Jugendwiderstands geben.

Es war uns durchaus klar, dass dieses Thema polarisiert. Deswegen
haben wir ja auch diesen Artikel veröffentlicht, um eben eine marxistische
Analyse des Antisemitismus herzuleiten, seine rassistisch verkürzte
Kapitalismus„kritik“ offenzulegen, welche Klassenbasis ihm zugrunde liegt und
wie dieser von der ArbeiterInnenbewegung bekämpft werden kann. Ebenfalls haben
wir im Artikel dargelegt, warum „Israelkritik“ nicht mit Antisemitismus
gleichzusetzen ist. So ist auch Antizionismus (sofern sich dahinter kein
Antisemitismus versteckt) für jede/n internationalistische/n Aktive/n zu
verteidigen, da wir den Zionismus als eine nationalistische und reaktionäre
Ideologie ablehnen. Wir differenzieren in dem Artikel zwischen Antisemitismus
als Kernelement jeder reaktionären rassistischen Ideologie (wie er gerade auch
wieder in und um den rechten Terror in Halle deutlich geworden ist) und einer
notwendigen linken Kritik am Staat Israel und seiner Rolle im neokolonialen System
des Nahen Ostens. Wir lehnen gerade die Identifizierung jüdischer Menschen
weltweit mit der Politik dieses Staates grundlegend ab, ja halten diese
Ineinssetzung selbst für zutiefst antisemitisch. An diesem Punkt sind dann alle
„antideutschen, ideologiekritischen“ Szenen und Gruppierungen alarmiert. Sie
fürchten Widerspruch zu ihrer Definition von Antisemitismus, die sich mit der
der Bundesregierung deckt, wie auch ihre „Israelsolidarität“ mit der
israelischen Rechten von uns abgelehnt wird.

Wir halten es ebenso für ein demokratisches Recht, diese
linke Kritik zu veröffentlichen und auch dies öffentlich zu vertreten wie auch
konträre Positionen in der „Linken“ zu diskutieren. Wenn dies nun in Frage
gestellt wird, ist es die Aufgabe der ganzen „Linken“, sich dazu zu verhalten.
Wir rufen Gruppierungen, Netzwerke und Strömungen auf, das Recht auf „freie
Meinungsäußerung“ gerade auch in „linken Räumlichkeiten“ zu verteidigen.

Dass wir BDS Berlin und das Palästinakomitee Stuttgart
eingeladen haben, wird ebenfalls als Vorwand benutzt, um gegen unsere
Veranstaltungen zu hetzen. Wir verteidigen das Recht der palästina-solidarischen
Bewegung, öffentlich zu sprechen und gegen den demagogischen und
verleumderischen „Antisemitismus-Vorwurf“ Stellung zu beziehen. Wir halten es
für ein demokratisches Recht der Palästina-Solidarität, der migrantischen und
anti-imperialistischen Organisationen, sich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen
und mit uns zum Thema zu sprechen.

Auch außerhalb dieser Veranstaltungen nehmen solche gezielten bürokratischen Angriffe zu. Dafür haben wir mit anderen linken Organisationen im Juni den gemeinsamen Aufruf „Antizionismus ist kein Antisemitismus“ gestartet. Wir rufen alle Linken auf, diesen gemeinsamen Aufruf zu unterzeichnen und künftig solche bürokratischen Manöver nicht unbeantwortet zu lassen. Ein gemeinsamer Widerstand gegen diese darf nicht nur dabei stehenbleiben, sondern braucht auch eine klare Perspektive, wie wir gegen den erstarkenden Antisemitismus ankämpfen wollen und müssen.

Für uns zeigt dies erneut, dass der
Kampf gegen den Antizionismus, den der deutsche Imperialismus samt seiner „antideutschen“
ErfüllungsgehilfInnen führt, dem notwendigen Kampf gegen den Antisemitismus in
Zeiten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks praktisch im Wege steht. In Zeiten
antisemitischer Anschläge, wie dem kürzlich in Halle, offenbart sich diese
politische Agenda zunehmend als reaktionär.

Wir müssen inzwischen davon ausgehen, dass nicht nur alles
versucht wird, dass wir keine Räume bekommen, sondern auch die Veranstaltungen
gestört werden und es zu Übergriffen kommen kann. Dies ist sicherlich
beschämend für die „Linke“ insgesamt, zeigt aber deutlich, dass die
antideutsche Szene einen staatstragenden, pro-imperialistischen und
reaktionären Charakter trägt.

Wir wollen gerade bei „konfliktbehafteten Themen“ die
Diskussion führen, sehen darin die Möglichkeit, politische Differenzen zu
überwinden: Diskussion statt Verbot wäre unsere Losung. Wir hoffen auf die
Solidarität der internationalistischen Linken, damit wir unsere Veranstaltungen
durchführen können – ohne Störungen und ohne Gewalt.

Kontaktiert uns, wenn Ihr Interesse habt, das Thema in Eurer
Stadt zu diskutieren wie auch, wenn Ihr unsere Veranstaltungen besuchen und
schützen wollt!

Schließlich halten wir es für notwendig, dass nicht einfach
pauschal über unseren angeblichen „Antisemitismus“ Verleumdungen verbreitet und
darauf aufbauend Verbote ausgesprochen werden, sondern vielleicht erstmal
unsere Thesen zu lesen: Denn gerne sind wir bereit, auch darüber zu diskutieren
(http://arbeiterinnenmacht.de/2019/09/12/antisemitismus-zionismus-und-die-frage-der-juedischen-nation/).
Lasst uns also nicht nur mit diesen staatstreuen RassistInnen herumschlagen,
sondern gemeinsam für eine Welt kämpfen, in der Antisemitismus keinen Nährboden
haben kann!

Daher laden wir auch noch einmal zur Teilnahmen an den drei
Veranstaltungen ein:

Berlin, 14. November, 19.00 Uhr, Spreefeld Genossenschaft,
Wilhelmine-Gemberg-Weg-14

Stuttgart, 16. November, 18.00 Uhr, Clara-Zetkin-Haus,
Gorch-Fock-Straße 26

Dresden, 14. Dezember, 18.00 Uhr, Kurdischer Verein,
Oschatzer Str. 26