Dirty Talk. Democratic Socialists of America hängen weiter an Demokratischer Partei

Andy Yorke, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Das Wachstum der Democratic Socialists of America (DSA, Demokratische Sozialist:innen Amerikas) auf fast 95.000 Mitglieder in den letzten Jahren der Massenkämpfe und politischen Mobilisierungen spiegelte sich in ihrem alle zwei Jahre stattfindenden nationalen Kongress in der ersten Augustwoche 2021 wider, als über 1.000 Menschen tatsächlich zusammenkamen, um über Entschließungen zu debattieren, die den weiteren Weg betreffen. Dabei zeigte sich auch eine Polarisierung innerhalb der Organisation und ein deutlicher Rechtsruck der Führung.

Während der Parteitag ein radikal-reformistisches Programm verabschiedete, wurde die Konzentration auf die Kandidatur als oder Unterstützung linke/r Kandidat:innen als Teil der Demokratischen Partei, die genauso wie die Republikanische eine Partei des Großkapitals ist, bekräftigt. Diese Ausrichtung entspricht jedoch immer weniger den Bedürfnissen der radikalen Kämpfe und Bewegungen, die in den krisengeschüttelten USA entstanden sind.

Der linke Flügel der DSA, der diese Taktik des so genannten „schmutzigen Bruchs“ ablehnt, muss die Einheitsfront nutzen, um seine eigene Uneinigkeit zu überwinden und eine koordinierte Kampagne gegen die Kandidatur oder Unterstützung demokratischer Kandidat:innen bei Wahlen zu starten und stattdessen die DSA für die Schaffung einer neuen Arbeiter:innenpartei zu gewinnen.

Ein polarisiertes Amerika

Der Zeitpunkt des Kongresses hätte nicht besser gewählt werden können, um die bisherige Arbeit der DSA und ihre zukünftigen Pläne zu untersuchen, angesichts der bedeutsamen Entwicklungen seit dem letzten Kongress. Die amerikanische Linke steht vor stürmischen Jahren unter einer wackeligen Präsidentschaft Bidens und mit einer bösartigen rechtsgerichteten Republikanischen Partei, die von ihren Hochburgen innerhalb des us-amerikanischen Gemeinwesens, der Polizei, der Justiz und dem Kongress, Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse, Frauen und Farbige startet. Der lange Niedergang der USA als imperialistische Supermacht ist durch den demütigenden Rückzug aus Afghanistan deutlich geworden. Wirtschaftlich stehen sie seit 2008 im Zentrum der historischen Depression des Kapitalismus. Politische und ökonomische Entwicklungen haben die Klassengegensätze im In- und Ausland verschärft und zu einer historischen Polarisierung geführt.

Selbst unter der relativ populären Präsidentschaft Obamas, die diesen Niedergang bis zu einem gewissen Grad kaschierte, zeigten Umfragen, dass eine Mehrheit der jungen Amerikaner:innen Bänker:innen, den  amerikanischen Großunternehmen und dem Kapitalismus feindlich gegenübersteht. [1] Dies führte dazu, dass der „unabhängige Sozialist“ Senator Bernie Sanders zum ersten sozialistischen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei gewählt wurde, und zwar 2015/16, als er bei den Vorwahlen dreizehn Millionen Stimmen für die Nominierung erhielt, und dann weit weniger erfolgreich 2019 – 20. Beide Male blockierte ihn das mächtige Democratic National Committee (Nationales Komitee der Demokratischen Partei). Diese Klassenwidersprüche wurden mit dem Wahlsieg von Trump 2016 zur Weißglut getrieben, als sich eine offen faschistische Bewegung mit der triumphierenden populistischen Rechten der Republikanischen Partei vermischte.

Im Jahr 2018 stürzte DSA-Mitglied Alexandria Ocasio-Cortez, (AOC), einen der mächtigsten Amtsinhaber der Demokratischen Partei und wurde die erste Sozialistin, die in den Kongress einzog (als Mitglied der Demokratischen Partei), was landesweit für Aufsehen sorgte. In ihrem Windschatten kandidierte eine Reihe von DSA-Kandidat:innen für den Kongress, fast alle unter dem Firmenschild der Demokratischen Partei. Darüber hinaus gibt es viele weitere von der DSA unterstützte „fortschrittliche“ Demokrat:innen, die (wenn überhaupt) noch weniger von sich behaupten, Sozialist:innen zu sein, so dass inzwischen 150 DSA-Mitglieder oder von ihnen befürwortete Politiker:innen in Stadträten, Landesparlamenten und anderen staatlichen Gremien vertreten sind. Mit der Wahl des DSA-Mitglieds Cori Bush in den Kongress im vergangenen Jahr sitzen nun fünf DSA-Mitglieder im Repräsentantenhaus.

In der Zwischenzeit vertiefte sich die epochale Krise des Kapitalismus, als die Feuer der Klimakatastrophe von Australien bis nach Amerika loderten, und dann, bevor eine vielfach vorhergesagte Rezession im Stil von 2008 eintreten konnte, erfasste eine Pandemie das System. Historische Massenkämpfe erschütterten die letzten Jahre von Trumps Amtszeit, von der Lehrer:innenrevolte 2018, die sich über mehrere republikanisch dominierte Bundesstaaten ausbreitete, bis hin zur Black-Lives-Rebellion 2020 nach dem Polizeimord an George Floyd.

Seit ihrem Parteitag 2019 behauptet die DSA, für den Aufbau einer „unabhängigen Arbeiter:innenpartei“ zu stehen. Diese Großereignisse warfen selbst die Frage auf, wie sie aufgebaut werden soll: in erster Linie durch Massenbewegungen oder durch Wahlkampagnen, die sich an der Demokratischen Partei orientieren und diejenigen, die im Amt sind, wie Sanders und AOC, unter Druck setzen, links zu bleiben?

Welche Art von Partei?

Die DSA wuchs durch die beiden Nominierungskampagnen von Sanders, den Sieg von Trump und den viel beachteten Sieg von AOC von einer alternden Gruppe von 6.500 Mitgliedern zu der heutigen dynamischen Organisation mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren

und von 148 Ortsgruppen im Jahr 2019 auf 240 (und 130 Jugend-DSA-Ortsgruppen) heute. Mit einer landesweiten Präsenz in allen Bundesstaaten und Großstädten ist die DSA die größte sozialistische Organisation in den USA in den letzten hundert Jahren und hegemonial in der Linken. [2] Allein in den acht Wochen nach Beginn der Covid-Krise im März 2020 traten zehntausende Mitglieder bei, als sie sich der Organisation gegenseitiger Hilfe in der Gemeinde zuwandte. [3] Die dazugehörige Webseite und die Zeitschrift Jacobin haben die sozialistische Tradition in den Vereinigten Staaten wiederbelebt, sie buchstäblich wieder auf die Landkarte gebracht und das Interesse an den Ideen von Marx verbreitet.

Doch trotz aller Diskussionen über marxistische Persönlichkeiten, verschiedene Revolutionen und Massenstreiks in Jacobin stehen bei der DSA die Wahlen im Vordergrund. Während ihre Gewerkschaftsmitglieder und die von der Sanders-Kampagne inspirierten Aktivist:innen eine wichtige Rolle bei den Lehrkräftestreiks spielten, ist der Aufbau der Linken in den Gewerkschaften nach wie vor mit relativ wenig Ressourcen ausgestattet. Nach allem, was man hört, wurde die DSA von der Radikalität des Aufstands nach dem Tode von George von Floyd überrascht und spielte im Allgemeinen kaum eine Rolle bei der Organisation, geschweige denn bei der politischen Gestaltung der Erhebung. Die DSA-Führung, die für ihre Passivität angesichts dieser radikalen Ereignisse kritisiert wurde, rechtfertigte dies sogar mit dem Argument, dass es falsch wäre, eine Führungsrolle zu beanspruchen, und plädierte stattdessen dafür, dass ihre Abteilungen „respektvoll“ sein und versuchen sollten, Koalitionen mit bestehenden Protestführer:innen aufzubauen. Damit verzichtet sie auf den vollen Einsatz für Klassenpolitik und sozialistische Führung, fügt sich aber nahtlos in ihre Wahlstrategie ein.

Angesichts des seit Jahren ungebremsten Wachstums der DSA in alle Richtungen war es für alle ein Schock, als die nationale Direktorin Maria Svart auf dem Kongress die „ernüchternde Tatsache“ verkündete, dass „der Zuwachs an neuen Mitgliedern auf ein Rinnsal gesunken ist“ [4). Es ist eine offene Frage, ob dies eine Taktik war, um in Panik geratene Stimmen dazu zu bringen, den wahlpolitischen Status quo der DSA zu unterstützen, oder das Ergebnis von Bidens 7 Billionen US-Dollar schweren Plänen für Wohlfahrts- und Infrastrukturausgaben, die die Peripherie der DSA wieder zur Demokratischen Partei hinwenden und den Wachstumshahn für die DSA zudrehen sollten.

Die Angelegenheit des Wahlverhältnisses zur Demokratischen Partei verdeckt oft existenzielle Fragen der Partei und des Programms: Wird die DSA eine von Aktivist:innen kontrollierte Partei sein oder eine, die um gewählte Funktionär:innen herum aufgebaut ist? Sind Wahlen eine Taktik im Klassenkampf oder das zentrale Element der sozialistischen Strategie? Historisch gesehen gibt es zwei Möglichkeiten, eine Massenpartei aus der Arbeiter:innenklasse aufzubauen. Die erste konzentriert sich auf den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, Krieg, Imperialismus und Klimakatastrophe und fördert eine sozialistische Strategie zur Entwicklung von Kadern aus radikalen Aktivist:innen, die sich an Streiks und Massenprotesten beteiligen. Die zweite konzentriert sich darauf, mit einer Reformplattform politische Ämter zu gewinnen, indem sie einen soliden und zwangsläufig bürokratischen Wahlapparat auf der Grundlage von Politiker:innen und Parteifunktionär:innen aufbaut.

Auch wenn sich beide Parteien als sozialistisch bezeichnen, wie Rosa Luxemburg betonte, handelt es sich nicht nur um unterschiedliche Wege, um dasselbe Ziel zu erreichen. Für die erste Partei ist der Sozialismus eine Gesellschaft, in der die Wirtschaft von den eigenen Organisationen der Arbeiter:innen kontrolliert wird, die im Zuge des Klassenkampfes aufgebaut wurden. Für die zweite ist der Sozialismus durch eine gewählte Regierung einzuführen, die mit Hilfe der bestehenden staatlichen Institutionen arbeitet.

Die derzeitige DSA-Führung behauptet, sie könne beide Strategien mit dem, was sie „Klassenkampfwahlen“ nennt, verfolgen, aber das letzte Jahr, seit dem zweiten Scheitern von Sanders, hat immer deutlicher gezeigt, dass ihre Strukturen und ihr Ansatz immer mehr zu einem Wahlkampf nach Schema F tendieren, und der Parteitag 2021 hat dies zementiert. Darüber hinaus hat die wachsende Erfahrung mit „ihren“ Politiker:innen im Amt, die für kapitalistische Haushalte (sogar für Polizeibudgets) stimmen und sich dem Druck von Unternehmen, Entwickler:innen oder dem demokratischen Establishment beugen, gezeigt, dass die DSA keine Möglichkeit hat, ihre Kandidat:innen zur Rechenschaft zu ziehen, selbst wenn sie Mitglieder sind.

Der Grund dafür ist ganz einfach. Echte Marxist:innen haben nichts dagegen, bei Wahlen zu kandidieren und sich energisch dafür einzusetzen, so viele Stimmen wie möglich für ein sozialistisches Programm zu erhalten und so viele Wähler:innen wie möglich zu Aktivist:innen für die gesamte Bandbreite der Politik und der Kampagnen der Partei zu machen. Ihr Programm und ihre Politik werden jedoch nicht davon bestimmt, was die meisten Stimmen bringt, und sie glauben nicht, dass die Macht (im Gegensatz zu einem Amt) durch Wahlen errungen werden kann. Die Reformist:innen hingegen richten ihr Programm danach aus, was ihrer Meinung nach Wahlen gewinnen kann.

In Europa und einigen anderen Teilen der Welt gründete die Arbeiter:innenbewegung unabhängige Parteien. In den USA begnügten sich die Reformsozialist:innen nach mehreren gescheiterten Versuchen mit der Aussicht, die Demokratische Partei unter Druck zu setzen oder sogar selbst als Demokrat:innen aufzutreten. Auf diesem Weg gelang es selbst einem blassrosa demokratischen Sozialismus nicht, auch nur einen Wohlfahrtsstaat nach schwedischem Vorbild zu schaffen. Heute scheint der Kompromiss zwischen einer unabhängigen sozialistischen Partei und Sozialist:innen, die als Demokrat:innen auftreten oder sogar solche Mitglieder der Demokratischen Partei unterstützen, die bereit sind, sich bei schönem Wetter als Sozialist:innen zu präsentieren, in der Hoffnung auf progressive Reformen unter Biden ad acta gelegt worden zu sein.

Konsens an der Spitze

Einige bezeichneten diesen Parteitag als „Konsenskongress“, weil sich die Debatten um die Demokratische Partei stabilisiert haben. Es wurden weniger Anträge eingebracht, und für das Nationale Politische Komitee (NPC) kandidierte ein viel kleineres Feld von Bewerber:innen, das keine wirkliche Alternative zu den wichtigsten prodemokratischen Caucuses, wie die Fraktionen und Tendenzen in der DSA genannt werden, bot. [5] Ein neues, undemokratisches Verfahren, bei dem vor der Konferenz darüber abgestimmt wurde, welche Anträge als „Konsens“ angenommen werden sollten, schaltete viele aus. Der Onlinecharakter der Konferenz bedeutete, dass sie schwer zu managen und chaotisch war, aber er machte auch die Arbeit der Oppositionellen noch schwieriger. Zusammen genommen bedeuteten diese Faktoren, dass wichtige politische Veränderungen wie die neue Plattform, die Wahlstrategie und der Antiimperialismus mit fast minimaler Debatte verabschiedet wurden.

Der Rechtsruck erstreckte sich nicht nur auf die Plattform und die Wahlen. Anträge auf eine teilweise Demokratisierung der DSA, die eine Abberufung der in das NPC, das DSA-Führungsgremium, Gewählten und Wahlen für den hochrangigen Posten des/r Nationaldirektors/in vorsahen, scheiterten. Das Kräfteverhältnis im NPC verschob sich weiter in Richtung Wahlreformismus, wobei die neue „Green New Deal“-Liste das Kräftegleichgewicht hielt.

Die linken Fraktionen haben die Verabschiedung der Entschließung 8 „Auf dem Weg zu einer Massenpartei in den Vereinigten Staaten (Wahlpriorität)“ beklagt. Darin wurden die Wahlen als „einzigartige Priorität“, „ vor allen anderen Prioritäten, eingestuft. Sie verpflichtete sich, „ihren erfolgreichen Ansatz des taktischen Antritts zu Parteiwahlen auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei fortzusetzen“, ein Rechtsruck gegenüber dem Parteitag von 2019, der lediglich feststellte, dass „dies nicht ausschließt, dass von der DSA unterstützte Kandidat:innen taktisch auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei kandidieren“, um das Ziel zu erreichen, „eine unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse zu bilden“. [6] Dies war natürlich die offene Stalltür, durch die das prodemokratische Pferd davonlief.

In Wirklichkeit spiegelt diese offene Formel lediglich die tatsächliche Praxis der DSA wider, die sich auf Wahlen und „Machtgewinn“ konzentriert, den kapitalistischen Staat für seine wahren Herr:innen führt, indem sie Kandidat:innen als Demokrat:innen aufstellt oder, was noch üblicher ist, „progressive“ demokratische Kandidat:innen unterstützt. Im Gegensatz zur Ära vor Sanders sind fast alle Kandidat:innen, die die DSA bei Wahlen aufstellt oder unterstützt, Mitglieder der Demokratischen Partei (und nicht etwa Unabhängige, Grüne oder andere Strömungen).

Das ist nicht überraschend, denn die Orientierung auf die Demokratische Partei ist tief in der DNA der DSA verankert, und zwar seit ihrer Gründung im Jahr 1982 bis heute. Der Vater der US-Sozialdemokratie, Michael Harrington, Amerikas bekanntester Sozialist in den sechziger und siebziger Jahren, berühmt für seinen politischen Bestseller „Das andere Amerika“ von 1962, der dazu beitrug, den „Krieg gegen die Armut“ auszulösen und die Reformen der „Großen Gesellschaft“ in den sechziger Jahren beeinflusste, war in der Demokratischen Partei verwurzelt.

Er argumentierte, dass demokratische Sozialist:innen das Ziel haben sollten, der „linke Flügel des Möglichen“ zu sein und sich in der Demokratischen Partei zu beteiligen, um sie neu auszurichten, die Rechte zu besiegen und die Gewerkschaften aufzubauen, um eine sozialdemokratische Partei nach europäischem Vorbild zu schaffen. Harrington starb 1989 und mit ihm jede Aussicht auf eine Neuausrichtung. Die Demokrat:innen beschleunigten ihren Weg nach rechts, von Jimmy Carters Monetarismus und Austerität in den 1970er Jahren bis hin zu Bill Clintons offen neoliberalen, auf Recht und Ordnung ausgerichteten Regierungen mit ausgeglichenem Haushalt zwischen 1993 und 2001. Dies vervollständigte die Marginalisierung des bereits untergeordneten Flügels der Partei, der für Sozialstaat und Förderung der Unterdrückten eintrat, sich auf die Gewerkschaftsbürokratie konzentrierte und die Führer:innen der sozialen Bewegungen einbezog. Das letzte Aufbäumen der Partei war Jesse Jacksons Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur für die Demokratische Partei mit der „Regenbogenkoalition“ 1984.

Spulen wir drei Jahrzehnte zurück, und der jüngste Aufstieg der DSA spiegelt sich im Aufstieg der 2010 gegründeten Zeitschrift Jacobin wider, die eine Auflage von 75.000 Exemplaren hat und deren Webseite jeden Monat von Millionen Menschen besucht wird. Sie steht in Verbindung mit den dominierenden selbsternannten „Marxist:innen“ des Bread and Roses Caucus, B&R. (Brot-und-Rosen-Caucus) [7] Die Autor:innen von Jacobin haben die Ausrichtung der DSA auf die Demokratische Partei überarbeitet und ihr mit einer neuen „Schmutziger Bruch“-Strategie einen radikalen Anstrich gegeben. Damit wird Harringtons alte Strategie, die Demokratische Patei in eine sozialdemokratische Partei „umzuwandeln“, als unrealistisch zurückgewiesen, aber auch ein sofortiger, „sauberer“ Bruch durch die Aufstellung unabhängiger sozialistischer Kandidat:innen oder das entschiedene Eintreten für eine neue Partei jetzt.

Stattdessen sieht ihre „Klassenkampfwahl“-Strategie, der „schmutzige Bruch“, vor, dass demokratisch-sozialistische Kandidat:innen Stimmen der Demokratischen Partei in den Vorwahlen im Stil von Sanders in einem „Guerillaaufstand“ übernehmen. Ziel ist es, die zugegebenermaßen großen rechtlichen Hindernisse für Wahlanfechtungen durch Dritte zu überwinden und so ins Rennen zu kommen und Wahlerfolge zu erzielen. Sie glauben, dass der Kampf für „revolutionäre Reformen“, große strukturelle Veränderungen wie „Medicare for All“ (Gesundheitsfürsorge für alle) und den „Green New Deal“ (grüner neuer Plan), sie in die Lage versetzen wird, die für den Wiederaufbau der Arbeiter:innenbewegung erforderliche Linkskoalition aufzubauen. Erst dann sollten sie sich von der Demokratischen Partei abspalten und den Weg für eine demokratische sozialistische Regierung und den „Bruch“ mit dem Kapitalismus öffnen. Dieses linke Schema, das das Traditionsritual der Demokratischen Partei rechtfertigt, ist zur Orthodoxie der neuen jungen Massenmitglieder der DSA geworden.

Für beide Flügel der DSA, von der alten „Neuausrichtungs“-Rechten (die sich heute auf den Socialist Majority Caucus [Sozialistischer Mehrheitscaucus] konzentriert) bis hin zur schmutzigen Mitte-Links-Fraktion um Brot und Rosen, wird dies mit einer Reihe falscher Argumente begründet. Erstens behaupten sie, die Demokrat:innen seien keine echte Partei, wie auf dem Parteitag bekräftigt wurde:

„ … das US-amerikanische Parteiensystem erlaubt derzeit keine traditionellen politischen Parteien, private Organisationen mit Kontrolle über ihre Mitgliederlisten und Stimmzettel, sondern besteht vielmehr aus Koalitionen von nationalen, bundesstaatlichen und lokalen Parteikomitees, angeschlossenen Organisationen, Spender:innen, Anwält:innen, Berater:innen und anderen Agent:innen.“ [8]

Ihr zweites Hauptargument ist, dass das US-amerikanische Wahlsystem manipuliert ist, dass die Republikanische und Demokratische Partei das Mehrheitswahlrecht mit staatlichen Gesetzen blockiert haben, die es Unabhängigen und Drittparteien unmöglich machen, überhaupt auf den Wahlzettel zu kommen. Diese Hindernisse sind zwar real, aber außer für kleine Propagandagruppen nicht unüberwindbar. Diese Ausrede hat sich mit dem Wachstum der DSA als immer hohler erwiesen, denn eine Partei mit einer großen Anzahl von Mitgliedern in den Städten kann diese Hindernisse umgehen. Die Frage ist nicht, welche Möglichkeiten der DSA offenstehen, sondern die prodemokratische Politik der führenden Kräfte der DSA, von Sozialistischer Mehrheit, Brot und Rosen und des neuen Akteurs, des Green New Deal Caucus.

Der schmutzige Bruch auf Nimmerwiedersehen

Die Strategie des schmutzigen Bruchs wurde entwickelt, um die Ausrichtung auf die Demokratische Partei nach der Niederlage von Sanders im Jahr 2016 zu rechtfertigen, aber nach dem AOC-Erdbeben diente sie als Deckmantel für die enorm ausgeweitete Nutzung der Demokratischen Partei, entgegen dem ultimativen erklärten Ziel der DSA, mit der Partei zu brechen, um eine Arbeiter:innenmassenpartei zu gründen, das auf ihrem Parteitag 2019 verabschiedet wurde. Selbst hier hält die DSA-Linke eine einstudierte Zweideutigkeit aufrecht, wobei der Widerspruch durch ausweichende Formeln überdeckt wird. Der Erfinder des Begriffs „schmutziger Bruch“, Eric Blanc, plädierte am Beispiel der Minnesota Farmer Labor Party in den frühen 1920er Jahren für einen zweistufigen Ansatz, bei dem die Sozialist:innen als Demokrat:innen auftreten, bis die Partei gezwungen ist, sich zu verteidigen, und die Gesetzgeber:innen der Bundesstaaten die Wahlgesetze weiter einschränken, die Aufständischen rausschmeißen und sie in eine unabhängige Existenz zwingen. Die einflussreichste (und erste) Formulierung dieser Strategie (Seth Ackermans Artikel „A Blueprint for a New Party“ (Blaupause für eine neue Partei) von 2016) besteht jedoch darauf, dass eine neue Arbeiter:innenpartei die Wahlkampflinie immer noch als „zweitrangige Frage“ betrachten würde und ihre Kandidat:innen immer noch als Demokrat:innen aufstellen könnte – kaum eine überzeugend klingende Erklärung der Unabhängigkeit! [9]

Neben dem Hin und Her der Debatten innerhalb von Jacobin und der linken Fraktionen darüber, wie, wann und wo Schritte in Richtung eines schmutzigen Bruchs unternommen werden sollten, ist der rechte Flügel in aller Stille mit der Post-AOC-Flut weitergeschwommen, hat die Wahlarbeit vorangetrieben und die Unterstützung für Demokrat:innen, ob progressiv oder nicht, auf lokaler und nationaler Ebene verteidigt. Wie der rechtsgerichtete deutsche sozialdemokratische Politiker Ignaz Auer bekanntlich feststellte, „sagt man solche Dinge nicht, man tut sie einfach“. Die Zahl der Kandidat:innen, die als Demokrat:innen in das Wahlrennen gehen oder unterstützt werden, hat sich zur Norm ausgeweitet, und es gibt nur sehr wenige Unabhängige, ebenso wie die Zahl von 150, die in ein Amt gewählt wurden – warum sollte man also das Ruder herumreißen? Nur in entscheidenden Momenten sah sich die Rechte gezwungen, sich einer Politik zu widersetzen, die sie als schädlich für ihre Ausrichtung auf die Demokratische Partei ansieht, z. B. wenn die mangelnde Rechenschaftspflicht der neu gewählten DSA- oder progressiven Demokrat:innen zu Gegenreaktionen in Anbetracht  ihrer Abstimmungen gegen die DSA-Politik geführt hat.

Dies geschah erstmals, nachdem der DSA-Kongress 2019 dafür gestimmt hatte, bei den Präsidentschaftswahlen 2020 keine/n demokratischen Kandidat:innen außer Sanders zu unterstützen. Nachdem Joe Biden nominiert wurde und Trump seine Wiederwahlkandidatur einleitete, veröffentlichten Hunderte prominenter DSA-Führer:innen und lokaler Organisator:innen einen offenen Brief, in dem sie erklärten, sie würden sich dafür einsetzen, ihn zu besiegen, mit anderen Worten, sie würden sich für Biden einsetzen, und rieten anderen, dasselbe zu tun. [10]

Anfang 2020 wurden AOC und andere von der DSA unterstützte Kongressabgeordnete im Rahmen der Kampagne #ForceTheVote (Stimmen erzwingen) zu Medicare for All (Gesundheitsvorsorge für alle), einer der wichtigsten Strukturreformforderungen der DSA, unter Druck gesetzt, ihre Unterstützung für Nancy Pelosi als Sprecherin des Repräsentantenhauses zurückzuhalten, bis eine Abstimmung garantiert sei. AOC und die DSA-Führung wiesen diesen Druck in einer offiziellen Erklärung zurück und beriefen sich dabei auf technische Schwierigkeiten. [11]

Nun hat eine Welle der Empörung darüber, dass DSA-Mitglied und Kongressabgeordneter Jamaal Bowman für Militärhilfe an Israel gestimmt und an einer offiziellen, von der israelischen Regierung organisierten Reise nach Israel teilgenommen hat, entgegen der klaren DSA-Politik, die die palästinensische Kampagne für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel unterstützt, eine neue Krise ausgelöst. Vorhersehbar hat der rechte Flügel eine Erklärung gegen die Forderung nach seinem Ausschluss veröffentlicht, in der er sich für „Einigkeit, nicht Einstimmigkeit“ ausspricht. Diese Rückkehr zu Harringtons Sichtweise der DSA als „linker Flügel des Möglichen“, der innerhalb der Demokratischen Partei dahinvegetiert, zeigt, dass all die radikalen Denkanstöße, Debatten und die Geschichte des Klassenkampfes in Jacobin, so wertvoll sie auch sind, kaum mehr als ein Deckmantel für das „Weiter so“ waren.

Der Parteitag 2021 war also eher eine Formalisierung der DSA-Praxis als eine dramatische Verschiebung nach rechts. Wenn überhaupt, dann verbarg der Antrag von 2019 den zunehmenden Einsatz der Demokrat:innen, und die wichtigere Veränderung liegt wohl eher in der Organisation als in der Sprache. Das Nationale Wahlkomitee stellt bereits sicher, dass die Wahlarbeit die einzige ist, die eine maßgebliche, gut ausgestattete nationale Leitung hat, und stellt damit die ohnehin schwache Demokratisch-Sozialistische Laborkommission in den Schatten (Arbeit in Arbeiter:innenorganisationen ist auch eine Priorität der DSA, wenn auch nicht als „einzigartig“ deklariert). [12] Resolution 8 fügt eine weitere Organisationsebene mit landesweiten Gremien zur Unterstützung der Wahlarbeit hinzu. In einer zersplitterten DSA, die nur auf Ortsgruppen- und Wohnviertelebene organisiert ist, wird die DSA dadurch noch stärker auf diesen opportunistischen Wahlkampf ausgerichtet (und zentralisiert).

Die Linke unterlag auf dem Parteitag auf ganzer Linie, indem sie Entschließungen oder Änderungsanträge verlor, die auf eine Stärkung oder Beschleunigung der Schritte zum „schmutzigen Bruch“ abzielten. Die prodemokratische Ausrichtung spiegelt zweifellos die Ansichten der Mehrheit der DSA-Mitglieder wider, zu denen Zehntausende von relativ neuen, unerfahrenen und oft inaktiven Mitgliedern gehören, die im Rahmen dieser Taktik angeworben wurden. Die Zahl der DSA-Mitglieder hat sich seit Beginn der Coronapandemie fast verdoppelt, aber nur 10 – 15 Prozent nehmen regelmäßig an Aktivitäten teil.

In einer neuen Wendung schließt sich die DSA mit Entschließung 14 dem Forum von São Paulo an und erklärt sich unkritisch mit dessen sozialdemokratischen und linkspopulistischen Parteien und Regierungen solidarisch, einschließlich des autoritären Regimes von Maduro in Venezuela, obwohl dies mit 35 Prozent abgelehnt wurde. Die zunehmende antiimperialistische Politik, die sich innerhalb der DSA entwickelt, ist zu begrüßen, aber dies ist ein Rückschritt und bis zu einem gewissen Grad ein Zurückrudern hinter die Entscheidung des Parteitags von 2017, die reformistische, weitgehend neoliberalisierte Zweite Internationale zu verlassen, und sagt gleichzeitig viel darüber aus, welche Art von Partei die DSA aufbauen will. Sozialistinnen und Sozialisten müssen eine bedingungslose Verteidigung dieser Parteien vor der Rechten, national und international, mit praktischer Solidarität und Unterstützung für den linken Flügel, die Arbeiter:innenklasse oder unterdrückte Gruppen verbinden, die sich ihren Kürzungen und Kompromissen an der Macht widersetzen. Sie sind die einzige Kraft, die diese Regierungen wirklich von unten verteidigen, weitere Reformen von ihnen erzwingen und schließlich über ihre Grenzen hinausgehen kann, um den Weg zum Sozialismus zu öffnen, durch Massenkampf und Revolution.

Trotz des scheinbaren Konsenses zeichnet sich innerhalb der DSA eine Polarisierung ab, wie die Abstimmungen zu wichtigen Resolutionen zeigen. Die Plattform selbst wurde nur mit einer knappen Mehrheit von 43 Prozent angenommen, und 23 Prozent stimmten gegen die Resolution R8 zu den Wahlen. Neue Fraktionen und Tendenzen haben sich auf dem linken Flügel der DSA ausgebreitet, am dramatischsten mit dem Beitritt der Sozialistischen Alternative (SAlt), der größten verbliebenen Organisation, die sich in den USA als trotzkistisch bezeichnet, die einen Teil ihrer Mitglieder entsandt hat, darunter das prominente Mitglied und Abgeordnete des Stadtrats von Seattle Kshama Sawant, die 2014 gegen die Demokrat:innen gewählt wurde. Der dominierende Brot-und-Rosen-Caucus, der sich in der Mitte der DSA befindet, spaltete sich in seiner Unterstützung für Änderungsanträge zur Beibehaltung der 2019 eingegangenen Verpflichtung, eine unabhängige Partei zu gründen, mit 45 Prozent dagegen, was die Möglichkeit einer politischen Neuzusammensetzung zeigt, die die B&R-Linke befreien würde.

Die große Zahl der oppositionellen Stimmen zeigt das Potenzial für eine Organisierung, die sich von der Demokratischen Partei löst. Die Teilnahme an Streiks und Kämpfen in den kommenden zwei Jahren ist neben der politischen Debatte von entscheidender Bedeutung, um die vielen neuen Mitglieder als Aktivist:innen und ihr Verständnis für sozialistische Strategien zu entwickeln. Die Frage bleibt, ob ein bedeutender Teil der DSA-Linken seine eigene Verwirrung über den schmutzigen Bruch aufklären, ihn als „Taktik“ zurückweisen und sich zusammenschließen kann, um für einen sauberen Bruch mit den Demokrat:innen und eine neue Arbeiter:innenpartei entschlossen aufzutreten.

Marxismus und die DSA

Neben der Position zu den Wahlen und der Demokratischen Partei stellt sich die Frage nach der sozialistischen Strategie der DSA, die mit ihrem Anspruch verbunden ist, die Ideen von Marx zu vertreten. Es bleibt die Frage, wie dieses Ziel erreicht werden soll: durch Massenkämpfe der Arbeiter:innenklasse, die durch eine Revolution eine alternative, demokratische Macht zum kapitalistischen Staat schaffen, oder dadurch, dass eine sozialistische Mehrheit in die Regierung gewählt wird und über Jahre oder Jahrzehnte hinweg der Staat und der Kapitalismus in den Sozialismus umgewandelt werden, friedlich, wie sie hoffen. Der springende Punkt ist, ob die DSA für die Selbstermächtigung der Arbeiter:innenklasse und ihre politische Unabhängigkeit steht, das Herzstück der Marx’schen Politik, oder für eine Version des Sozialismus „von oben“, die in Wirklichkeit den sozialistischen Übergang blockiert und es dem Kapitalismus ermöglicht fortzufahren oder, schlimmer noch, sich an der Bewegung zu rächen.

Der linke Flügel der DSA um die Zeitschrift Jacobin würde empört gegen die Bezeichnung „Sozialismus von oben“ protestieren. Doch das gesamte Meinungsspektrum ist sich über diese grundlegenden Punkte einig. Der der Sozialdemokratie nahestehende Jacobin-Gründer Bhaskar Sunkara legt seine Version des demokratischen sozialistischen Schemas oder der Strategie in seinem 2019 erschienenen Buch The Socialist Manifesto (Das sozialistische Manifest) vor, das weithin als die wichtigste Fibel für demokratisch-sozialistisches Denken gilt:

„Demokratische Sozialist:innen müssen sich entscheidende Mehrheiten in den Parlamenten sichern und die Vorherrschaft in den Gewerkschaften gewinnen. Dann müssen unsere Organisationen bereit sein, unsere soziale Macht in Form von Massenmobilisierungen und politischen Streiks einzusetzen, um der strukturellen Macht des Kapitals entgegenzuwirken und sicherzustellen, dass unsere Führer:innen die Konfrontation der Anpassung an die Eliten vorziehen. Nur so können wir nicht nur unsere Reformen dauerhaft machen, sondern mit dem Kapitalismus ganz brechen und eine Welt schaffen, in der der Mensch vor dem Profit steht.“ [13]

In dem radikaleren, populären Jacobin-Buch über die DSA-Strategie, Bigger than Bernie (Größer als Bernie Sanders), sehen die Autor:innen eine gewählte demokratische sozialistische Regierung voraus, „die die Staatsmacht ausübt, um den Weg für diese Bewegungen freizumachen, während sie sich ihren Klassenfeind:innen stellen“, obwohl sie zugeben, dass es kein „Kinderspiel sein wird, den Kapitalismus zu beseitigen, selbst mit unseren Leuten an der Macht“! [14] Eric Blanc, der in Bigger than Bernie zitiert wird und der radikalste der B&R/Jacobin-Führer ist, erkennt an:

„Sozialist:innen müssen damit rechnen, dass ernsthafte antikapitalistische Veränderungen notwendigerweise außerparlamentarische Massenaktionen wie einen Generalstreik und eine Revolution erfordern, um die unvermeidliche Sabotage und den Widerstand der herrschenden Klasse zu besiegen.“ [15]

Wie alle demokratischen Sozialist:innen lehnt er jedoch jede Strategie der Doppelherrschaft und des Aufstands zugunsten einer gewählten demokratischen sozialistischen Regierung, die den sozialistischen Übergang überwacht, entschieden ab. Jede Strategie, die Doppelherrschaft und Aufstand ablehnt, in welcher Form auch immer, d. h. die Machtergreifung gegen den alten Staat, ist ein Bruch mit Marx und der Selbstermächtigung der Arbeiter:innenklasse.

Der Begriff „Doppelherrschaft“ wurde erstmals von Lenin verwendet, um die Situation in Russland nach der ersten demokratischen Revolution im Februar 1917 zu beschreiben, als Arbeiter:innenräte (oder, auf Russisch, Arbeiter:innensowjets), unterstützt durch die Waffen revolutionärer Soldat:innen und Betriebs- und Parteimilizen, neben einer bürgerlichen Regierung existierten. Die Bolschewiki führten den erbitterten Kampf gegen die Unterdrückung dieser Räte, die die bürgerlichen Regierung schließlich in der Oktoberrevolution stürzten, und setzten eine Räteregierung ein, um die Revolution zu vertiefen, zu verteidigen und im Ausland zu verbreiten. Sie verstanden ihre Revolution als die erste von vielen in ganz Europa, die gemeinsam den Weg zum Ziel des Sozialismus, ihrem Ziel des Sozialismus, sichern würden. Andere revolutionäre Bewegungen, vor allem die in Deutschland, wurden jedoch besiegt und ließen Sowjetrussland isoliert zurück. Obwohl es einen schrecklichen Bürger:innenkrieg überlebte, führte diese Isolation dazu, dass sich innerhalb des Parteistaats eine mächtige Bürokratie entwickelte, die Jahre später, 1928, unter Stalin die Macht übernahm. [16]

Doppelherrschaft ist ein Merkmal jeder größeren Herausforderung des Kapitalismus, von Russland 1917 über Spanien in den dreißiger Jahren bis zu Chile in den siebziger Jahren. Sowjetähnliche Einrichtungen entstanden in Krisenzeiten aus verschärften Klassenkämpfen, die um Kontrolle über die Produktion rangen und schließlich die Macht des kapitalistischen Staates herausforderten. Das bedeutet in erster Linie, die Bewegung gegen Polizei und faschistische Banden zu verteidigen und schließlich die Armee zu spalten, um einen Teil auf ihre Seite zu bringen. Nur eine mächtige Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse hat die soziale Macht und vor allem die politische Autorität, um einen solchen Appell auszusprechen, die Soldat:innen zu gewinnen und den Einsatz der Armee durch die Kapitalist:innen zu verhindern, wie neuere Beispiele aus Argentinien, Bolivien und Venezuela aus den frühen 2000er Jahren zeigen.

Nur wenn solche Bewegungen Arbeiter:innenräte hervorbringen, können sie die Macht als „Kommune“staat übernehmen, der auf Arbeiter:innendemokratie und bewaffneter Macht beruht. Marx nannte dies die Diktatur des Proletariats, weil die Arbeiter:innenklasse durch ihre demokratischen Räte die herrschende Klasse sein würde, die die alten Ausbeuter:innenklassen und ihre Konterrevolution in Schach hält, bis sie im sozialistischen Übergang entscheidend absterben.

Die revolutionäre Dritte Internationale einte die Vorstellung, es sei möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, dass eine echte Arbeiter:innenregierung, die sich der Abschaffung des Kapitalismus verschrieben hat, durch Wahlen an die Macht kommen kann. Sie könne sich aber nur dann halten und mit dem Kapitalismus brechen, wenn sie sich auf Arbeiter:innenräte und Milizen stützt, wenn sie eine andere, die Doppelmacht entwickelt, die letztlich an die Stelle von Polizei und Militär tritt. [17]

Die erste Frage, die sich den „Jacobins“ stellt, lautet, wie sie die Entwicklung der Doppelherrschaft in den radikalen Massenkämpfen, die ihrer Meinung nach notwendig sind, verhindern würden. Durch Demobilisierung der Arbeiter:innenklasse über die Gewerkschaftsbürokratie? Oder durch die gewalttätigeren Methoden der Polizei, wie es die deutsche Sozialdemokratie in der Revolution von 1918 tat? Welche andere Kraft könnte sie aufhalten? Noch grundlegender ist, dass, wenn Arbeiter:innenräte ausgeschlossen werden, nur eine Macht übrig bleibt: die Regierung der demokratischen Sozialist:innen, und diese ist die Agentur für den Aufbau des Sozialismus. Die Ablehnung der Doppelherrschaft bedeutet also nicht die Ablehnung eines revolutionären Weges zum Sozialismus zugunsten eines demokratisch-sozialistischen Weges. Es bedeutet, dass nicht die Arbeiter:innenklasse durch ihre eigenen Organisationen, sondern die demokratisch-sozialistische Regierung die Trägerin der Emanzipation ist. Dies ist eindeutig eine Version des „Sozialismus von oben“, und alles Gerede über parallele Bewegungen und Volksinstitutionen dient nur dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass Erstere in diesem Schema keine Macht haben.

Eine solche Regierung würde nämlich selbst mit dem Rest des Staatsapparats konfrontiert werden, der immer noch verfassungstreu ist und zweifellos regierungsfeindliche Mobilisierungen fördert. Unabhängig davon, wie links die Führer:innen der Regierung auch sein mögen, ist dies nicht ein fataler Fehler in dem Modell? Sicherlich lassen die Erfahrungen von Sanders, AOC und anderen wie Bowman einen Übergang zum Sozialismus mit ihnen am Ruder unwahrscheinlich erscheinen. Das linke DSA-Schema für eine gewählte Regierung ist ein Rezept für das Scheitern und in Wirklichkeit ein Bruch mit dem Marxismus, zu dem sich Sunkara, Blanc, Jacobin und die DSA selbst alle bekennen.

Marx und Engels vertraten „von Anfang an“ den Grundsatz, dass „die Emanzipation der Arbeiter:innenklasse das Werk der Arbeiter:innenklasse selbst sein“ muss. (18) Zweitens hielten sie die politische Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse für grundlegend, um sie zu einer „herrschaftsfähigen“ Klasse zu machen, die über die Organisation, die Erfahrung und das Bewusstsein verfügt, die notwendig sind, um die Macht durch Revolution zu erringen, ihren Arbeiter:innenstaat und ihre Regierung zu verteidigen und den Sozialismus aufzubauen. Dies war die wichtigste Lehre, die sie unmittelbar aus der Niederlage der Revolution von 1848 zogen. [19] Statt der demokratisch-sozialistischen Strategie der „Umwandlung“ des Staates in einen sozialistischen, schrieb Marx, dass der kapitalistische Staat „zerschlagen“ werden müsse. Wie dies genau geschehen konnte, zeigte 1871 die Pariser Kommune, deren Herrschaft durch abrufbare Delegierte Marx als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnete. Dieses Konzept war so wichtig, dass Marx und Engels sagten, es sei die einzige größere Änderung, die sie am Kommunistischen Manifest von 1848 vorgenommen hätten, wenn es nicht bereits ein historisches Dokument gewesen wäre, das sie nicht ändern durften. [20]

Insbesondere betonten sie zustimmend, dass die Kommune „kein parlamentarisches, sondern ein arbeitendes Organ“ sei, das legislative und exekutive Funktionen verbinde, das auf abrufbaren Delegierten auf der Grundlage des Durchschnittslohns der Arbeiter:innen beruhe, die aus den Arbeiter:innenbezirken und Basisorganisationen gewählt würden, was die Erfahrungen der Sowjets in Russland vorwegnahm. Und natürlich kam die Pariser Kommune durch einen erfolgreichen Aufstand der plebejischen Nationalgarde gegen die offizielle Armee an die Macht, was die DSA-Mitglieder vergessen, wenn sie versuchen, sie der bolschewistischen Erfahrung gegenüberzustellen.

Die DSA und die Jacobin-Anhänger:innen erheben keine dieser Maßnahmen zur Kontrolle und Rechenschaftspflicht. Sie klammern sich an das Schema einer normal gewählten Regierung, die sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützt und den Sozialismus im Laufe vieler Legislaturperioden und sogar Jahrzehnte einführt, ohne auch nur einen Grad der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse zu erreichen, der einer Doppelherrschaft gleichkäme.

Marx und die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse

Als Marx gegen den Verrat der „kleinbürgerlichen Demokrat:innen“ in den Revolutionen von 1848 in Europa argumentierte, wies er sogar ausdrücklich das Argument des „kleineren Übels“ zurück, das in der einen oder anderen Form vorgebracht wird, um die Wahl der Demokratischen Partei heute in den USA zu rechtfertigen, und demontierte jedes seiner Argumente:

„Selbst dort, wo es keine Aussicht auf eine Wahl gibt, müssen die Arbeiter:innen ihre eigenen Kandidat:innen aufstellen, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, um ihre eigene Stärke zu messen und um ihre revolutionäre Position und ihren Parteistandpunkt in der Öffentlichkeit bekanntzumachen. Sie dürfen sich nicht von den leeren Phrasen der Demokrat;innen in die Irre führen lassen, die behaupten werden, dass die Arbeiterkandidat:innen die demokratische Partei spalten und den reaktionären Kräften die Chance auf einen Sieg bieten würden. All dieses Gerede bedeutet im Endeffekt, dass das Proletariat betrogen werden soll. Der Fortschritt, den die proletarische Partei durch eine solche unabhängige Arbeit machen wird, ist unendlich wichtiger als die Nachteile, die sich aus der Anwesenheit einiger weniger Reaktionär:innen in der Vertretungskörperschaft ergeben.“ [21]

Bei allen schrecklichen Folgen des Trump-Siegs 2016 erwies sich diese Einschätzung von Vorteil und Nachteil als richtig, was durch den Sieg Bidens unterstrichen wurde, dessen magere Sozialmaßnahmen, so willkommen sie auch waren, bevor sie vom demokratischen Kongress ausgeweidet wurden, einfach in eine Kluft der sozialen Not gefallen wären, die sich in den letzten Jahrzehnten in den neoliberalen USA entwickelt hat. Marx und Engels waren unerbittlich gegen britische Gewerkschaftsführer:innen, die als Liberale auftraten, entgegen der lächerlichen Behauptung von Blanc, dass dies die Kräfte für die Gründung der Labour Party stärkte. Sie tat dies nur negativ, als Ablehnung und Reaktion auf diesen groben Opportunismus, der die Entwicklung zu einer Arbeiter:innenpartei jahrzehntelang blockierte. Die Sozialistische Partei von Eugene Debs, auf die sich Sanders und die DSA berufen, sowie Karl Kautsky, der marxistische Theoretiker der Zweiten Internationale, der in DSA-Kreisen immer beliebter wird, bestanden unbeirrt auf politischer Unabhängigkeit von den Parteien der Bourgeoisie und waren keines Sinnes, die Demokrat:innen zu unterstützen, geschweige denn als solche aufzutreten! [22]

All diese Zitate und Positionen sind der DSA-Linken wohlbekannt, ebenso wie die Formel, die den Opportunismus als das Ausnutzen kurzfristiger Vorteile auf Kosten von Prinzipien definiert. Das gilt auch für die nichtjakobinische Linke in der SAlt, den Reform und Revolution Caucus, die Tempest (Sturm)-Webseite oder marx21, die sich ihr anschließen: Keine von ihnen war in der Lage, der Anziehungskraft in Richtung Demokratische Partei zu widerstehen, die mit Sanders begann. Alle diese „revolutionären“ Alternativen zum B&R-Caucus akzeptieren, wenn auch widerwillig, die „Taktik“ der Wahlkampflinie der Demokratischen Partei, zumindest für den Moment. Ja, es ist eine Taktik, eine opportunistische Taktik. Die Taktik sollte sich aus der Strategie ergeben, und die Priorität der sozialistischen Linken in den USA sollte darin bestehen, sich mit allen Mitteln des Klassenkampfes, einschließlich Wahlen, für eine unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse zu engagieren. Das hindert Sozialist:innen nicht daran, bei Wahlen anzutreten, wo dies sinnvoll ist, aber es bedeutet, sich von den Demokrat:innen zu lösen und die Kandidatur von Arbeiter:innen in Groß- und Industriestädten mit der Agitation für eine neue Partei zu verbinden, die sich an die Linke in den Gewerkschaften, die radikalen Flügel der sozialen Bewegungen und Jugendorganisationen wie die DSA-Jugendverbände richtet.

In diesem Sinne hat der von Schwarzen angeführte Aufstand gegen die Polizei im Jahr 2020 mehr Reformen angestoßen und mehr dazu beigetragen, die Legitimität und den Handlungsspielraum der Polizei zu untergraben, als jede noch so große Anzahl von DSA-unterstützten Progressiven oder Strukturreformkommissionen, die sich mit Medicare for All oder dem Green New Deal beschäftigen. Lenin unterstrich die zentrale Bedeutung des Klassenkampfes für die Entwicklung des Klassenbewusstseins mit Worten, die speziell für dieses historische Ereignis hätten geschrieben werden können, dessen Folgen noch nicht vollständig abzusehen sind:

„Die wirkliche Erziehung der Massen kann niemals von ihrem selbstständigen politischen und vor allem revolutionären Kampf getrennt werden. Nur der Kampf erzieht die ausgebeutete Klasse. Nur der Kampf offenbart ihr das Ausmaß ihrer eigenen Macht, erweitert ihren Horizont, steigert ihre Fähigkeiten, klärt ihren Verstand, schmiedet ihren Willen.“ [23]

Der Beweis dafür, dass das Eintreten für die Demokratische Partei auf deren Wahlzetteln nicht nur eine Taktik, sondern eine Strategie ist, wird durch die Entwicklung der Intervention der DSA bei den Demokrat:innen selbst erbracht. Anstelle des alten sozialdemokratischen Slogans „keinen Mann, keinen Pfennig“ für dieses verrottete System, folgen DSA-Politiker:innen der Parteidisziplin, wenn sie für den Haushalt stimmen oder sich enthalten. DSA-Mitglieder im Amt haben sogar (direkt gegen die DSA-Politik) als Teil der Demokratischen Partei für Polizeibudgets gestimmt, während drei DSA-Kongressabgeordnete (AOC, Jamaal Bowman und Rashida Tlaib) sich eher der Stimme enthielten, als gegen die Erhöhung der Mittel für die Kapitolspolizei im Zuge des Trump-Putsches zu stimmen. Diese Kräfte werden hauptsächlich gegen Proteste der Linken, der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten eingesetzt. [24] AOC lehnt wie die anderen DSA-Politiker:innen eine Stimme für rechte Demokrat:innen nicht ab und rief beispielsweise 2018 dazu auf, sich „hinter alle  Kandidat:innen der Demokratischen Partei zu stellen“, einschließlich Andrew Cuomo, dem rechtsgerichteten Ex-Gouverneur von New York. [25] Das sind keine Sozialist:innen im Kongress, sondern linke Demokrat:innen, die zum „progressiven“ Flügel gehören. Sie haben nicht die Absicht, sich von der Demokratischen Partei zu trennen, es sei denn, sie werden ausgeschlossen. Im März 2021 erreichte die Ausrichtung auf die Demokratische Partei eine weitere Stufe, als fünf von der DSA unterstützte Kandidat:innen, vier davon Mitglieder, tatsächlich die Führung der DP von Nevada gewannen und die Partei nicht mehr nur „benutzten“, sondern leiteten! Die Schlussfolgerung ist klar: Die Demokratische Partei gehört nicht zum Taktikarsenal der DSA, die DSA ist der linke Flügel dieser Partei!

Das fast völlige Fehlen von Mechanismen oder einer Debatte über die Rechenschaftspflicht, selbst in der DSA-Linken, ist der konkreteste Beweis für das oberflächliche Engagement für eine weit entfernte sozialistische Transformation zugunsten von kurzfristigem Erfolg und Wachstum. In der offiziellen Wahlstrategie der DSA, die sich über vierzehn detaillierte Seiten erstreckt, wird die Frage der Rechenschaftspflicht für ihre Kandidat:innen nicht einmal erwähnt, ebenso wenig wie in der Resolution 8 des Konvents, während die Änderungsanträge, die zumindest versuchten, den Kandidat:innen einige Kriterien aufzuerlegen, abgelehnt wurden. [26] Jacobin seinerseits enthält nur wenige Artikel, wenn überhaupt, die sich mit der Frage der Rechenschaftspflicht befassen. Bigger than Bernie, das sich als großes Buch über die Strategie der demokratischen Sozialist:innen darauf konzentrierte, den Erfolg des DSA-Wahlkampfs und der Unterstützung für die Demokratische Partei zu rechtfertigen (und zu übertreiben), ist an mehreren Stellen gezwungen, das Thema anzusprechen. Doch am Ende kann es nur die lahme Schlussfolgerung ziehen, dass die DSA „keine vollständig durchdachte Methode zur Disziplinierung ihrer Wahlkandidat:innen hat“. Ihre unzureichende Lösung besteht darin, mehr Kader zu „prägen“ und sie als Kandidat:innen aufzustellen, „die organisch aus der DSA selbst hervorgegangen sind … echte DSA-Kandidat:innen, die vom politischen Programm der Organisation durchdrungen sind und sich als engagierte sozialistische Organisator:innen erwiesen haben“. (27)

Doch die Geschichte ist voll von Linken, die unter den undemokratischen Strukturen der Gewerkschaften zu Bürokrat:innen wurden, oder von reformorientierten Politiker:innen, die im Amt dem Druck durch übertrieben komplizierte Beschränkungen und Vorschriften, Unternehmenslobbyist:innen und anderen mächtigen Interessen erlagen. AOC selbst hat diesen enormen Druck eingeräumt, und er erklärt viele ihrer Zugeständnisse. Nur Sozialist:innen, für die Wahlen eine Taktik sind, nicht der Königsweg zu sozialistischem Wandel, und die sich der Parteidisziplin unterordnen, könnten einem solchen Druck standhalten oder zumindest auf Linie gehalten werden.

Das „Big-Tent“-(Großes Zelt)-Parteimodell der DSA ist in Verbindung mit dem Wahlsystem nur ein Rezept dafür, dass die Amtsinhaber:innen ein nicht rechenschaftspflichtiger, aber immer mächtigerer Kern über der Demokratie der Partei bleiben. Der Pluralismus, der gegen die vermeintlich „monolithische“ revolutionäre Linke gefeiert wird, ist letztlich nur für sie. [28] Der heuchlerische, in sich widersprüchliche Ruf der Rechten nach „Einheit, nicht Einstimmigkeit“ in der Bowman-Kontroverse unterstreicht dies: Sein Recht, seine eigene politische Linie zu bestimmen, bricht in Wirklichkeit die Einheit mit den Mitgliedern und ihren demokratischen Entscheidungen. Dieser Stab von Politiker:innen und der Wahlapparat der DSA werden auf Kosten der Demokratie, der Radikalität und letztendlich der Stabilität der DSA wachsen. Die Linke tut gut daran, einen Blick auf die griechische Linkspartei Syriza zu werfen, die ebenfalls auf Wahlen fokussiert ist, und wie sie sich parallel zu ihren Wahlerfolgen in Richtung Bürokratie entwickelt hat, wobei die neuen Strukturen die Linke zunehmend marginalisieren. [29]

Dieser Flügel der Partei will eine DSA, die sich stark von den Mitgliedern unterscheidet, die in vielen Städten den Wunsch geäußert haben, über den Wahlkampf hinauszugehen und sich im Klassenkampf zu engagieren. Wenn er Erfolg hat, würde das alle Probleme der alten Sozialistischen Partei von Debs wieder aufleben lassen, in der die 1.000 gewählten Mandatsträger:innen rechts von den Mitgliedern standen, in der Praxis reformistisch waren und oft andere bürgerliche Vorurteile wie Rassismus an den Tag legten und sich jeder echten Kontrolle entzogen, und letztlich die Linke besiegten und vertrieben. Doch diese Lektion in Sachen Rechenschaftspflicht wird nicht nur von der Rechten, sondern auch Linken in der DSA ignoriert. [30] Stattdessen ist eine Übertreibung des Radikalismus der linken Demokrat:innen, ob DSA-Mitglieder oder nicht, zwangsläufig Teil der DSA-Orientierung und notwendig, um sie zu rechtfertigen. Dies ist auch ein schwerwiegender Fehler in der gesamten Arbeit von Jacobin.

Die Kontroverse, die über Jamaal Bowman ausgebrochen ist, ist nicht die erste, sondern nur die eklatanteste Zerrüttung der DSA-Politik im Amt. DSA-Mitglieder und -Aktivist:innen müssen auf seinen Ausschluss drängen, als ersten Schritt zur Neuausrichtung der Partei weg von den Demokrat:innen und zum Aufbau von Verantwortlichkeit für Führungskräfte und gewählte Amtsträger:innen, ohne die es keine sinnvolle Demokratie gibt.

Die Linke debattiert über den schmutzigen Bruch

Die weit verbreitete Begeisterung für die Idee des „schmutzigen Bruchs“ hat dazu geführt, dass sie unter den jungen radikalen Aktivist:innen der DSA zu einer neuen Orthodoxie geworden ist, die durch die Wahlerfolge nur noch gefestigt wurde. Die DSA-Linke ist gegen diesen Druck nicht immun, ein Teil bewegt sich nach rechts mit einer eher unschlüssigen Annäherung an die Frage der „Neuausrichtung“, während die Fraktionen der „revolutionären“ Linken die Taktik des schmutzigen Bruchs prinzipiell akzeptiert oder es vermieden haben, sie im Fall von SAlt direkt anzugreifen, und lediglich darüber debattiert haben, wie man sich von ihr entfernen kann.

Die wichtigste linke Fraktion, Brot und Rosen, lehnt eine Neuausrichtung der Demokrat:innen ab und steht für den endgültigen Aufbau einer Massenpartei der Arbeiter:innen. In einer Diskussion über die Unterstützung eines Änderungsantrags zu Resolution 8, in dem die Notwendigkeit eines schmutzigen Bruchs bekräftigt wird, spaltete sich die Fraktion jedoch mit 55 % Ja- und 45 % Nein-Stimmen. Aufgrund der knappen Abstimmung beschloss die Fraktionsführung undemokratisch, den Änderungsantrag nicht zu unterstützen. Eric Blanc, das prominente DSA- und Brot-und-Rosen-Mitglied, das die radikale „Schmutziger Bruch“-Linie geprägt hat, argumentierte nun gegen die Durchsetzung dieser Linie als schädliche „Propaganda“. Er übertrieb die Bilanz von Sanders und AOC und behauptete, sie würden etwas Neues tun, weil sie versuchten, eine „unabhängige sozialistische Organisation und ein unabhängiges Profil“ aufzubauen. In Wirklichkeit tun sie nur sehr wenig, um die DSA aufzubauen, aber er argumentierte, dass es für das „demokratische Establishment eine wichtige Propagandawaffe gegen uns bedeutet“, wenn man die Organisation für den schmutzigen Bruch in den Vordergrund stellt, indem man als Unabhängige kandidiert oder sogar offen als Anti-Demokrat:innen auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei erscheint, als ob sie nicht schon alle von der DSA unterstützten aufständischen Kandidat:innen verleumden und versuchen würden, sie zu besiegen.

Es kommt noch schlimmer. In seinem ursprünglichen Artikel aus dem Jahr 2017, in dem er die Idee des schmutzigen Bruchs vorstellte, wies er Versuche, die Demokratische Partei neu auszurichten, als „Illusion“ zurück, aber jetzt hat er dies umgekehrt und stellt jede Annahme in Frage, dass die „Demokratische Partei keine Arbeiter:innenpartei sein wird“:

„Wir klingen wie Dogmatiker:innen, wenn wir die Möglichkeit ausschließen, dass Linke den nationalen Parteigipfel der Demokrat:innen durch eine feindliche Übernahme mittels klassenkämpferischer Vorwahlen erobern, die sowohl die Präsident:innenschaft als auch die Führung des Kongresses gewinnen. Bisher hat noch niemand überzeugend dargelegt, warum dieser Ansatz garantiert scheitern wird.“

Unterstützt wurde dies durch verzerrte Argumente, dass frühere Versuche in den 1930er und 1960er Jahren gescheitert seien, weil sie „auf die Arbeit innerhalb der offiziellen demokratischen Strukturen angewiesen waren“. Doch so verhängnisvoll es auch war, die Unterstützung der Kommunistischen Partei für Roosevelt in den 1930er Jahren war kaum eine Arbeit innerhalb der Demokrat:innen. Die Katastrophe bestand darin, dass sie statt für den Zusammenschluss der lokalen Arbeiter:innenparteien zu einer neuen, nationalen Partei, die die Linke und die Arbeiter:innenklasse auf eine neue Ebene gebracht hätte, zu kämpfen, diese Bewegung deckelte und in ihren politischen Verfall förderte. [31]

Weitere Brüche in Brot und Rosen haben sich abgezeichnet. Die Fraktion Reform und Revolution, eine frühere Abspaltung von SAlt, die sich als revolutionär-marxistischer Flügel der DSA ausgibt, organisierte im März 2021 eine Diskussion über den schmutzigen Bruch mit Redner:innen aus den wichtigsten linken Fraktionen. Darunter waren Referent:innen aus der gesamten Linken: Jeremy Gong, Co-Vorsitzender von Brot und Rosen und Mitglied der Arbeiter:innenpartei-Linken, die „revolutionären“ Marxist:innen der Tempest-Webseite (Ex-ISO) und Reform und Revolution selbst sowie Aktivist:innen der größten lokalen linken Fraktionen Emerge (Empor, New York Stadt) und Red Star (Roter Stern, San Francisco). [32) Alle waren sich einig, dass es vorerst keine Alternative zur Wahl der Demokrat:innen gab, aber die Diskussion drehte sich darum, wie man den schmutzigen Bruch für eine neue Arbeiter:innenpartei vorantreiben könnte.

Mit erfrischender Offenheit nahm Gong die üblichen Begründungen zum Einsatz für die Demokratische Partei auseinander. Er wies das (in Resolution 8 wiederholte) Argument zurück, dass die Demokrat:innen nicht wirklich eine Partei sind, sondern eine diffuse Koalition von Kräften mit einer leeren, neutralen Wahlliste, die es auszufüllen gilt, das Feigenblatt für die Taktik:

„Sie sieht aus wie eine Partei, sie redet wie eine Partei, die Leute denken, dass sie eine Partei ist, sie muss eine Partei im US-amerikanischen Kontext sein … in unserer Zeit ist die Demokratische Partei eine Partei, und ich denke, eine Wahlliste ist ein wesentlicher Aspekt dessen, was eine Partei zu sein hat … [und das ist der Grund, warum] es wichtig ist, dass wir uns formell trennen und eine neue Partei gründen.“ [33]

Einen weiteren Mythos spießte er auf, indem er argumentierte, dass die gesetzlichen Wahlrechtsbeschränkungen in den Bundesstaaten nicht so entscheidend seien. In Kalifornien, „größer als Spanien“, gebe es keine, außer bei den Präsident:innenschaftswahlen, und in New York City sei „der Ortsverband stark genug, mit 10.000 DSA-Mitgliedern und der fortschrittlichsten Organisation und Erfahrung, um diese Hindernisse zu überwinden und unabhängige Kandidat:innen aufzustellen“. Andere merkten an, dass ein Kandidat auf der von der DSA unterstützten Liste der in den Stadtrat von Chicago gewählten Delegierten ein Unabhängiger war – was wäre, wenn alle sieben unabhängig gewesen wären? Der Vorsitzende von Labor Notes, Kim Moody, wies in seinem 2018 erschienenen Buch On New Terrain (Auf neuem Gebiet) (geschrieben vor dem Sieg von AOC) darauf hin, dass gewerkschaftlich unterstützte Kandidat:innen in „mittelgroßen industriellen oder ehemals industriellen Stadtzentren mit einer großen Arbeiter:innenbevölkerung“, in denen die Demokrat:innen so hegemonial sind, dass ihre übliche Erpressung, die Republikaner:innen ins Rennen zu schicken, nicht funktioniert, allmählich Fuß fassen.“ [34]

Gong wies darauf hin, dass die Aufstellung unabhängiger Kandidat:innen im Grunde „ein politisches Problem“ sei:

„Ich würde sagen, es wird viel darüber geredet, dass es so schwer ist, eine unabhängige Wahlliste zu haben. Die Gesetze sind schwierig, aber ich denke, das ist ein Ablenkungsmanöver. Es ist eigentlich gar nicht so schwer. Man muss nur den Willen haben, es zu tun. Und im Moment ist dieser Wille bei einer sehr kleinen Anzahl von Leuten vorhanden, das ist das eigentliche Problem … Ich würde einen analogen Punkt anbringen, wie wir uns zu DSA verhalten, es gibt ein geringes Maß an Kampf und Erfahrung für DSA-Mitglieder in vielen dieser Fragen.“

Er argumentierte, dass die Bedingungen für eine unabhängige Partei heute nicht gegeben sind, da das Niveau des Klassenkampfes im Gegensatz zu den 1930er und 1940er Jahren niedrig ist, aber trotzdem „konnten sie damals keine Arbeiter:innenpartei gewinnen“. Er nimmt die Führungskrise in der Arbeiter:innenbewegung mit dem Verrat der KP an dieser Bewegung nicht zur Kenntnis, aber die gleiche Frage stellt sich heute, wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt aus: Wie blockiert die Linke die Entwicklung einer solchen Bewegung? Und ist der Klassenkampf wirklich so niedrig? Zeigen die explosiven Kämpfe von 2018 und 2020 nicht, dass eine DSA, die sich bei jedem Streik, jeder Protestbewegung und jedem Aufstand für die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse einsetzt, Fortschritte machen könnte, was das Bewusstsein, die Organisation und, ja, die Kandidat:innen angeht?

Die Konzentration von Mitgliedern und Erfahrungen in den großen städtischen Zentren, New York, Chicago und einigen anderen, würde zumindest den Versuch erlauben, unabhängige gewerkschaftliche oder sozialistische Kandidat:innen aufzustellen, auch wenn dies in kleineren Gebieten schwierig wäre. Gong wies auf diese hin und erklärte: „Einige müssen führen“. In seinem Artikel forderte Eric Blanc die Linke auf, es irgendwo zu versuchen. Dies würde eine starke linke Organisation in der DSA voraussetzen, aber selbst dann sollte die Linke nicht einfach „alternativ“ experimentieren, während sie den Rest der DSA ignoriert, wenn dieser damit fortfährt, demokratische Kandidat:innen zu unterstützen, sondern sie sollte dies ablehnen.

Ironischerweise halten die zentristischen Sozialist:innen, die in Tempest und Brot und Rosen in die DSA eingetreten sind, an der Mehrheitslinie fest, obwohl aus ihren Argumenten klar hervorgeht, dass sie nicht wirklich dafür sind, auf der demokratischen Liste zu stehen, während Blanc den „schmutzigen Bruch“ abstellen oder sogar aufgeben will und die DSA sich in der Praxis davon weg entwickelt. Anstatt den Brot-und-Rosen-Linken entgegenzukommen, die immer noch an der DSA festhalten, und sich im Kreis zu drehen, wie und wann man mit der Demokratischen Partei brechen oder sich darauf vorbereiten sollte, sollte die marxistische Linke die Schlussfolgerungen aus der Entwicklung der DSA und der Bilanz ihrer Mitglieder in den Ämtern ziehen und jetzt für den „sauberen Bruch“ agitieren, indem sie sich für eine neue Arbeiter:innenpartei einsetzt.

In den Groß- und Industriestädten könnten die Fraktionen aller Sozialist:innen, die für den Bruch sind, für unabhängige Arbeiterkandidat:innen werben und sich kollektiv weigern, Kandidat:innen zu wählen, die auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei stehen oder von ihnen unterstützt werden. Wenn die Rechte sich 2020 gegen die „Niemand außer Bernie“-Linie auflehnen kann, warum kann die Linke dann nicht offen die Unterstützung für demokratische Kandidat:innen ablehnen? Sie sollten Druck auf Brot-und-Rosen-Linke wie Gong (mit 45 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder vor dem Kongress) ausüben, um den Caucus dazu zu bringen, ihn zu unterstützen oder sich von ihm abzuspalten. Dies erfordert nicht, dass irgendeine der Tendenzen oder Fraktionen, seien sie „revolutionär“ oder demokratisch-sozialistisch, ihre eigene Organisation oder ihre Programme aufgibt, sondern dass sie die Einheitsfront nutzen, um die Forderung nach einer neuen Partei innerhalb und außerhalb der DSA voranzutreiben. In der Zwischenzeit könnten sie auch darauf drängen, dass die Sektionen Streiks unterstützen und Aktionskomitees für soziale Kämpfe aufbauen, um sie zu demokratisieren, ihr Wachstum zu fördern und Siege zu erringen, während sie gleichzeitig über die Politik debattieren, die die DSA mit kämpferischen Klassenkampftaktiken in sie einbringen möchte.

Wohin weiter?

In England folgte auf die stürmische Zeit des Chartismus der Arbeiter:innenklasse (1838 – 48) und die Beteiligung der Gewerkschaften an der Seite von Marx in der Ersten Internationale (1864 – 72) eine lange Periode der politischen Unterordnung der Arbeiter:innenklasse unter Gladstones Liberale Partei. Ihre materielle Grundlage bildete die Vorherrschaft des britischen Kapitalismus in der Weltwirtschaft und die Ausdehnung seines Kolonialreichs. In dieser Liberal-Labour-Periode saßen viele Gewerkschaftsführer:innen als liberale Abgeordnete im Unterhaus.

In den 1880er Jahren stellte Engels fest, dass der Verlust der Vorherrschaft des imperialen Britanniens im Welthandel zu Angriffen auf die eigenen Arbeiter:innen führen würde, dessen schwindende Position bedeuten würde, dass es „wieder Sozialismus in England geben wird“. [35] Der lange Niedergang der USA als imperialistische Supermacht ist durch ihren demütigenden Rückzug aus Afghanistan deutlich geworden, während sie wirtschaftlich seit 2008 im Zentrum der historischen Wirtschaftskrise des Kapitalismus stehen. Beide Entwicklungen haben die Klassengegensätze im In- und Ausland verschärft und eine historische Polarisierung vorangetrieben.

Der spektakuläre Aufstieg der DSA spiegelt nicht nur die Tiefe der Krise des amerikanischen Kapitalismus wider, sondern zeigt vor allem, dass sozialistische Massenstimmung in materielle Organisationsgewinne umgesetzt werden kann, dass Sozialismus und Klassenpolitik vorankommen können. Doch mit dem Anstieg an Mitgliederzahlen wachsen auch die Widersprüche der DSA. Vielleicht wird die Aushöhlung von Bidens Wohlfahrtsreformen die Stimmung gegen die Demokratische Partei und das Wachstum der DSA kurzfristig wiederbeleben, aber ihre zunehmende Absorption in die Demokratische Partei ist eine Sackgasse und zeigt, dass sie trotz ihrer formalen Position, eine Massenpartei der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, dies nie ernst genommen hat und sich in Wirklichkeit in die andere Richtung bewegt, tiefer in die Demokratische Partei. Die Mehrheit der relativ neuen, oft inaktiven DSA-Mitglieder, die im Rahmen dieser Taktik rekrutiert wurden, könnten am Ende eine Basis für den rechten Flügel und die Führung abgeben, wenn dies nicht durch die Hinwendung der Sektionen zum Kampf überwunden wird.

Erhebliche Minderheiten gegen die rechtsgerichteten Anträge des Parteitags zeigen das Potenzial, eine Opposition aufzubauen, die sich auf die Neuausrichtung der DSA weg von den Demokrat:innen und hin zum Klassenkampf und den Streit für eine neue Partei der Arbeiter:innenklasse konzentriert. Ein Teil des Hindernisses für die Verwirklichung dieses Potenzials ist die DSA-Linke selbst, die zwar wächst, aber zersplittert ist und, was am schädlichsten ist, die „Taktik des schmutzigen Bruchs“ akzeptiert und die Demokratische Partei „vorerst“ unterstützt. Dies ist eine durch und durch opportunistische Taktik. Die Möglichkeit, diesen Weg freizumachen, besteht darin, zu Marx‘ Position der klassenpolitischen Unabhängigkeit zurückzukehren und die Methode aufzugreifen, die Trotzki für den Aufbau einer neuen Arbeiter:innenpartei im Amerika der 1930er Jahre befürwortete.

Wenn die Linke dies tut, wird sie sich letztlich einem Kampf mit dem Mitte-Rechts-Block in der Führung stellen müssen, der bisher noch keine ernsthafte Herausforderung für seine unausgesprochene Strategie zur Neuausrichtung der Demokratischen Partei erlebt, für die die Strategie des schmutzigen Bruchs als Deckung diente. Die stalinistischen Anti-Trotzki-Memos, die den Beitritt der Sozialistischen Alternative begleiteten, liefern einen kleinen Vorgeschmack auf diese Spannung. Letztendlich wird eine reformistische Führung niemals einen wirklich klassenkämpferischen, revolutionären Flügel dulden, sondern versuchen, ihn zu unterdrücken. Wenn die Linke es zulässt, eine zahme Opposition zu bleiben, die in einer platonischen Debatte darüber gefangen ist, wie und wann Schritte in Richtung des schmutzigen Bruchs unternommen werden sollen, wird sie nur ihre eigene Ohnmacht verlängern.

Die Sozialistische Alternative, die Brot-und-Rosen-Linke und die anderen Fraktionen wiederholen alle, dass es keine objektive Grundlage für eine neue Massenpartei gibt. Dennoch geben viele zu, dass die Politik der DSA selbst das größte unmittelbare Hindernis für Schritte in Richtung Klassenunabhängigkeit und einen schmutzigen Bruch verkörpert. Die Antwort darauf ist eine unermüdliche und konsequente Kampagne, um diese Führungskrise zu lösen, indem wir eine solche Anleitung geben. Die Linke kann sich um eine offene Kampagne für eine neue Arbeiter:innenpartei scharen, die jegliche Unterstützung für Kandidat:innen auf der demokratischen (oder grünen) Wahlliste klar ablehnt. Sie sollte Druck auf Brot und Rosen ausüben, damit es sich wieder dieser Linie widmet oder spaltet. Dies ist der Schlüssel, um die dissidenten Mitglieder über die Caucuses hinaus zu organisieren und die Masse der neuen Mitglieder zu entwickeln, um die Kluft zwischen ihnen und der Linken zu schließen. Die Hinwendung der Sektionen zum Klassenkampf würde nicht nur neue Mitglieder als Aktivist:innen und Kader hervorbringen, sondern auch Militante aus den Streiks und Kämpfen der nächsten zwei Jahre rekrutieren, die der Demokratischen Partei gegenüber misstrauischer sein werden.

Ein Einheitsfrontansatz im Eintreten für einen sauberen Bruch würde auch Debatten über andere Aspekte des Programms erleichtern, als Antwort auf neue Kämpfe wie die Lehrer:innenstreikwelle und die Black-lives-matter-Revolte. Ziel sollte es sein, ein alternatives, revolutionäres Programm zur neuen Plattform zu entwickeln, das deren beste politische Elemente aufgreift und sie mit Übergangsforderungen kombiniert, die die heutigen Massenkämpfe mit dem entschlossenen Vorgehen für den Sozialismus durch Selbstorganisation und Aktivität der Arbeiter:innenklasse verbinden. Dies würde nicht nur mehr Diskussionen zwischen den Gruppierungen ermöglichen, sondern auch ein neues Publikum von Tausenden von Menschen einbeziehen, die eine Rolle dabei spielen könnten, die Politik im Lichte der Geschichte und ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Klassenkampf zu prüfen, indem sie sich daran beteiligen und veraltete oder opportunistische Ideen verwerfen.

Nur durch einen radikalen Richtungswechsel können Sozialist:innen sicherstellen, dass der nächste Parteitag eine echte Herausforderung für den prodemokratischen Konsens darstellt und den Weg für einen weiteren politischen Fortschritt hin zu einer klassenkämpferischen, internationalistischen und revolutionären DSA öffnet. Alle, die die Notwendigkeit einer solchen Neuausrichtung sehen, sollten mit uns Kontakt aufnehmen und gemeinsam daran arbeiten, die immensen Möglichkeiten für den Fortschritt der Arbeiter:inneklasse und eine sozialistische Zukunft zu nutzen, die zum Teil im Wachstum der DSA zum Ausdruck kommen.

Endnoten

1 „Top GOP Pollster: Young Americans Are Terrifyingly Liberal“, [https://theintercept.com/2016/02/24/top-gop-pollster-young-americans-are-terrifyingly-liberal/].

2 Nur Eugene Debs‘ Socialist Party of the USA war mit 113.000 Mitgliedern auf ihrem Höhepunkt im Jahr 1912 größer, allerdings bei einer Bevölkerung von 95 Millionen, weniger als ein Drittel der heutigen 333 Millionen.

3 Damit stieg die Mitgliederzahl auf 66.000. Fast 30.000 sind seitdem beigetreten.

4 „2020 DSA Convention Reports and Summaries“, [https://www.tempestmag.org/2021/08/2021-dsa-convention/].

5 Rückgang von 42 Kandidaten für sechzehn Positionen im Jahr 2017 auf 33 im Jahr 2019 und 20 im Jahr 2021: Nation, R&R.

6 2021: „Toward a Mass Party in the United States (Electoral Priority)“; 2019: „Class Struggle Elections“.

7 https://jacobinmag.com/about; https://breadandrosesdsa.org/. Der linke B&R Co-Vorsitzende Jeremy Gong sagt, dass B&R 2019 gegründet wurde, um „für eine marxistische DSA zu kämpfen“. Siehe unten: Debatte  über Reform und Revolution.

8 Siehe Resolution 8: „Bigger than Bernie“ von Micah Uetricht und Megan Day behauptet dasselbe, Kapitel 2: „Die beiden großen US-Parteien sind keine wirklichen Parteien im traditionellen Sinne (keine Mitgliedschaftskriterien, keine verbindliche demokratische Entscheidungsfindung, keine politische Bildung, keine Disziplinierung von Kandidat:innen, keine Rechenschaftspflicht gegenüber einer Plattform)“.

9 Oder die Partei könnte „theoretisch Kandidat:innen auf der eigenen Wahlkampflinie der Organisation aufstellen“. Seth Ackerman: „A Blueprint for a New Party“, Nov. 2016, https://www.jacobinmag.com/2016/11/bernie-sanders-democratic-labor-party-ackerman/; Eric Blanc: „The Ballot and the Break“, https://www.jacobinmag.com/2017/12/democratic-party-minnesota-farmer-labour-floyd-olson/.

10 Entschließung 15.

11 „Should House Progressives #ForceTheVote on Medicare for All?“, https://www.dsausa.org/statements/should-house-progressives-forcethevote-on-medicare-for-all/.

12 Weit davon entfernt, die Gewerkschaftsarbeit der DSA-Ortsgruppen und -Mitglieder zu leiten und zu koordinieren, wurden die beiden großen nationalen DSA-Laborinitiativen – das 2020 gegründete Emergency Worker Organising Committee und die 2021 gestartete Kampagne zur Lobbyarbeit bei der Bidenregierung zur Verabschiedung des PRO Act (Protect the Right to Organize) – beide vom NPC im Bündnis mit den Gewerkschaften initiiert.

13 Bhaskar Sunkara, The Socialist Manifesto, (London: Verso, 2019), S. 22; siehe: https://fifthinternational.org/content/bhaskar-sunkaras-socialist-manifesto.

14 Meagan Day und Micah Uetrecht, Bigger Than Bernie, (London: Verso, 2020), S. 102 f–

15 Eric Blanc hat sich als antibolschewistischer Theoretiker und Historiker der DSA etabliert, einflussreich, aber auch wie Sunkara eigenwillig – die Jacobin-Linke hat keine einheitliche, kohärente Vision des demokratisch-sozialistischen Übergangs, abgesehen von ein paar groben Punkten – die Demokrat:innen, Wahlen, eine Regierung, kein Aufstand, keine Doppelmacht. Bigger than Bernie hingegen zitiert Eric Blanc und nimmt dessen Position auf. Seine alternative „revolutionäre“ Strategie geht auf Karl Kautsky, den bekanntesten Theoretiker der Zweiten Internationale und Gegner Lenins und der Revolution von 1917 in Russland, zurück. Blanc argumentiert wie die Demokratischen Sozialist:innen im Allgemeinen, dass „das Doppelherrschafts-/Aufstandsmodell von Russland 1917“ für „kapitalistische Demokratien“ nicht relevant sei, und zwar mit dem üblichen liberalen Argument, dass „unter den arbeitenden Menschen die Unterstützung für die Ersetzung des allgemeinen Wahlrechts und der parlamentarischen Demokratie durch Arbeiter:innenräte oder andere Organe der Doppelherrschaft immer marginal geblieben ist.“ Das stimmt nur insofern, als keine andere Revolution des 20. Jahrhunderts auf eine Partei wie die Bolschewiki traf, die entschlossen war, sie über den Kapitalismus in Russland hinaus zu führen, und so eine Niederlage erlitt.

Blancs Alternative, die auf seiner fehlerhaften Analyse der Finnischen Revolution 1917 – 18 mit ihrer blutigen Niederlage beruht, hat ebenfalls keinen Erfolg gehabt. Das hält ihn nicht davon ab, darauf zu bestehen, dass der einzige Weg zum Sozialismus für Sozialist:innen darin besteht, „für eine allgemeine sozialistische Wahlmehrheit in der Regierung/im Parlament zu kämpfen, und (b) Sozialist:innen müssen damit rechnen, dass ernsthafte antikapitalistische Veränderungen notwendigerweise außerparlamentarische Massenaktionen wie Generalstreiks und Revolutionen erfordern, um die unvermeidliche Sabotage und den Widerstand der herrschenden Klasse zu besiegen.“

Diese defensive Revolution, die in der Realität manchmal notwendig ist (Spanien 1936), würde sich als Strategie als katastrophal erweisen, wie es in Finnland der Fall war.

Der Punkt ist, dass Blanc behauptet, dies müsse gelingen, ohne eine Doppelmacht zu schaffen. Dies ist jedoch ein Widerspruch – das Wesen jeder Revolution besteht darin, dass eine Macht eine andere besiegt und ersetzt, sie stürzt. In Wirklichkeit ist dies – wie der „schmutzige Bruch“ eine weitere Idee Blancs – eher rhetorisch als real, um die Konzentration der DSA auf Wahlen und Reformen gegen sozialistische Kritik zu verteidigen, allerdings mit größerer theoretischer Distanz. BTB 108, 103; Originalzitate von Blanc in „Why Kautsky Was Right (and Why You Should Care)“, Jacobin, und „The Democratic Road to Socialism: Reply to Mike Taber“, Cosmonaut.

16 Dieser Prozess und seine materiellen Wurzeln in der nationalen Isolation sind ausführlich dokumentiert in The Degenerated Revolution: The Rise and Fall of the Stalinist States, (London: Workers Power, 1983, 2012), siehe: https://fifthinternational.org/content/key-documents/degenerated-revolution.

17 „Die vorrangigen Aufgaben der Arbeiter:innenregierung müssen darin bestehen, das Proletariat zu bewaffnen, die bürgerlichen, konterrevolutionären Organisationen zu entwaffnen, die Kontrolle der Produktion einzuführen, die Hauptlast der Besteuerung auf die Reichen zu übertragen und den Widerstand der konterrevolutionären Bourgeoisie zu brechen. Eine solche Arbeiter:innenregierung ist nur möglich, wenn sie aus dem Kampf der Massen hervorgeht, von kampffähigen Arbeiter:innenorganen getragen wird, von Organen, die von den am meisten unterdrückten Teilen der arbeitenden Massen geschaffen wurden“, in: „Theses on Comintern Tactics“, Fourth Congress of the Communist International, Marxists Internet Archive (MIA), [https://www.marxists.org/history/international/comintern/4th-congress/tactics.htm].

18 Marx, „IWMA rules“, 1864; Engels, „1888 Preface to the Communist Manifesto“, beide: MIA.

19 „1850 Address to the Central Committee of the Communist League“, MIA.

20 Marx, „1872 Preface“, MIA.

21 Marx, „1850 Address to the Central Committee of the Communist League“, MIA.

22 Das Gleiche gilt für Ralph Miliband, den bevorzugten antileninistischen Marxisten von Bread and Roses, [https://breadandrosesdsa.org/where-we-stand/#democratic-road].

23 Wladimir Lenin, Lecture on the 1905, MIA.

24 „Demokrat:innen verabschieden nach chaotischer Verzögerung 1,9-Milliarden-Dollar-Gesetz für die Sicherheit im Kapitol mit einer Stimme Mehrheit“, [https://www.forbes.com/sites/andrewsolender/2021/05/20/democrats-pass-19-billion-capitol-security-bill-by-one-vote-after-chaotic-delay/].

25 „AOC warnt die Demokrat:innen, sich hinter dem/r Kandidat:in zu versammeln, egal wer es ist“ [https://uk.news.yahoo.com/aoc-warns-democrats-rally-behind-221155192.html].

26 „Nationale DSA-Wahlstrategie 2021-2022“, [https://electoral.dsausa.org/national-electoral-strategy/].

27 Day und Uetrecht, Bigger Than Bernie, S. 125 – 127.

28 A. a. O., S. 60 – 61, S. 99.

29 https://fifthinternational.org/content/greece-syriza-congress-eye-witness-report.

30 https://jacobinmag.com/2017/02/rise-and-fall-socialist-party-of-america.

31 https://fifthinternational.org/content/why-there-no-socialism-united-states%E2%80%9D.

32 „Putting the Break in the Dirty Break“, Podiumsdiskussion organisiert von Reform & Revolution. https://www.youtube.com/watch?v=yS8eW83NGEk&t=22s.

33 A. a. O., ab Minute 97.

34 Kim Moody, On New Terrain (Chicago, Haymarket, 2017), S. 162.

35 Engels, „England in 1845 and 1885“, MIA.




Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Vorwort der Redaktion

Als der hier neu übersetzte Artikel „Gramsci and the revolutionary Tradition“ vor 36 Jahren in der Zeitschrift „Permanent Revolution“ unserer Schwesterorganisation „Workers Power“ aus Anlass des 50. Todestages von Antonio Gramsci erschien, ging gerade eine der vielen „Gramsci-Wellen“ in der internationalen Linken ihrem Ende entgegen. Es sollten noch einige weitere bis zum heutigen Tage folgen. Deshalb lohnt sich die Lektüre dieses historisch sehr genauen Artikels zum tatsächlichen politischen Wirken Gramscis ungemein, um seine politischen Ideen von den imaginären Zusätzen zu trennen, die sich inzwischen in den besagten Rezeptionswellen in Schlagwörtern wie „Hegemonie“, „Politik des Stellungskrieges“, „Zivilgesellschaft“, etc. niedergeschlagen haben.

Gramsci befand sich seit 1926 in faschistischer Haft, in der er – in vorsichtig verklausulierter Sprache – weiterhin politische Schriften verfasste, die „Gefängnishefte“. Die mehrdeutigen Ausdrücke, die er dabei benutzte, um Begriffe wie „Diktatur des Proletariats“ oder „bürgerliche Ideologie“ zu vermeiden, wurden in diesen späteren Rezeptionen geradezu zu einer Neuerfindung des Marxismus hochstilisiert. Mit Begeisterung wurde darin eine „Modernisierung“ gesehen, die die verpönte „Sprache“ des „dogmatischen Traditionsmarxismus“ vermeidet. Wie weit dies von den tatsächlichen Intentionen Gramscis entfernt ist bzw. mit seinen tatsächlichen politischen Schwächen in Verbindung steht, wird in dem folgenden Artikel herausgearbeitet.

In den 1970er Jahren hatte die „Kommunistische Partei Italiens“ (KPI) ihren ehemaligen Vorsitzenden (1924 – 1927) einmal wieder neu „entdeckt“. Im Zuge der Integration der KPI in das politische Krisenregime der 1970er Jahre wurde das Konzept der „Diktatur des Proletariats“ zugunsten der Zielsetzung einer Umgestaltung Italiens unter „Hegemonie“ der KPI aufgegeben. Luciano Gruppis „Gramsci. Philosophie der Praxis und die Hegemonie des Proletariats“ (1972 unter der Ägide des langjährigen Chefideologen Pietro Ingrao herausgegeben; auf Deutsch: 1977, VSA) ist Ausdruck des Versuchs der Parteiführung, ihren „Historischen Kompromiss“ mit der italienischen Bourgeoisie als Weiterentwicklung der bereits von Gramsci verfolgten „Überwindung“ der Fixierung der kommunistischen Parteien auf das Modell der Russischen Revolution darzustellen.

Schon in der Nachkriegszeit hatte die KPI-Führung um Togliatti den zunächst vergessenen Gramsci als Wegbereiter der Volksfrontpolitik „wiederentdeckt“. Wie der folgende Artikel zeigt, waren beide Vereinnahmungen Gramscis nicht berechtigt. Gramscis politische Revision (die er als Parteivorsitzender verfolgte) war tatsächlich die der „strategischen Einheitsfront“ zwischen Kommunist:innen und Reformist:innen mit dem Ziel einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung als erster Etappe der Diktatur des Proletariats. Er hegte im faschistischen Italien keinerlei Illusionen in Bündnisse mit der Bourgeoisie, allerdings ein illusorisches Verständnis der revolutionären Dynamik übergreifender Bündnisse „der Linken“ – und damit tatsächlich der Notwendigkeit, die Einheitsfront als Vehikel des Kampfes zum Bruch auch mit dem Reformismus und Zentrismus zu gestalten.

Einen anderen Interpretationsstrang von Gramsci findet man im „Neomarxismus“ der Nach-68er-Bewegung, z. B. begründet in der „strukturalistischen“ Marxexegese. So führte Luis Althusser (z. B. in „Für Marx“, 1968, Suhrkamp) Gramsci und das Hegemoniekonzept als Beleg dafür an, dass im „westlichen Marxismus“ schon früher die Unterschätzung der „Überbauphänomene“ erkannt wurde. In seinem Bestreben, Marx vom „Hegel’schen Objektivismus“ zu reinigen, ersetzte Althusser die Dialektik von Ökonomie und politisch-ideologischem Überbau durch ein System vielfältiger Widersprüche, in denen den Zusammenstößen im Überbau (den „ideologischen Staatsapparaten“) immer mehr Gewicht zukommt gegenüber den zusehends entpolitisierteren ökonomischen Klassenkämpfen. Von dort gibt es eine gerade Linie zur Transformationspolitik (im Gefolge von Poulantzas), die den Verschiebungen der Kräfteverhältnisse durch „revolutionäre Realpolitik“ in den „zivilgesellschaftlichen Strukturen“ die Rolle der vorantreibenden Kraft bis hin zum „revolutionären Bruch“ beim Übergang zum Sozialismus zuschreibt (zur näheren Kritik hierzu siehe den Artikel „Modell Oktoberrevolution“ im Revolutionären Marxismus 49).

So wenig man eine solche Bewertung von politischen und kulturellen Mikrokämpfen im „antikapitalistischen Stellungskrieg“ Gramsci direkt zuschreiben kann, so ist in seiner Konzeption der Hegemonie tatsächlich eine methodische Schwäche angelegt. Während bei Marx die Ideologiekritik und die daraus folgende Analyse von Überbauphänomenen materialistisch-dialektisch aus der Kritik der politischen Ökonomie abgeleitet wird, so ist dies bei Gramsci in den „Gefängnisheften“ wenig ausgeführt bzw. kann als „nur letztlich bestimmt“ verstanden werden. Wie im Artikel herausgearbeitet, kann es hier zu einer, von seinem idealistischen philosophischen Lehrmeister Benedetto Croce inspirierten Überbewertung des „subjektiven Faktors“ kommen, dem in den vielfältigen politischen Strukturen von Kultur, Wissenschaft, politischen Institutionen etc. eine weitgehende Selbstständigkeit eingeräumt wird.

Dies wird um so auffälliger, wenn man Gramscis Ideologiekritik mit der seines unmittelbaren Zeitgenossen und Kominterngenossen Georg Lukács vergleicht. Lukács hatte in den frühen 1920er Jahren mit der Theorie der „Verdinglichung“ dargelegt, wie die in der kapitalistischen Ökonomie (insbesondere in der Zirkulationssphäre) angelegten Denkmuster (Fetischformen) Politik und Alltag derartig durchdringen, dass jegliche „Alternativen“ oder „Gegenmachtansätze“ immer wieder in das herrschende bürgerliche System eingegliedert und zu systemstabilisierenden Faktoren umstrukturiert werden (Gramsci hatte im Konzept der „passiven Revolution“ übrigens eine ähnliche Bemerkung gemacht, diese stellt aber letztlich einen Fremdkörper in seiner Hegemoniekonzeption dar). Lukács’ zog die Schlussfolgerung (in „Geschichte und Klassenbewusstsein“), dass nur vom Standpunkt des revolutionär organisierten Proletariats aus so etwas wie eine unabhängige, über die Kapitalreproduktion hinausgehende Gegenposition möglich ist. Nur ein revolutionäres Proletariat unter der Führung einer kommunistischen Partei kann auch die Antinomien und Rückführungsmechanismen des bürgerlichen Bewusstseins und seiner gewaltbewehrten Organe überwinden und einen wirklichen „revolutionären Bruch“ mit dem Bestehenden ermöglichen.

Auch wenn „Geschichte und Klassenbewusstsein“, wie Lukács selbstkritisch schon 1925/26 in „Chovstismus und Dialektik“ anmerkt, etliche Schwächen enthielt, so stellt es bis heute einen wichtigen Referenzpunkt der Kritik und Abgrenzung von sich auf Gramsci berufenden Gegenmachtkonzepten dar.

Mehr noch als vergangene Gramsci-Wellen ist die gegenwärtige von einer weitgehenden Unkenntnis, um nicht zu sagen Ignoranz, gegenüber Gramscis eigener politischer und theoretischer Entwicklung geprägt. Umso umstandsloser lassen sich auch daher seine Konzepte in aktuelle reformistische Strategien integrieren. Der folgende Artikel umfasst daher sowohl eine historische Einschätzung wie eine marxistische Kritik Gramscis, die sich einerseits gegen seine nicht-revolutionäre Vereinnahmung, andererseits aber auch gegen eine unkritische Übernahme seines Werkes richtet.

Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell

Es gilt, den italienischen Revolutionär Antonio Gramsci zu würdigen. 1926 wurde er von Mussolinis Faschisten verhaftet und zwei Jahre später nach einem Schauprozess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Seine Entlassung aus der Haft 1937 überlebte er, da er im Gefängnis schwer erkrankt war, nur kurz. Er starb im April desselben Jahres.

Das Gedenken an seinen Tod hat einmal wieder ganz verschiedenen Tendenzen auf der Linken die Gelegenheit verschafft, um sein Erbe zu streiten. Marxism Today (MT), die Zeitschrift der eurostalinistischen CPGB, erinnerte ihr Publikum in ihrer Aprilausgabe daran:

„Ohne Zweifel ist Gramsci der wichtigste einzelne theoretische Einfluss auf Marxism Today im Verlauf des letzten Jahrzehntes gewesen.“ (1)

Dieser Einfluss wurde durch die italienische kommunistische Partei gefiltert (KPI). Doch war die KPI nicht immer so bereit gewesen, Gramscis Beitrag zum Marxismus anzuerkennen. Es vergingen zehn Jahre nach Gramscis Tod, bevor die KPI sich entschied, eine Ausgabe von Gramsci Gefängnisnotizbüchern zu veröffentlichen, passend zensiert, um irgendwelche günstigen Verweise auf Trotzki oder Andeutungen von Opposition zu Stalins Politik in den 1930er Jahren zu entfernen.

Aber die Krise des Stalinismus nach 1956 schuf ein ideologisches Vakuum in den Reihen der westlichen stalinistischen Parteien. In Gramsci fand die KPI einen „italienischen Marxismus“, der der Erwartung gerecht werden konnte. Er konnte Kontinuität mit der Gründung der KPI beanspruchen, doch sich von den „Übertreibungen“ des Stalinismus in den 1930er Jahren distanzieren. Er konnte behaupten, in Gramscis Arbeit eine Kritik am „Dirigismus“ zu finden, mit deren Hilfe der monolithische Anspruch des Stalinismus abgelehnt werden konnte, ohne in Sozialdemokratismus zu verfallen oder der revolutionären (d. h. trotzkistischen) Kritik am Stalinismus Zugeständnisse zu gewähren.

Die KPI argumentierte, dass Gramscis Vorstellung von „Hegemonie“ ihre Politik in den 1970er Jahren für parlamentarische Unterstützung der arbeiter:innenfeindlichen Regierung der Christdemokratie (der „historische Kompromiss“) bekräftigte.

In den letzten paar Jahren aber hat die reformistische Laufbahn der KPI diese Partei dazu geführt, einen gewissen Abstand zwischen sich und Gramsci zu setzen. Anfang 1987 behauptete der KPI-Chef Natta, dass Gramsci auch „Fundamentalist“ war. Es ist daher keine Überraschung, dass Antistalinist:innen es zunehmend für normal halten, Gramscis Erbe für sich zu beanspruchen.

Vor fünfzig Jahren sagte der italienische Trotzkist Pietro Tresso in einem Nachruf auf Gramsci, dass es lebenswichtig war, den Stalinist:innen nicht zu erlauben, „Gramscis Persönlichkeit für ihre eigenen Zwecke auszunutzen“ (2). Dies gilt weiterhin. Aber der moderne Zentrismus versucht, weiter zu gehen. Einer der Führer:innen des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale, Livio Maitan, versucht bspw. mit seiner Würdigung des Lebens des italienischen Revolutionärs im mandelistischen Rückblick zu begründen, dass es einen „vollkommen revolutionären Kern“ in Gramscis Arbeit gibt, und dass „revolutionäre Marxist:innen das Recht und die Pflicht haben, das Erbe Antonio Gramscis zu beanspruchen“. (3)

Zwar zieht die Sozialistische Arbeiter:innenpartei (SWP/GB) den Stalinismus korrekt zur Rechenschaft für den Versuch, Gramsci als Reformisten zu schildern, doch sie ist wie Maitan gänzlich damit gescheitert, aus dem Leben des italienischen Revolutionärs eine kommunistische Bewertung seines Beitrages zum Marxismus zu verallgemeinern. John Molyneux sagt von den Jahren 1922 – 1926:

„Selbst ein ungezwungener flüchtiger Blick auf Gramscis Schriften dieser Periode zeigt, dass er fest auf dem Terrain der Revolution bleibt.“ (4)

Chris Harmans Pamphlet für die SWP – Gramsci gegen den Reformismus – bezieht eine ähnlich einseitige Sicht auf Gramsci. Für Harman reicht es aus, dass Gramsci an Revolution, nicht Reform glaubte, nie die Straße zum Aufstand verließ und beides anerkannte – die Notwendigkeit für eine Partei bolschewistischen Typs wie die Samenkörner für einen  Arbeiter:innenstaat, die innerhalb der Fabrikrätebewegung angelegt waren.

Im Wesen legen Harman, Molyneux und Maitan nur einen umgekehrten Fehler zu den Stalinisten an den Tag. In ihrer Darstellung ist Gramscis Beitrag zur KPI bis zu seiner Verhaftung unproblematisch und zeigt ihn ehrlich auf dem Boden der revolutionären Komintern stehend. Die „Lyon-Thesen“ von 1926 werden als Gipfel seiner politischen Arbeit gewertet. Seine Arbeit nach dieser Zeit, wie in den Gefängnisnotizbüchern vorgefunden, enthält zwar gewisse Irrtümer, stellt ihrer Meinung nach jedoch keinen Bruch mit dem revolutionären Gramsci dar. Für Maitan gibt es „eine unleugbare Kontinuität in Gramscis Denken und Herangehensweise seit seinen Schriften in den Jahren der Russischen Revolution bis zu den Notizen von 1935, als die Notizbücher endeten.“ (5). Gemäß Harmans Sicht haben die Faschisten „ … ihn daran gehindert, das Potenzial seines Marxismus, das er in L’Ordine Nuovo und den ,Lyon-Thesen’ zeigte, voll zu verwirklichen.“ (6)

Praktisch dienen diese Resümees nur dazu, die Wahrheit von Trotzkis Sprichwort zu unterstreichen, dass es für Zentrist:innen sehr schwierig ist, Zentrismus in anderen zu erkennen. Es ist notwendig, die Dinge tiefer zu analysieren. Genau weil die gegenwärtige SWP oder das VS der IV. Internationale Sachverhalte aus einer Reihe revolutionärer Prinzipien heraus beurteilen, statt ihre eigenen (oder andere) Beiträge mit dem Maßstab des Programms zu messen, scheitern sie daran, Gramscis politische Theorie und Praxis vor dem Hintergrund von Führung und Politik der Komintern in der Periode 1919 – 26 zu bewerten.

Aus dieser Perspektive analysiert, ist es möglich zu zeigen, dass Gramsci zwar nie Reformist war, sich seine Politik dennoch in ernsthaftem Maße von Praxis und Theorie Lenins und Trotzkis unterschied, während diese in der Leitung der Komintern waren. Kurz, es kann gesehen werden, dass Gramsci in der Tat eine klassische zentristische Entwicklung durchlief, in seinem Fall vom Ultralinkstum zum Rechtszentrismus.

Gramsci 1915 – 21

In Ales auf der Insel Sardinien geboren, ging Gramsci 1911 nach Turin, um an der Universität zu studieren. Dort sollte er in Kontakt mit der mächtigen Turiner Arbeiter:innenbewegung kommen, deren Schwerkraftzentrum in den FIAT-Autobetrieben und verwandten Industrien zu finden war. 1913 trat er der Sozialistischen Partei (PSI) bei.

Immer mehr in die Arbeit der Partei eingebunden, gab Gramsci im November 1915 sein Studium auf, um sich dem Redaktionsstab der PSI-Zeitung Il Grido del Popolo (Der Schrei des Volkes) anzuschließen. Innerhalb von Monaten schrieb er für die Turiner Ausgabe der offiziellen PSI-Tageszeitung Avanti!. In diesen Jahren als aktiver Kämpfer, aber bevor die Russische Revolution von 1917 die Fundamente der europäischen Sozialdemokratie erschütterte, war Gramscis Politik beträchtlich entfernt von jener Lenins und der Bolschewiki trotz der Tatsache, dass sich für Italien und Russland sehr ähnliche strategische und taktische Aufgaben stellten. Zu der Zeit, als Gramsci ein bewusster Revolutionär wurde, 1915, waren die Bolschewiken durch die Erfahrung von einer Revolution und Gegenrevolution gegangen und  hatten in deren Verlauf ihre Positionen zur revolutionären Partei und der Agrarfrage eindeutig formuliert. Die Bedeutungen dieser Positionen entgingen den Linken in der PSI bis 1921. Um 1915 begriff Lenin die Gründe für den Zusammenbruch der Zweiten Internationale angesichts des imperialistischen Kriegs und die Notwendigkeit eines vollständigen politischen Bruchs. Gramsci und die Linke in der PSI missachteten Lenins Einstellung zu diesen Ereignissen.

Gramscis eigene politische Lehrzeit war merklich anders als Lenins gewesen. Es war nicht die klassisch „orthodoxe“ marxistische Tradition von Kautsky und der deutschen SPD oder Plechanow, die Gramscis Hintergrund bildeten, sondern eher eine besondere, italienisierte Version von Marxismus, der seinen Weg zu Gramsci durch die Arbeiten von Croce, Labriola und Gentile fand. An diese Personen wandte sich Gramsci, um nach einem Heilmittel für die Schwächen zu suchen, die er in Praxis und Theorie der Politik der Rechten in der  Zweiten Internationale und der PSI wahrnahm. Gramsci glaubte, dass die Passivität und der Fatalismus dieser Strömung mit einem ursprünglichen Mangel im historischen Materialismus von Marx und Engels zusammenhingen. Er war der Ansicht, dass Marxens Kritik der politischen Ökonomie, wie im Kapital zu finden, in der Tat mechanischer Materialismus war, der die Rolle und die Macht des subjektiven Faktors (die arbeitende Klasse) ignorierte, sich ihrer eigenen Ausbeutung bewusst zu werden und zum Umsturz eines Systems ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Bedingungen zu erheben. So sah er den Materialismus des Marxismus als ungenügend und eine Rückkehr zu Hegel als notwendig an, die Croce befürwortete, um der Theorie eine Dosis Idealismus zu injizieren und eine adäquate Einschätzung des subjektiven politischen Faktors in revolutionärer Politik zu leisten.

Lenins und Trotzkis Ansätze zu den Problemen der russischen Revolution waren im Vergleich damit sehr verschieden. Bereits 1899 argumentierte Lenin in Polemiken mit den Narodniki (Volkstümlerrichtung) gegen ihre mechanistische Auslegung von Marxens Politökonomie. Sie führte die Narodniki zur Schlussfolgerung, dass die Rückständigkeit von Russlands innerem Markt bedeutete, die Entwicklung des Kapitalismus in Russland könne vermieden werden. Schon 1905 umriss Trotzki in seiner Theorie der „permanenten Revolution“, dass der russische Kapitalismus im Kontext der ungleichen und kombinierten Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab verstanden werden musste. Im Bündnis mit dem europäischen, besonders dem französischen, Kapitalismus hatte die zaristische Autokratie die schnelle Ausbreitung des Kapitalismus in Russland beaufsichtigt. Genau deswegen bestritten Lenin wie auch Trotzki die damals vorherrschende Sichtweise des Marxismus, die darauf bestand, dass wegen dieser Entwicklung der russischen Bourgeoisie die Führung der bürgerlichen Revolution gegen den Zaren zufalle.

Sie bewiesen, dass die Schwäche einer einheimischen russischen Bourgeoisie sie dazu bringen würde, einen Block mit der Reaktion gegen die Arbeiter:innenklasse einzugehen, angesichts des gesellschaftlichen Gewichts des Proletariats und eines wirklichen Kampfes um bürgerlich-demokratische Forderungen.

Während für Gramsci die Revolution im rückständigen Italien trotz seiner gesellschaftlichen Verhältnisse durch einen Willensakt durchgeführt werden musste, würde für Lenin und Trotzki die Revolution im rückständigen Russland genau wegen der Widersprüche in der materiellen  Struktur des russischen Kapitalismus geschehen. Die Fehler in Gramscis methodologischem Begriff von Marxismus verrieten eine wirkliche Schwäche in seinem Verständnis vom historischen Materialismus. Für eine Weile wurde in den 1920er Jahren, als Gramsci zu den Positionen der revolutionären Komintern hingetrieben wurde, die Bedeutung dieser Schwächen verdeckt. Deren volle Bedeutung sollte erst vollständig in den Gefängnisnotizbüchern in seiner Diskussion über „Zivilgesellschaft“ und den „Staat“ enthüllt werden.

Gramsci und die Russische Revolution

Mit dieser Methode begrüßte Gramsci die Russische Revolution von 1917. Während er sie willkommen hieß als eine „proletarische Tat …  welche natürlich in einem sozialistischen Regime resultieren muss“ (7), betrachtete er sie als Bestätigung für seine eigene Sichtweise von Marxismus. Er sah sie als eine „Revolution gegen ,Das Kapital’“ und erblickte in der Arbeit der Bolschewiki „die Fortsetzung italienischen und deutschen idealistischen Gedankenguts, welches bei Marx von positivistischen und naturalistischen Verkrustungen verunreinigt wurde.“ (8)

Doch trotz dieses Angriffes auf den „Marxismus“ richtete er sich methodologisch in Wahrheit gegen die menschewistische Strategie, die glaubte, es existiere eine: „ … schicksalhafte Notwendigkeit für die Bildung einer Bourgeoisie in Russland, für den Beginn einer kapitalistische Ära, bevor das Proletariat an das Aufgreifen eigener Klassenforderungen, oder sogar an die Durchführung seiner eigenen Revolution denken könnte.“ (9)

In Lenin sah er die Art von Anführer:in, die das Geschichtstempo durch eine Tat organisierten Willens eher beschleunigen konnte, als jemand, der/die die sozialen Widersprüche in der russischen Gesellschaft bewusst zum Ausdruck bringen konnte.

Als sich die revolutionäre Krise in Italien in den Jahren nach der Russischen Revolution vertiefte, hatte Gramsci Gelegenheit, weiter über die Lektionen nachzudenken, die von Lenin gelernt werden konnten. Im August 1917 führten  Arbeiter:innen in Turin einen Aufstand gegen die örtliche Staatsgewalt, der von einem allgemeinen Streik in der ganzen Region Piemont unterstützt wurde. Obwohl schließlich der Aufstand um den Preis von 500 Toten und weiteren 2.000 Versehrten niedergeschlagen wurde, verweigerten sich die Turiner Arbeiter:innen ihrer Unterwerfung . Die Arbeiter:innenbewegung erhob sich wieder in einer beispiellosen Art während der Jahre 1919 – 1920. In diesen Jahren wuchs die PSI von 81.000 1919 auf 216.000 Mitglieder 1920. Der Gewerkschaftsverband unter der Leitung der PSI – die GCL – wuchs explosionsartig von 320.000 auf 2,3 Millionen zwischen 1914 und 1920.

Im April 1919 gründete Gramsci mit anderen die Zeitung L’Ordine Nuovo (Die Neue Ordnung). Sehr schnell steuerte Gramsci sie weg von einer einfachen Kost abstrakten Propagandismus‘ mit einer starken Betonung auf kulturellen Themen zu einer Zeitschrift, die die wachsende Bewegung von Fabrikausschüssen angelehnt an die Sowjets in Russland umzugestalten suchte. Im Juni schrieb er über den Arbeiter:innenstaat:

„Dieser Staat entspringt nicht durch Zauber: die Bolschewiki arbeiteten acht Monate daran, ihre Slogans zu verbreiten und zu verfeinern: alle Macht den Sowjets; die Sowjets waren den russischen Arbeiter:innenn schon 1905 bekannt. Italienische Kommunist:innen müssen die russische Erfahrung schätzen lernen und so Zeit und Mühe sparen.“ (10)

Im Oktober 1919 gliederte die PSI sich der Komintern an und im folgenden Monat bestritt sie eine allgemeine Wahl auf einem Programm, das die Gewaltherrschaft des Proletariates forderte. Sie gewann den größten Block von Sitzen im neuen Parlament – 156 Sitze von 508. Anfang 1920 schickte die PSI sich an, die Kontrolle in über der Hälfte der Stadträte zu gewinnen. Ohne Frage suchten die italienischen Arbeiter:innen den Pfad der Revolution.

Bis zum Frühling 1920 hatte sich der Kampf in den Fabriken zu einem höheren Stadium mit der Bildung der Innenausschüsse aufgeschwungen, die den Arbeiter:innen ermöglichten, ganze Bereiche der Fabrik zu kontrollieren. Den ganzen Sommer 1920 lang waren weit mehr als eine halbe Million Arbeiter:innen in die Ausschüsse und Räte eingebunden. Gramsci begriff das, was auf dem Spiel stand, genau:

„Unter den Kapitalist:innen war die Fabrik ein Miniaturstaat, regiert durch einen despotischen Stab. Heute, nach den Arbeiter:innenbesetzungen, ist diese despotische Macht in den Fabriken zerschlagen worden; das Recht zu wählen ging in die Hände der arbeitenden Klasse über. Jede Fabrik, die über Industrieexekutiven verfügt, ist ein illegaler Staat, eine proletarische Republik, die von Tag zu Tag lebt, in Erwartung des Ausgangs der Ereignisse.“ (11)

Aber dieses war der Kern der Sache: Wie den „Ausgang der Ereignisse“ lenken? Wie Doppelmacht in den Fabriken in eine Kampfansage gegen die nationale Staatsmacht verwandeln? Hier wurden Gramscis Schwächen in der Parteifrage grausam freigelegt.

Bestimmt war die maximalistische Führung um Serrati schuld an der Ablehnung, die Verantwortung für die Organisierung der arbeitenden Klasse durch die Partei auf sich zu nehmen, um sich auf die Eroberung der Staatsmacht vorzubereiten. Aber Gramsci hatte immer versäumt, sich um eine revolutionäre kommunistische Partei zu bemühen. Sogar nach dem Anschluss an die Komintern widerstrebte es Gramsci, den reformistischen Turati-Flügel bis zum Bruchpunkt von Ausschlüssen zu bekämpfen. Er teilte sogar nicht Bordigas Einsicht ins Erfordernis, sich zu organisieren, um für seine fraktionellen Ansichten im nationalen Maßstab innerhalb der PSI zu streiten.

Es ist dann eine bemerkenswerte Tatsache, dass Harman in seinem Pamphlet über die Schwächen Gramscis und der Partei hinweggleitet und in Bezug auf die Rolle marxistischen Eingreifens im Klassenkampf sagt:

„Seine eigene Aktivität 1919 – 20 und 1924 – 26 war ein leuchtendes (obwohl natürlich nicht perfektes) Beispiel für eine solche Intervention.“ (12)

Lenin und Trotzki waren bezüglich des Versagens aller Teile der PSI viel härter. Trotzki sagte über die PSI: „Die Partei betrieb Agitation für die Sowjets, für Hammer und Sichel, für Sowjetrussland usw. Die italienische Arbeiter:innenklasse nahm dies massenhaft ernst und betrat die Straße offenen revolutionären Kampfes. Aber genau im Moment, als die Partei zu allen praktischen und politischen Schlüssen aus ihrer eigenen Agitation gekommen sein sollte, erschrak sie vor ihrer Verantwortung und lief feige weg, ließ dabei die rückwärtigen Reihen des Proletariates ungeschützt.“ (13)

Lenin war ebenso barsch: „Zeigte ein/e einzelne/r Kommunist:in, was in ihm/r steckt, als die Arbeiter:innen die Fabriken in Italien eroberten? Nein. Damals gab es als noch keinen Kommunismus in Italien.“ (14)

In der Tat urteilte Gramsci rückblickend auf sich viel härter, als Harman dies tun will. 1924 schrieb er:

„1919/20 machten wir äußerst schwere Fehler, für die wir schließlich heute zahlen. Aus Angst,  Emporkömmlinge und Karrierist;innen gerufen zu werden, bildeten wir keine Fraktion und organisierten diese überall in Italien nicht. Wir waren nicht bereit, den Turiner Räten ein autonomes Direktivzentrum zu geben, das einen riesigen Einfluss überall im Land ausgeübt haben könnte, aus Angst vor einer Spaltung in den Gewerkschaften und, vorzeitig aus der Sozialistischen Partei ausgestoßen zu werden.“ (15)

Diese  Qualität von Selbstkritik – unbedeutend, wie eng persönlich mit den Ereignissen verbunden und als wie kostspielig sich die Fehler erwiesen –, eine Güte, die allen großen Revolutionär:innen zukommt, befähigte Gramsci, sich zur Komintern zu wenden.

Die Gründung der KPI

Der Misserfolg der PSI in der revolutionären Situation in Italien 1920 zwang wenigstens die Linke in der Partei, schließlich mit der reformistischen Führung zu brechen. Die Kommunistische Partei Italiens (KPI) wurde dann im Januar 1921 in Livorno gebildet. Sie wurde in einer Periode der Ebbe im internationalen Klassenkampf geschaffen, in Italiens Fall einer Periode erstarkender Reaktion und des Wachstums des Faschismus.

Auf ihrer Gründungskonferenz hatte die KPI zwischen 40.000 und 60.000 Mitglieder. Zur Zeit von Mussolinis Marsch auf Rom (ein faschistischer Putsch) im Oktober 1922 war die Partei auf 25.000 geschrumpft. Unter der Auswirkung der ersten Runde von Unterdrückung, die folgte, sank die Mitgliedschaft auf ungefähr 5.000 Anfang 1923.

In diesen schwierigen Jahren befand sich die Führung der KPI in Konflikt mit der der Komintern, als sie versuchte, ihre Perspektiven für die frühen 1920er Jahre zu entwickeln. Zur Zeit der Formation der KPI hatte es schon zwei Kominternkongresse gegeben (1919, 1920). Die Perspektiven und die Taktiken, die auf diesen umrissen wurden, waren entworfen worden, um vollen Vorteil aus der Krise des Bürgertums in Europa und der Schwäche der Sozialdemokratie zu ziehen. Es war eine Zeit entschiedener Brüche mit dem Reformismus und der Entstehung kommunistischer Parteien, die sich auf die Machtergreifung vorbereiteten.

Um die Zeit des Gründungskongresses der KPI und Dritten Kongresses der Komintern im Juni/Juli 1921 veränderte sich die Situation. Gelegenheiten waren versäumt worden, die Bourgeoisie hatte das Schlimmste ertragen und überlebte. Sie gewann Zuversicht und ging zurück in die Offensive. Die Sozialdemokratie war trotz ihrer verräterischen Hilfe für die herrschende Klasse gestärkt worden. Eine Neueinschätzung von Perspektiven und Taktiken war wesentlich.

Diese Neubeurteilung erfolgte am klarsten um die Frage der Einheitsfronttaktik herum. Diese Taktik, von den Bolschewiki in den Jahren angewandt, die bis zur Revolution führten, wurde auf den Dritten und Vierten Kongressen der Komintern 1921 und 1922 in ein System gebracht und verallgemeinert. Eher mit Reformismus als Kommunismus in einflussreicherer Position war es wesentlich, die arbeitende Klasse von reformistischen und zentristischen Organisationen zu brechen.

Die Resolution zur Taktik auf dem Vierten Kongress stellte fest:

„Die systematisch organisierte internationale kapitalistische Offensive gegen alle Gewinne der arbeitenden Klasse ist über die Welt wie ein Wirbelwind gefegt … zwingt die arbeitende Klasse, sich zu verteidigen.

Es gibt infolgedessen ein offensichtliches Bedürfnis für die Einheitsfronttaktik. Die Losung des Dritten Kongresses – heran an die Massen! – ist jetzt relevanter denn je … Die Anwendung der Einheitsfronttaktik bedeutet, dass die kommunistische Vorhut an der vorderen Front des Tageskampfs der breiten Massen für ihre lebenswichtigsten Interessen steht. Um der Sache dieses Kampfes willen sind Kommunist:innen sogar bereit, mit den Streikbrecherfunktionär:innen der Sozialdemokratie zu verhandeln.“ (16)

Natürlich war eine erbarmungslose Kritik an den Mängeln und dem Verrat der Spitzen von reformistischen Parteien und Gewerkschaften zwingend notwendig, wenn diese gemeinsame Handlung zur Verstärkung der kommunistischen Partei führen sollte.

Die PSI lehnte diese Einstellung ab. Überdies gab es 1921 kaum einen wägbaren Unterschied zwischen der politischen Perspektive von Gramsci und der ultralinken Führung, die um Amadeo Bordiga gruppiert war. Beide widersetzten sich Versuchen, die Linie der Dritten und Vierten Kominternkongresse vollständig auszuführen, und wurden stattdessen zu den ultralinken Positionen Bucharins hingezogen, der in Trotzkis Worten:

„ … gegen die Politik der Einheitsfront und der Übergangsforderungen stritt und mit seinem mechanischen Verständnis von der Dauerhaftigkeit des revolutionären Prozesses fortfuhr.“ (17)

Im Dezember 1921 erstellte der Leitende Ausschuss der Kommunistischen Internationale (EKKI) ein Dokument, das seine Einheitsfrontpolitik gegenüber den sozialistischen Parteien und den Gewerkschaften umriss. Im Januar 1922 veröffentlichte die Komintern einen Aufruf an die internationale Arbeiter:innenschaft, der darauf aufbaute. Ein Monat später fand eine Versammlung des erweiterten EKKI mit anwesenden Vertreter:innen der KPI statt, um die Frage der Einheitsfront zu diskutieren, bei der die KPI-Delegierten mit ihrer Meinung in einer Minderheit waren.

Zur gleichen Zeit wie diese Ereignisse entwarfen die KPI-Führer:innen einschließlich Gramsci Thesen für den bevorstehenden Kongress der KPI in Rom. Sie wurden im Januar 1922 veröffentlicht und enthüllten, wie weit sich eigentlich die KPI von der Denkweise der Komintern entfernt befand.

Einerseits akzeptierten die „Thesen von Rom“, es gebe keinen Widerspruch zwischen:

„ … Teilnahme an den Kämpfen für eingeschränkte und begrenzte Ziele und der Vorbereitung des letztendlichen und allgemeinen revolutionären Kampfes.“ (18)

Zu diesem Zweck stimmte die KPI auch zu:

„ … am Organisationsleben in allen Formen von wirtschaftlicher Organisation des Proletariats, die offen für Arbeiter:innen aller politischen Überzeugungsrichtungen sind … (teilzunehmen), … was bedeutet, sich in die intensivsten Kampfhandlungen zu begeben und den Arbeiter:innen zu helfen, die nützlichsten Erfahrungen daraus herzuleiten.“ (19)

Aber die KPI lehnte es ab, Abmachungen für gemeinsames Handeln zwischen verschiedenen politischen Parteien trotz der Tatsache ins Auge zu fassen, dass die Mehrheit der Arbeiter:innenvorhut in Italien weiterhin der PSI die Treue hielt, wohingegen die KPI eher:

„die Forderungen (unterstützen würde), die von den linken Parteien vorgeschlagen werden … von solcher Art, die geeignet sind, ans Proletariat zu appellieren, direkt zu mobilisieren, sie auszuführen …  die kommunistische Partei wird sie als Ziele für eine Koalition aus Gewerkschaftsorganen vorschlagen und vermeiden, Ausschüsse zu bilden, um den Kampf und die Agitation zu lenken, in denen die kommunistische Partei neben anderen politischen Parteien vertreten und tätig wäre.“ (20)

Sie glaubte, nur so bliebe die KPI: „ … frei  von irgendeinem Anteil an Verantwortung für die Aktivität der Parteien, die mündlich Unterstützung für die Sache des Proletariates durch Opportunismus und mit gegenrevolutionären Absichten ausdrücken.“ (21)

Dieser Unterschied zwischen Gewerkschaft und politischen Blockgebilden war ein künstlicher, geht man von einem korrekten Verständnis der Einheitsfront aus. Ein solcher Ansatz geht davon aus, sich für beschränkte politische oder wirtschaftliche Forderungen abzumühen, wenn es breite Schichten in einem Kampf um diese Forderungen mobilisieren kann und ihre Durchsetzung ein begrenzter Gewinn für die Arbeiter:innenklasse wäre und außerdem ihre politische Unabhängigkeit und Organisation stärken und das Proletariat weiter so auf den Revolutionspfad bringen würde. Die Kommunist:innen übernehmen keine Verantwortung für den Misserfolg der Sozialist:innen weder in der wirtschaftlichen noch der politischen Sphäre.

Die Gefahr des KPI-Ansatzes ist, dass er Opportunismus in Verbindung zur gewerkschaftlichen Einheitsfront in sich birgt, nur um von einem starren Sektierertum auf politischem Gebiet aus Furcht vor den Folgen solchen Opportunismus’ für die kommunistische Partei, also mit einem anderen Fehler begleitet zu werden. Zum Beispiel gaben die römischen Thesen an:

„Kommunist:innen, die an Kämpfen in proletarischen wirtschaftlichen Körperschaften teilnehmen, die von Sozialist:innen, Syndikalist:innen oder Anarchist:innen geführt sind, werden sich nicht weigern, ihren Handlungen zu folgen, außer wenn die Massen als Ganzes in einer spontanen Bewegung dagegen rebellieren sollten.“ (22)

Es ist diese Einstellung zur Spontaneität, eingemauert in den Grundsteinen von Gramscis Politik, die das Ultralinkstum der KPI anstiftete. Jahre später gab Gramsci zu, dass solche Positionen ‚m Grunde durch Croces Philosophie inspiriert‘ wurden (23). Spontane wirtschaftliche oder Gewerkschaftskämpfe sind an und für sich gut und ihnen kann unkritisch gefolgt werden. Politische Kämpfe außer unter der Führung der KPI sind es nicht. Aber „bittere Polemiken“ und Prophezeiungen vom Verrat werden die Massen schließlich dahin führen, mit der PSI zu brechen. Das war die KPI-Methode.

Die doppelten Gefahren von Opportunismus und Sektierertum kommen eindeutig in einer Passage der Thesen durch, die die Methode der Einheitsfront ganz falsch auf die Reihe bringt:

„Sie [die KPI] kann keine Taktik mit einem gelegentlichen und vorübergehenden Kriterium vorschlagen und  damit rechnen, dass sie anschließend dazu in der Lage sein wird, im Moment, wenn so eine Taktik nicht mehr anwendbar ist, eine abrupte Kehrtwende und einen Frontwechsel auszuführen, indem sie ihre Verbündeten von gestern zu Feind:innen stempelt. Wenn man nicht wünscht, seine Verknüpfung mit den Massen und ihre Verstärkung genau in dem Moment zu kompromittieren, wenn es gerade darauf ankommt, dass diese in den Vordergrund treten, wird es notwendig sein, in öffentlichen und offiziellen Erklärungen und Haltungen eine Kontinuität von Methode und Absicht, die mit der ununterbrochenen Propaganda und der Vorbereitung für den letzten Kampf genau übereinstimmt, zu verfolgen.“ (24)

Für Lenin und Trotzki stellt das Abschließen prinzipienfester Übereinkünfte und deren Bruch, wenn die „Verbündeten“ – wegen deren Unentschlossenheit oder Verrats während der Umsetzung dieser Abmachungen – sich in „Feind:innen“ verwandeln, gerade eine „Kontinuität“ in der Methode dar, die den Weg zum „Endkampf“ vorbereitet.

Gramsci stand zu dieser KPI-Position während 1922 und des Vierten Weltkongresses und setzte seinen Block mit den Bordigist:innen auf dem Junitreffen der Erweiterten Exekutive der Komintern-Führung 1923 fort. Diese Versammlung, bei der Trotzki und Sinowjew den Vorsitz einer vereinten Exekutivdelegation führten, sah die KPI-Mehrheit (einschließlich Gramsci) und die Minderheit um Tasca ihre Unterschiede ausdebattieren. Trotzki unterstützte Tascas Minderheitsbericht, der die Bilanz der KP- Führung kritisierte.

Dieser Bericht umriss, wie die KPI den Beschluss des Vierten Kongresses, die Verschmelzung zwischen der KPI und der PSI anzustreben, durch Aufzwingen von Ultimaten blockiert hatte. Während die KPI die Öffentlichkeitsarbeit für den Fusionsaufruf gering hielt, veröffentlichte sie  einen Leitartikel, der die PSI als ,Leiche’ charakterisierte, was natürlich Vereinigungsgegner:innen in der PSI in die Hände spielte. Diese konnten den „Patriotismus“ von Arbeiter:innen ausnutzen, die eine Anhänglichkeit an ihre Partei spüren (25). Die KPI zeigte gerade, wie wenig sie die Einheitsfronttaktik Lenins und Trotzkis angenommen hatte, als sie im Mai 1923  weiter in Il Lavoratore (Der Arbeiter) schrieb:

„Wir betrachten die Taktik der Blöcke und Einheitsfront als ein Mittel, den Kampf gegen jene auf einem neuen Niveau zu verfolgen, die das Proletariat verraten … Darum haben wir sie vorgeschlagen.“ (26)

Wie Tasca und die Kominternführung über Gramsci und die KPI-Mehrheit die Schlüsse zogen:

„Die Vorstellung, die diese Genoss:innen von der Partei und ihren Verbindungen mit den Massen haben, ist vollkommen geeignet, die ,Sekten’mentalität beizubehalten, einen der ernstesten Mängel unserer Organisation.“ (27)

Gramscis Einwände

Über seine falsche Einstellung zur Spontaneität hinaus gab es andere Gründe hinter Gramscis Opposition gegen die Politik der Komintern. Auf konjunkturell-taktischer Ebene widersetzte er sich ihr, weil er fühlte, die rechte Minderheit in der KPI um Tasca, die die Kominternthesen unterstützte, würde gestärkt. Sie stellte für ihn eine liquidatorische Tendenz in der KPI dar, die nicht völlig mit der PSI-Politik gebrochen hatte und sich der notwendigen Neuorientierung auf illegale Arbeit unter den Bedingungen faschistischer Unterdrückung widersetzte. Im Juni 1923 sagte er, dass:

„Die Einstellung der Komintern und die Aktivität ihrer Vertreter:innen bringen Uneinigkeit und Korruption in die kommunistischen Reihen. Wir sind fest entschlossen, gegen die Elemente anzugehen, die unsere Partei liquidieren würden.“ (28)

Gramsci glaubte, Blockbildungen mit den Befürworter:innen der Wahlenthaltung um Bordiga trotz der Unterschiede zu ihnen seien nötig, um den verspäteten Bruch mit Reformismus und Zentrismus in der Periode 1921/22 zu vervollkommnen. Eine gewisse Bestätigung dessen findet sich in einem Brief, den er im Februar 1924 an die KPI-Chef:innen innerhalb Italiens schrieb. Er argumentierte, dass er die „Rom-Thesen“ der KPI über Taktiken guthieß:

„ … nur aus beschränkten Motiven von Parteiorganisation und sprach mich zugunsten einer Einheitsfront geradewegs bis zu ihrer normalen Konsequenz in einer Arbeiter:innenregierung aus.“ (29)

In der Tat existiert keine Aufzeichnung so einer ablehnenden Position zu dieser Zeit. Dieser Brief wurde geschrieben, nachdem Gramsci seine Position zu den Beschlüssen des Vierten Kominternkongresses verändert und sich entschieden hatte, mit Bordiga zu brechen. Wenn wahr, wäre eine prinzipienlose Position bezogen worden und eine, die nur dazu diente, die Kristallisation einer wirklich bolschewistischen KPI weiterhin unglückselig aufzuschieben.

Aber es gibt einen weit tieferen Grund für Gramscis unversöhnliche Einstellung zur Politik von Lenin und Trotzki in diesen Jahren. Sie beruhte auf einer Vorstellung unterschiedlicher Strategien für „Ost“ und „West“ in Europa. Nur wenn wir diese Vorstellung Gramscis verstehen, können wir begreifen, wie und warum er seine Einstellung zu den Beschlüssen des Vierten Kongresses ändern sollte, ohne zur gleichen Zeit seine falsche politische Methodik zu korrigieren.

Die Idee von „Ost“ und „West“ war weniger eine Frage der Geographie und mehr eine Sache politischer Ökonomie. Für Gramsci bestand der „Osten“ aus der „rückständigen“ kapitalistischen Welt, wohingegen der „Westen“ die fortgeschrittene Welt Westeuropas war. Diese Trennungslinie war für Gramscis Opposition zur Komintern wesentlich. Er schrieb:

„In Deutschland stützt sich die Bewegung, die zur Einsetzung einer sozialdemokratischen Regierung tendiert, auf die Massen der Arbeiter:innenklasse; aber die Taktik der Einheitsfront hat keinen Wert außer für Industrieländer, wo die rückständigen Arbeiter:innen hoffen können, eine Verteidigungsanstrengung durch das Erobern einer parlamentarischen Mehrheit fortsetzen zu können. Hier [in Italien] ist die Situation anders … Wenn wir die Parole einer Arbeiter:innenregierung aufstellten und umzusetzen versuchten, würden wir zur sozialistischen Zweideutigkeit zurückkommen, als die Partei zu Inaktivität verdammt wurde, weil sie sich nicht entscheiden konnte, einzig und allein eine Partei von Arbeiter:innen zu sein oder einzig und allein eine Partei von Bauern/Bäuerinnen … Die Gewerkschaftsfront hat dazu im Gegensatz ein Ziel, das von primärer Wichtigkeit für den politischen Kampf in Italien ist …

Wenn man von einer politischen Einheitsfront spricht und daher von einer Arbeiter:innenregierung, muss man darunter eine ,Einheitsfront’ zwischen Parteien verstehen, deren gesellschaftliche Basis nur aus Industrie- und Landarbeiter:innen besteht, und nicht aus Bauern/Bäuerinnen … 

In Italien existieren nicht wie in Deutschland ausschließlich Arbeiter:innenparteien, zwischen denen eine politische Einheitsfront auch denkbar ist. In Italien ist die einzige Partei mit solchem Charakter die kommunistische Partei.“ (30)

Nachdem er mit Bordiga gebrochen hatte, beschrieb Gramsci Bordigas Ablehnung solcher Taktiken und begründete dies so:

„Weil die Arbeiter:innenklasse in der italienischen arbeitenden Bevölkerung in einer Minderheit ist, gibt es eine dauernde Gefahr, dass ihre Partei vom Eindringen anderer Klassen verdorben wird, insbesondere vom Kleinbürgertum.“ (31)

An erster Stelle war diese Sicht gründlich uneins mit dem Konzept eines internationalen Programms, Perspektiven und Taktiken. Die Einheitsfront ist eine Taktik, konzipiert, um die Einheit der arbeitenden Klasse in einem Ringen gegen die Bosse und ihren Staat zu maximieren. Aber die Arbeiter:innenklasse findet sich mit diesen Aufgaben weltweit konfrontiert, wo immer sie existiert. Der internationale Charakter dieser Schlachten bedeutet, dass die Taktik nicht entweder auf „Ost“ oder „West“ begrenzt werden kann.

In der Tat, in jenen Ländern, wo die Bauern-/Bäuerinnenschaft eine große Klasse ist und der Imperialismus die Probleme von Landhunger vervielfacht hat – so wie in Italien –, findet die „politische“ Einheitsfront häufiger Anwendung. Dies ist so, weil sie als kleinbürgerliche Schicht Parteien außerhalb der kommunistischen oder sozialistischen Parteien hervorbringt, mit denen es im Anrennen gegen das vereinigte Lager aus Industriekapital und Großgrundbesitz möglich ist, Blöcke einzugehen. Das war der Fall in Italien.

Eine solche Möglichkeit lag dem Block der Bolschewiki mit den Linken Sozialrevolutionären nach Oktober 1917 zugrunde. Die Tatsache, dass in Italien PSI und KPI weniger gut in der Bauern-/Bäuerinnenschaft Süditaliens verankert waren, als sie hätten sein sollen, hat nur geheißen, dass die Taktik der Einheitsfront mehr und nicht weniger dringlich war.

Eine Positionsänderung?

Im Verlaufe von 1923/24 hatte die Kominternführung einen gewissen Erfolg damit, einen Keil zwischen Gramsci und Bordiga zu treiben. Obwohl sie einen Block innerhalb der KPI bildeten, war deren Politik nie gleich. Die Unterschiede in ihrer Haltung zu den Fabrikräten 1920 waren symptomatisch. Die Politik von Passivität und Enthaltung war Kennzeichen Bordigas. Worin auch immer sein Ultralinkstum bestand, dies war Gramsci total fremd, der die Notwendigkeit sah, über passiven Propagandismus hinauszugehen, der wesentliche Wahrheiten bloß feststellte und auf den für ihn unvermeidlichen Prozess an Enttäuschung unter den Arbeiter:innen zum Nutzen der KPI wartete. Nach dem Vierten Weltkongress 1922 wurde Bordiga immer kompromissloser und nach innen orientiert. Bordigas Fraktion lehnte es ab, in den leitenden Ausschüssen der KPI wegen ihrer Divergenzen mit der Komintern zu arbeiten. Gramsci spürte, dass dies dazu führen musste, die KPI in die Hände der Minderheit um Tasca auszuliefern, der, wie Gramsci merkte, Opportunist gegenüber den Gewerkschaftsbonzen war.

Ereignisse in Italien überzeugten auch Gramsci, dass Passivität die KPI daran hinderte, in der Krise des faschistischen Regimes einzuschreiten. Im Frühling 1923 brachen wichtige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Volkspartei aus, die bisher Mussolinis Herrschaft fest unterstützt hatte. Bedeutende Unzufriedenheit mit dieser Unterstützung begann sich sowohl in der Volkspartei (welche eine große Bauern./Bäuerinnengefolgschaft aufwies) wie zunehmend innerhalb der städtischen republikanischen Kleinbourgeoisie im Verlaufe von 1923 und 1924 zu regen. Die KPI brauchte Taktiken, zugeschnitten auf diese Unzufriedenheit und so angelegt, dass sie die republikanische Bourgeoisie und Sozialdemokratie daran hindern würden, die Nutznießerinnen der Krise zu sein.

Also kam Gramsci gegen Ende 1923 zur Auffassung, dass es unmöglich sei, irgendwelche Zugeständnisse an Bordiga zu machen. Ein vollständiger Bruch mit ihm und die Schaffung einer neuen Führung des „Zentrums“ war wesentlich, wenn die Partei sich der Massenarbeit widmen und den antifaschistischen Widerstand lenken wollte.

Zusammen genommen trieben diese Überlegungen Gramsci hin zur Komintern. Im September 1923 gab er seinen Widerstand gegen die „politische“ Einheitsfront in Italien auf und drängte die KPI, den Aufruf für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung in Italien anzunehmen. Für all diese Absichten und  Zwecke hatte Gramsci sich mit den Positionen von Lenin und Trotzki versöhnt. Im Januar 1924 schrieb er: „Ich glaube absolut nicht, dass die Taktiken, die vom erweiterten EKKI-Plenum und dem Vierten Kongress entwickelt worden sind, sich irren.“ (32)

Er betonte in diesem Brief an Scoccimarro, eine Auseinandersetzung für die Umorientierung der KPI anfachen zu wollen. Dabei würde er: „ … Doktrin und Taktiken der Komintern als Basis für ein Aktionsprogramm für zukünftige Aktivitäten annehmen.“ (33)

Gramsci artikulierte seinen Positionswechsel in einer Art, die mit den Argumenten Lenins und Trotzkis identisch war. In einem Brief an Togliatti, im Februar 1924 aus Wien geschrieben, äußerte er, dass er Bordiga nicht mehr zur Einheitsfront beipflichten könne:

„Erstens, weil das politische Konzept der russischen Kommunist:innen auf internationalem und nicht einem nationalen Terrain geformt wurde. Zweitens, weil in Mittel- und Westeuropa die Entwicklung des Kapitalismus nicht nur die Bildung breiter proletarischer Schichten geprägt hat, sondern auch – und als eine Konsequenz – die höheren Schichten, die Arbeiter:innenaristokratie, mit ihren Anhängseln in der Gewerkschaftsbürokratie und den sozialdemokratischen Gruppen. Die Entschlossenheit, die in Russland greifbar war und die Massen auf die Straßen zu einem revolutionären Aufstand trieb, wird in Mittel- und Westeuropa von allen diese politischen Überbauten kompliziert, die durch die weitere Entwicklung des Kapitalismus erzeugt wurden. Dies macht die Handlung der Massen langsamer und umsichtiger und erfordert deshalb von der revolutionären Partei eine Strategie und komplexere und längerfristige Taktiken als diejenigen, die in der Periode zwischen März und November 1917 für die Bolschewisten notwendig waren.“ (34)

Dies war ein echter Schritt vorwärts für Gramsci und ein wichtiger Bruch mit der Methodik und theoretischen Rechtfertigung für seine vorausgegangene Position.

Vorher hatte Gramsci analysiert, dass Italien Teil des „Ostens“ war, in dem die Einheitsfront ungültig sei. Nun jedoch übergibt er Italien nicht einfach nur dem „Westen“, sondern vielmehr und viel wichtiger stellt er fest, dass die Taktik internationale Relevanz hat. Die Möglichkeit, ultralinke Züge im „Osten“ und Opportunismus im „Westen“ zu vermeiden, hat zumindest eine Änderung der Analyse zur Vorbedingung.

Aber die praktischen Folgen dieser Änderung für die KPI 1924 waren weniger klar zu sehen. Im Januar 1924 schlug die KPI den anderen Arbeiter:innenparteien einen Wahlblock für die Wahlen im April 1924 vor. Aber die Bedingungen dieses Paktes wurden so frisiert, um auf Ablehnung zu stoßen. Togliatti – der die Partei in Italien in Gramscis Abwesenheit leitete – schrieb an die Kominternexekutive über den Grundstock für die Propaganda dieses Paktes:

„Der Faschismus hatte eine Periode der permanenten Revolution für das Proletariat eröffnet, und eine proletarische Partei, die diesen Punkt vergisst und hilft, die Illusion unter den Arbeiter:innen zu nähren, es sei möglich, die gegenwärtige Situation zu verändern, während man auf dem Gebiet der liberalen und verfassungsmäßigen Opposition verbleibt, wird in letzter Analyse den Feind:innen der italienischen Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft Unterstützung geben.“ (35)

Als praktizierende Reformist:innen und Verfassungsanhänger:innen wurden die Mitglieder der PSI aufgefordert, ihre Daseinsberechtigung aufzugeben, um Teil des Blocks zu sein. Das konnte natürlich kaum von ihnen erwartet werden.

Gerade als er mit dem Ultimatismus Bordigas brach, (Ablehnung der Einheitsfront aus Prinzip) traten Ereignisse in der Kominternführung ein, die es verhinderten, dass Gramsci  seinen Weg zu den Positionen von Lenin und Trotzki vollendete. Darin liegt Gramscis Tragik.

Der Aufstieg des Stalinismus

Veränderungen innerhalb der Komintern am Ende von 1923 und ihre Rückwirkungen in der russischen Partei sollten Gramscis positive Entwicklung beschneiden. Es war die Niederlage der deutschen Revolution im Oktober 1923, welche dem Stalinismus Auftrieb verlieh. Trotzki war der Meinung, dass mit dieser Niederlage der Kapitalismus für sich eine Periode verhältnismäßiger wirtschaftlicher und politischer Stabilisierung gesichert hatte. Diese unvorteilhafte Verschiebung im internationalen Gleichgewicht von Klassenkräften forderte von der Komintern und ihren Sektionen die Erkenntnis, dass beträchtliche vorbereitende Arbeit gebraucht wurde, um die Massen wieder zu gewinnen. Er legte deshalb die Betonung fest auf die Einheitsfronttaktik.

Andererseits weigerten sich Sinowjew und Stalin zuzugeben, dass die revolutionäre Bewegung eine schwere Niederlage erlitten hatte. Im Gegenteil bestanden sie darauf, dass die Komintern besonders in Deutschland mit einer nahe bevorstehenden revolutionären Situation konfrontiert war.

Im Juni 1924 verlieh der Fünfte Kominternkongress dieser ultralinken Sicht Rückhalt. Im gleichen Monat nahm Stalin die Feder in die Hand, um Trotzkis Auffassung zu bestreiten, die bürgerliche Stabilisierung zeige sich auch in einer Stärkung der Sozialdemokratie in Europa. Stalin lehnte dieses ab und behauptete, die Sozialdemokratie sei eine Form des Faschismus:

„Es wäre deshalb ein Fehler zu denken, dass ,Pazifismus’ die Auslöschung des Faschismus bedeutet. In der gegenwärtigen Situation ist der ,Pazifismus’ die Kräftigung des Faschismus durch seinen gemäßigten, sozialdemokratischen Flügel, der in den Vordergrund geschoben wird.“ (36)

„Und da Faschismus und Sozialdemokratie einander nicht verneinen, sondern ergänzen, sind sie keine Gegenpole, sie sind Zwillinge“. (37) Eine Einheitsfront mit den Spitzen solcher Parteien kam deshalb nicht in Frage. Sie schlossen die Anwendung der Einheitsfronttaktik außer „von unten“ aus, ohne die Häupter der reformistischen und zentristischen Gewerkschaften und politischen Parteien. Der Fünfte Kongress erklärte:

„Die Taktiken der Einheitsfront von unten sind die wichtigsten, das bedeutet: eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die für Kommunist:innen, sozialdemokratische und parteilose Arbeiter:innen in Fabrik, Betriebsrat, Gewerkschaft gilt.“ (38)

In Kürze war es wenig mehr als ein an die Arbeiter:innenmitgliedschaft in diesen Organisationen gestelltes Ultimatum, ihre Parteien bedingungslos zu verlassen. Weil diese Arbeiter:innen an ihre Vorstände glaubten, konnte es von ihnen nur als ein Trick betrachtet werden. Dieses Einheitsfrontdiktat konnte in der Tat nur helfen, die Sozialdemokratie zu stärken, statt sie zu schwächen.

Gerade als Gramsci die unbestrittene Führung der KPI erlangt hatte und sich in Richtung der Positionen des Vierten Kominternkongresses bewegte, machte sich die Komintern praktisch auf, Gramscis eigenes Ultralinkstum einzuholen. Während des Herbstes 1924 – Gramsci war zurück in Italien – startete die KPI eine Kampagne für Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenausschüsse und den Bauern-/Bäuerinnenverteidigungsverband, den die KPI organisierte. Er wurde dem sozialistisch gesteuerten Bauern-/Bäuerinnengewerkschaftsverband entgegengesetzt.

Außerdem stellte die KPI während 1924 und 1925 Agitationskomitees Proletarischer Einheit auf, unter ihrer Führung, aber in offenem Konflikt mit den Gewerkschaften des Allgemeinen Arbeiter:innenverbands (CGL). Während Gramsci die Anwendbarkeit der Einheitsfront für Italien befürwortete, wurde sie in der Form des Fünften Kominternkongresses ausgeführt. Zwar bewegte er sich im Prinzip weg von Bordigas Ablehnung der Einheitsfront, steuerte aber zugleich auf einen Standpunkt der Einheitsfront von unten zu.

In der Tat sind die Beschlüsse des Fünften Kongresses zu Taktiken und Perspektiven für ein Verständnis von Gramscis Werdegang von 1924 bis zu den Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern entscheidend. Während Ultralinkstum seit der deutschen Niederlage Einfluss erlangt hatte, wurden die Perspektiven vor dem Kongress abgemildert, nicht zuletzt wenigstens, weil Trotzki gegen sie stritt. In Teil 13 der „Thesen zur Taktik“ mit der Überschrift  „Zwei Perspektiven“ umriss Sinowjew alternative Entwicklungsmöglichkeiten:

„Die Epoche internationaler Revolution hat begonnen. Der Entwicklungsgrad als Ganzes oder teilweise, die Entwicklungsrate revolutionärer Ereignisse auf irgendeinem besonderen Kontinent oder in irgendeinem besonderen Land können nicht mit Genauigkeit vorausgesagt werden. Die ganze Situation ist so, dass zwei Perspektiven offenstehen: (a) eine mögliche langsame und anhaltende Entwicklung der proletarischen Revolution und (b) andererseits, dass der Boden unterm Kapitalismus in so einem Ausmaß vermint ist und sich die Widersprüche im Kapitalismus als ein Ganzes so schnell entwickelt haben, dass die Lösung in einem Land oder einem weiteren vielleicht in nicht so entfernter Zukunft kommt.“ (39)

Dies war eine sehr vage und flexible Perspektive. Auf der einen Seite gab sie dem damals machtvollen Ultralinkstum Raum und doch konnte sie auch dazu herhalten, wenn notwendig, eine rechtsopportunistische Wende zu rechtfertigen. Natürlich kehrte sich Mitte 1925 die Politik um. Auf dem Sechsten Plenum des EKKI Anfang 1926 nutzte Sinowjew den Beschluss des Fünften Kongresses, sie zu verteidigen.

Die rechtszentristische Kehrtwende von 1925 gründete auf einer verspäteten Anerkennung, dass Stabilität in Europa eingetreten war. Angesichts dessen und des stalinistischen Konzepts, der Sozialismus könne in der Sowjetunion aufgebaut werden, falls Eingriffe von außerhalb verhindert werden konnten, fing die Kominternleitung die Suche nach Bündnissen in den europäischen Ländern an, die helfen könnten, solche Übergriffe zu verhindern. In Britannien wurde das Anglo-Russische Komitee 1925 zwischen den russischen und britischen Gewerkschaften mit diesem Hintergedanken etabliert.

Wie wirkte sich dieser Rechtsschwenk auf Gramscis Verständnis der Einheitsfront aus? Auf einer Ebene vermochte Gramsci das Problem von Strategie und Taktiken auf formell korrekte Art zu formulieren. So warf Gramsci das Problem in den „Lyon-Thesen“ für den Dritten KPI-Kongress im Januar 1926 auf folgende Weise auf:

„Die Taktik der Einheitsfront, als politische Aktivität (Manöver) gestaltet, um sogenannte proletarische und revolutionäre Parteien und Gruppen zu demaskieren, die eine Massenbasis haben, hängt eng mit dem Problem zusammen, wie die kommunistische Partei die Massen führen und wie sie eine Mehrheit gewinnen sollte. In der Form, in der sie von den Weltkongressen definiert worden ist, ist sie in allen Fällen anwendbar, in denen wegen der Massenunterstützung für gegnerischen Gruppen eine frontale Auseinandersetzung mit ihnen nicht genügt, uns schnelle und weitreichende Ergebnisse zu liefern … In Italien muss die Einheitsfronttaktik weiterhin von der Partei insoweit gebraucht werden, als sie noch weit weg davon ist, einen entscheidenden Einfluss auf die Mehrheit der Lohnarbeiter:innenschaft und die werktätige Bevölkerung gewonnen zu haben.“ (40)

In einer Beziehung ist diese Stellungnahme korrekt und eine Wiederholung der Erklärung von Anfang 1924. Aber zusammen mit anderen Schriften Gramscis 1926 betrachtet kann man den Einfluss des rechtszentristischen Kurses in der Komintern entdecken, den wir verstärkt in den Gefängnisnotizbüchern vorfinden. In einem Bericht an die Parteiexekutive vom August 1926 zur italienischen Situation zeichnete Gramsci einmal wieder einen Unterschied zwischen „fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern“ (England und Deutschland) und „peripheren Staaten“ wie Italien. In der ersten Gruppe „besitzt die herrschende Klasse politische und organisatorische Reserven“. Das bedeutet, dass ¡sogar die schlimmsten Wirtschaftskrisen keine unmittelbaren Rückwirkungen auf die politische Sphäre haben“, weil der „Staatsapparat weit immuner ist, als oft geglaubt werden kann.“ (41)

In Ländern wie Italien „sind die Staatsmächte weniger tüchtig“. Aber Gramsci sagt nicht weiter, wie in der Auseinandersetzung mit Bordiga in den frühen 1920er Jahren, dass die Einheitsfront nur im ersten Fall anwendbar ist, aber nicht im zweiten. Im Gegenteil behält er bei, dass die Taktik in beiden Fällen einsetzbar ist.

Der Zweck, diese Unterscheidung zu machen, ist ein anderer. In den „peripheren Staaten“ gibt es zwischen Proletariat und Bourgeoisie viele dazwischenliegende Klassen. Diese Klassen im Europa Mitte der 1920er Jahre werden in so einem Ausmaß radikalisiert, dass die verschiedenen Aufgaben von Partei und Klasse jene „zwischen der politischen und technischen Vorbereitung der Revolution sind“. In Italien zu dieser Zeit bedeutete das eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die auf einer Perspektive vom nahe bevorstehenden Abgang Mussolinis aufgebaut war. In den fortgeschrittenen Ländern aber ‚besteht das Problem noch in „politischer Vorbereitung“.

Die Darlegung dieser Unterscheidung ist keine müßige Sache für Gramsci, denn in jedem Fall will er ein „wesentliches Problem“ anpacken, nämlich:

„ … das Problem vom Übergang von der Einheitsfronttaktik, verstanden in einem allgemeinen Sinn, zu einer bestimmten Taktik, die die konkreten Probleme nationalen Lebens angeht und auf der Basis der Volkskräfte operiert, wie sie geschichtlich geformt sind.“ (42)

Im Fall von England argumentiert Gramsci, die Gewerkschaften seien die konkrete Form, in der die „Volkskräfte“ agierten. An diesem Punkt bemerken wir die rechtszentristische Auslegung, die Gramsci der Einheitsfront verlieh, wo lange politische Vorbereitung notwendig ist. Trotz der Erfahrung mit dem Verrat des Generalstreiks von 1926, einschließlich durch die Linken im TUC, glaubte Gramsci, dass:

„der Anglo-Russische Ausschuss beibehalten werden sollte, weil es das beste Terrain ist, um nicht nur die englische Gewerkschaftswelt zu revolutionieren, sondern auch die Amsterdamer Gewerkschaften. Bei nur einem Ereignis sollte dort ein Bruch zwischen den Kommunist:innen und der englischen Linken stattfinden: wenn England am Vorabend der proletarischen Revolution steht und unsere Partei stark genug isti, den Aufstand allein zu führen.“ (43)

Dies stand in scharfem Kontrast zur revolutionären Einschätzung von der Rolle des Anglo-Russischen Gewerkschaftskomitees, wie von Trotzki nach dem Generalstreik ausgedrückt:

„ … die Politbüromehrheit hat eine grundlegend falsche Politik in der Frage des Anglo-Russischen Ausschusses verfolgt. Der Punkt, an dem die arbeitenden Massen Britanniens die größte gegnerische Macht zum Generalrat (des britischen Gewerkschaftsbundes TUC; Red.) ausübten, war, als der Generalstreik gebrochen wurde. Was notwendig war, war, Schritt mit den aktivsten Kräften des britischen Proletariates zu halten und in diesem Moment mit dem Generalrat als Verräter des Generalstreiks zu brechen … ohne dieses droht der Kampf für die Massen immer, sich in einen opportunistischen Kotau vor der Spontaneität zu verwandeln … Die Linie der Politbüromehrheit in der Frage des Anglo-Russischen Komitees war eindeutig ein Verstoß in Hinsicht auf den revolutionären Gehalt der Einheitsfrontpolitik.“ (44)

Auf Gramscis Seite ist all dies eine Abkehr weg von der internationalen Anwendung der Einheitsfront, für die er zu Beginn 1924 eintrat, und zurück zu einem unterschiedlichen Gebrauch, der schließlich auf der falschen Trennung zwischen „Ost“ und „West“ beruht. So wie er sich mit England auseinandersetzt, fällt er zur gleichen Zeit auf eine rechte, opportunistische Variante dieser Taktik zurück. Gramsci nutzte gewissermaßen die Positionen des Fünften Kongresses für seine eigenen doppelten Perspektiven für „Ost“ und „West“ aus. Seine Haltung zum Anglo-Russischen Ausschuss ist ein konkreter Ausdruck von Sinowjews Perspektive der „langsamen und anhaltenden Entwicklung der proletarischen Revolution“.

Dennoch gab es einen beträchtlichen Abstand zwischen Gramscis strategischen und taktischen Rezepten und denjenigen, die in der Komintern unter Stalin im Einsatz waren. Es war genau 1926, als Stalin darauf bestand, dass in China die kommunistische Partei sich in die Kuomintang auflöst, und unter der Losung der „demokratische(n) Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ die leninistische Position zur anführenden und lenkenden Rolle des Proletariats verließ.

Gramsci erkannte auf dem Lyoner Kongress im Januar 1926, dass:

„das Proletariat sich abmühen muss, die Bauern/Bäuerinnen dem Einfluss der Bourgeoisie zu entreißen und sie unter seine eigene politische Leitung stellen muss.“ (45)

Angesichts dessen, dass sich die schwache italienische Bourgeoisie für ihre Macht auf die Bauern./Bäuerinnenschaft stützte, bestand Gramsci für die KPI darauf, diese Frage sei „der zentrale Punkt der politischen Probleme, die die Partei in unmittelbarer Zukunft lösen muss“. (46)

Er erkannte, dass die Losung der „Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung“ ein Weg sei, um das Bauern-/Bäuerinnentum hinter die Lohnarbeiter:innenschaft zu ziehen, „das Mittel, sie auf den Boden der fortgeschrittenen proletarischen Vorhut zu transportieren (Kampf für die Diktatur des Proletariates).“ (47)

Anders als Stalin fand er nicht, das Regierungsbündnis zwischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen sei eine unterscheidbare Etappe, getrennt zum und vorausgehend dem Kampf für Sozialismus, sondern Gramsci argumentierte:

„ … die Partei kann  sich nicht eine Verwirklichung dieses Schlachtziels außer als Anfang eines direkten revolutionären Kampfes vorstellen: eines Bürgerkriegs, der vom Proletariat im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft mit dem Ziel geführt wird, die Macht zu erheischen. Die Partei könnte in ernste Abweichungen von ihrer Aufgabe als Kopf der Revolution geführt werden, wenn sie die Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung so interpretieren sollte, als entspreche sie einer wirklichen Phase in der Entwicklung des Ringens um die Macht: mit anderen Worten, wenn sie es so einschätzt, dass mit dieser Parole die Möglichkeit gegeben sei, das Problem des Staates im Interesse der Lohnabhängigen auf irgendeine andere Weise zu lösen als durch die Diktatur des Proletariats“. (48)

Gramscis Formulierungen zeigen bis zu seiner Inhaftierung einen Schwenk in Richtung Ultralinkstum.

Gefangene Gedanken

Gramcis Nachdenken über Probleme von Strategie und Taktik in den Gefängnisnotizbüchern setzt seinen Bruch mit ultralinken Einstellungen fort. Aber an seiner Stelle entwickelte er die Vorstellung weiter, die dem rechtszentristischen Kurswechsel von 1925 – 27 ihren Ursprung verdankt. Der letztendliche Triumph des Faschismus 1926 bewog Gramsci, seine Anschauungen über die Stabilität und Stärke von bürgerlichem Regime im Westen einschließlich Italiens neu zu bewerten. In den Gefängnisnotizbüchern stellt er fest:

„Es scheint mir, dass Iljitsch [Lenin] die Notwendigkeit eines Wandels vom Manöverkrieg, der siegreich im Osten 1917 angewandt wurde, zu einem Stellungskrieg verstand, der die einzig mögliche Form im Westen war – wenn, wie Krasnow bemerkt, Armeen endlose Mengen von Nachschub schnell ansammeln und wo die gesellschaftlichen Strukturen noch von sich aus zu schwer bewaffneten Befestigungen werden konnten. Dies scheint mir die Bedeutung der Formel von der ,Einheitsfront’ zu sein, und sie entspricht dem Konzept einer einheitlichen Front für die Entente unter dem alleinigen Befehl von Foch (französischer Oberbefehlshaber).“ (49)

Hier hat Gramsci die Idee der Einheitsfront als Kriegsmanöver von 1928 aufgegeben und verwandelte sie in einen Stellungskrieg im Westen; d. h., er hat die Einheitsfront in eine langfristige Strategie verwandelt, durch welche Partei und Klasse erfolgreich Stützpunkte in der Gesellschaft erobern und dadurch allmählich den Staat umzingeln und belagern können. Dies ist die Antithese zur revolutionären Nutzung der Einheitsfront, wie in der Komintern unter der Führung von Lenin und Trotzki ausgearbeitet und praktiziert.

Zu ein und der gleichen Zeit skizziert Gramsci in den Gefängnisnotizen eine vereinfachte, einseitige Sicht der russischen Revolution mit seinem absurden Hinweis, die Einheitsfront habe im bolschewistischen taktischen Arsenal gefehlt und Lenin hätte einen ununterbrochenen „revolutionären Angriff“ gegen einen unbefestigten zaristischen Staat geführt. Doch andererseits hält er eine zu opportunistische strategische Sichtweise im Westen aufrecht, die eine nahtlose Einheitsfront aus Kommunist:innen und Reformist:innen (und sogar liberalen/bürgerlich-demokratischen Kräften) regelrecht bis zur Machtergreifung in Aktion sieht. Gramsci scheint sich nicht bewusst zu sein, dass sich Zwecke und Mittel in dieser Betrachtung widersprechen. Die Machteroberung hängt vom zunehmenden Einfluss der kommunistischen Partei ab, und der kann im Gegenzug nur auf Kosten von und im Kampf gegen Reformist:innen und Zentrist:innen erzielt werden. Dies kann nur geschehen, wenn gemeinsame Fronten für bestimmte begrenzte Handlungen mit rücksichtsloser Kritik an den Beschränktheiten der Bündnispartner:innen im Kampf kombiniert werden und deren Halbherzigkeit und Schwankungen zusammen mit den Beschränkungen ihrer eigenen Rezepte enthüllen.

Lief all dies bereits auf Reformismus hinaus, worauf die Eurostalinist:innen beharren? Nicht ein bisschen! Gramsci hat vielleicht eine Taktik in eine Strategie verwandelt, aber dies ist nicht das Gleiche wie das Verdrehen von Revolution in Reform. Zum Teil war Gramscis rechtszentristische Vorstellung in den Gefängnisnotizbüchern eine undialektische Antwort auf die Konfrontationsstellung, die er zur ultralinken Wende Stalins 1928/29 beibehielt, als er anfing, seine Notizbücher zu schreiben. Es ist eher eine bucharinistische rechte Kritik an der Dritten Periode, die wir in Gramscis Notizbüchern finden. Dies betont die Distanz zwischen ihm und Trotzki, aber es dient auch dazu, die Kluft zu verdeutlichen, die Gramsci von Stalin scheidet.

Diese Lücke wird offensichtlicher durch die Berichte von Diskussionen mit einem Mithäftling, Athos Lisa, von 1930. Beauftragt und dann unterschlagen von Togliatti, unterstreichen sie, dass Gramsci sich der Dritten Periode widersetzte, dem Rauswurf von Oppositionellen aus der KPI nicht zustimmen konnte, und dass er seinen Glauben an die Notwendigkeit eines Aufstands behielt:

„Die gewaltsame Machteroberung erfordert die Schaffung einer Organisation militärischen Typus‘ durch die Partei der Arbeiter:innenklasse, die in jeden Zweig der bürgerlichen Staatsmaschinerie durchdringend eingeimpft wird und fähig ist, ihr im entscheidenden Kampfmoment Wunden und ernste Schläge zuzufügen.“ (50)

Gramsci sollte 1935, im Jahr des definitiven Übergangs der stalinistischen Komintern von bürokratischem Zentrismus zu Gegenrevolution und Reformismus, zum Schreiben nicht mehr gesund genug sein. Die Unterschrift unter den Stalin-Laval-Pakt in diesem Jahr gab grünes Licht für die französischen Stalinist:innen, sich dem Patriotismus mit voller Unterstützung des Kreml an den Hals zu werfen. Es gibt nichts in Gramscis Leben oder Arbeit, das heutigen Eurostalinist:innen erlauben würde, Gramsci in den Schutzheiligen der Volksfront zu verwandeln.

Ganz im Gegenteil. In ein paar bemerkenswerten Abschnitten von 1926 polemisiert Gramsci ausdrücklich gegen eine Volksfront, die den Faschismus besiegen soll, auf eine Weise, die die entschuldigenden Argumente Togliattis, die er fast zehn Jahren später für die stalinistische Politik im spanischen Bürgerkrieg gebraucht hat, vorwegnimmt. Er bestreitet die Einlassungen der Bourgeoisie, die: „ … ein Interesse daran hegt, zu behaupten, Faschismus sei ein vordemokratisches Regime: dieser Faschismus wird auf eine beginnende und noch rückständige Phase des Kapitalismus verwiesen.“ (51)

Dies führt zur Ansicht:

„Wenn nicht ein wirklicher bürgerlich-proletarischer Block für die verfassungsmäßige Beseitigung des Faschismus, wäre das beste taktische Ziel wenigstens eine Passivität der revolutionären Vorhut, eine Nichteinmischung der kommunistischen Partei in den unmittelbaren politischen Kampf, was der Bourgeoisie so gestattet, das Proletariat als Wahltruppe gegen den Faschismus zu benutzen.“ (52)

Wohingegen:

„Für uns Kommunist:innen ist das faschistische Regime Ausdruck der entwickeltsten Etappe kapitalistischer Gesellschaft. Es dient genau dazu zu demonstrieren, wie alle Eroberungen und alle Institutionen, die die werktätigen Klassen erfolgreich realisieren … zur Vernichtung verdammt sind, wenn in einem gegebenen Moment die Arbeiter:innenklasse nicht die staatliche Macht mit revolutionären Mitteln an sich reißt.“ (53)

„Permanente Revolution“ oder „Sozialismus in einem Land“?

Es gibt noch einen Weg, Gramscis Werdegang zu beurteilen: Was war seine Einstellung zur theoretischen Untermauerung des Zentrismus in der Komintern – „Sozialismus in einem Land“ – und zu seiner revolutionären Kritik – „permanente Revolution“?

Seine Kapitel in den Gefängnisnotizen zu diesen Fragen geben den Argumenten keine Nahrung, die wie Perry Anderson eine Ähnlichkeit zwischen den Positionen Gramscis und Trotzkis in ihren jeweiligen Kritiken am Ultralinkskurs Stalins nach 1928 sehen.

Die Wahrheit ist, dass Gramsci von Mitte 1924 an ein heftiger Kritiker von Trotzkis Theorie ist. Der letzte wohlwollende Hinweis auf Trotzki kommt bei Gramsci im Februar 1924 vor. Er verfolgt die Angriffe der Opposition auf die Bürokratie in der UdSSR mit Sympathie und sagt weiter:

„Es ist gut bekannt, dass Trotzki schon 1905 dachte, eine sozialistische und Arbeiter:innenrevolution könne in Russland stattfinden, während die Bolschewiki nur anstrebten, eine politische Diktatur des Proletariats im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft zu schaffen, die als ein Rahmen für die Entwicklung des Kapitalismus dienen würde, der nicht in seinen ökonomischen Fundamenten berührt werden würde. Es ist wohlbekannt, dass Lenin im November 1917 … und die Mehrheit der Partei sich Trotzkis Sicht angeschlossen hatten und beabsichtigten, nicht bloß die politische Macht zu übernehmen, sondern auch die wirtschaftliche.“ (54)

Doch innerhalb von sechs Monaten, um die Zeit des Fünften Weltkongresses, hatte Gramsci diesen Standpunkt verlassen und war zur Fraktion der Stalin/Sinowjew/Kamenew-Troika übergelaufen. Der unmittelbare Antrieb dazu ist Gramscis Einstellung zu fraktioneller Aktivität:

„Trotzkis Vorstellungen … stellen eine Gefahr dar, wenn die Einheit der Partei in einem Land fehlt, in dem es nur eine Partei gibt, dies Risse im Staat erzeugt. Dies produziert eine konterrevolutionäre Bewegung; es bedeutet aber nicht, dass Trotzki ein Gegenrevolutionär ist, denn in diesem Fall würden wir für seinen Ausschluss plädieren.

Schließlich sollten aus der Trotzkifrage Lehren für unsere Partei gezogen werden. Vor den letzten disziplinarischen Maßnahmen war Trotzki in der gleichen Position wie Bordiga gegenwärtig in unserer Partei.“ (55)

Dieser tragische Fehler, nämlich eine rechtsopportunistische Gleichsetzung des Marxismus mit Ultralinkstum, wird wiederholt und oft in den Gefängnisnotizbüchern verstärkt. In der Hitze seines eigenen Bruches 1924 mit Bordiga war er nur zu willig, die Mehrheit in der KPdSU in der Bolschewisierungskampagne zu unterstützen, die auf dem Fünften Kongress lanciert wurde. Dies war in der Tat der erste Schritt zur Erdrosselung des innerparteilichen Lebens in den kommunistischen Parteien und führte Gramsci zum Widerstand gegen alle Fraktionstätigkeit.

Während Gramsci bis Oktober 1926 noch bereit war, sich für disziplinarische Nachsicht in Hinsicht auf die Vereinte Opposition einzusetzen, so argumentierte er in den frühen 1930er Jahren wie folgt:

„Die Tendenz, die von Leo Dawidowitsch [Trotzki] vertreten wird, war eng mit dieser Reihe von Problemen verbunden … ein übermäßig resoluter (und deshalb unvernünftiger) Wille, Industrie und industriellen Methoden eine Vormachtstellung im nationalem Leben zu geben, durch Zwang von außerhalb die Steigerung von Produktionsdisziplin und -ordnung zu beschleunigen und Gewohnheiten an die Arbeitserfordernisse anzupassen. Angesichts der allgemeinen Form, in der alle mit dieser Tendenz zusammenhängenden Probleme wahrgenommen wurden, endete das schicksalhaft notwendig in Bonapartismus. Daher rührt die erbarmungslose Notwendigkeit, sie zu zermalmen.“ (56)

Bei dieser Haltung und Einschätzung war es nicht überraschend, dass Gramsci seine Einstellung von 1924 zu Trotzkis Theorie der permanenten Revolution überprüfen würde:

„Bronstein [Trotzki] erinnert in seinen Memoiren daran, und wir bekommen das noch einmal erzählt, dass seine Theorie sich als wahr erwiesen habe … fünfzehn Jahre später … In Wirklichkeit war seine Theorie als solche weder fünfzehn Jahre früher gut noch fünfzehn Jahre später. Wie es bei Sturköpfen vorkommt … riet er mehr oder weniger korrekt. Er hatte in seiner allgemeineren Prophezeiung recht. Es ist, als ob man prophezeien sollte, dass ein kleines vier Jahre altes Mädchen Mutter würde, und als sie um zwanzig es tatsächlich wurde und man dann sagte: ,Ich erriet, dass sie Mutter werden würde’. Dabei übersieht man aber die Tatsache, dass man das Mädchen mit vier Jahren zu vergewaltigen versucht hatte, im Glauben, dass sie sogar damals Mutter würde.“ (57)

Diese Ablehnung dessen, was er als Trotzkis Theorie versteht, steckt im Kern seiner gesamten strategischen und taktischen Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern wie z. B.:

 „ … das politische Konzept der sogenannten permanente(n) Revolution, welches vor 1848 entstand als wissenschaftlich entwickelter Ausdruck des jakobinischen Experiments von 1789 bis zum Thermidor. Die Formel gehört zu einer historischen Periode, in der die große Masse der politischen Parteien und die großen wirtschaftlichen Gewerkschaften noch nicht existierten und die Gesellschaft unter vielen Gesichtspunkten sich noch sozusagen in einem Flüssigzustand befand: größere Rückständigkeit des Dorfes und fast vollständiges Monopol politischer und staatlicher Macht bei wenigen Städten oder sogar nur einer einzelnen (Paris im Fall von Frankreich); ein relativ rudimentärer staatlicher Apparat und größere Unabhängigkeit ziviler Gesellschaft von staatlicher Aktivität; ein bestimmtes System militärischer Macht und von nationalen bewaffneten Diensten; größere Autonomie der Nationalökonomien von den wirtschaftlichen Verbindungen des Weltmarktes usw. In der Periode nach 1870, mit der kolonialen Ausdehnung Europas, verändern sich alle diese Elemente, die inneren und internationalen organisatorischen Verbindungen des Staates werden komplexer und dichter, und die 1848er Formel von der ,permanenten Revolution’ wird erweitert und in der Politologie in die Formel von ,ziviler Hegemonie’ überführt. Die gleiche Sache passiert in der Politikkunst wie in militärischer Raffinesse: Bewegungskrieg wird zunehmend Stellungskrieg, und es kann gesagt werden, dass ein Staat einen Krieg gewinnen wird, sofern er sich ganz akkurat und technisch darauf in Friedenszeiten vorbereitet.“ (58)

Deshalb wird Trotzki bezichtigt, hinsichtlich der Strategie für den fortschrittlichen Westen hinter der Zeit zurückgeblieben zu sein. Er klagt Trotzki an, „der politische Theoretiker des Frontalangriffes in einer Periode zu sein, wenn er nur zu Niederlagen führt.“ ( 59)

Solch eine Vorstellung bildet die Basis der Kritik am Trotzkismus seitens des Eurostalinismus. Zunächst einmal muss dagegen eingewendet werden, dass Gramscis Darlegung, die die „permanente Revolution“ mit frontalem Angriff oder Bewegungskrieg gleichsetzt, nichts mit Trotzkis Theorie zu schaffen hat. Trotzki nahm zu seinem Ausgangspunkt den kombinierten, ununterbrochenen Charakter von bürgerlichen und proletarischen Revolutionen in bestimmten Situationen. Deshalb konnte Trotzki nicht diesen Aspekt seiner Theorie auf den „Westen“ anwenden, wo die Bürgerrevolution in allen wichtigen Grundfesten vollständig war, und machte es auch nicht.

Wenn auf jemanden zutrifft, was Gramsci Trotzki vorwirft, dann ist es Bucharin auf dem Dritten und Vierten Kongress der Komintern: „der an seinem Standpunkt von der Dauerhaftigkeit sowohl der Wirtschaftskrise als auch der Revolution als Ganzes scholastisch festhielt.“ (60)

Gramsci stimmte Bucharin zu der Zeit zu. Es könnte auch eine Konzeption sein, die  Sinowjew und Stalin auf dem Fünften Kongress zuzuordnen war, von der wieder Gramsci nicht abwich.

Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass Gramsci zwischen 1922 und 1924 auf einem Standpunkt beharrte, der sich nicht von dem unterschied, den er hier kritisiert. Er argumentierte, dass der Kollaps des faschistischen Regimes nahe bevorstehe, zugleich aber keinem Übergangsregime bürgerlicher Demokratie Platz machen könne. Im Januar 1924 behauptete er:

„ … in Wirklichkeit hat der Faschismus ein sehr rohes, scharfes Dilemma in Italien erzeugt: das der permanenten Revolution und der Unmöglichkeit, nicht nur die Staatsform, sondern sogar die Regierung anders als durch bewaffnete Gewalt zu verändern.“ (61)

Nachdem seine ultralinken Illusionen durch seinen Bruch mit Bordiga geschwächt waren und mit dem endgültigen Triumph Mussolinis 1926 ein für allemal zerbrachen, änderte Gramsci seinen Strategieentwurf nach rechts; aber während er Trotzkis Theorie angriff, focht er in Wirklichkeit seine eigene ultralinke Vergangenheit an.

Gramscis Identifikation seiner eigenen vorherigen Haltung mit der Trotzkis kann nur mit damit erklärt werden, dass er die stalinistischen Lügen über  den „Trotzkismus“, die nach 1923 in der Komintern Einzug hielten, ganz bejahend aufnahm. Wenn Trotzki tatsächlich, wie die Stalinist:innen behaupteten, befürwortet hätte, das bürgerliche Stadium der Russischen Revolution zu überspringen, wenn Trotzki tatsächlich „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ unterschätzt hätte, worauf seine Gegner:innen immer wieder herumritten, und der russischen Revolution so einen rein „sozialistischen“ (Arbeiter:innen-)Klassencharakter verliehen hätte, dann hätten Gramscis Sticheleien vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt gehabt. Aber diese Unterstellungen waren haltlos. Wenn überhaupt, war es Gramsci, der „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ in seiner ultralinken Periode unterschätzte.

Ein nationaler Weg

Noch blieb Gramsci in der anderen Frage, die zwischen Trotzki und Stalin auf dem Spiel stand, schweigsam während seines Gefängnisaufenthaltes. Er schrieb mehrere Passagen zu den methodologischen anstehenden Fragen im Streit über „Sozialismus in einem Land“, der gründlich mit dem Problem der ununterbrochenen Revolution zusammenhängt. Er überlegte wie folgt:

„Gehen internationale Verbindungen voraus oder folgen sie (logisch) grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen? Es kann keinen Zweifel geben, dass sie folgen. Irgendeine endogene Neuerung in der Gesellschaftsstruktur modifiziert organisch absolute und relative Verhältnisse auch auf internationaler Ebene durch ihre technisch-militärische Auswirkung. Sogar die geographische Position eines Nationalstaates geht nicht voraus, sondern folgt (logisch) strukturellen Änderungen, obwohl sie auch in gewissem Maße auf die Verhältnisse zurückwirkt (in genau dem Maß, zu dem Überbauten auf die Struktur reagieren, Politik auf Wirtschaft usw.).“ (62)

Gramsci stellt alles auf den Kopf. Mit „wesentlichen Gesellschaftsverhältnissen’“meint er kapitalistische Produktionsverhältnisse. Er stellt diese „internationalen Verhältnissen“ gegenüber und tritt somit stillschweigend dafür ein, dass Kapitalismus national definiert ist. Nach dieser Definition ist es dann möglich, argumentiert Gramsci, die Verhältnisse zwischen den nationalen und den internationalen Belangen zu untersuchen. Mittels Analogie sind die internationalen Verhältnisse die „Überbauten“ und ist das Nationale der „Unterbau“. Dies ist der Ausgangspunkt für Stalins „Sozialismus in einem Land“.

Der Marxismus denkt in entgegengesetzter Weise. Er geht von der Tatsache aus, dass Kapitalismus ein Weltganzes ist und seine Verhältnisse den Globus umspannen. Nationalökononomien können in diesem Licht untersucht und bestimmt werden.

Für Gramsci spielte der Beginn mit der „nationalen“ Ebene die gleiche Rolle wie der Ausgangspunkt vom „ungleichen“ Charakter der Weltwirtschaft statt des „ungleichen und kombinierten“ wie Trotzki. Gramsci glaubte wie Stalin, dies sei der einzige Weg einzuschätzen, was „einmalig“ und „besonders“ in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit war:

„In Wirklichkeit sind die inneren Verhältnisse irgendeiner Nation das Ergebnis einer Kombination, die ,ursprünglich’ und (in einem bestimmten Sinn) einmalig sind: diese Verhältnisse müssen in ihrer Originalität und Einmaligkeit verstanden und gedacht werden, wenn man wünscht, sie zu dominieren und lenken. Sicher, die Entwicklungslinie richtet sich zum Internationalismus hin, aber der Ausgangspunkt ist ,national’ – und von diesem Startpunkt muss man anfangen. Doch ist die Perspektive international und kann nicht anders sein. …  Die führende Klasse ist in der Tat nur eine solche, wenn sie diese Kombination – von der sie selbst ein Bestandteil ist – minutiös interpretiert und genau als solche fähig ist, dem Moment eine bestimmte Richtung innerhalb bestimmter Perspektiven zu verleihen. Es ist meiner Meinung nach dieser Punkt,  um den die wesentliche Uneinigkeit zwischen Leo Dawidowitsch [Trotzki] und Wissarionowitsch [Stalin] als Interpreten der Mehrheitsbewegung [Bolschewismus] sich wirklich dreht. Die Vorwürfe von Nationalismus sind unangebracht, wenn sie sich auf den Kern der Frage beziehen. Wenn man den Kampf der Mehrheitler:innen von 1902 bis 1917 studiert, kann man sehen, dass seine Originalität in der Säuberung des Internationalismus von jedem vagen und rein ideologischen (im herabsetzenden Sinn) Element bestand, um ihm einen realistischen politischen Inhalt zu geben. In diesem Hegemoniekonzept sind jene dringlichen Erfordernisse, die von nationalem Charakter sind, zusammen verknotet.“ (63)

So war für Gramsci Lenins „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ herrschaftsfähig und national, während die Theorie der „permanenten Revolution“ unfähig war, die konkrete Wirklichkeit der russischen Gesellschaft zu begreifen bzw. damit umzugehen.

Natürlich hat Trotzki genau das getan, was Gramsci ihm als nicht erfüllt vorhält. Trotzkis Analyse Russlands war auf einer ausführlichen Untersuchung seiner Geschichte und besonderen Gesellschaftsverhältnisse gegründet. In seiner Arbeit „Ergebnisse und Perspektiven“ von 1906 vergleicht Trotzki und stellt einander gegenüber das Russland von 1905 mit Frankreich von 1870 und Deutschland von 1848 auf der Basis der Nachzeichnung der Entwicklung internationaler Ereignisse. Damit war er fähig, in einer bemerkenswerten Art die bestimmten Merkmale zu umreißen, die im zaristischem Russland gegenwärtig waren und es dazu bestimmten, eine sozialistische Revolution vor den „fortgeschrittenen“ und „reifen“ Ländern zu erleben und doch nicht in der Lage zu sein, sie ohne internationale Hilfe aufrechtzuerhalten.

Weil die nationale Eigenheit  eine bestimmte Kombination der internationalen Trends ist, ist es genau unmöglich, die nationalen Besonderheiten wirklich zu begreifen, ohne zuerst die internationalen Zusammenhänge zu verstehen.

Die Verbindung zwischen Gramscis Sicht der Beziehung zwischen nationalen und internationalen Verhältnissen und den strategischen und taktischen Aufgaben der arbeitenden Klasse wird vollständig enthüllt. Nur das Nationale ist bestimmt und hegemoniefähig; was Länder trennt, ist wichtiger als das, was sie verbindet. Obwohl Italien und England in einer Periode sehr verschiedene Arten von Nation und dann später im gleichen Lager sein können, ist es daher Tatsache, dass verschiedene Einheitsfronttypen anwendbar sind, je nach dem, mit welchem Typ Land wir es zu tun haben; Einheitsfront von unten und Kriegszüge in „rück- oder randständigen“ Staaten, eine strategische Einheitsfront und ein Stellungskrieg in den vorangeschrittenen kapitalistischen Ländern. Kurz nur, Anfang 1924, nachdem er sich entschieden hatte, politisch mit Bordiga zu brechen, warf Gramsci das Problem korrekt auf. Aber diese Einsichten wurden nicht durchgehalten, und Gramsci ergab sich einer Rechtsentwicklung.

Schlussfolgerungen

Der Staatsanwalt bei Gramscis Gerichtsverfahren forderte, dass jedes Urteil „dieses Gehirn für zwanzig Jahre zu arbeiten abhält“. Sie scheiterten. Aber es hat jetzt fünfzig Jahre lang aufgehört zu arbeiten. Viele sind begierig, ihn als ihr Eigentum zu beanspruchen. Diese legendenbildnerische Einstellung zum größten italienischer Revolutionär hätte Gramsci entsetzt. Wir gehen an Gramscis politisches Leben kritisch heran. Beim Bruch mit  Bordigas Ultralinkstum 1923 – 24 setzte Gramsci sich das bewusste Projekt, die junge und unterdrückte KPI zwischen dem ultralinken Kurs Bordigas und dem Opportunismus Tascas hindurchzusteuern. Dabei war sein Ziel, zu den Positionen der revolutionären Komintern Lenins zurückzukehren.

Beim Versuch, dieses Ziel zu erreichen, war Gramsci für einen beträchtlichen Beitrag an scharfsichtiger Arbeit über die Fehler des Bordigismus, über Geschichte, Klassenstruktur und strategische Probleme der italienischen Gesellschaft verantwortlich. Jede/r revolutionäre Kämpfer:in heute wird viel in seiner Arbeit finden, was wertvoll und inspirierend ist.

Aber Gramsci versagte dabei, den Bolschewismus in Italien aufzubauen, genau deshalb, weil die bürokratisch-zentristische „Bolschewisierung“ Stalins und Sinowjews seinen Werdegang durchschnitt. In der Periode bis zu seiner Verhaftung bedeutete dies, dass die KPI unter Gramscis Leitung eine mildere Form von ultralinker Politik in Italien und eine Neigung zum zunehmenden Rechtsopportunismus im „Westen“ nicht ausmerzen konnte. Im Gefängnis führten seine weiteren,  auf einer einseitigen Ablehnung seines eigenen Ultralinkstums basierenden und vom Mythos der Stalinist:innen über Trotzki genährten Reflexionen Gramsci weiter ins Camp des rechten Zentrismus‘. Gramsci dehnte nicht so sehr die Grenzen des Marxismus aus, sondern engte eher dessen Horizont ein. Seine Einblicke waren oft nicht eigenständig, sobald sie die Grenzen von italienischer Geschichte und Gesellschaft überschritten und oft übermäßig abstrakt und sogar zweideutig. In der historischen Periode, die mit der Degeneration der UdSSR beginnt, ist es der Trotzkismus, nicht der Gramscianismus, der auf den Schultern des Leninismus steht und den Marxismus um einen Kopf größer macht.

Trotzdem können wir während dieses fünfzigsten Jahres seit Gramscis grausamem und schmerzhaftem Tod Anregungen in seinem Leben und Kampf finden. Wir können nur hoffen, ihn vor dem Zugriff seiner „Freund:innen“ zu bewahren.

Endnoten

1 Marxism Today, April 1987

2 O. Blasco [Tresso], „Ein großartiger Kämpfer ist gestorben … Gramsci, La Lutte Ouvrière Nr. 44, 14. Mai 1937

3 L. Maitan, „The Legacy of Antonio Gramsci“ [Das Vermächtnis Antonio Gramscis], in: International Marxist Review, Sommer 1987

 4 Socialist Worker Review, April 1987

 5 Maitan, a. a. O., S. 35

 6 C. Harman, Gramsci versus Reformism, S. 28

 7 Zitiert in: A. Davidson, „Gramsci and Lenin, 1919-22“, Socialist Register 1974, S. 131

 8 A. Gramsci, Selections from the Political Writings [Ausgewählte politische Schriften], Vol. 1 (SPW1), S. 34 (London 1977)

 9 Ebda.

 10 a. a. O., S. 68

 11 Ebda.

 12 Harman, a. a. O., S. 16

 13 L. D. Trotzki, Speech to the General Party Membership in Moscow [Rede an die allgemeine Parteimitgliederversammlung in Moskau]

 14 Lenin, Collected Works, Vol. 32, S. 465 (Moscow) [Gesammelte Werke (Moskau)]

 15 A. Gramsci, Selections from the Political Writings, Vol. 2 (SPW2) S. 189 (London 1978)

 16 Theses, Resolutions and Manifestoes of the First Four Congresses of The Communist International, S. 391 – 396 (London 1980) [Thesen, Resolutionen und Manifeste der ersten 4 Kongresse der Kommunistischen Internationale]

 17 L. D. Trotzki,The Third International After Lenin, S. 90 (New York 1970) [Die 3. Internationale nach Lenin]

 18 SPW2, S. 96

 19 a. a. O., S. 97

 20 a. a. O., S. 107 – 108

 21 a. a. O., S. 108

 22 a. a. O., S. 99

 23 a. a. O., S. 392

 24 a. a. O., S. 105

 25 a. a. O., S. 148

 26 a. a. O., S. 146

 27 a. a. O., S. 153

 28 a. a. O., S. 155

 29 a. a. O., S. 196

 30 a. a. O., S. 121 – 124

 31 a. a. O., S. 359

 32 a. a. O., S. 174 –175

 33 Ebda.

 34 a. a. O., S. 199 – 200

 35 a. a. O., S. 489

 36 J. W. Stalin, Concerning the International Situation, Collected Works, Vol. 6, S. 295 [Über die internationale Lage, Gesammelte Werke]

 37 Ebda.

 38 „Theses on tactics“, in: Resolutions and Theses of the Fifth Congress, (London 1924) [„Thesen zur Taktik“, in: Resolutionen und Thesen des 5. Kongresses]

 39 Ebda.

 40 SPW2, S. 373

 41 a. a. O., S. 410

 42 Ebda.

 43 a. a. O., S. 411

 44 L. D. Trotzki, On Britain, S. 253 – 255 (New York 1972) [Über Britannien]

 45 SPW2, S. 331

 46 Ebda.

 47 Ebda.

 48 a. a. O., S. 75

 49 A. Gramsci, Selection from the Prison Notebooks (SPN), S. 237 – 278 (London 1971) [Auswahl aus den Gefängnisbüchern]

 50 Zitiert in Perry Anderson, The Antinomies of Antonio Gramsci, New Left Review No100, S. 72 [Die Widersprüche Antonio Gramscis]

 51 SPW2, S. 414

 52 a. a. O., S. 359

 53 a. a. O., S. 414

 54 a. a. O., S. 192

 55 a. a. O., S, 284

 56 SPN, S. 301

 57 Ebda., S. 237

 58 a. a. O., S. 242 – 243

 59 a. a. O., S. 238

 60 Trotsky, The Third International After Lenin, a. a. O., S. 90

 61 SPW2, S. 176

 62 SPN, S. 176

 63 a. a. O., S. 240 – 241




Berliner GEW-Streik braucht einen Kampagnenplan

Martin Suchanek, Infomail 1224, 9. Juni 2023

Zum 14. Mal legten Berliner Lehrer:innen im Kampf für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz vom 6. – 8. Juni die Arbeit nieder. 14 Streiks, an denen sich jeweils Tausende Beschäftigte anschlossen; 14 Streiks, die vom Berliner Senat – zuerst von Rot-Grün-Rot und jetzt von CDU/SPD – ignoriert wurden. Über einen Tarifvertrag könne das Land Berlin leider leider nicht gegen den Willen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) verhandeln, so ließen bisher alle Senatsparteien verlauten.

In der Tat stellt der geforderte Tarifvertrag Gesundheitsschutz eine fortschrittliche Neuerung für den Bildungssektor dar. Die GEW Berlin fordert darin eine Reduktion der Klassengrößen, um die Beschäftigten zu entlasten und zugleich die Bildung für die Schüler:innen zu verbessern. Natürlich müsste das mit einer massiven Einstellung weiterer Lehrkräfte und verbesserter Bezahlung einhergehen – und genau das wollen weder der Berliner Senat noch die Tarifgemeinschaft der Länder. Um das heiße Eisen erst gar nicht anzufassen, weisen sie jede Zuständigkeit von sich.

Empörung

14 Streiks, die teilweise zwei oder gar drei Tage andauerten, beweisen, dass die Forderung nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Entlastung der Lehrkräfte und qualitativ besseren Lehrbedingungen ein reales Problem treffen – und zwar von Lehrenden, Lernenden und auch deren Eltern.

Daher beteiligten sich tausende Gewerkschaftsmitglieder seit Mitte 2021, also seit rund zwei Jahren, regelmäßig an den Arbeitskämpfen. Die Sympathie unter Eltern und Schüler:innen ist groß – schließlich sind sie selbst Hauptopfer der Unterfinanzierung des gesamten Bildungssystems.

Ursprüngliche Strategie gescheitert

Doch 14 Streiks werfen bei weiterhin ausbleibender Gesprächsbereitschaft seitens des Senats auch immer drängender die Frage auf: Mit welcher Kampfstrategie können die Forderungen durchgesetzt, ja überhaupt Verhandlungen erzwungen werden? Die CDU hat zwar im Wahlkampf eine Reform des Schulgesetzes ins Spiel gebracht, um der Streikbewegung die Spitze zu nehmen und die Lehrer:innen mit einigen Reförmchen abzuspeisen. Doch nicht einmal das wird bisher ernsthaft angeboten.

Zweitens aber sollten die Lehrer:innen ein solches „Angebot“ nicht ablehnen, jedoch dürfen sie sich davon auch blenden lassen und müssen an ihrem Ziel eines Tarifvertrages festhalten. Eine Reduktion der Klassengrößen per Schulgesetzänderung stellt allenfalls eine Willensbekundung des Senats dar, deren Nicht-Umsetzung sich mit Verweis auf den Lehrer:innenmangel leicht entschuldigen lässt. Ein Tarifvertrag hingegen holt die Entscheidung über Klassengrößen raus aus den verschlossenen Türen der Ministerialbürokratie an den Verhandlungstisch mit den Beschäftigten und bietet ihnen eine einklagbare Grundlage für Entlastung am Arbeitsplatz. Für die streikenden Lehrkräfte muss klar sein: Eine Schulgesetzänderung kann kein Ende ihres Kampfes bedeuten!

Das Ausbleiben jedes Angebots seit zwei Jahren verdeutlicht jedoch auch, dass die ursprüngliche Politik der GEW-Führung gescheitert ist, den Berliner Senat mittels einiger Warnstreiks an den Verhandlungstisch zu bringen und dann einen mehr oder weniger guten Kompromiss auszuhandeln. Ein Tarifvertrag Gesundheitsschutz ist durch befristete Tagesstreiks nicht zu haben. Alles andere bedeutet nur, sich selbst und den Streikenden etwas vorzumachen.

Entwicklung der Bewegung

Aber nach 14 Streiks steht die Frage im Raum, wie es weitergehen kann. Schon bei den letzten Arbeitsniederlegungen zeigte sich, dass die Zahl der Streikenden stagniert, an manchen Schulen sogar abnimmt, während andere dazustoßen. Bei den jüngsten drei Kampftagen vom 6. – 8. Juni stießen die Aktiven zusätzlich auf das Problem, dass sich viele  Gewerkschafter:innen nur an einzelnen Tagen beteiligten.

Generell kann gesagt werden, dass die Bewegung zahlenmäßig stagniert. Sie kann sich einerseits auf eine Schicht von mehreren Tausend zuverlässig Streikenden stützen. Doch die bilden bei rund 35.000 Lehrkräften nur eine Minderheit.

Das bedeutet aber auch, dass die bisherige Taktik, alle ein bis zwei Monate die Arbeit niederzulegen, nicht reicht, um den Senat auch nur zu Verhandlungen zu zwingen. Vom Standpunkt der Bildungsverwaltung und der regierenden Koalition ist es nur folgerichtig, die Aktionen weiter auszusitzen. Sie setzten, nicht ohne Grund, darauf, dass sich die Bewegung totlaufen wird.

Zugleich hat sich in den letzten beiden Jahren die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, die die Aktionen tragen, deutlich erhöht. Neue, vor allem junge Lehrkräfte wurden in die Bewegung gezogen, auf diese stützen sich viele Streiks, Demonstrationen und Streikcafés in den Bezirken und Kiezen. Letztere sind eine Form von Basisversammlungen aktiver Gewerkschafter:innen, die eine Vernetzung verschiedener Schulen darstellen und damit auch als Mittel zum Aufbau weiterer Basisgruppen und zur Gewinnung neuer Mitglieder dienen. Diese Schicht war bei der Berliner Streikversammlung am 8. Juni besonders stark vertreten, an der über 1.000 Menschen teilnahmen.

Während also die Zahl der Streikenden insgesamt stagniert, so hat sich die Zahl der aktiven, den Kampf vorantreibenden Gewerkschafter:innen erhöht und verbreitet. In diesem, qualitativen Sinne können wir keineswegs von einer Stagnation der Bewegung sprechen, weil sich mit der Vergrößerung der Aktivist:innen auch die Möglichkeiten zur Verbreiterung der Streikbewegung verbessert haben.

Wie weiter?

Dies geht jedoch nicht ohne innere Konflikte. Denn wir müssen auch klar festhalten, dass die Strategie der GEW-Führung in den letzten Monaten immer mehr an ihre Grenzen gestoßen, ja objektiv gescheitert ist. Es braucht eine klare Vorstellung, mit welchen Schritten der Streik ausgeweitet, wie letztlich ein unbefristeter Erzwingungsstreik vorbereitet werden kann.

Indirekt erkennt auch die Führung der GEW dieses Problem an. Angesichts von Monaten der Verhandlungsverweigerung braucht es natürlich Eskalationsschritte wie den dreitägigen im Unterschied zum eintätigen Streik. Doch das allein ist keine Strategie, keine wirkliche Perspektive.

Eine solche setzt nämlich nicht nur ein klares Ziel, den Tarifvertrag Gesundheitsschutz, sondern auch voraus, die notwendigen Kampfschritt offen zu benennen, um so unter den organisierten wie auch den noch nicht organisierten Lehrer:innen und Erzieher:innen deutlich zu machen, welche Kampfformen notwendig sind, um den Tarifvertrag durchzusetzen.

Das wird wahrscheinlich nur mit einem unbefristeten Erzwingungsstreik möglich sein. Das ist sicher mit dem aktuellen Organisationsgrad nicht möglich. Aber um diesen vorzubereiten, muss er auch schon heute klar als Mittel benannt werden.

Kampagnenplan

Vor dieser Frage drückt sich letztlich die GEW-Führung herum. Eine Gruppe von aktiven Gewerkschafter:innen, viele davon junge GEWler:innen, haben daher die Initiative ergriffen und in den Streikcafés, bei der Demonstration und Streikversammlung Flugblätter verteilt und einen Vorschlag für einen Kampagnenplan zur Diskussion gestellt.

Dieser empfiehlt für die ersten Wochen des nächsten Schuljahrs einen fünftägigen Warnstreik. Dieser soll zur Vorbereitung eines unbefristeten Streiks genutzt werden, um die Mobilisierungsfähigkeit zu erhöhen, Streikversammlungen an den Schulen abzuhalten, Mobimaterialien herzustellen und zu verteilen, Veranstaltungen durchzuführen, schwächer organisierte Schulen durch stark organisierte zu unterstützen, kiez- und bezirksweite Demonstrationen durchzuführen. Darüber hinaus sollen auch Erzieher:innen in den Streik einbezogen werden.

Den Kern des Plans bildet aber auch eine Verbreiterung und Demokratisierung der Entscheidungsstruktur durch eine berlinweite Streikversammlung, die über die Strategie der Bewegung und die Politik der Tarifkommission bestimmt. Sie soll auch darüber entscheiden, wie der Streik fortgesetzt wird, falls sich der Senat auch nach der ersten fünftägigen Aktion nicht zu Verhandlungen bereiterklärt.

Damit formulieren die Streikenden ein Konzept zur Überwindung der aktuellen zahlenmäßigen Stagnation. Der Fokus auf Streikversammlungen und deren Entscheidungsbefugnis erlaubt auch eine viele breitere Einbeziehung aller, vor allem der aktiven Träger:innen des Streiks. Natürlich geht es dabei auch um stärkere Kontrolle der bestehenden Strukturen der GEW und der Tarifkommission. Aber das ist letztlich nur ein Aspekt.

Wenn es wirklich einen längeren, letztlich unbefristeten und auch viel breiteren Erzwingungsstreik geben soll, muss die GEW ihre Aktivenbasis vergrößern. Das wird letztlich aber nur möglich sein, wenn diese (a) praktische Verantwortung für den Kampf übernimmt (also Erstellen von Material, Streikposten, Verbindung zu Eltern und Schüler:innen, Kiezversammlungen mit Anwohner:innen usw.) und (b) auch real über die Streikstrategie und die Politik der Tarifkommission und einer etwaigen Verhandlungskommission bestimmt.

Dazu braucht es Massenversammlungen wie die Streikversammlung am 8. Juni. Damit diese über grundlegende Fragen entscheiden können, müssen sie natürlich auch besser vorbereitet und Anträge im Voraus über die GEW verschickt werden. So können Argumente und Gegenargumente über einen längeren Prozess ausgetauscht werden, was einer großen Versammlung wiederum erleichtert, rasch Entscheidungen zu treffen. Diese wären nicht nur viel demokratischer als jene einer wenig an die Basis gebundenen Tarifkommission. Sie würden viel direkter die Mehrheit der Mitgliedschaft zum Ausdruck bringen – und zwar vor allem des aktiven, engagierten kämpferischen Teils.

Wir rufen alle kämpferischen Gewerkschafter:innen auf: Unterstützt die Vorschläge für einen Kampagnenplan, tretet mit den Kolleg:innen in Kontakt!




Marx21, DIE LINKE und der Cliffismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 274, Juni 2023

Die Krise und drohende Spaltung der Linkspartei ist auch eine Krise der strategischen Ausrichtung von marx21. Wie keine andere sozialistische oder marxistische Strömung, die in der Partei DIE LINKE agiert, ging sie in der Tagesarbeit des Aufbaus einer reformistischen Partei auf.

2007 gehörte marx21 zu den enthusiastischen Befürworter:innen der Gründung der Partei DIE LINKE. Die Bildung einer linksreformistischen Kraft betrachtete das Netzwerk als einen geradezu historischen Fortschritt für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland.

Den Aufbau einer offen antikapitalistischen Strömung lehnte marx21 von Beginn ab, ja bekämpfte alle Ansätze dazu.

Methode von marx21

Eine solche Politik verfolgte schon die Vorläuferorganisation Linksruck bei Gründung der WASG und in ihr bei der Fusion mit der PDS zur Partei DIE LINKE. In den „7 Thesen zur Diskussion um eine neue Linkspartei“ aus dem Jahre 2004 trat Linksruck für ein „konsensfähiges Reformprogramm“ als programmatische Basis einer neuen Arbeiter:innenpartei links von der SPD ein. Revolutionär:innen sollten sich darauf beschränken, „innerhalb einer solchen Linkspartei um die Erkenntnis der Unreformierbarkeit des Kapitalismus zu streiten“ und „mittel- und langfristig“ dafür einzutreten, dass „der Kampf für Reformen ein Kampf um die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sein wird.“

Das Eintreten für ein revolutionäres Aktionsprogramm wurde als Sektier:innentum angegriffen. Wider besseres Wissen sollten Revolutionär:innen darauf verzichten, den Reformismus grundlegend zu kritisieren. Diese Politik wurde jahrelang von marx21 verteidigt, sämtliche Kritiker:innen daran wurden als mehr oder minder unverbesserliche Sekten abgestempelt.

Über Jahre schien zumindest vordergründig der Erfolg marx21 recht zu geben. Man betrieb schließlich Massenarbeit, das Netzwerk wuchs rasch an und konnte mehr Mitglieder auf sich vereinen. Die Kader von marx21 stiegen in der Hierarchie der Linkspartei auf: Christine Buchholz und andere errangen Bundestagsmandate, Janine Wissler schaffte es zur Fraktionsvorsitzenden im Hessischen Landtag und handelte noch als marx21-Mitglied fast eine rot-grün-rote Landesregierung aus.

Schon damals unterschieden sich die Abgeordneten und die Führungsmitglieder von marx21 in der öffentlichen Wahrnehmung kaum von „normalen“ reformistischen. Die Interviews und Stellungnahmen der heutigen Vorsitzenden der Linkspartei, Janine Wissler, unterschieden und unterscheiden sich bis heute oft kaum von den Erklärungen, die sie noch während ihrer Zeit bei marx21 abgab. Das störte aber im  Netzwerk kaum jemanden. Man bog sich vielmehr diese reformistischer Realpolitik als den Preis, den man für wachsenden Einfluss eben zahlen müsse, zurecht.

Doch je mehr die Linkspartei selbst aufhörte zu wachsen, je mehr sie arbeiter:innenfeindliche und rassistische Maßnahmen in Landesregierungen durchzog, je mehr sie stagnierte oder gar schrumpfte, desto zweifelhafter wurde auch das Narrativ vom eigenen Erfolg.

Reformismusverständnis

Nichtsdestotrotz hielt das Netzwerk auch angesichts des katastrophalen Ausgangs der Bundestagswahl an der eigenen Methode fest. Im Sommer 2022 veröffentlichte der KoKreis von marx21 unter dem Titel „Die Linke in der Krise: Scheideweg“ seine Einschätzung der Lage. Darin wird der Linkspartei ein „insgesamt gutes Wahlprogramm“ attestiert, das jedoch durch ständige Anbiederungen an die SPD als Regierungspartnerin konterkariert worden wäre. Vor allem aber legt marx21 das eigene Verständnis des Reformismus der Linkspartei nieder:

„DIE LINKE trägt als reformistische Partei Widersprüche in sich. Der linke Reformismus unterscheidet sich vom rechten erst einmal dadurch, dass er proletarische Klasseninteressen aufnimmt und bis zu einem gewissen Grad Ausdruck verleiht und für sie mobilisiert. Aber der linke Reformismus trägt latent zwei Potenzen in sich: Entweder er verrät das Aktionsprogramm, für das er antrat, und fällt zurück ins Lager der sozialdemokratischen Kapitulation. Oder er radikalisiert sich und bewegt sich nach links zu einem Programm und einer Praxis des sozialistischen Klassenkampfs. In der LINKEN erleben wir zur Zeit beides, …“

Diese Passage legt die Vorstellungen, aber auch methodischen Fehler offen, die der Politik von marx21 zugrunde liegen. Der „rechte Reformismus“ wird als bürgerliche Politik abgelehnt und in der Linkspartei mit den Regierungsozialist:innen identifiziert. Dem linken Reformismus hingegen wird eine Art Doppelcharakter unterstellt: Er hätte zwei Potenzen – entweder verrät er und wird erst dadurch wieder zu bürgerlicher Politik. Oder er radikalisiert sich hin zum Sozialismus, indem er konsequent für grundlegende Verbesserungen eintritt. Der Kampf für radikale Reformen erscheint damit schon als, wenn auch unbewusster Weg zum Sozialismus.

Anders als in früheren Texten wird allerdings die Bedeutung einer revolutionären Strömung als Korrektiv, gewissermaßen revolutionäres Salz in der reformistischen Suppe, betont: „Es braucht eine LINKE als sozialistische Massenpartei, und es braucht darin eine organisierte revolutionäre Strömung, die die kapitalistischen Zwänge durchbricht und dem Sog der Anpassung standhält. Wir wollen dafür kämpfen, dass eine solche LINKE weiterhin besteht und gleichzeitig neu entsteht.“

Diese Passagen werfen unwillkürlich die Frage auf: Ist DIE LINKE nun eine „sozialistische Massenpartei“ oder muss sie es erst werden?

Da für marx21 jedoch der Linksreformismus schon durch Radikalisierung zum Programm und zur Praxis des Klassenkampfes kommen kann, finden sich lt. marx21 zumindest Teile in der Linkspartei, die schon auf dem Weg dahin sind oder diesen beschreiten könnten (Im Juni 22 wird hier insbesondere die Bewegungslinke angeführt).

Eine grundlegende inhaltliche Scheidung zwischen revolutionärer und reformistischer Politik kennt marx21 in diesen Texten letztlich nicht. Dazu müssten nämlich die Politik und der Klassencharakter einer Partei diskutiert und bestimmt werden. Darin würde sich zeigen, dass auch der Linksreformismus eine Form bürgerlicher Politik darstellt, weil er letztlich auf dem Boden der bestehenden bürgerlichen Verhältnisse stehen bleibt. Das zeigt sich insbesondere bei der Frage des Kampfes um die Macht. Revolutionäre, kommunistische Politik unterscheidet sich von reformistischer nämlich nicht dadurch, dass sie die grundlegende Bedeutung des Klassenkampfes anerkennt, sondern durch die Betonung der Notwendigkeit der revolutionären Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse und der Errichtung ihrer Klassenherrschaft, der Diktatur des Proletariats.

Daher müsste für Marxist:innen eigentlich klar sein, dass es auf Dauer keine gemeinsame Partei von Revolutionär:innen und Reformist:innen geben kann, dass die Arbeit in einer reformistischen Partei allenfalls ein vorübergehendes taktisches Manöver sein kann, um nach links gehende Reformist:innen für ein revolutionäres Programm zu gewinnen.  Das setzt aber voraus, dass man von Beginn an offen für ein solches eintritt.

Ansonsten nährt man unwillkürlich die Illusion, dass die Entwicklung vom kämpferischen Reformismus zum revolutionären Kommunismus eine bloß graduelle darstelle. In Wirklichkeit handelt es sich hier jedoch um einen qualitativen Bruch, einen, der nur bewusst erfolgen kann.

Appell an Einheit

Es ist aber kein Zufall, dass marx21 die drohende Spaltung der Linkspartei und deren Schwächung fürchtet wie kaum eine andere Kraft. Während alle Flügel der Partei an der Spaltung arbeiten, appelliert marx21, genauer dessen Redaktion, an die Einheit:

„Konsequente Opposition statt Spaltung“ fordert Christine Buchholz. Die Linkspartei müsse sich „neu erfinden“ mit „einem klaren Profil gegen Krieg und Establishment“.

Der Untergang der Linkspartei wäre eine Katastrophe für Buchholz: „Doch eine Spaltung der LINKEN zum jetzigen Zeitpunkt würde weder die Krise der Partei beenden noch eine vielversprechende neue Formation entstehen lassen. Im Gegenteil: Es wäre eine Schwächung der gesamtgesellschaftlichen Linken in Deutschland und womöglich der Anfang vom Ende der ersten relevanten politischen Kraft links von der Sozialdemokratie in der Geschichte der Bundesrepublik.“

Wir wollen keineswegs bestreiten, dass der ersatzlose Zusammenbruch der Linkspartei eine Schwächung wäre. Die Frage, die es aber zu stellen gilt, lautet: Ist die Partei dennoch zu retten und mit welcher Politik? Buchholz und marx21 geben hier eine falsche, letztlich perspektivlose Antwort:

„Das bedeutet innerparteilich, die Auseinandersetzung nicht zu scheuen – weder mit Wagenknecht noch mit Lederer, Vogt, Oldenburg und Ramelow. Und nach außen bedeutet das, den Kampf gegen diejenigen aufzunehmen, die die sozialen Interessen der Mehrheit mit Füßen treten; diejenigen, die statt mit dem russischen Diktator mit saudischen Diktatoren Energie- und Waffen-Deals machen; diejenigen, die Deutschland auf die Kriege der Zukunft vorbereiten und für riesige Profite der Rüstungskonzerne sorgen; und gegen diejenigen, die Hass säen und berechtigten Unmut nach rechts lenken wollen.“

Diese Ausrichtung auf eine „Bewegungspartei“ fordert marx21 seit Jahren. Noch nach dem Wahldebakel bei der letzten Bundestagswahl 2021 konnten wir lesen: „DIE LINKE ist in diesen Auseinandersetzungen (gegen Inflation, Krise, Krieg, Umweltzerstörung; Anm. d. Red.) als Sprachrohr, Ort des Austausches und Motor für Organisierung von Widerstand und Gegenmacht gefragt. DIE LINKE hat vor Ort einen breiten Fundus von Erfahrung, wie sich die Partei als Bewegungspartei aufbauen kann. Die guten Erfahrungen in vielen Kreisverbänden in den letzten Jahren sollten die Grundlage für eine ‚Neuausrichtung’ der Partei sein.“ (https://www.marx21.de/page/2/?s=DIE+LINKE)

DIE LINKE mag ja „gefragt“ sein, „Motor für Organisierung von Widerstand und Gegenmacht“ ist sie nicht. Das weiß auch marx21. Aber die Ursachenanalyse für die Krise der Linkspartei greift zu kurz. Für das Netzwerk erscheinen der Populismus von Wagenknecht und deren Opportunismus gegenüber rechts sowie die Fixierung auf Parlamentarismus und opportunistische Politik der Regierungssozialist:innen jedoch nicht als Ausdruck des bürgerlichen Charakters der Partei selbst.

Daher unterstellt die Perspektive für die Linkspartei nicht nur, dass eine Einheit der drei Flügel der Partei möglich wäre, sondern dass sie auch zu einer wirklichen „Bewegungspartei“ werden könnte.

Dies hängt damit zusammen, dass die Wurzeln bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik selbst unzureichend analysiert und benannt werden. Bürgerliches Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse erwächst nämlich, wie im Marx im „Kapital“ zeigt, aus der Lohnform selbst und der gesamte Lohnkampf, also der ökonomische Klassenkampf, bewegt sich noch im Rahmen diese Form. Die reformistische Partei stellt letztlich eine Verlängerung dieser Elementarform des Klassenkampfes auf der Ebene parlamentarischer Reformpolitik dar.

Zweitens findet diese Politik vor allem in den imperialistischen Ländern in den privilegierteren Schichten der Lohnabhängigen, in der Arbeiter:innenaristokratie eine soziale Stütze. Diese stellt die eigentliche Basis der Arbeiter:innenbürokratie sowohl in der Linkspartei wie auch in den Gewerkschaften und der SPD dar. Daher auch die Nähe zur Gewerkschaftsbürokratie, deren Politik letztlich von allen Flügeln der Linkspartei verteidigt wird, aber auch zum Sozialchauvinismus, und die Ausrichtung auf Regierungsbeteiligungen erfolgt letztlich als notwendige Konsequenz aus dieser reformistischen Strategie und ist keine Abweichung.

Marx21 hingegen unterstellt, dass auf den bestehenden politischen Grundlagen der Linkspartei eine Gesundung, eine Abkehr von der Ausrichtung auf Parlamentarismus und Regierungsbeteiligungen möglich wäre, eine bürgerliche Reformpartei wirklich dauerhaft zu einer „Bewegungspartei“ werden könne.

In Wirklichkeit muss jedoch eine Partei nach Regierungsverantwortung streben, die den revolutionären Sturz des Kapitalismus kategorisch ausschließt. Jede Kritik am Reformismus, die nur die Folgen dieser Beschränkung auf den Kampf innerhalb der bürgerlichen Institutionen angreift, nicht aber die Strategie selbst, muss daher zu kurz greifen, ja verbleibt letztlich auf einer rein moralischen Ebene.

Dasselbe trifft logischerweise auf alle anderen Ebenen zu. Jede reformistische Partei muss letztliche eine Realpolitik betreiben, die im Rahmen dessen bleibt, was im bürgerlichen System als „vernünftig“ und „normal“ erscheint. Was das genau sein soll, darüber scheiden sich die Geister.

Die Krise von marx21

Doch das Gespenst der Spaltung treibt nicht nur die Linkspartei um. Es sucht auch marx21 heim. In den letzten Jahren haben sich in Zusammenhang mit der Arbeit in der Linkspartei auch im Netzwerk verschiedene Lager herausgebildet.

Lange setzte marx21 seinen Schwerpunkt auf die „Sozialistische Linke“ (SL) und den Aufbau des SDS. Die Arbeit in der SL brach aber mit deren Hinwendung zum Wagenknecht-Lager ein. Parallel entwickelten SDS-Kader aus marx21 über die Luxemburg-Stiftung und Organizingkampagnen enge Verbindungen zu einem Flügel der Gewerkschaftsbürokratie. Hinzu kommt, dass die Arbeit an der Universität auch mit einer Anpassung an antimarxistische, kleinbürgerliche Ideologien einherging.

In der innerparteilichen Auseinandersetzung der Linkspartei findet sich dieser Flügel besonders in der Bewegungslinken wieder. Eine gewisse Ironie besteht sicher darin, dass auch diese ihre Politik mit ähnlichen Formeln begründet wie marx21 selbst – so wie umgekehrt noch 2022 die Bewegungslinke vom marx21-KoKreis als zentrales Mittel zur klassenkämpferischen Erneuerung der Linkspartei charakterisiert wurde.

So will die Bewegungslinke eine „klassenorientierte“ Politik, in der Identitäts- und Klassenpolitik jedoch keinen Gegensatz bilden sollen. Auch die Bewegungslinke will, dass DIE LINKE eine „Friedenspartei“ bleibt und Nein sagt zu NATO und Auslandseinsätzen, sie für Antirassismus, offene Grenzen und Antifaschismus einsteht, vor allem auf Bewegung und nicht auf Parlamentarismus setzt.

Auch wenn sie eine „kritische“ Bilanz der bisherigen Regierungspraxis zieht, so hindert sie das nicht daran, vom „rebellischen Regieren“ zu phantasieren:

„Der Staat sichert die Eigentumsverhältnisse durch Gewalt und Konsens. Gleichzeitig beinhaltet er historische Errungenschaften. Er ist Kräfteverhältnis und Kampffeld zugleich. Die Aussicht auf linkes Regieren kann für uns nur als rebellisches Aufbegehren gegenüber dem Kapital, dem bürgerlichen Staatspersonal und den Medien gedacht werden.“ (https://bewegungslinke.org/5-2/selbstverstaendnis/)

Auch wenn sich die Ausführungen kritisch gegenüber der bestehenden Politik der Linkspartei geben, so versuchen sie – ganz im Einklang mit den neoreformistischen Transformationsstrategien –, letztlich Beteiligungen an bürgerlichen Regierungen neu zu „begründen“.

Nicht nur auf dieser Ebene stellt dieser Flügel von marx21 damit auch theoretisch und programmatisch die marxistischen Grundpositionen der Strömung in Frage.

Offenkundig ist das der Redaktion von marx21 durchaus bewusst. Zwei Artikel zur Kritik an Nicos Poulantzas (https://www.marx21.de/poulantzas-und-die-frage-der-macht/; https://www.marx21.de/04-05-10-der-staat-und-die-linke/) und dessen Revision der marxistischen Staatstheorie können indirekt als Polemik gegen das „rebellische Regieren“ verstanden werden.

Doch die in vielen Punkten lesenswerte Kritik beinhaltet auch eine wichtige Schwäche. Sie umschifft die Frage, welchen Klassenstandpunkt die Theorie von Poulantzas zum Ausdruck bringt. So zieht Yaak Pabst in „Poulantzas und die Frage der Macht“ eine Bilanz des Scheiterns des Eurokommunismus an der Regierung und folgert:

„Letztlich mussten sich all diese Projekte dem kapitalistischen Sachzwang beugen. Nicos Poulantzas sah diese Gefahr. Allerdings scheute er sich davor, jene Schlussfolgerung zu ziehen, für die so viele revolutionäre Marxistinnen und Marxisten vor ihm eingetreten waren: den revolutionären Bruch mit dem bürgerlichen Staat.“

Dass Poulantzas genau diese Folgerungen nicht ziehen wollte, wirft die Frage nach dem Charakter seiner Staatstheorie auf. Letztlich ist diese nur eine geschmeidigere Begründung für bürgerliche Reformpolitik. Er begründet eine bürgerliche, keine proletarische Klassenpolitik. Eine solche Charakterisierung würde nicht nur die Differenzen zum rechten Flügel von marx21 deutlicher machen, sie würde auch den Klassencharakter der Linkspartei, die ihr Regierungshandeln viel pragmatischer rechtfertigt, und damit den illusorischen Charakter einer dauerhaften Koexistenz von Revolutionär:innen und Reformist:innen in einer Partei hervorheben. Der Verzicht darauf, den gegensätzlichen Klassenstandpunkt auf praktischer wie theoretischer Ebene zu nennen, bedeutet aber nicht nur einen Verzicht auf den theoretischen Klassenkampf, sondern auch auf den Kampf gegen die Grundlagen bürgerlicher Politik in der Linkspartei.

Die Entstehung des rechten Flügels in marx21 hat zwar Genoss:innen wie Yaak Pabst und Christine Buchholz auch zu indirekten Polemiken gegen die Bewegungslinke bewegt, aber so wie sie in der Linkspartei die Einheit unbedingt aufrechterhalten wollen, so wollen sie auch eine Zuspitzung des politischen Kampfes in marx21 vermeiden. Auch dort stellen sie wie bei der Linkspartei die „Einheit“ über alles – eine Einheit um den Preis, dass immer mehr praktische und theoretische Zugeständnisse an reformistische oder kleinbürgerliche Ideologie und Theorie eingegangen werden müssen.

Sie verkennen dabei aber insbesondere, dass gerade das, was am Beginn scheinbar den Erfolg von marx21 begründete, nämlich der Verzicht auf ein eigenes, bestimmtes revolutionäres Programm und auf ein gemeinsames darauf basierendes Handeln, die eigentliche Ursache ihrer Anpassung an nicht-revolutionäre Ideen und der Herausbildung einer eigenen rechten Strömung darstellt.

Bis zu einem gewissen Grad radikalisiert der rechte Flügel von marx21 nur, was das Netzwerk immer schon propagiert hat, nämlich den Verzicht auf einen offenen Kampf um ein revolutionäres Programm, das sich von jeder Spielart des Reformismus abhebt.

Das Zentrum von marx21 betrachtet das „nur“ als eine besonders kluge Taktik, um den Marxismus prozesshaft durch die Verbindung von Kämpfen für Reformen und allgemeine sozialistische Propaganda zu verbreitern, also um Reformist:innen zu Revolutionär:innen zu machen, ohne dass diese bewusst mit ihren bürgerlichen Vorstellungen brechen müssen. Das Problem an der Methode besteht allerdings darin, dass das Programm verwässert wird, dass sich die Revolutionär:innen dem Reformismus anpassen – und nicht umgekehrt.

Der rechte Flügel von marx21 geht jedoch insofern einen Schritt weiter, als er eine politische Konfrontation mit der Bürokratie sowohl in den Gewerkschaften als auch in der Linkspartei ablehnt. Dabei wird der Kampf um eine antibürokratische Basisbewegung in den Gewerkschaften und für eine kommunistische Organisation durch die Fetischisierung von Organizingmethoden ersetzt. Für diesen Flügel von marx21 wird der Bezug auf die Ursprünge der eigenen marxistischen Strömung zunehmend zu einem Hindernis, das eigentlich entsorgt werden muss.

Mit Cliffismus zurück zur revolutionären Politik?

Ein sich formierender linker Flügel des Netzwerks geht hingegen davon aus, dass sich marx21 auf seine theoretischen Ursprünge bei den „International Socialists“ besinnen müsse, um die eigene Organisation wieder revolutionär auszurichten.

Diese Vorstellung mag zwar naheliegen, wir halten sie jedoch für eine Illusion, wie wir im abschließenden Teil des Artikels darlegen wollen. Marx21 entstand aus einer bestimmten Strömung des Nachkriegstrotzkismus, dem Cliffismus, benannt nach dem langjährigen Anführer und theoretischen Gründungskopf. Seit den 1970er Jahren existiert sie auch als internationale Strömung, als International Socialist Tendency (IST).

Wir haben in der Broschüre „The politics of the SWP – a Trotskyist critique“ die Grundlagen dieser Strömung ausführlicher kritisiert. An dieser Stelle wollen wir uns auf ihre theoretische Konzeption zu Klassenbewusstsein und damit zusammenhängend Partei und Programm beschränken, die unserer Meinung nach in der aktuellen Krise von marx21 selbst zum Vorschein tritt.

Den Kern des Problems betrifft die Frage nach Entstehung revolutionären Klassenbewusstseins selbst. Tony Cliff und seine Strömung grenzten sich bei der Herausbildung ihrer eigenen Ideologie grundsätzlich vom Lenin’schen Verständnis ab. In „Was tun?“ zeigt Lenin, dass die revolutionäre Theorie des Marxismus nicht direkt aus dem ökonomischen und politischen Klassenkampf entstand – und auch nicht daraus entstehen konnte.

Das spontane Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse kann vielmehr nur ein bürgerliches sein. Er knüpft damit an Marx und seine Analyse der Lohnform an. „Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, Seite 562)

Die Lohnform verschleiert nicht nur das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis, sondern bildet auch den Rahmen, in dem sich nicht nur der ökonomische Kampf, sondern in abgeleiteter Form auch Kämpfe um Demokratie und Gleichberechtigung bewegen.

Dieses grundlegend entfremdete und verdinglichte Bewusstsein ist natürlich wie die gesellschaftliche Basis, auf der es fußt, in sich widersprüchlich – und in den Klassenkämpfen rücken diese Widersprüche auch ins Alltagsbewusstsein. In diesem Sinn treibt er auch zur Infragestellung bestehenden Bewusstseins und zur Entwicklung von Klassenbewusstsein.

Aber wirklich revolutionäres, proletarisches Klassenbewusstsein bedarf zugleich auch einer Kritik, die diese Oberflächenformen durchdringt und so die Möglichkeiten schafft, dass der Klassenkampf bewusst über deren Grenzen hinaustritt und mit einem Programm zur sozialistischen Umwälzung verbunden wird. Daher ist die Verknüpfung mit revolutionärer Theorie unerlässlich. In diesem Sinne muss revolutionäres Bewusstsein von außen in die Klasse getragen werden; ob nun von bürgerlichen Intellektuellen oder zunehmend von Lohnabhängigen, die sich als Theoretiker:innen, Strateg:innen des Kommunismus betätigen, ist an dieser Stelle zweitrangig.

Die revolutionären Partei bildet das Verbindungsglied, die Vermittlung zwischen den spontan kämpferischen und bis zu einem gewissen Grad auch sozialistischen Tendenzen der Arbeiter:innenklasse einerseits und der wissenschaftlichen Theorie andererseits. Das revolutionäre Programm stellt dabei einen Kernbestandteil dieser Vermittlung dar, weil darin wissenschaftliche Analyse der objektiven Lage, die aktuellen und historischen Erfahrungen mit den Aufgaben und Zielen, mit Strategie und Taktiken zu einem in sich schlüssigen Ganzen, zu einem System verbunden werden. Nur so kann es als Anleitung zum revolutionären Handeln überhaupt fungieren.

Die Qualität eines Programms zeigt sich darin, ob es diese Aufgabe erfüllen kann. Für reformistische und kleinbürgerliche Programme stellt sich Frage im Grunde nicht, weil sie weder Anspruch auf eine wissenschaftliche Fundierung erheben noch als verbindliche Richtschnur zur Praxis dienen sollen. Dass z. B. die Linkspartei zentrale Forderungen bei Koalitionsverhandlungen über Bord wirft, wundert niemanden wirklich, auch die Mehrheit ihrer Mitglieder nicht.

Für eine revolutionäre Organisation hingegen stellt das Programm ein unverzichtbares Kernelement ihrer Politik dar, auch wenn das strategische Ziel, die sozialistische Revolution, die Eroberung der Macht der Arbeiter:innenklasse, die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft weit entfernt scheinen mögen. Selbst zeitweiliger Verzicht auf ein solches Programm bedeutet unwillkürlich, das Feld der Bestimmung „linker“ Politik anderen, bürgerlichen Programmen zu überlassen.

Diese essentiellen Bestimmungen zum Verhältnis von Klassenbewusstsein, Partei und Programm stellt Cliff in Frage. Für ihn besteht zwar auch die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation. Doch diese erwächst ihm zufolge aus der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung des spontanen Bewusstseins, also aus der Tatsache, dass das Bewusstsein der Klasse nie einheitlich sein kann, dass in allen Kämpfen bewusstere und rückständigere Teile hervortreten. Die Aufgabe der Partei besteht daher vor allem in der organisatorischen Zusammenfassung der sich im Kampf herausbildenden Avantgardeschichten.

Jede revolutionäre Partei oder jeder Parteibildungsprozess inkludiert zwar auch diese Aspekte. Das beantwortet aber nicht die Frage nach dem Programm, dessen objektiver inhaltlicher Fundierung und innerem Zusammenhang.

Mit den Erfolgen von marx21 wurde jedoch die Vorstellung genährt, dass ein Programm, eine gemeinsame theoretische Grundlage und eine verbindliche, demokratisch bestimmte gemeinsame Praxis ein Hindernis für den raschen und erfolgreichen Aufbau darstellen würden. Dafür sind sicher nicht bloß Cliff oder die IST verantwortlich. Aber ihre falsche Kritik des Leninismus, ihr falsches Verständnis des Klassenbewusstseins und ihre Unterschätzung der Bedeutung des Programms haben diese Entwicklung massiv begünstigt.

Jetzt, wo ein Teil von marx21 dabei ist, auch mit dem Cliffismus und dessen revolutionären Elementen zu brechen, muss sich die Organisation und vor allem ihr linker Flügel die Frage stellen, ob das etwas mit den eigenen vermeintlich korrekten Grundlagen zu tun hat.

Das Problem von marx21 war und ist dabei nicht, dass die Organisation in größeren Bewegungen und Strömungen – in diesem Fall der Linkspartei – gearbeitet hat oder arbeiten wollte. In allen Bewegungen, sozialen Milieus, seien es Schüler:innen, Studierende, bestimmte Schichten der Arbeiter:innenklasse oder reformistische Parteien herrschen bestimmte Formen bürgerlicher Ideologie vor. Die revolutionäre Intervention muss dabei immer darauf zielen, das bestehende Bewusstsein zu verändern, die Aktivist:innen und vor allem deren politisch fortgeschrittenste von der bürgerlichen Ideologie zu brechen und für den Kommunismus zu gewinnen. Dies kann und wird natürlich nicht nur durch Kritik vonstattengehen, aber diese stellte ein unerlässliches Element in dieser Auseinandersetzung, genauer des theoretischen und ideologischen Klassenkampfes dar.

Damit eine revolutionäre Organisation und deren Mitglieder das z. B. in Gewerkschaften, unter der Jugend, in sozialen Bewegungen leisten können, braucht es eben ein gemeinsames Verständnis, eine systematische Diskussion und Bestimmung dieser Politik. Nur so können opportunistische Anpassung wie auch Sektierertum verhindert werden.

Der Verzicht auf eine solche inhaltliche Bestimmung revolutionärer Politik mag zwar sektenhaftem Verhalten vorbeugen. Ganz sicher öffnet man damit aber dem Opportunismus Tür und Tor, wie die Entwicklung von marx21 und besonders des rechten Flügels zeigt.

Hinzu kommt, dass die Vorstellung, revolutionäres Bewusstsein könne direkt aus dem Klassenkampf entstehen, dazu führt, „kämpferisches“ reformistisches Bewusstsein schon als eine Vorstufe zum revolutionären zu begreifen. Die linksreformistische Partei stellt dann keine bürgerliche Kraft, sondern einen möglichen Schritt zur revolutionären Formation dar, die nur weiter nach links getrieben und zur „Bewegungspartei“ vorangebracht werden müsse.

Organisationen wie marx21, aber auch viele andere Linke begreifen das Verhältnis von revolutionärer Klarheit und Intervention nicht als einander bedingendes, wenn auch schwieriges Wechselverhältnis, sondern als einander ausschließenden Gegensatz. Dieser fundamentale Fehler ist im Cliffismus selbst schon angelegt. Die Krise von marx21 erfordert daher nicht nur eine Kritik ihres rechten Flügels, sondern auch eine selbstkritische und offene Diskussion und Überwindung des eigenen theoretischen Erbes.




Wahlerfolg der KPÖ in Salzburg! Ein Rezept für den Kommunismus?

Michael Märzen, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1222, 11. Mai 2022

Es war ein riesengroßer Erfolg und noch dazu eine riesengroße Überraschung: Die KPÖ Plus erzielte bei der Landtagswahl in Salzburg 11,66 % bzw. vier Mandate. Bei der letzten Wahl 2018 waren es lediglich 0,4 % gewesen! Mit so einem Ergebnis hatte nicht einmal der Spitzenkandidat der KPÖ Plus, Kay-Michael Dankl, gerechnet. Noch bemerkenswerter ist der Stimmenanteil von Salzburg-Stadt. Dort landete sie mit 21,5 % knapp hinter der ÖVP auf Platz 2!

Diese Landtagswahl zeigt, nach der Grazer Gemeinderatswahl im letzten Jahr, ganz deutlich, dass es in Österreich Potential für linke Politik gibt, sogar wenn sie das Label „kommunistisch“ trägt. Doch diese Feststellung reicht gewiss nicht aus, das Potential für linke Politik muss auch richtig genutzt werden. Die Frage lautet, kann die KPÖ diese Aufgabe richtig leisten? Wir versuchen eine Antwort auf diese Frage zu formulieren. Doch zunächst müssen wir erst einmal ein Blick darauf werfen, wie sich dieser Wahnsinns-Wahlerfolg in Salzburg überhaupt erklären lässt!

Das Ergebnis im Detail

Der Erfolg der KPÖ Salzburg ist ohne Untertreibung historisch. Noch nie war die Kommunistische Partei in diesem Bundesland so stark. Und noch nie hatte sie vier Mandate. Allein bei der Landtagswahl 1945 konnte sie mit 3,8 % der Stimmen ein Mandat gewinnen, welches sie schon 1949 wieder verlieren sollte. Seither ist viel Wasser durch die Salzach geflossen. Und hatten die Dunkelroten selbst 2018 nur 1.000 Stimmen, sind es nun 31.000 (jede neunte Stimme!). Wer hat auf einmal die KPÖ gewählt? Und warum?

Zunächst müssen wir festhalten, dass die KPÖ in Umfragen vor der Wahl „nur“ bei fünf oder sechs Prozent lag – das allein war allerdings schon eine große Überraschung. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass sich offenbar in den letzten Wochen vor der Wahl einiges bewegt hat. Von den befragten KPÖ-Wähler:innen sagen 33 % ihre Wahlentscheidung in den letzten zwei bis drei Wochen getroffen zu haben, 23 % in den letzten Tagen. Demgegenüber sei die Entscheidung von 43 % schon länger her – das sind bemerkenswerter Weise immer noch 13.330 von den exakt 31.383 Stimmen. 8.000 Stimmen (d.h. mehr als ein Viertel) kommen übrigens von der SPÖ und noch einmal 8.000 von den Grünen. Offenbar gibt es eine Unzufriedenheit mit den etablierten, vorgeblich linken Parteien. Das ist nicht verwunderlich, wenn man einerseits die Unterwürfigkeit der Grünen in der Regierung unter die ÖVP betrachtet, auf der anderen Seite die profillose Haltung der SPÖ in Salzburg, ihre Anbiederung nach rechts, sowie den Führungsstreit im Bund. 5.000 Stimmen kommen von Nichtwähler:innen und jeweils 3.000 von FPÖ und ÖVP. Die Zahlen bestätigen somit nicht den Mythos, wonach eine linke Alternative am meisten unter Nichtwähler:innen zu gewinnen hätte. Ein interessantes Detail am Rande ist, dass es laut Statistik im Wahlverhalten der KPÖ-Wähler:innen keinen nennenswerten Unterschied bei Alter und Geschlecht gibt, allerdings bei Bildungsabschluss, wo die Partei bei formal höher Gebildeten zunehmend besser punktet.

Gründe für den Erfolg

In den Medien, in den Worten von PolitologIinnen und selbst von Landeshauptmann Haslauer wurde betont, dass die Landtagswahl in Salzburg eine Protestwahl gewesen sei. Laut einer Umfrage hätten 80 % der Salzburger:innen Sorgen finanziell über die Runden zu kommen. Somit überrascht es nicht, dass das wichtigste Wahlmotiv das Thema Teuerung darstellte. Immer mehr Menschen können sich das Leben immer weniger leisten. ÖVP, SPÖ und Grüne haben darauf keine glaubwürdigen Antworten. Von dieser Unzufriedenheit hat aber nicht nur die KPÖ profitiert, sondern leider auch die FPÖ, mit 25,75 % zweitstärkste Kraft. Wie dem auch sei, es ist allseits bekannt, dass ein wichtiger Faktor in den Teuerungsraten das Wohnen ist. Und auf dieses Thema, das besonders in Salzburg-Stadt brisant ist, hat sich die KPÖ Plus gemäß Grazer Vorbild eingeschossen. Das hat sich bezahlt gemacht. Denn 40 % der Stimmen für „die Kommunist:innen“ stammen aus der Landeshauptstadt. Dazu kommen noch 29 % der KPÖ-Sstimmen aus Salzburg-Umgebung, was somit schon 69 % ausmacht. Hier war es sicher ein Vorteil, dass die KPÖ in Salzburg-Stadt schon seit 2019 mit ihrem Spitzenkandidat Kay-Michael Dankl im Gemeinderat vertreten ist. Dieser konnte wie schon die KPÖ in Graz einen Kautionsfonds für Mieten durchsetzen und mit Mieter:innenberatung und Hausbesuchen Vertrauen gewinnen. Noch dazu wurde er im Wahlkampf kräftig von der Jungen Linken unterstützt, aus der er ja selbst politisch stammt (und die mittlerweile auch im KPÖ-Bundesausschuss vertreten ist). Immer wieder wird aber auch erwähnt, dass Kay-Michael eine sehr authentische und glaubwürdige Person sei und eigentlich mit sozialdemokratischer Politik gepunktet hätte.

Die Politik der KPÖ Salzburg

Wohnen ist ganz klar das Steckenpferd der KPÖ Plus in Salzburg und darüber läuft ihre politische Strategie. Das sieht man auch sofort, wenn man einen Blick in das Wahlprogramm wirft. Dort steht das Thema Wohnen an erster Stelle und beinhaltet nicht weniger als 69 Forderungen. Zum Vergleich – beim Thema Arbeit sind es neun. Man sieht dabei natürlich, dass sich die KPÖ Salzburg tatsächlich mit Wohnen beschäftigt hat und es ist ohne Zweifel wichtig konkrete Forderungen zu haben, für die man auch glaubwürdig kämpfen und die man womöglich tatsächlich umsetzen kann. Durch Radikalität oder Systemkritik zeichnet sich dieses Programm jedoch nicht aus.

Ein Bekenntnis den kommunalen Wohnbau wieder aufnehmen und fördern zu wollen, der Genossenschaftsgedanke oder die Leerstandsabgabe sind nicht ausreichend, um Wohnen der Profitlogik zu entziehen, wie es Kay-Michael Dankl gerne formuliert. Hier wird man um das Kapital von Immobilien-, Baukonzernen und Banken nicht herum kommen. Und beim Mindestlohn von 1.700 netto im öffentlichen Dienst legt sich mit 2000 € netto selbst Hans-Peter Doskozil stärker mit der österreichischen Kapitalist:innenklasse an.

Zugegeben, die Möglichkeiten im Landtag sind begrenzt und Dankl ist sicher zuzustimmen, wenn er im Podcast der Jungen Linken sagt, es komme darauf an, Menschen zu überzeugen. Man muss sich aber schon fragen mit welcher gesellschaftlichen Perspektive man Politik macht und seit wann für Kommunist*innen die bürgerlichen Institutionen die zentralen Bezugspunkte für politische Veränderung sind? Kommunistische Politik muss jedenfalls in einen Rahmen eingebettet sein, der die kapitalistischen Verhältnisse benennt und kritisiert und Stoßrichtungen aufzeigen, mit denen die Lohnabhängigen für ihre eigenen Interesse organisiert und mobilisiert werden können – auch bei einer Landtagswahl. Ohne Kapitalismuskritik, der Frage von Eigentumsverhältnissen und Lohnabhängigen als politischem Subjekt kann man eindeutig Wahlerfolge erzielen. Eine kommunistische Kraft wird man dabei aber nicht aufbauen.

Schlussfolgerungen

Der Erfolg der KPÖ Plus ist beeindruckend und die Genoss:innen haben offensichtlich einiges richtig gemacht, wovon die Linke lernen kann. Die Frage ist nun, wie die KPÖ auf diesem Erfolg aufbauen kann und wie sie ihre Wahlerfolge in eine allgemeinere, antikapitalistische Strategie einordnen kann. Dabei kann man auch die SPÖ-Linke, die sich gerade rund um Andi Babler formiert, nicht außer Acht lassen, ob dieser nun die Vorsitzwahl gewinnt oder nicht. Nächstes Jahr sind Nationalratswahlen und damit besteht die Möglichkeit, dass mit der KPÖ eine Kraft links der SPÖ in den Nationalrat einzieht. Wenn sie diese Chance ergreifen möchte braucht es ein Angebot an größere Teile der österreichischen Linken für einen gemeinsamen Wahlkampf und den Aufbau einer neuen linken Partei.




Wunderwaffe Organizing?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 273, Mai 2023

Es geht ein Gespenst um in den Gewerkschaftshäusern – das Gespenst des Organizings. Doch es ist hohe Zeit, die Anschauungsweise, dessen Zwecke, Stärken und Schwächen darzulegen.

Einleitung

Den Gewerkschaften in Deutschland geht es im langfristigen Trend schlecht. Während 1994 9.768.378 Kolleg:innen Mitglieder einer DGB-Gewerkschaft waren, sind es 2022 nur noch 5.643.762. Dieser Trend ist nicht einzigartig, sondern reiht sich ein in die Entwicklung in den westlichen imperialistischen Staaten. Inmitten dieser ist ein Schlagwort präsenter geworden: gewerkschaftliche Erneuerung. Ein zentrales Standbein dessen ist das Organizing.

In diesem Beitrag wollen wir Organizing als Methode, aber auch als Programm beleuchten und einer solidarischen Kritik unterziehen. Denn es schafft es, beispielsweise mit der Krankenhausbewegung inmitten der sozialpartnerschaftlichen Tristesse Leuchttürme des Arbeitskampfes zu errichten, neue Generationen von Arbeiter:innen für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu begeistern, den Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu stärken, und vieles mehr. Zugleich verkörpert es ein Programm des (zumeist linken Teils des) Gewerkschaftsapparats, das seiner Stellung nicht gefährlich wird. Dabei ist es diese, die erst kürzlich trotz gigantischen Zuspruchs für den Vollstreik bei der Post den Ausverkauf des Arbeitskampfes eingeleitet hat. Und das ist nur ein Verrat unter vielen auf dem Kerbholz der Arbeiter:innenbürokratie.

In diesem Text werden wir uns in den Konkretisierungen im Wesentlichen auf Jane McAlevey beziehen, die in linken gewerkschaftlichen Kreisen und an den Schnittstellen zu sozialen Bewegungen aktuell die wirkmächtigsten Ansätze präsentiert. McAlevey ist die Strategin des US-amerikanischen Organizings und führender Kopf des internationalen Netzwerks „Organizing for Power“ (O4P) in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Das Netzwerk ist nach eigenen Angaben der RLS eine „der erfolgreichsten Online-Veranstaltungsreihen der weltweiten Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung [ … ; mit] fast 27.000 Menschen aus 130 Ländern“[i], die daran teilnahmen.

Das Schwerste zuerst: ein Definitionsversuch

An dieser Stelle sollen zwei Definitionen aus den Debatten rund ums Organizing herangezogen werden. Britta Rehder, Professorin für Politikwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum, bezeichnet Organizing als strategischen Instrumentenkasten, der darauf abzielt, neue Ansätze für gewerkschaftliche Revitalisierungsversuche zu erarbeiten (vgl. Rehder 2014)[ii]. Dabei handelt es sich um ein Programm strategischer Planung durch die führenden Abteilungen der Gewerkschaften, das zumeist darauf ausgelegt ist, (traditionell) schwer organisierbare Berufsgruppen über offensive Mitgliedergewinnung zu erreichen.

Dieser Teil des Programms wird teilweise Strategic Unionising genannt. Es findet auf drei Ebenen statt: (1) die extensive Mobilisierung zur Rekrutierung neuer Mitglieder, (2) die intensive Mobilisierung zur Einbeziehung der eigenen Basis und (3) die Koalitionsbildung mit anderen politischen Akteur:innen.

Florian Wilde, wissenschaftlicher Referent für Gewerkschaftspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, schreibt im Vorwort der deutschen Ausgabe des neuesten Buchs von Jane McAlevey „Macht. Gemeinsame Sache.“, dass das „Organizing [ … ] Herangehensweisen und Werkzeuge [vereint], um Menschen zusammenzubringen und zu befähigen, mithilfe kollektiven Handelns ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten.“ (McAlevey 2021, S. 11). Ziel ist es dabei, die Gewerkschaften als Institutionen zu stärken, um für eine gerechte (sic!) Verteilung von Reichtum und Macht zu sorgen. „Denn Macht, also die Möglichkeit oder Fähigkeit zu haben, etwas zu bewirken oder beeinflussen zu können, ist die Grundvoraussetzung, um Veränderungen zu schaffen.“ (ebd., S. 18).

Organizing ist also ein Konzept geschwächter (gewerkschaftlicher) Strukturen zum Organisationsaufbau, um (wieder) verhandlungsfähig zu werden. Darin steckt bereits ein Doppelspiel aus Strategie und Taktik. Taktiken sind in dem sogenannten Instrumenten- oder auch Werkzeugkasten zu suchen, seien es Eins-zu-eins-Gespräche, Abteilungsgänge, Stärketests, Telefonflashs, Petitionen, Flashmobs, Mehrheitsstreiks und vieles Weiteres als (un-)mittelbare Schritte, um die eigene Ausgangslage zu verbessern. Und zugleich die Zweckmäßigkeit, für die diese Mittel eingesetzt werden (Strategie), die in der (Wieder-)Erlangung von Verhandlungsmacht liegen. Organizing beruht auf der Annahme, dass sich Menschen organisieren, wenn sie die Möglichkeit sehen, dass Probleme, die ihre sind, durch kollektive Organisierung gelöst werden können.

Organizing als … Methodenwerkzeugkoffer

Im breitesten Sinne, also wenn Organizing bloß auf die verwendeten Formen begrenzt wird, handelt es sich um kein genuin progressives Konzept. Beispielsweise kann auch die Tea-Party-Bewegung als eine Organizinkampagne begriffen werden. Im breitesten Sinne ließen sich Organizing und Beteiligung fast synonym verwenden. Mit dieser Erkenntnis kann man aber genauso viel wie wenig anfangen. Ziel dieses Textes ist aber keine breite Auseinandersetzung mit allem, was unter der Klammer des Organizings auftreten könnte. Es geht hier um Aspekte des sogenannten transformativen Organizings, speziell in Bezug auf gewerkschaftliche Debatten.

Eric Mann hat den Begriff zu fassen versucht, wenn er schreibt: „Durch transformatives Organizing werden Massen von Menschen rekrutiert, um radikal für konkrete notwendige Forderungen zu kämpfen – um segregierte Einrichtungen allen zugänglich zu machen, Arbeitsplätze für Schwarze, das Ende der Militärrekrutierung auf dem Campus –, aber immer als Teil einer größeren Strategie, um die strukturellen Bedingungen in der Welt zu verändern: für ein Ende der Apartheid nach der Abschaffung der Sklaverei. Um einen Krieg zu beenden. Für den Aufbau einer wirkmächtigen, langlebigen Bewegung. Transformatives Organizing richtet sich auf eine Transformation des gesellschaftlichen Systems, des Bewusstseins der Menschen, die organisiert werden –, und im Verlauf auch des Bewusstseins der Organizer.“ (Mann 2011, S. 1f).[iii] Eine generelle Kritik der Transformationstheorien haben wir an anderer Stelle unternommen.[iv]

Durch die Fokussierung auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit, beeinflusst durch das Community Organizing, stellt das gewerkschaftliche als Werkzeugkasten eine Art Anreicherung betrieblicher Kampfformen mit Einbindung der sozialen Netzwerke der Arbeiter:innen als bürgerliche Individuen dar. Wie Marx in der Deutschen Ideologie gezeigt hat, tritt im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung das Individuum doppelt in Erscheinung, als Klassenindividuum und als zufälliges oder persönliches (frei von allen ständischen und feudalen Bindungen).

Daher erscheinen sie auch in ihrem eigene Bewusstsein als freier als die Mitglieder früher Gesellschaftsformationen, obwohl sie realiter stärker unter die materiellen Verhältnisse (und damit auch unter ihre Klassenposition) subsumiert sind. Das Community Organizing spricht die Menschen – auch die Lohnabhängigen – letztlich als zufällige Subjekte an, also als Nachbar:innen, Kinder, Eltern, Freund:innen oder Bekannte. Sie sind in Vereinen aktiv, in sozialen Medien präsent, kennen lokale Politiker:innen, sind möglicherweise gläubig usw. Im Übrigen trifft genau das auch auf deren Umfeld zu.

Um dem Theorieteil etwas vorzugreifen, lässt sich sagen: Ihre Stellung ist nicht primär die sich dialektisch bedingender sozialer Klassen, sondern eine positiv bestimmbare Kategorie des Habens. Die Methoden des Organizings bewegen sich tendenziell mehr auf dieser Ebene, die der der Verteilung (Zirkulation) entspricht. Das Organizing im Gefolge von McAlevey nimmt nicht in Anspruch, erstmalig die einzelnen Konzepte (Werkzeuge) entdeckt, sondern sie zu einem System zusammengeführt zu haben.

Zentrale Methoden: der Strukturtest und die organischen Führungspersönlichkeiten

Organizing ist oftmals ein lange andauernder Prozess mit verschiedenen Phasen. In allen werden gewisse Ziele gesetzt (X Mitglieder bis dahin, Y Teilnehmer:innen auf einer Betriebsversammlung, Z Follower:innen auf der Instagramseite). Diese Ziele werden als Strukturtests bezeichnet und bestimmen den Kampagnenfahrplan, der zumeist als eine Art Mapping bei einem Workshop erstellt wurde und nach einem Strukturtest aktualisiert werden muss. Strukturtest bedeutet nicht prinzipiell der Aufbau betrieblicher Kampfstrukturen. Es stellt sich immer die Frage der Zweckmäßigkeit. Eine Urabstimmung über die Durchführung eines Arbeitskampfes oder über dessen Fortsetzung ist immer eine Frage der Kampfperspektive, mit der diese eingebracht wird. Auch die regelmäßigen „Strukturtests“ die beispielsweise die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im TV-G (Tarifvertrag-Gesundheitsschutz) bisher absolvierte, mit monatlichen Streiktagen ohne Verhandlungsfortschritt oder Veränderung der Streiktaktik können zur Schwächung statt zum Strukturaufbau führen.

Organische (An-)Führer:innen sind Kolleg:innen oder Teile einer Community, die eine zentrale Rolle in den jeweiligen Netzwerken spielen. Auch dies Konzept ist an und für sich nützlich. So schlägt McAlevey vor, sich nicht ausschließlich auf die etablierten Kontakte zu stützen, sondern auf sogenannte organische Führer:innen. Verkürzt gesagt, soll auf jene Kolleg:innen der Fokus gelegt werden, die Gehör unter den anderen finden, Vertrauen genießen, gewissermaßen beliebt sind anstatt der reinen Gewerkschaftsmitgliedschaft oder etwaiger Stellungen (bspw. Betriebsrat, Vertrauenskörpermitglied). In gewissem Sinne handelt es sich um die Suche nach charismatischen Führer:innen.

Der Begriff der charismatischen Führung ist jenem der charismatischen Herrschaft entlehnt. Er findet sich u. a. theoretisiert bei Max Weber. Bei ihm lautet es: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 2005, S. 38)[v]. Weber benennt darüber hinaus drei Formen der Herrschaft, die traditionale, die legale und die charismatische. Letztere ist eine Qualität der Persönlichkeit, steht und fällt aber auch mit ebenjener. Charismatische Führer:innen zu gewinnen, wird dabei in den ersten Phasen des Organizings als weitaus zentraler als der Aufbau von Strukturen oder die Gewinnung deutlich mehr neuer Gewerkschaftsmitgliedern betrachtet. Die lebendigen Beschreibungen, die McAlevey beispielsweise in ihrem Buch „Macht. Gemeinsame Sache. – Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie (sic!)“ liefert, zeigen, dass teilweise Versuche, gewerkschaftsfeindliche Kolleg:innen zu gewinnen, gelangen. Umgekehrt schafften es aber auch die professionellen Union-Busting-Unternehmen teilweise, gewerkschaftsnahe Kolleg:innen auf ihre Seite zu ziehen. In den USA treten Organizing- und Union-Busting-Firmen gewissermaßen als Zwillingsgesichter zweier gegensätzlicher Interessen auf, eine im Sinne der Gewerkschafts-, die andere im Sinne der Unternehmensführung.

All diese Beschreibungen sind hoch interessant, geben praktische Tipps für Organizer:innen, doch eine wichtige Frage werfen sie nicht auf. Organische Führer:innen zu sein, sagt noch wenig über den Inhalt der Führung aus. Die Auswahl der Führung durch vom Gewerkschaftsapparat angeheuerte Organizer:innen sagt aber zugleich etwas über deren tendenzielle Perspektive aus. Organische Führer:innen, die sich aus ihrer Opposition auf Betriebsversammlungen heraus bekanntmachen, die über Wochen, Monate und Jahre für die Durchsetzung von Streikzielen ringen, sind etwas anderes als charismatische Individuen, die von Gewerkschaftsbürokrat:innen beauftragt werden, Führer:innen zu sein.

Jedoch steht sich dies nicht prinzipiell entgegen. Was zusätzlich Einfluss nimmt, ist die Frage: Wem gegenüber besteht hier Rechenschaft oder auch wer ist Ross und wer Reiter:in? Durch Organizer:innen bestimmt zu werden, etwas aufzubauen, hat eine andere Wirkung, wenn eine Kolleg:in ausgewählt wird, weil sie eine bestimmte Kampfperspektive vertritt oder sich in einem Kampf gegen die Bosse bewährt hat. Beim aktuellen Organizing nimmt die Gefahr zu, dass die handverlesene organische Führer:in im Zweifel eher mit den Gewerkschaftsbürokrat:innen als gegen sie stimmt. An und für sich ist auch eine charismatische Führung nicht demokratisch legitimiert, wobei – und das wiederholen wir – sich Charisma und Legitimität nicht prinzipiell entgegenstehen müssen. Entscheidend ist vielmehr, dass das Konzept der organischen Führung jenes der demokratischen Kontrolle tendenziell vermeidet.

Grenzen der Demokratie und politischen Ziele

Die Frage der Demokratie tritt jedoch nicht gänzlich in den Hintergrund. Die Kolleg:innen sollen die verschiedensten Phasen der sichtbaren Kampagne durch ihre Beteiligung und demokratische Mitbestimmung durchaus prägen. Dieses Vertrauensverhältnis, das das Organizingkonzept aufzubauen versucht, ist bis zu einem gewissen Grad ein Fortschritt, denn es bezieht kämpfende Arbeiter:innen in die Entscheidungen besser ein. Die Krankenhausbewegung an den Unikliniken in NRW war hier ein gutes Beispiel. Der „Rat der 200“ war eine Art der demokratischen Entscheidungsstruktur des Arbeitskampfs durch die Belegschaft und ein Vorteil gegenüber jeder von oben eingesetzten Tarifkommission.[vi]

Aber die Demokratie hat ihre Grenzen im Konzept. Kritisch wird’s, wenn es um die Frage der Demokratisierung der Gewerkschaften auch über den Arbeitskampf hinaus geht oder wenn eine andere Richtung als jene des Apparates eingeschlagen werden soll. Denn schlussendlich handelt es sich nicht um gewerkschaftliche Basiseinheiten, die aufgebaut werden, die demokratische Kontrolle übernehmen könnten und sollten, sondern um eine Art befristeten, vom Apparat finanzierten und kontrollierten Projektes. Als zugespitzte Form dessen finden in den USA teilweise Pitchformate statt, bei denen Organizer:innen vor Gewerkschaftsbürokrat:innen in kurzer Zeit Potenziale dieser und jener Projektförderung darstellen, die nach Kosten und Möglichkeiten kalkuliert und dann aus der Gewerkschaft outgesourct abgehandelt werden – eine Form des New Public Managements in den Gewerkschaften.

McAlevey, aber auch andere Vertreter:innen dieser Neuausrichtung argumentieren nicht dafür, dass die organischen Führer:innen auch in den Gewerkschaften Fuß fassen sollen oder dass hier die strategische Erneuerung stattfinden solle. Denn das sei Aufgabe des Strategic Unionising, wofür hochprofessionelle (zumeist) Hauptamtliche nötig seien. Die Grenze zwischen Organizing und Strategic Unionising bildet gewissermaßen das Werkstor. Dafür soll eine Definition des Organizing von der ver.di-Sekretärin Agnes Schreieder exemplarisch dienen. Sie schrieb 2005 „Wir selbst bilden die Gewerkschaft im Betrieb“[vii]. Das Zitat spielt a das Betriebsverfassungsgesetz an (BetrVG). In diesem wird das sogenannte Zwei-Säulen-Modell von betrieblicher und tariflicher Autonomie der Mitbestimmung fixiert. Ersteres ist Aufgabe von Betriebsräten,Zweiteres von Gewerkschaften – eine Einmischung findet formal (!) nicht statt. Netter kann also nicht gesagt werden, dass jedwede Demokratie nicht prinzipiell auf die Gewerkschaft zurückwirkt. Die Debatte der gewerkschaftlichen Erneuerung muss aber über Programm, Rolle und Funktion der Gewerkschaftsbürokratie stattfinden.

Als Letztes wollen wir kurz den Mehrheitsstreik anschneiden. Demnach soll es erst in die Arbeitsniederlegung gehen, wenn eine Mehrheit der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert ist. Schauen wir uns Deutschland an, so sind 2019 knapp 45,3 Millionen Menschen lohnabhängig gewesen. Mit dieser Zahl lässt sich zwar nicht hinreichend die Größe der Arbeiter:innenklasse verstehen, aber sie ist ein erster Indikator. Wir müssen uns ehrlich eingestehen, dass selbst in Deutschland, einem Land mit relativ großen Gewerkschaften, diese nie die Mehrheit der Klasse organisierten. Auch zeigt die Tarifrunde im öffentlichen Dienst, dass sie (hier ver.di) in der Aktion einen Großteil ihrer Mitglieder gewinnen. Die Orientierung auf Mehrheitsstreiks mag in den USA eine Vorsichtsmaßnahme aufgrund der schlechteren Arbeitsrechte sein, jedoch spielt auch die Frage der Bündnisfähigkeit hier mit hinein, wofür die mächtigste Waffe, der Schock in der Wertschöpfung, zu einer Maxime wird.

Besonders problematisch wird der Maßstab des Mehrheitsstreiks jedoch, wenn wir über den Rahmen des gewerkschaftlichen Kampfes hinausgehen. Ein Organisationsgrad von 50 % der Klasse ist im Kapitalismus immer die Ausnahmeerscheinung. Demzufolge können politische Massen- oder Generalstreiks fast nie stattfinden – oder hätten faktisch unterlassen werden müssen. In Wirklichkeit zeigen sich hier besonders deutlich die politischen Grenzen des Organizingkonzepts, das nicht auf eine politische Konfrontation mit der herrschenden Klasse und deren Sturz, sondern auf bessere Bedingungen des ökonomischen Kampfes zielt. Das System der Lohnarbeit selbst wird nicht in Frage gestellt.

Wer ist eigentlich Organizer:in?

Wie wird man es und wichtiger, wie bleibt man es? „Wer erzieht die Erzieher:innen?“ Organizing übt eine gewisse natürliche Attraktivität aus. Es stellt zumeist für studierte Aktivist:innen, die bisher in betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen wenig systematisch Fuß gefasst haben, eine Möglichkeit dar, gegenüber beispielsweise der Arbeiter:innenklasse und der strukturellen Krise ihrer größten Organisationen, der Gewerkschaften, aktiv zu werden. Dieses Verhältnis wird durch den Gewerkschaftsapparat eingeleitet und entspringt selten einer zuvor bestehenden Verknüpfung zu betrieblichen Aktiven. In seiner zugespitzten Form sind die Organizer:innen Vermittler:innen zwischen Gewerkschaft und ihrer (potenziellen) Mitgliedschaft im Interesse und materiell abhängig von Ersterer. Eine Untersuchung der Arbeit von Organizer:innen wäre eine eigene Aufgabe. Wir haben in der Vergangenheit schon Berichte gehört von überarbeiteten Organizer:innen, die faktisch als Leiharbeiter:innen durch Subunternehmen bei der Gewerkschaft beschäftigt und dort verheizt werden. Allein aus dieser Konstellation heraus ist es wenig verwunderlich, dass die dauerhafte lebendige Beziehung zwischen organischen Führer:innen und Gewerkschaften vielleicht noch aufrechterhalten bleibt, ob dies für die organizten demokratischen Entscheidungsstrukturen gilt, ist wohl ein seltener Glückswurf.

Organizing versus Mobilizing versus Advocacy

McAlevey skizziert drei verschiedene Ansätze im Kampf gegen ein soziales Problem bei ungleichen Machtverhältnissen: Advocacy, Mobilizing, Organizing. „Advocacy bezieht letztlich gar keine normalen Leute ein; stattdessen werden AnwältInnen, MeinungsforscherInnen, WissenschaftlerInnen und PR-Agenturen damit beauftragt, den Kampf zu führen.“ (McAlevey 2019, S. 34)[viii]. Ein Ansatz, der in dieser Debatte keine große Unterstützung findet, da er auf die Einbeziehung einer breiten Masse verzichtet. Es lässt sich auch klassisch als Stellvertreter:innenpolitik bezeichnen.

Der Mobilizingansatz bezieht hingegen große Menschenmassen in seine Aktionen mit ein, jedoch oftmals dieselben engagierten Aktivist:innen, die ohne großen Rückhalt in ihrem tagtäglichen Umfeld agieren und wie per Knopfdruck von Hauptamtlichen für einen kurzen Zeitpunkt abberufen werden (mobilisiert). Ein praktisches Beispiel wäre eine Antifaaktion in einer Gegend, in der keine Verankerung besteht. Dorthin wird mobilisiert, dann findet eine Aktion statt (bspw. Blockade eines Naziaufmarschs) und danach sind alle wieder weg. Zu guter Letzt das Organizing. McAlevey malt dieses natürlich in den hellsten Farben. Im Zentrum steht die Einbeziehung von Personen, die zuvor kaum oder überhaupt nicht aktiv waren. „Im Organizing-Ansatz bilden spezifische Ungerechtigkeiten und die Empörung darüber die unmittelbare Motivation zur Aktivierung, allerdings ist das letztendliche Ziel die Übertragung der Macht der Eliten auf die Mehrheit, von dem einen auf die 99 %.“ (ebd., S. 35).

Exkurs: Die populare Klasse

Mit 99 % stellt sich schnell die Frage des Subjekts. Schlussendlich ist das Organizing kein rein gewerkschaftliches Programm zum Organisationsaufbau, sondern entspringt dem US-amerikanischen Community-Organizing-Ansatz. In den verschiedensten Texten stolpert man dabei über den Begriff der popularen Klasse. Beispielsweise bei Thomas Goes, der für einen Machtblock von unten wirbt und zusammen mit Violetta Bock im Umfeld der Bewegungslinken oder der Kampagne Organisieren, Kämpfen, Gewinnen (OKG) Einfluss nimmt. Oder Jana Seppelt und Kalle Kunkel, beide (ehemalige) ver.di-Gewerkschaftssekretär:innen und an der Schnittstelle zu sozialen Bewegungen – Seppelt ist zusätzlich stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN. Die beiden schreiben in ihrem Aufsatz „Was Organizing (nicht) ist“ von massenhaften und kollektiven Aktionen als einer zentralen Machtressource der popularen Klassen (Vgl. Kunkel/Seppelt 2022)[ix]. Diese Öffnung des Klassenbegriffs von einem im Wesen des Kapitalismus verankerten Ausbeutungsverhältnis weg und hin zu einem in seiner Erscheinung auftretenden Unterdrückungsverhältnis als Begriff der Empörten eines Volkes ist dem Ansatz bereits eingeschrieben.

In den Debatten werden Organizing und das sogenannte Mobilizing oftmals entgegengestellt. Das entspringt einer Kritik an Saul Alinsky, einem Wegbereiter des Community Organizings. Alinsky, vor allem in Chicago tätig, war von zwei wesentlichen Einflüssen geprägt: der Chicagoer Schule (der Soziologie) speziell von Ernest Burgess und dessen Aufsatz „Can Neighboorhood Work Have a Scientific Basis?“ – eine Debatte, inwiefern der Communitybegriff als Ersatz für den der Klasse verwendet wird, wird hier ausgespart – und den Thesen des Gründers des Gewerkschaftsbundes CIO (Congress of Industrial Organizations) John L. Lewis. Die frühe CIO arbeite bereits mit Konzepten wie dem Mehrheitsstreik, organischen Führer:innen und Strukturtests. Jane McAlevey widmet der CIO, Lewis und Alinsky ein ganzes Kapitel in ihrem zweiten Buch „Keine halben Sachen“ (2019). Während sie Lewis die Entwicklung eines gewerkschaftlichen Organizingmodells attestiert, der angesichts des sich etablierenden Fordismus auf die Gewinnung un- und angelernter Arbeiter:innen setzte, wirft sie Alinsky dessen Entstellung vor. Dessen Organizing sei vor allem Mobilizing gewesen und in der Mehrheit der US-amerikanischen Gewerkschaften seien bis heute die Advocacy- und Mobilizing-Ansätze dominant. Alinsky entstelle das Organzingmodell der CIO an drei Punkten:

Erstens löse er die Organizingmethoden von den Motivationen der Organizer:innen ab und öffne sein Modell für „eine Eliten-zentrierte Machttheorie“ (McAlevey 2019, S. 67). Zweitens beschreibt sie ihn als Feind strategischer Bündnispolitik, da er sich alleinig auf die „Community“ der unqualifizierten Arbeiter:innen bezog und somit nicht auf die Betriebe, um dort den Schulterschluss mit angelernten und höherqualifizierten Arbeiter:innen zu suchen. Drittens ging das Konzept davon aus, dass die hauptamtlichen Organizer:innen prinzipiell ihren Basismitgliedern unterstellt seien und deswegen keine Rechenschaft über ihre Entscheidungen ablegen müssten, da sie sowieso dem Willen ihrer „Leaders“ (der Basis) folgten. In der Realität sah dies umgekehrt aus.

Warum der Exkurs? McAlevey unterstellt zwei Kräften eine Revitalisierung des Lewis-Alinsky’schen Ansatzes seit Mitte der 1990er Jahre, den Kräften rund um New Labour und den Demokrat:innen unter Obama und Hillary Clinton. Gegen diese beiden Richtungen versucht sie dementsprechend, in den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei zu agieren. In Letzterer ist McAlevey im Übrigen Mitglied. Die in linken Kreisen bekannteste Organizingkampagne, die ihren Zielen eher entspricht, unter den Demokrat:innen ist die von Alexandria Ocasio-Cortez (AOC).

Organizing als … politisches Programm

Wichtig bleibt zu verstehen, dass das Organizing keine Perspektive für eine antibürokratische klassenkämpferische Gewerkschaftsopposition aus sich heraus darstellt. Pointiert formuliert ist Organizing ein Werkzeugkasten, mit dem sich linke Bürokrat:innen, die zumeist weitläufige Erfahrungen in sozialen Bewegungen statt betrieblichen Kämpfen aufwiesen, unter Beweis stellen können (Strukturtest), dass ihre Konzepte neue Mitglieder in die Gewerkschaften bringen können, ohne eine grundlegende Opposition gegenüber der Struktur der Gewerkschaften darzustellen. Revolutionäre Antibürokrat:innen dürfen daher nicht beim Organizing stehenbleiben. Sie müssen sich der hilfreichen Elemente bedienen und zugleich den Kampf um Demokratisierung weg von der Illusion einer demokratischen Mitbestimmung inmitten der Klassengesellschaft in einen der Demokratisierung der Kampforgane der Klasse umwandeln. In diesem Sinne können wir vom Organizing Kampfmethoden, angereichert durch technische Kniffe und die sogenannten Social Skills, erlernen. Doch Organizing als reine Form zu verstehen und dessen programmatischen Kern zu ignorieren, bedeutet immer auch eine Kapitulation vor der bestehenden Führung der Klasse und eine Blindheit vor den Sackgassen, in die sie uns führen.

Doch ist es die Gewerkschaftsbürokratie als Teil der Arbeiter:innenbürokratie, die ihr Ziel nicht in der Überwindung der Klassengesellschaft sieht, sondern in der Vermittlung gegensätzlicher Interessen, im „gerechten“ Ausgleich zwischen den Klassen. Daher ist sie materiell an den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat gebunden. Dies ist ein den objektiven, historischen Interessen der Arbeiter:innen fremdes und gilt, bekämpft zu werden. Das Organizing versucht zwar, unsere Klasse in Bewegung zu bringen. So weit, so gut! Doch zugleich bleibt diese Bewegung im Rahmen des Kapitalismus.

Dass McAlevey diese Frage nicht stellt, kann ihr nur bedingt vorgeworfen werden. Schlussendlich ist sie Teil der und Ideologin der Bürokratie. Das wird deutlich, wenn wir ihre Zieldefinition des Organizings lesen. So schreibt sie: „Wir stehen vor einer Wahl: Entweder gute Gewerkschaften aufbauen, robuste Tarifverhandlungen und Streiks möglich machen – oder aber uns von der Demokratie verabschieden.“ (McAlevey 2021, S. 8)[x].

Schlussendlich geht es dem Organizing nicht um den Untergang der herrschenden Ordnung, sondern um deren Verbesserung. Das Konzept läuft auf die Überzeugung oder bestenfalls Isolation des/r politischen Feind:in hinaus, jedoch nicht auf die Vernichtung seiner/ihrer gesellschaftlichen Grundlage (Schlagwort: Eigentum und Verfügung). Statt materielle Gewalt auszuüben mit dem Ziel des Erzwingens, ist hier die oberste Maxime der Appell als moralische Kategorie des gesunden Menschenverstandes.

Der Machtressourcenansatz: die Theorie hinter dem Organizing?

In den Ursprüngen des Organizing wurde ein doppelter Einfluss beschrieben, der einerseits den gewerkschaftlichen Debatten entsprang, die nach Konzepten für neue Herausforderungen suchten (damals: Fordismus, heute: gewerkschaftlicher Mitgliederverlust) und andererseits seine Bestätigung in den Konzepten sozialwissenschaftlicher Debatten suchte. Damals war dies die Chicagoer Schule, heute tritt zumindest in Deutschland der sog. Machtressourcenansatz an diese Stelle. Im Folgenden soll daher der Ansatz von Dr. Stefan Schmalz (Uni Erfurt) und Prof. Dr. Klaus Dörre (Uni Jena) beschrieben werden.[xi]

Vergleichbar mit der Chicagoer Schule pflegen auch diese Wissenschaftler:innen ein offenes, beratendes Verhältnis zu den praktischen Organizer:innen, wie die Machtressourcenkonferenz vom April 2022 zeigt. Diese wurde vom Bereich Arbeitssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert.[xii] Unter dem Einfluss dieser Konferenzen und ihrer Akteur:innen stehen die bisherig aufgezählten deutschsprachigen Autor:innen. Thomas Goes ist beispielsweise im Forschungsverbund von Dörre, Jana Seppelt war Sprecher:in auf der Konferenz.

Bevor der Ansatz vorgestellt wird, soll schemenhaft der Kapitalbegriff Pierre Bourdieus erwähnt werden. Der französische Soziologe gilt als poststrukturalistischer Neomarxist. Sein Kapitalbegriff ist jedoch grundsätzlich verschieden vom marxistischen. Bourdieu unterscheidet vier verschiedene Kapitalarten: ökonomisches, kulturelles, symbolisches und soziales Kapital. Sie sind ineinander transformierbar, wobei das ökonomische Kapital primär ist (vgl. Bourdieu 2016, S. 11)[xiii]. Er befasst sich jedoch weniger mit der Genese als mit der ungleichen Verteilung besagten Kapitals. Kapital wird bei Bourdieu zwar als akkumulierte Arbeit (ähnlich der geronnenen Arbeit bei Marx) bezeichnet, jedoch nicht prinzipiell aus einem Ausbeutungsverhältnis hergeleitet. Ähnlich wie bei anderen postmodernen Denker:innen seiner Zeit symbolisiert für ihn Kapital kein gesellschaftliches Verhältnis, sondern eine Kategorie von Macht. Um beispielsweise soziales Kapital zu reproduzieren, bedarf es der stetigen Pflege sozialer Beziehungen. Während der Marx’sche Kapitalbegriff auf der Ausbeutung fremder Arbeitskraft fußt, ist das Bourdieu’sche Kapital durch persönlichen Einsatz reproduzierbar. Kapital bei Marx ist also ein Ausbeutungsverhältnis, bei Bourdieu eine Ressource unter vielen. Bourdieus Kapitalbegriff ist faktisch primär in der Zirkulationssphäre und der Öffentlichkeit angesiedelt.

Mit diesem gewappnet gehen die Autor:innen vor, wenn sie dem Machtressourcenansatz anhängen. Sie entwickeln vier verschiedenen Formen: strukturelle, Organisationsmacht, institutionelle und, etwas quer dazu, gesellschaftliche Macht. Ausgangsthese ist, dass Lohnabhängige in Aushandlungen „durch kollektive Mobilisierungen von Machtressourcen ihre Interessen erfolgreich vertreten können“ (Schmalz/Dörre 2014, S. 211). In einer gewissermaßen linearen Reihenfolge stehen dabei die ersten drei Machtressourcen. Die strukturelle Macht entspringt der Stellung von Arbeiter:innen in der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, die Organisationsmacht ist Ausdruck des kollektiven Zusammenschlusses in ihren Organisationen. Bis hierin erinnert das Konzept noch an Marx. Der grundlegende Unterschied wird jedoch deutlich, wenn es nun zur Frage der Zwecksetzung kommt.

An dieser Stelle kommt die institutionelle Macht ins Spiel. Diese zielt auf die Möglichkeit des zeitlichen Fortbestehens sozialer Kompromisse. In diesem Sinne muss Organizing als Aufbau von Organisationsmacht (Gewerkschaften), die aus der strukturellen Macht der Klasse folgt (Stellung im Wertschöpfungsprozess und der ständigen Herausforderung durch ihre sozialen Errungenschaften) mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der institutionellen Macht (beispielsweise der Sozialpartner:innenschaft) verstanden werden.

Dieses Programm wird durch überhöhte Argumente für ein damit zusammenhängendes Gemeinwohl anstelle der Unvereinbarkeit widersprüchlicher Interessen begründet, also mit der Kategorie gesellschaftlicher Macht in ihren Unterformen der Kooperations- und Diskursmacht. Schauen wir uns, um plakativ zu sein, einmal die Slogans von Organizingkampagnen an: Krankenhausbewegung – Mehr von uns ist besser für alle; TV-Stud – Ohne uns läuft hier nix, gebt uns unsre Kohle fix; Service Employees International Union – Justice for Janitors.

Es geht darum, das eigene Interesse als ebenfalls legitim zu markieren und dafür breite (also klassenübergreifende) Bündnisse zu schmieden. Zumeist werden dafür die weiterreichenden Ziele aufgegeben (es muss realistisch sein). Unter der Überschrift eines gerechten Ausgleichs lassen sich verschiedene bürgerliche Ideologien zusammenfassen, sowohl solche, die in der Arbeiter:innenbewegung verankert sind (Reformismus) als auch bürgerlich liberale Konzeptionen (bspw. John Stuart Mills Lohnfonds). Und damit ist auch das Problem skizziert. (Transformative) Organizingansätze zielen auf die Erreichung eines Bewusstseins für einen gesellschaftlichen Kompromiss ab, dieser ist immer einer zwischen antagonistischen Klassen. Das Programm des Organizing stellt sich also nicht die Frage, inwiefern der ursprüngliche Kompromiss (die Sozialpartner:innenschaft in Deutschland) notwendig selbst zum Niedergang der eigenen Basis führen musste und auch bei den besten Organizingkampagnen wieder führen wird. In diesem Sinne ist Organizing ein gefährliches Amalgam aus bürgerlichen Ideologien.

Doch warum jetzt? Oder: Wann, wenn nicht wir?

Mit einer These hat der Text angefangen, konkret mit dem Schrumpfen der Organisationsmacht der Gewerkschaften in Deutschland (Mitgliederzahlen). Andererseits beobachten wir als Folge der Agenda 2010, aber auch beispielsweise der Digitalisierung der Arbeitswelt (Plattformökonomie usw.) eine Zunahme nicht gewerkschaftlich erschlossener Bereiche, während zugleich der Caresektor massiv und nicht erst seit der Pandemie an neuer Bedeutung gewonnen hat. Über Organizingkampagnen, aber auch außerhalb dieser konnten wir neue kampffähige Sektoren der Arbeiter:innenbewegung sehen, die nicht so einfach ins Ausland verlagert werden können. Zur selben Zeit erleben wir eine Tendenz der Deglobalisierung und des Umbaus ganzer Wertschöpfungsketten, teilweise zurück in die imperialistischen Zentren selbst. Die neuen Sektoren zu erschließen und für ein Programm des Klassenkampfes zu gewinnen, ist also das Gebot der Stunde.

Aber das Organizing gerade in seiner linken Form verbleibt dabei im Rahmen eines bürgerlich-reformistischen Verständnisses von Klassenbeziehungen und des -kampf. Es erkennt wie andere reformistische Kräfte den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital durchaus an. Aber es will nichts wissen von seiner revolutionären Aufhebung.

So sinnvoll daher auch einzelnen Organizingtechniken sind – so grundlegend müssen Revolutionär:innen dieses strategische Konzept und das damit verbundene gewerkschaftliche und reformistische Programm ablehnen. Es entspricht der Stellung und den Zielen der (linken) Bürokratie, linker reformerischer und populistischer Kräfte und findet daher auch seine Grenzen, wenn der politische Horizont bürgerlicher Reformpolitik überschritten werden soll.

Dann wendet sich die ganze Organizingprogrammatik letztlich gegen eine klassenkämpferische, demokratische und antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften und aller anderen Arbeiter:innenorganisationen. Der Aufbau eine klassenkämpferischen Basisbewegung und erst recht kommunistischer Fraktionen in den Gewerkschaften steht dem Gesamtkonzept diametral entgegen. Das wirkliche Gespenst, das nicht nur durch die Gewerkschaftshäuser geistert – bleibt das des Kommunismus.


Endnoten

[i] https://www.rosalux.de/o4p (abgerufen am 18.04.23)

[ii] Rehder, Britta (2014): Vom Korporatismus zur Kampagne? Organizing als Strategie der gewerkschaftlichen Erneuerung. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. S. 241-264.

[iii] Mann, Eric (2011): Transformatives Organizing. Praxistheorie und theoriegeleitete Praxis. https://www.rosalux.de/publikation/id/5259/transformatives-organizing (abgerufen am 18.04.23)

[iv] Suchanek, Martin (2016): Zur „Revolutionären Realpolitik“ der Linkspartei. Revolution oder Transformation. In: Neue Internationale 215. https://www.arbeitermacht.de/ni/ni215/luxemburg.htm (abgerufen am 18.04.23)

[v] Weber, Max (2005): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Berlin: Zweitausendeins.

[vi] Hier ein Bilanzartikel von uns: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/07/21/streik-der-unikliniken-nrw-beendet/

[vii] Schreieder, Agnes (2005): Organizing. Gewerkschaft als soziale Bewegung. Berlin: ver.di Eigenverlag.

[viii] McAlevey, Jane (2019): Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing. Hamburg: VSA Verlag.

[ix] Kunkel, Kalle und Seppelt, Jana (2022): Was Organizing (nicht) ist. https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/was-organizing-nicht-ist/ (abgerufen am 18.04.23)

[x] McAlevey, Jane (2021): Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie. Hamburg: VSA Verlag.

[xi] Schmalz, Stefan und Dörre, Klaus (2014): Der Machtressourcenansatz: Ein Instrument zur Analyse

gewerkschaftlichen Handlungsvermögens. In: Industrielle Beziehungen, 21(3). S. 217-237.

[xii] https://www.machtressourcen-konferenz.de/ (abgerufen am 18.04.23)

[xiii] Bourdieu, Pierre (2016): Sozialer Raum und »Klassen«. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.




Frankreich: Generalstreik gegen die „Rentenreform“! Nieder mit Macron und der antidemokratischen Fünften Republik!

Marc Lassalle, Infomail 1217, 24. März 2023

Seit zwei Monaten wird Frankreich von Streiks und Protesten gegen den Versuch, das Rentenalter zu erhöhen, erschüttert. Doch nun ist die Krise in eine neue Phase eingetreten.

Nach monatelangen Verhandlungen, in denen versucht wurde, die Stimmen der Abgeordneten des rechten Flügels der Republikaner:innen zu kaufen, konnte die Regierung immer noch keine Mehrheit erlangen – ein Zeichen für den Druck, den die Massen auf alle Abgeordneten ausübten.

Präsident Emmanuel Macron berief sich daraufhin auf Artikel 49.3 der Verfassung, der es ihm erlaubt, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass es eine Mehrheit unter den Abgeordneten gibt, geschweige denn ein Mandat des Volkes.

Dieser ungeheuerliche Eingriff in die Demokratie löste mehr als eine Woche lang eine neue Serie nächtlicher Proteste aus. In diesen Kämpfen mit den Sicherheitskräften stehen immer mehr junge Menschen an vorderster Front: Sie lassen sich nicht ihrer demokratischen Rechte berauben!

An den Arbeitsplätzen fällt das Tempo des Kampfes uneinheitlich aus. Einige Sektoren wie die Eisenbahnen, die Energiewirtschaft, die Docks und die Müllabfuhr werden seit Wochen bestreikt. Auf den Straßen von Paris türmen sich 10.000 Tonnen Müll. Die Häfen von Marseille und Rouen sind blockiert, ebenso wie mehrere Raffinerien. Die Benzinknappheit ist im Süden des Landes sehr groß und weitet sich unaufhaltsam auf das ganze Land aus.

Der Aktionstag am 23. März brachte 3,5 Millionen Arbeit„nehmer“:innen mit hunderten Demonstrationen auf die Straße. Die Erfahrung der letzten Wochen zeigt jedoch, dass selbst eine Mobilisierung dieses Ausmaßes nicht ausreicht, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen, geschweige denn, um sie vollständig abzusetzen, was die notwendige Voraussetzung für die Aufhebung des Gesetzes und eine angemessene Bestrafung für ihre Missachtung der Demokratie wäre.

Alle Gewerkschaftsverbände erklärten, sie würden das Land im März zum Stillstand bringen. Die Realität sieht jedoch bislang anders aus. Einige gut organisierte Sektoren führen zwar erneuerbare Streiks durch (die jeden Morgen in Betriebsversammlungen abgestimmt werden), aber es gibt keine generelle Arbeitsniederlegung. An den Aktionstagen (neun seit Januar) werden Millionen auf die Straße gebracht, aber die Zahl der Streikenden außerhalb dieser Tage ist eher gering.

Was ist hier los? Die Gewerkschaftsführer:innen haben ihre Glaubwürdigkeit in diesem Kampf aufs Spiel gesetzt – sie können heute nicht einfach nachgeben oder sich zurückziehen. Aber sie wollen auch nicht über die aktuelle Strategie hinausgehen. Da die Rentenreform nach allgemeiner und richtiger Auffassung den Lohnabhängigen zwei Jahre ihres Ruhestands vorenthält, würde eine Niederlage bedeuten, dass sie zugeben müssten, dass sie nicht in der Lage sind, die bestehenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen zu verteidigen, geschweige denn für Verbesserungen zu kämpfen.

Doch trotz des hohen Einsatzes weigern sich die Gewerkschaften, zu einem Generalstreik aufzurufen. Sie bestehen auf Blockaden, auf Verallgemeinerungen, aber sie haben nicht dazu aufgerufen, dass alle organisiert und gemeinsam das Land in einem unbefristeten politischen Streik lahmlegen. Der Grund dafür ist einfach. Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten in Frankreich ist gering, weniger als 10 Prozent. Die Führungen ziehen es daher vor, gut kontrollierte Streiks in einigen strategischen Sektoren mit „Aktionstagen“ für alle anderen zu kombinieren. Sie ziehen diese konkreten Aktionen einem unbefristeten Generalstreik vor, der zwangsläufig die Organisation alternativer lokaler, regionaler und nationaler Führungen zur Koordinierung erfordern würde. Angesichts eines politischen Kampfes, der eine politische Aktion in gleichem Umfang erfordert, sind die Gewerkschaftsspitzen unschlüssig und verhalten sich zu dieser Aufgabe passiv. Doch dies ist eine Strategie der Niederlage.

Viele Arbeiter:innen betrachten die Gewerkschaftsführer:innen immer noch als die legitime Führung, auch weil die Gewerkschaftsfront (die Intersyndicale) bislang geschlossen bleibt und die Reden der Führer:innen einen radikalen Ton anschlagen. Doch bevor Macron ein Misstrauensvotum knapp überstand, war die Zahl der Streikenden rückläufig. Das hat sich nach dem 16. März zwar wieder geändert. Aber ohne einen ernsthaften Tempo- und Richtungswechsel wird sich nach einiger Zeit wieder dasselbe Problem stellen.

Deshalb müssen wir den Schwung des aktuellen Kampfes nutzen. Dieser ist noch nicht vorbei, er ist vielmehr in eine entscheidende Phase getreten. Die nächsten Tage und Wochen werden von größter Bedeutung sein. Die Entschlossenheit der Streikenden, kombiniert mit der noch zu entfesselnden Kampfbereitschaft der Massen, ist unermesslich stärker als die Regierung und ihre Polizei. Die Jugend nimmt den Kampf auf: Universitäten in Paris und Toulouse sind besetzt. Überall versuchen Aktivist:innen, die Betriebe zu vernetzen, Streikkomitees zu bilden und für einen Generalstreik zu werben.

Das jüngste Interview von Macron, das von einer ungezügelten Verachtung für die Lohnabhängigen geprägt war, hat die Situation noch zugespitzt. Die Gewalt der Polizei und die Forderungen der Minister:innen nach einem harten Durchgreifen gegen die Demonstrant:innen verstärken den Hass der Bevölkerung auf die Regierung nur noch. Millionen von Menschen fühlen, dass Demokratie und Gerechtigkeit auf ihrer Seite sind.

Der Generalstreik ist der einzig mögliche Schritt. In jedem Betrieb sollten die Aktivist:innen die Führung übernehmen und ihre Kolleg:innen davon überzeugen, die Streiks auszuweiten, die Profitmaschine zu stoppen und die öffentlichen Dienste zu schließen. Generalversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben sollten die Führung übernehmen und Aktionsräte bilden, die regional und national vernetzt sind, um die Verallgemeinerung von Streiks zu organisieren.

Dieser Kampf geht über die Renten hinaus. Auf Macrons Umgehung des Parlaments kann es nur eine Antwort geben: einen Generalstreik, um die Rentenreform zu stoppen, um Macron zu stürzen und vor allem, um die 5. Republik und ihre bonapartistische Verfassung zu Fall zu bringen.

Macron wird nicht der erste Tyrann sein, der von den französischen Arbeiter:innen auf der Straße besiegt wird. Aber er könnte der letzte sein, wenn die französische Arbeiter:innenklasse sich auf eine Endabrechnung mit dem Kapitalismus vorbereitet.




Drei Jahre LINKS, drei Jahre Hauausforderungen – eine Bilanz

Heidi Specht / Flo Kovacs, Infomail 1217, 18. März 2023

Von der Gründung zum Wahlkampf

Seit mittlerweile drei Jahren gibt es LINKS in Wien. Seit der Gründungsversammlung im Jänner 2020 ist auch der Arbeiter*innenstandpunkt in dem linken Parteiaufbauprojekt aktiv. Damit unsere Arbeit in diesem Zusammenschluss besser verständlich wird, soll hier eine Bilanz über die vergangenen drei Jahre gezogen werden: Was ist passiert? Wo wurde gekämpft? Was davon war wie erfolgreich und wo stehen wir jetzt?

Auch wenn LINKS inzwischen drei Jahre alt ist, muss es weiterhin als junge Gruppierung in der politischen Landschaft der Bundeshauptstadt gesehen werden. Seit der Gründung hat die Organisation einen nennenswerten Transformationsprozess durchlaufen, der mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen ist. Einige Gruppen und Personen, die zu Beginn noch eine wichtige Rolle eingenommen hatten, sind inzwischen gar nicht mehr dabei. Andere haben sich erst in den Jahren nach der Wahl angeschlossen, um beim Aufbau mitzuhelfen und das Projekt zu beeinflussen. Der Einfluss des Arbeiter*innenstandpunkts und seiner Mitglieder hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, LINKS in einigen Fragen in eine revolutionäre Richtung zu bewegen.

Wenige Wochen nach der Gründung der einzelnen Bezirksgruppen war LINKS schon durch die Coronapandemie und den ersten Lockdown in einer sehr schwierigen Situation. Wie bei großen Teilen der übrigen Linken und der Gesellschaft im Allgemeinen musste in kürzester Zeit der Betrieb auf Onlinetreffen umgestellt werden. Das gelang im Großen und Ganzen gut, machte aber den Aufbau der Strukturen und die Rekrutierung neuer Aktivist:innen schwierig. Bald darauf startete dann auch schon der Wahlkampf. Immerhin war der Antritt zur Wiener Gemeinderatswahl 2020 der Anlass zur Gründung dieser Partei, die dem „Wählen mit Bauchweh“ ein Ende bereiten wollte. Man dachte groß, träumte mitunter von einem Einzug in den Gemeinderat und kündigte die Rückkehr des Roten Wien als reformistische Wunschvorstellung an. Ganz so weit kam es dann doch nicht, aber im gemeinsamen Antreten mit der Wiener KPÖ konnte das Wahlergebnis des KPÖ-geführten Wahlbündnisses „Wien Anders“ von 2015 knapp verdoppelt werden. Ein solcher Erfolg war einer Gruppe links der SPÖ zuletzt 1974 gelungen.

Der kleine Parlamentarismus

Es konnten insgesamt 23 Mandate in Bezirksvertretungen erreicht werden. Zwar ging ein nennenswerter Anteil davon an die KPÖ, doch auch Personen, die bisher, wenn überhaupt, außerparlamentarisch aktiv waren, fanden sich nun in den untersten Vertretungsorganen der Stadt wieder. Sie sollten nun den Kampf von der Straße in die Bezirksvertretungen tragen. Das hat in einigen Punkten gut funktioniert. Zum Beispiel müssen in der Brigittenau nun gemeinnützige Wohnungen auf dem Grundstück eines abgerissenen Gebäudes errichtet werden, haben sich mehrere Bezirke zu sicheren Häfen im Sinne der „Seebrücke“ erklärt und der Hamburger Initiative „Stadtteile ohne Partnergewalt“ wurde von einzelnen Bezirken die Unterstützung zugesichert. Besonders die letzten beiden Aktionen wurden von den LINKS-/KPÖ-Bezirksrät:innen koordiniert durchgeführt, um die kleinen Verbesserungen in einem etwas größeren Rahmen durchzusetzen.

Dass die großen Würfe ausblieben, hat unterschiedliche Gründe. Der erste ist schlichtweg die stark begrenzte Kompetenz der Bezirksvertretungen. Über mehr als lokalpolitisch relevante Themen können ausschließlich Resolutionen verabschiedet werden, sonst wird sich hauptsächlich mit wenig relevanten Verwaltungsgeschichten herumgeschlagen. Wenn wir als Kommunist:innen davon ausgehen, dass echte Verbesserungen nicht durch Parlamente, sondern nur durch außerparlamentarischen Druck aus den Betrieben und von der Straße durchgesetzt werden können, potenziert sich dieses Argument nur bei solch machtlosen Organen wie der Bezirksvertretung.

Den zweiten Grund stellt die Übermacht der SPÖ in den meisten Vertretungen in Kombination mit bürokratischen Hürden für kleine Parteien dar. Das hat sich besonders in der umfassenden Ablehnung der Resolutionen gegen den Lobautunnel und die Stadtstraße, mit Ausnahme des Alsergrunds, gezeigt.

An dritter Stelle ist das Vorgehen der Bezirksrät:innen selbst zu nennen. Dieses war zwar, wie erwähnt, in manchen Punkten koordiniert, jedoch nicht in dem Ausmaß, in dem es angedacht war und sinnvoll wäre. Die Mandatar:innen arbeiteten viel in ihren eigenen Bezirken mit ihren eigenen Schwerpunkten und unterschiedlichen Herangehensweisen. Eine gemeinsame, von den aktuellen LINKS-weiten Schwerpunkten abgeleitete Strategie war bisher kaum zu erkennen. So eine Strategie sollte die Vertretungskörper als Bühne für aktuelle und zentrale Inhalte nutzen und dabei die Gewinnung neuer Aktivist:innen auf Basis offen antikapitalistischer Agitation in den Mittelpunkt stellen. Unmittelbare Verbesserungen für Arbeiter:innen und Unterdrückte sind zwar wichtig, aber auf bezirkspolitischer Ebene noch weniger zu erreichen als generell durch Parlamentarismus – und darin dürfen wir keine Illusionen schüren.

Themen gesetzt …

Die erwähnten gesamtorganisatorischen Schwerpunkte haben sich meistens in Form von Kampagnen ausgedrückt. Die erste davon fand rund um die Forderung nach einer 30-Stunden-Arbeitswoche statt. Unter dem Motto „Mach ma 30“ wurde die Stadt Wien aufgefordert, die Normalarbeitszeit ihrer Bediensteten bei vollem Lohn- und Personalausgleich entsprechend zu senken – eine durchaus gute Forderung um die es wert wäre zu kämpfen. Als erste Jahreskampagne setzte sie sich gegen eine Reihe anderer Vorschläge (u. a. knapp gegen eine von AST-Mitgliedern initiierte, offen antikapitalistische Kampagne gegen die Wirtschaftskrise im Zuge der Coronapandemie) durch, mit dem Anspruch, in der Folge von der gesamten Aktivist:innenschaft getragen zu werden. Das Ziel der Kampagne, als nächstes großes Projekt nach der Wahl die gesamte Organisation hinter sich zu versammeln, wurde jedoch nicht erreicht. Hier zeigte sich das Fehlen von zentralistischen Zugängen und Führungsansprüchen in der Partei. Das Herzstück von „Mach ma 30“, eine Petition an die Stadt Wien, wurde beim Wahlbüro abgegeben, danach ist aber nichts weiter passiert. Mit Sicherheit ist es ein Versäumnis, dass diese Kampagne nach ihrem Ende keine Bilanzierung innerhalb von LINKS erfahren hat, auch weil unter den Mitgliedern keine Einigkeit über ihren Erfolg besteht.

Dieser erste Jahresschwerpunkt war allerdings die bisher einzige Kampagne, die von der gesamten Organisation über einen langen Zeitraum hinweg getragen werden sollte. Die zweite, die ein bundesweites „Ausländervolksbegehren“ zum Ziel hatte (als Gegenprojekt zum „Ausländervolksbegehren“ von Haider vor 30 Jahren), wurde, noch bevor sie tatsächlich ins Laufen gekommen war, wieder auf Eis gelegt. Sie war nicht realistisch umsetzbar. Außerdem hatte sich das Thema Teuerung bedeutsam aufgedrängt. Stattdessen verstärkten einzelne Bezirke ihre eigenen Schwerpunkte: Ottakring und Penzing beispielsweise behandelten die Pflegekrise in Flugblättern und Diskussionsveranstaltungen, Rudolfsheim-Fünfhaus und Brigittenau führten öffentliche Veranstaltungen durch, um die Forderung nach dem Wahlrecht für alle populärer zu machen.

Im Zuge der steigenden Inflation wurde dann das Thema Teuerung immer wichtiger. Schon bei der Aktivist:innenkonferenz im Februar 2022 gab es einen Antrag, der sich strategisch damit auseinandersetzte. Im Sommer gab es dann die Initiative, die gesamte Organisation mehr auf das Thema auszurichten. LINKS beteiligte sich am Wiener Bündnis gegen Teuerung „Es reicht“ und veranstaltete eine interne Schulung samt Diskussion zu Inflation sowie den Forderungen dazu. Zukünftig wäre es gut, solche Schwerpunktdiskussionen früher zu planen und durchzuführen, weil eine Beteiligung an der öffentlichen Diskussion zur Teuerung dadurch erst verspätet möglich war. Insgesamt begrüßen wir aber solche Veranstaltungen zur gemeinsamen Diskussionsfindung. Nun war man nämlich nicht auf das Bündnis angewiesen und konnte auch selbstständig tätig werden. Die Notwendigkeit dafür zeigten die schlecht besuchten Demonstrationen und Straßenfeste des Bündnisses, bei denen LINKS deutlich weniger Mobilisierung verzeichnete als aus den Vorjahren gewohnt, dabei aber noch deutlich mehr als andere beteiligte Organisationen. Teil der Kampagne waren außerdem Aktionen solidarischer Praxis wie mehrere „Küchen für alle“ und Solidaritätsaktionen bei Arbeitskämpfen. Diese wurden generell positiv aufgenommen.

Die vorhergehende inhaltliche Schulung der Mitgliedschaft hat nicht nur eine eigenständige Kampagne zur Teuerung möglich gemacht, sondern auch den Grundstein für die für 2023 geplante Kampagne zu Klimakrise und Umverteilung gelegt. Thematisch befindet sich LINKS damit in genau den Gebieten, auf denen es in den vergangenen Jahren nicht nur sein Profil schärfen konnte, sondern auch auf medial öffentliches Interesse gestoßen ist. Hier sind nun Führung und Planungsgruppe aufgerufen, die Basis von Anfang an sowohl mit einzubinden als auch inhaltlich anzuleiten, damit schlagkräftige antikapitalistische Klimapolitik gemacht werden kann, die eine wirklich systemkritische Alternative zur Politik scheinbar radikaler Gruppen wie Extinction Rebellion oder der Letzten Generation darstellt.

 … und Kämpfe beeinflusst

Der Gegensatz zu diesen Gruppen hat sich bereits bei der Besetzung der Baustelle für die Stadtstraße in Hirschstetten aufgetan. Hier konnte LINKS – gemeinsam mit anderen antikapitalistischen Kräften wie System Change not Climate Change, dem Jugendrat oder REVOLUTION – dezidiert antikapitalistische Forderungen in einen bestehenden Kampf hineintragen und diesen damit verändern. Die LINKS-Arbeitsgruppe Lobau konnte glaubhafte Antworten auf Fragen liefern, die von Seiten der bürgerlichen Umweltbewegung nicht thematisiert werden. Das muss als Erfolg gewertet werden, auch wenn die Verankerung in der Bewegung seit der Baustellenräumung deutlich geschrumpft ist. LINKS konnte sich sowohl in der öffentlichen Debatte profilieren als auch in einen Kampf einbringen, ihn mitgestalten, daran wachsen und in den antikapitalistischen Klimaorganisationen Verbündete für weitere Kämpfe gewinnen.

Der zweite von außen angestoßene Kampf, in den LINKS helfend intervenieren konnte, war die Solidarität mit Menschen aus und in Afghanistan. Wenngleich sie keine eigene Struktur innerhalb der Organisation verkörpert, stellt die nach der Machtübernahme der Taliban 2021 gegründete Soligruppe Afghanistan einen genutzten Rahmen für die Arbeit der Community in Wien dar. Die LINKS-Aktivist:innen haben diese nur initiiert, um einen Raum zu schaffen, der weiterhin stark genutzt wird und um den herum Aktionen wie Demonstrationen organisiert werden. Kritisch zu betrachten ist hier aber, dass – trotz der berechtigten Verachtung der Taliban – sehr oft ein unkritischer Bezug auf die Zeit der NATO-Besatzung sowie die liberalen Kräfte in der Diaspora besteht.

Dies sind Beispiele dafür, wie Gruppen innerhalb von LINKS es geschafft haben, durch ihre organisatorischen Fähigkeiten Räume zu eröffnen und Kämpfe nicht nur zu stärken, sondern auch zu beeinflussen. Das muss LINKS auch beibehalten und dabei klassenkämpferische Perspektiven überall dort einbringen, wo diese fehlen oder nicht genug Raum bekommen. Weniger passiert ist das etwa im Widerstand gegen den Bau der Markthalle beim Naschmarkt. In dieser von den Grünen angeleiteten Initiative konnte LINKS nur mitschwimmen und kaum eigene Inhalte einbringen.

Stark auf der Straße

Die Höhepunkte in der noch kurzen Geschichte von LINKS bestehen, wie ausgeführt, bisher weniger in der erfolgreichen Durchführung lang angelegter Kampagnen. Die einzige Ausnahme stellt dabei der Wahlkampf dar. Dort fehlte zwar der konkrete thematische Fokus, stattdessen gab es aber ein großes gemeinsames Ziel, auf das mit kollektiven Kräften hingearbeitet wurde. Wenn auch der Sprung auf die große Bühne des Gemeinderats nicht geglückt ist, fiel das Wahlergebnis durchaus ansehnlich aus. Diese Arbeit schaffte ein Gemeinschaftsgefühl, das LINKS bisher nicht erneut herstellen konnte. Im Oktober 2020 stand LINKS selbstbewusst, einigermaßen konsolidiert und mit Tatendrang am Ende eines anstrengenden Wahlkampfs da.

Dass LINKS unter anderem aus der Organisation größerer, regelmäßiger Demonstrationen gegen eine von Sebastian Kurz geführte Regierung hervorgegangen war, hat später zu einem weiteren Erfolgsmoment geführt. Selbst wenn der reale Einfluss auf die Rücktrittsentscheidung nicht allzu groß zu bemessen ist, hat LINKS es zuallererst geschafft, die Forderung nach dem Rücktritt des gescheitertsten österreichischen Bundeskanzlers der vergangenen Jahrzehnte effektiv, schnell und laut auf die Straße zu befördern. Dabei wurden auch Vereinnahmungen durch Coronaleugner:innen, die immerhin den Slogan „Kurz muss weg“ an sich gerissen hatten, gekonnt verhindert, um die eigene Glaubwürdigkeit beizubehalten.

Zwar nicht so groß, aber ähnlich spontan und wichtig war die Demonstration für das Recht auf sicheren Schwangerschaftsabbruch nach dem Fall von Roe vs. Wade in den USA. Auch hier war es LINKS, das schnell reagierte und Initiativen auf die Straße brachte.

Außerdem hat LINKS es 2022 geschafft, sich mit einem Gassenlokal dauerhaft ansprechbar zu machen. Die „Vero“ (Veronikagasse) ist zwar aktuell noch kein Anlaufpunkt, an dem zu den wochentäglichen Journaldiensten dauerhaft Menschen ein- und ausgehen. Aber sie ist ein weiterer Punkt für eine Organisation, die auf Arbeit in der Nähe der Menschen und in den Grätzln setzt. Diese Ansprechbarkeit ist als positiv zu bewerten.

Herausforderungen

Es ist erkennbar, dass die Höhepunkte 2022 eher kleiner Natur waren. Das Jahr war geprägt von Krisen innerhalb der Organisation, die auch die Außenwirkung beeinträchtigt haben. Doch die Führungskrise begann nicht erst im vergangenen Jahr. Bereits in den Monaten nach der Wahl des Koordinationsteams bei der Aktivist:innenkonferenz 2021 schieden zwei Personen aus der Führung, die tendenziell dem linken Flügel innerhalb von LINKS zuzuordnen sind.

Spätestens mit den Anschuldigungen gegen den Sprecher Can und seinen anschließenden Ausschluss hatte die Koordination mit einer Mehrbelastung zu kämpfen. Diese war nicht nur ein Resultat der weggefallenen Ressourcen von Can, sondern mindestens genauso sehr der damit einhergehenden notwendigen Auseinandersetzung mit dem Thema nach innen und außen. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist niemand – auch linke Gruppen nicht – vor solchen Vorfällen gefeit. Dennoch sind Vorwürfe sexueller Grenzüberschreitungen gegen zentrale Personen ein schwerer Schlag für jede linke Gruppierung und erfordern viel Aufarbeitung, die auch noch nicht abgeschlossen ist. Auch nach dem Sommer traten dann noch zwei weitere Mitglieder aus der gewählten Führung aus. Eine der Konsequenzen, die daraus gezogen wurden, ist, dass mit der Mitgliederkonferenz 2023 dann die Wahlperiode der Koordination von zwei Jahren auf ein Jahr verkürzt wurde.

Die Organisation hat es außerdem nicht geschafft, auch wenn der „Mach ma 30“-Kampagne so etwas manchmal nachgesagt wird, den Großteil der Aktivist:innen hinter einer gemeinsamen Aktivität oder einem thematischen Schwerpunkt zu vereinen. Zu sehr zersplittert erscheinen die einzelnen Teile der Organisation. Obwohl es dazu an der Basis durchaus ein Problembewusstsein und Rufe nach Austausch gibt, haben keine der bisherigen Versuche es geschafft, daran substanziell etwas zu ändern. Der Koordination ist es ebenfalls nicht ausreichend gelungen, eine politische Führung in dem Sinne zu sein, dass sie die zu bearbeitenden Kämpfe vorgab oder ausreichend nachdrücklich vorschlug. Eine Schwierigkeit dabei ist weiterhin, dass einige Bezirksgruppen zu sehr auf Bezirksarbeit beschränkt sind. Dadurch kann es ihnen schwerfallen, sich groß an übergreifenden Projekten zu beteiligen. Eine stärkere Verankerung der Koordination könnte diesem Problem entgegenwirken, wobei die Ressourcen dort wie erwähnt in den vergangenen Monaten mehr als knapp bemessen waren.

In den Flächenbezirken, die immerhin einen nennenswerten Teil der Wiener Arbeiter:innenklasse beherbergen, ist es großteils weiterhin nicht gelungen, eigenständig funktionierende Bezirksgruppen aufzubauen. Außerdem gingen einzelne Gruppen aus Stadtteilen innerhalb des Gürtels, in denen auch Bezirksvertretungsmandate erkämpft worden waren, verloren. Dies ist ein Arbeitsfeld, das seit mittlerweile zwei Jahren als Problem erkannt und bearbeitet wird, für das bisher aber noch keine funktionierende Lösung gefunden wurde.

Eine größere Schwierigkeit im Herbst 2022 lag darin, die einstige Stärke von LINKS wieder aufflammen zu lassen. War es vor zwei Jahren noch möglich bei kurzfristigen Mobilisierungen zu medial brisanten Themen, mehrere hundert Personen für eine Sache auf die Straße zu bewegen, gelang das im Zuge des Bündnisses „Es reicht“ nicht. Es gibt hier sicher eine Reihe mitspielender Faktoren, aber ein Zusammenschluss, der auf das brennendste Thema der Zeit reagiert und die eigenen Ansprüche, Großdemonstrationen zu organisieren, nicht erfüllen kann, ist eine Schwäche – ähnlich wie das gesamtlinke Versagen, eine annähernd verständliche und populäre Antwort auf die Covid19-Pandemie zu finden.

Verhältnis zu und Arbeit mit der KPÖ

Eine der größeren Partner:innen im Wahlkampf war die KPÖ. Mit dieser ist LINKS seit seiner Gründung, aber spätestens seit dem gemeinsamen Wahlantritt, stark verbunden. Mehrere Aktivist:innen sind auch Teil der KPÖ und einzelne würden sogar eine Verschmelzung der beiden Organisationen gutheißen. Mit dem Abkommen zum gemeinsamen Wahlkampf ging LINKS ein Abhängigkeitsverhältnis ein, in dem beide Seiten wussten, dass sie auf die jeweils andere angewiesen waren. Die junge Kraft brauchte die materiellen Ressourcen sowie die (wenn auch kleine) Verankerung der KPÖ in Wien. Die ältere Partei brauchte den Elan, die Neuartigkeit und Fähigkeit zur pointierten Formulierung radikaler Inhalte, um ihrem langsamen Fall in die Bedeutungslosigkeit entgegenzuwirken.

Doch mit der Zusammenarbeit kamen die Schwierigkeiten. Ein unterschiedliches Verständnis davon, was es heißt, Politik zu machen, führte schon im Wahlkampf zu Differenzen. In einigen Bezirksgruppen kam es zum Bruch mit den Aktivist:innen von Wien anders, mit denen zuvor rege Zusammenarbeit bestanden hatte. Immer wieder kam es auch aufgrund von unreflektiertem Verhalten, das gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen entweder kleinredete oder sogar in die Organisation hineintrug, zu Konflikten. Von Seiten der KPÖ gab es diesbezüglich wenig Konsequenzen. Gerade die alteingesessenen Bezirksräte verfügten darüber hinaus von Anfang an über den Vorteil, dass sie im Abkommen über den gemeinsamen Wahlantritt bei der Besetzung des ersten Listenplatzes und damit der Wiederwahl bevorzugt wurden.

Natürlich sind nicht vorrangig individuelle Differenzen dafür verantwortlich, dass sich LINKS als eigene Partei neben der KPÖ gegründet hat und nach genereller Meinung weiterhin keine Absichten hegt, mit ihr zu verschmelzen. Denn obwohl LINKS keine revolutionäre Partei ist, können revolutionäre Kräfte dort arbeiten und um ein revolutionäres Programm kämpfen. Wo die KPÖ fest auf (links-)reformistischem Kurs ist, vertraut LINKS deutlich weniger auf die Vertretungskörper und sieht sich in einer konsequenten Oppositionsrolle. Andererseits versucht LINKS aktiv, auch intern gegen gesellschaftliche Unterdrückungsformen anzukämpfen. Die Form, in der das geschieht, hat allerdings oft stark identitätspolitische Züge. Aus der KPÖ bekommen wir hingegen unsensiblen bis respektlosen Umgang mit Unterdrückungsmechanismen sowie die Leugnung von Hierarchien und der Rolle von Diskriminierung in linken Gruppierungen mit.

Generell ist in den vergangenen Monaten eine gewisse Abkehr von der Zusammenarbeit mit der KPÖ zu beobachten. Grund dafür sind auf der einen Seite Schwierigkeiten in der praktischen Zusammenarbeit in „Es reicht“ sowie allgemein auch der neue Kurs der KPÖ nach ihrem letzten Parteitag, wo eine neue Führung mit starkem Einfluss ehemaliger Mitglieder der Jungen Linken gewählt wurde, welche seitdem stärker versucht, sich von politischen Mitbewerber:innen in der Praxis abzugrenzen. Politische Differenzen werden hingegen wenig öffentlich diskutiert. Für eine eigenständige Entwicklung von LINKS ist diese Tendenz jedenfalls förderlich und damit auch für die Möglichkeit, die Organisation stärker in eine revolutionäre Richtung zu bewegen.

Antikapitalismus und Klassenstandpunkt

Diese stärkere Eigenständigkeit hält LINKS allerdings nicht davon ab, sich in andere reformistische Strukturen zu begeben. So wurde 2022 beschlossen, Partnerorganisation der Europäischen Linkspartei (EL) zu werden – derselbe Status, den auch der Wandel innehat. Dies führte auch zu einer Teilnahme am letztjährigen Kongress der EL, der den ehemaligen KPÖ-Vorsitzenden Walter Baier zum Präsidenten gewählt hat und LINKS weiter reichende Kontakte zu linksreformistischen und -populistischen Organisationen und Parteien Europas beschert hat. Diese Entwicklung ist kritisch und muss bei weiterem Fortschreiten zu einer klaren Konfrontation mit dem reformistischen Flügel führen.

Gleichzeitig ist eine deutlich klarere Stellung gegen den Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftssystem positiv hervorzuheben, die gerade in den ersten Monaten noch nicht in dieser Form nach außen getragen wurde. Damit einher geht auch ein Bezug zur Arbeiter:innenklasse als jener Gesellschaftsschicht, mit der man gemeinsam Politik gegen das Kapital machen möchte. Ein Verständnis der Klasse als jenes revolutionäre Subjekt, das den gewünschten sozialen Umbruch bringen kann, zählt weiterhin nicht zu den programmatischen Grundpfeilern. Genauso fehlt eine nennenswerte Verankerung in der Arbeiter:innenklasse und insbesondere in den Gewerkschaften als massenhaftestem Ausdruck der organisierten Arbeiter:innenbewegung. Auch ist die Überwindung des Kapitalismus inzwischen zwar als klares gemeinsames Ziel etabliert, dass deswegen auf den Sozialismus hingearbeitet werden soll, jedoch weniger.

Der positive Bezug auf die Arbeiter:innenklasse zeigte sich in der vergangenen Zeit besonders in Form solidarischer Praxis. Besonders Arbeitskämpfe im Kontext der allgemeinen Teuerung boten Anlässe, sich trotz fehlender Verankerung solidarisch zu zeigen und Stellung zu beziehen. Das funktionierte einfach über das Auftauchen, eventuell Diskutieren und Ausschenken von Tee. Derlei Aktionen, gemeinsam mit der Auseinandersetzung mit der Rolle der Gewerkschaften und reformistischen Parteien als unzureichenden Vertretungen der Klasse können helfen, LINKS in der arbeitenden Bevölkerung zu verankern und in eine marxistische, revolutionäre Richtung zu bewegen. Auch dass in der Kampagne für 2023 die Themen Klimakrise und Antikapitalismus bzw. Umverteilung im Mittelpunkt stehen, zeigt das Bewusstsein, sich mit Themen grundlegend aus einer Klassenperspektive heraus auseinanderzusetzen.

Und jetzt?

Wir sehen also weiterhin Hoffnung in LINKS, weswegen wir weiterhin Revolutionär:innen dazu aufrufen, sich an der Arbeit dort zu beteiligen. Ja, es gibt in LINKS verschiedene politische Flügel, deren Herangehensweisen und inhaltliche Positionierungen wir oft nicht teilen. Das bedeutet aber nicht, dass die Diskussionen und Kämpfe um die Zukunft der Organisation abgeschlossen sind. Ideen, Forderungen und besonders ernsthafte, beständige Arbeit werden wertgeschätzt. Das kommt gerade solchen Aktivist:innen zupass, die es gewohnt sind, auch Aufgaben zu übernehmen, die nicht unterhaltsam, aber notwendig zu erfüllen sind. Wer ein Aufgabengebiet für sich sieht, kann es bearbeiten und erhält von LINKS die Ressourcen dafür, solange man selbst die Verantwortung für die Durchführung übernimmt. Damit haben auch wir in den vergangenen Jahren Diskussionen führen und öffentliche Aktionen abhalten können, die ohne LINKS nicht möglich gewesen wären.

Gerade zum aktuellen Zeitpunkt ist es etwa wichtig, sich in den Prozess um die Neugestaltung des Programms einzubringen. Zwar ist abzusehen, dass dieser noch ein bisschen Anlaufzeit benötigt, bis es tatsächlich an die Formulierung der einzelnen Kapitel geht, doch wenn es um die Schärfung eines linken Profils geht, kann am Programm kein Weg vorbeiführen. Das bedeutet auch, einem Teil von LINKS klarzumachen, welche Bedeutung ein Programm als Grundlage für politisches Handeln besitzt. Dafür zu sorgen, dass diese Aktivist:innen damit eine solide Basis für schlagkräftige Aktionen in der Hand halten, ist sogar noch wichtiger.

Insgesamt gibt es in LINKS noch viele Spielräume für revolutionäre Politik. Es gibt noch keine Bürokratie, weil dafür aktuell die materielle Basis fehlt. Es gibt zwar immer wieder versuchte Anschlüsse an den Reformismus (wie zum Beispiel an die Europäische Linke), aber auch ehrliche Versuche, einen radikalen Antikapitalismus auf die Straße zu tragen. Die Zukunft von LINKS ist unserer Einschätzung nach noch nicht festgelegt und wir werden unsere Kräfte weiterhin dafür einsetzen, LINKS aufzubauen und für eine revolutionäre Ausrichtung in Theorie und Praxis zu kämpfen.




Wie weiter im Kampf für mehr Personal im Krankenhaus- und Gesundheitsbereich?

Helga Müller, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Nachdem innerhalb eines Jahres – 2021 in Berlin bei Charité und Vivantes und 2022 bei den 6 Unikliniken in NRW – Tarifverträge für Entlastung durch wochenlange Durchsetzungsstreiks erreicht werden konnten, ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen und sich Gedanken zu machen, wie der Kampf für mehr Personal bundesweit erfolgreich weitergeführt werden kann. Auch wenn beide Kämpfe zu einem erfolgreichen Abschluss kamen mit der Durchsetzung von Tarifverträgen für Entlastung – in NRW ein gemeinsamer Tarifvertrag für alle 6 Unikliniken –, sind weder an diesen Krankenhäusern bereits die Stellen besetzt noch die fehlenden bundesweit im Pflegebereich und den übrigen Abteilungen durchgesetzt.

Die Errungenschaften der beiden Krankenhausbewegungen

1. Erfolgreiche Mobilisierungen der Belegschaften und Einbeziehung dieser in die Entscheidungen über ihre Forderungen:

Die Kolleg:innen der verschiedenen Abteilungen wurden aktiv in die Aufstellung der Forderungen pro Abteilung und Schicht einbezogen, sie haben selbst darüber diskutiert und entschieden, mit Hilfe von Teamdelegierten.

Damit verbunden war eine aktive und erfolgreiche Mitgliederwerbung, was zu einen höheren Organisationsgrad führte. Dadurch wurden wochenlange Durchsetzungsstreik möglich.

2. Einbeziehung aller Kolleg:innen aller Abteilungen in den Kampf und die Aufstellung der Forderungen:

Vor allem in NRW wurden auch die Bereiche außerhalb der Pflege – wie Krankentransport, IT, Rettungssanitäter:innen etc. – in die Aufstellung der Forderungen und den Kampf dafür einbezogen.

3. Ansätze einer demokratischen Streikführung:

Vor allem in der Krankenhausbewegung Berlin haben die Aktivist:innen dafür gesorgt, dass aktive Kolleg:innen aus den Abteilungen in die Tarifkommission entsandt wurden und jeder Schritt mit den Teamdelegierten besprochen wurde.

In NRW wurde das Ergebnis auf Streikversammlungen in den 6 Unikliniken zur Diskussion gestellt und abgestimmt. Es wurde, außer in Düsseldorf, mehrheitlich angenommen. Zum anderen hatte sich die Tarifkommission – freiwillig – dazu bereit erklärt, erst zuzustimmen, wenn bei der Urabstimmung über das Ergebnis auch die Mehrheit einwilligt. Die magere Zustimmung von 73,58 % in NRW im Vergleich zu über 96 % in Berlin zeigt, dass die Kolleg:innen sich selbst Gedanken über das Ergebnis gemacht haben und sich nicht allein auf die Zustimmung der Tarifkommission verließen.

Dies alles wurde von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt. Weder von den Organizer:innen noch von den ver.di-Verantwortlichen war vorgesehen, die Teamdelegierten oder den Delegiertenrat der 200 der 6 Unikliniken in NRW als Kontroll- und Entscheidungsorgane über den Streikverlauf und die Tarifkommission einzusetzen. Letzten Endes lag die Entscheidung über die Fortführung des Kampfes und über die Annahme des Abschlusses  – zumindest in Berlin – bei der Tarifkommission und den ver.di-Verantwortlichen.

4. Solidaritätsaktionen durch die arbeitende Bevölkerung und öffentliche Kundgebungen der Streikenden:

In beiden Krankenhausbewegungen wurden Treffen mit Initiativen und Kolleg:innen aus Betrieben or-ganisiert. Am weitestgehenden waren die gemeinsamen Solidaritätsaktionen in Berlin: Dort wurden vor allem gemeinsame Aktionen mit der Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen“ organisiert, aber auch mit den im Streik befindlichen Kurier:innen von Gorillas. Teilweise kam es auch zu gemeinsamen Soliaktionen mit Kolleg:innen aus einzelnen Betrieben. Aber weder vom DGB noch von anderen DGB-Gewerkschaften gab es den Willen, gemeinsame Soliaktionen zu organisieren.

In Berlin und NRW organisierten die Kolleg:innen große und machtvolle Kundgebungen und Demos.

5. Nachhaltigkeit: von den Teamdelegierten zum Aufbau fester Strukturen und Organe:

Zumindest in Berlin gab es die Aussage, von Aktivist:innen aus den Teamdelegiertenstrukturen auch systematische und kontinuierliche Gremien wie ver.di-Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper aufzubauen. Das wäre ein Fortschritt, da damit nicht immer wieder zu Beginn eines Arbeitskampfes neue Strukturen zur Mobilisierungen geschaffen werden müssten.

Was hat gefehlt?

1. Fehlende Kontrolle über den Kampfverlauf und über die Abstimmung des Ergebnisses:

Es gab zwar Fortschritte bzgl. der Transparenz über die Verhandlungen (s. Punkt 3 oben), aber letzten Endes hatten immer noch die ver.di-Verantwortlichen die Kontrolle über Streikverlauf und das Ergebnis.

Deswegen braucht es klare Strukturen/Organe, die den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar sein müssen.

Dafür würde sich ein Streikkomitee, wie es an der Uniklinik Essen im Kampf um den TVE aufgebaut wurde, anbieten. Dieses wurde aus von den Kolleg:innen gewählten Delegierten aus den verschiedenen Abteilungen gebildet. Die Delegierten waren direkt den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und konnten jederzeit neu gewählt werden. Dieses Komitee hatte sich zur Aufgabe gestellt, den Diskussionsprozess unter den Kolleg:innen über die Zwischenverhandlungsergebnisse und den Fortgang des Kampfes zu organisieren. Dafür wurden Streikversammlungen einberufen, auf denen die Kolleg:innen über den Zwischenstand der Verhandlungen der Tarifkommission (TK) informiert wurden und sie auch darüber entschieden, ob diese zu akzeptieren sind oder der Streik weitergeführt werden muss. In dieser Phase hatten sie tatsächlich die Entscheidung über ihren Kampf um mehr Personal unter ihrer Kontrolle. Und im Voraus wurde mit der TK vereinbart – wohlgemerkt, eine freiwillige Vereinbarung der TK mit dem Streikkomitee (!) –, keine Entscheidung ohne Diskussion unter den Kolleg:innen zu fällen. Auch die gewählten Teamdelegierten würden sich dafür anbieten, ein solches Streikkomitee zu bilden, aber die oben aufgeführten Bedingungen müssten auch hier konsequent angewendet werden. Aber von Seiten des ver.di-Apparates waren die Teamdelegierten nie als Organ oder Struktur vorgesehen gewesen, damit die Kolleg:innen wirklich über ihren Kampf selber entscheiden können, sondern eher als Element, sie überhaupt mobilisieren zu können, durchaus, indem sie über ihre Forderungen selber diskutieren und entscheiden konnten. Auch die Organizer:innen haben dem politisch nichts entgegengesetzt. Diese Teamdelegierten sind sicherlich ein demokratisches Element, was auch gezeigt hat, dass die Kolleg:innen selbst am besten wissen, welcher Personalschlüssel und welche anderen Bedingungen nötig sind, um eine gute Gesundheitsversorgung zu realisieren. Das war durchaus ein demokratisches Element, mit dessen Hilfe sie auch tatsächlich für mehrwöchige Durchsetzungsstreiks mobilisiert werden konnten. Diese Errungenschaften wären auch Vorbild für permanente Vertrauensleutestrukturen, die auch nach dem Streik weiter existieren und sich die Aufgabe stellen, mit den Kolleg:innen in Diskussion zu bleiben und im Falle eines Streiks wieder dafür zu sorgen, dass sie nicht nur über die Forderungen, sondern auch über den Kampf diskutieren und entscheiden können.

2. Kontrolle über die Sanktionen bei Nichteinhaltung der Regelungen aus dem TVE:

Beide TVE enthalten die Regelung, Punkte zu sammeln, wenn Schichten unterbesetzt arbeiten. Ab einer bestimmten Punktezahl (gestaffelt) soll ein Freizeitausgleich erfolgen. Die Hoffnung dabei: dadurch würde ökonomischer Druck auf die Klinikleitungen ausgeübt, um neue Kolleg:innen einzustellen.

Doch zum einen zögern diese – wie bei Vivantes in Berlin, in NRW erhalten sie 1 ½ Jahre Zeit, um eine entsprechende Software einzuführen – die Umsetzung dieses Punktesystems hinaus. Zum anderen kann diese Verfahrensweise auch dazu führen, dass es zum Aufbau von Langzeitarbeitszeitkonten missbraucht wird, ohne dass es zu einem sofortigen Freizeitausgleich kommt. Damit verpufft die Wirkung.

Die Kolleg:innen selbst – dafür würden sich die Teamdelegierten bzw. der Delegiertenrat anbieten – müssen über die Sanktionen entscheiden können, wenn die Regelungen nicht eingehalten werden: wie Bettensperrungen, Nichteinbestellung von Patient:innen, Verschiebung von nicht sofort notwendigen OPs etc. Diese hatten schon während der Streikphase – sofern keine Notdienstvereinbarungen zustande kamen – selbst entschieden, wann wie viele Betten gesperrt oder Patient:innen einbestellt werden.

Vor Einführung der Punkteregelung in den TVE waren u. a. solche Maßregeln vorgesehen. Die Entscheidung darüber lag aber bei den Pflegedienstleitungen, die letzten Endes der Klinikleitung gegenüber rechenschaftspflichtig sind und nicht den Kolleg:innen. Aber es sind Letztere selbst, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, dass sich die Arbeitsbedingungen ändern müssen. Deswegen müssen sie die Entscheidungen über Sanktionen in den Händen halten.

3. Bundesweiter Kampf aller Kliniken für mehr Personal statt Häuserkampf:

Der TVE in NRW wurde in einem 79-tägigen Durchsetzungsstreik aller 6 Unikliniken durchgesetzt. Das ist der richtige Weg, um mehr Schlagkraft gegenüber den Klinikleitungen zu entwickeln. Alle Kliniken – egal ob privatwirtschaftlich organisiert oder noch unter kommunaler oder Landesverwaltung stehend – müssen von ver.di gemeinsam in den Kampf für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen geführt werden.

Dafür würde sich die Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen anbieten: Alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern sind zu Streiks aufgerufen zusammen mit denen aus dem Erziehungsbereich, die auch seit Jahren unter Personalmangel leiden.

Die Aktivist:innen aus den beiden Krankenhausbewegungen, die Veranstaltungen organisieren und ein persönliches Netzwerk aufbauen, könnten zu einer bundesweiten Konferenz aller Kolleg:innen aus dem Gesundheitsbereich aufrufen und dort über weitere Schritte für einen erfolgreichen Kampf für mehr Personal bundesweit diskutieren und entscheiden.

4. Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Kampfes gegen Privatisierung und DRGs – bis hin zum politischen Streik:

Alle Erfahrungen aus den bisherigen Kämpfen für Entlastung zeigen: Das Hauptproblem liegt in der Finanzierung des Gesundheitssystems. Solange die DRGs, die nicht die Gesamtkosten einer Behandlung refinanzieren, existieren, solange im Gesundheitssektor – durch die Privatisierungen – das oberste Gebot die Profitlogik ist, wird sich an der Pflegemisere und Stellensituation in den Krankenhäusern nichts ändern! Deswegen:

  • Abschaffung der Fallpauschalen!

  • Für eine Refinanzierung, die die gesamten Behandlungskosten umfasst.

  • Rekommunalisierung und Verstaatlichung aller privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient:innen, die ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen und guten Gesundheitsversorgung haben.

Dafür braucht es eine gesellschaftliche Kraft: das Personal aus den Krankenhäusern zusammen mit dem in den Betrieben, die ein Interesses an einer guten, flächendeckenden Gesundheitsversorgung haben, gemeinsam für die Abschaffung der DRGs, Wiederverstaatlichung privatisierter Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und der Patient:innen kämpfen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die sich die DGB-Gewerkschaften gemeinsam auf die Fahne schreiben und dafür mobilisieren müssen bis hin zum politischen Streik!

  • Tarifrunde öffentlicher Dienst – Bund/Kommunen nutzen, um Strukturen aufzubauen, mit denen für ausreichend Personal und gute Arbeitsbedingungen gekämpft werden kann!

Leider hat ver.di davor zurückgeschreckt, diese Tarifrunde auch für den Kampf für mehr Personal zu nutzen. Dabei hätte man eine Verbindung über den Gesundheitsbereich hinaus organisieren können, denn die GEW-Kolleg:innen aus Berlin streiken bereits seit mehreren Wochen für einen Gesundheits-Tarifvertrag mit der Hauptforderung nach kleineren Klassen, weil auch hier der Personalnotstand eklatant ist. Die Bedingungen dafür wären gut: zum einen hatten die Beschäftigten aus den Unikliniken in NRW es allen praktisch vor Augen geführt, dass ein konsequenter gemeinsamer Kampf für mehr Personal erfolgreich in einem Tarifvertrag enden kann. Zum anderen sind gerade in dieser Tarifrunde alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen. Diese könnten zusammen mit Erzieher:innen und Lehrer:innen für insgesamt mehr Personal streiken verbunden mit einer Bezahlung, die auch tatsächlich die Preissteigerungen auffängt! Das erweitert die Durchsetzungskraft und wäre sicherlich für viele Kolleg:innen noch ein zusätzlicher Motivationsfaktor gewesen, sich in dieser Tarifrunde an Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen. Es ist jetzt nötig, dass die Kolleg:innen in den verschiedenen gewerkschaftlichen Strukturen, seien es Vertrauensleute, Betriebsgruppen oder neu aufzubauende gewerkschaftliche Organe oder auch in lokalen Gremien, von den ver.di-Verantwortlichen verlangen, auch die Frage des Personalnotstandes bundesweit anzugehen! Dafür sind bundesweite Streiks für einen Flächentarifvertrag Entlastung und eine Kampagne gegen Privatisierung, Abschaffung der Profitlogik in der öffentlichen Daseinsvorsorge, wozu ja der ganze Gesundheitsbereich gehört, und für ein Ende des gesamten Fallpauschalensystems und für die Refinanzierung der realen Behandlungskosten nötig. Dies brauchen wir mehr denn je, da  durch die Pandemie und der dadurch angefallenen Versorgung vieler Schwerkranker auf Intensivstationen viele kommunale Krankenhäuser in eine finanzielle Schieflache gebracht wurden. Doch ändert auch die Lauterbach’sche „Revolution“ nichts am Fallpauschalensystem. Im Gegenteil! Die angestrebte verstärkte Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung wird unwillkürlich zu einem weiteren Krankenhaussterben beitragen. Das Mindeste, was in dieser Tarifrunde passieren muss, und das ist nicht allein die Verantwortung der gewerkschaftlich Aktiven im Betrieb oder auf lokaler Ebene, sondern eben auch aller Gewerkschaftssekretär:innen, ist, dafür zu sorgen, dass funktionierende gewerkschaftliche Basisorgane in den Betrieben entstehen, die die Kolleg:innen nicht als Manövriermasse verstehen, sondern als aktive Kämpfer:innen für bessere Arbeitsbedingungen und die tatsächlich Änderungen durchsetzen können.

Damit dies wirklich umgesetzt wird, ist es nötig, eine politische Kraft in ver.di, aber auch allen anderen Gewerkschaften zu organisieren. Diese muss sich bewusst gegen den Anpassungskurs der Gewerkschaftsführungen an die Interessen des Kapitals und der Regierenden stellen und sich zum Ziel setzen, die Gewerkschaften wieder zu handelnden Verteidigungsinstrumenten der gesamten Klasse umzukrempeln. Unserer Meinung nach sind die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und ihre lokalen Strukturen im Moment das beste Mittel dazu, um darüber zu diskutieren und Konsequenzen fürs Handeln daraus zu ziehen (siehe auch unter: www.vernetzung.org).




Internationaler Frauenkampftag: Vereint die Kämpfe der Frauen mit denen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1216, 8. März 2023

Frauen standen im letzten Jahr an der Spitze der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und für Demokratie.

  • Im Iran bildeten sie die erste Reihe eines Massenaufstandes gegen Unterdrückung und die Herrschaft der klerikalen Diktatur.

  • In den USA und vielen anderen Ländern wehrten sie sich gegen Angriffe auf Abtreibungsrechte.

  • In der Ukraine und in Russland stehen sie an vorderster Front im Kampf gegen die imperialistische Invasion Putins.

  • In Großbritannien, Deutschland und Frankreich stehen sie im Mittelpunkt von Streiks für Lohnerhöhungen zur Bekämpfung der steigenden Inflation und von Massenmobilisierungen zur Verteidigung des Gesundheitswesens und der Rentenansprüche.

  • Frauen formieren sie sich im Zentrum des Kampfes gegen rechtsextreme und reaktionäre populistisch-bonapartistische Regime wie die von Bolsonaro in Brasilien und Modi in Indien.

  • In der halbkolonialen Welt haben sie sich gegen Armut, Hunger, Klimakatastrophen, reaktionäre Kriege und die Verweigerung ihrer Grundrechte mobilisiert.

Oft sind es junge Frauen, Studentinnen, Frauen aus der Arbeiter:innenklasse und der armen Bevölkerung, die in Massen auf die Straße gehen und den Kern dieser Bewegungen bilden. Es ist nicht verwunderlich, dass Frauen bei solchen Kämpfen an vorderster Front stehen. Oft sind sie am stärksten von den zahlreichen Krisen betroffen, die unser Leben in den letzten Jahren heimgesucht haben.

In vielerlei Hinsicht scheint sich die Situation im Vergleich zu vor einem Jahr kaum verändert zu haben: Der Krieg in der Ukraine hat den Konflikt zwischen den Weltmächten verschärft und eine neue Phase im Kampf um die Neuaufteilung der Welt eingeleitet. Der Krieg und die von beiden Seiten verhängten Sanktionen haben weltweit eine neue wirtschaftliche und soziale Krise ausgelöst mit einer Inflation, wie sie in den imperialistischen Zentren seit 50 Jahren nicht mehr aufgetreten ist, und einer Hyperinflation, die den globalen Süden wie ein Tsunami trifft.

Die sich entwickelnde Katastrophe

Die Pandemie beherrscht nach wie vor alle Aspekte der Herausforderungen für Frauen. Ihre Auswirkungen haben zu einem Anstieg der Krankheits- und Sterblichkeitsraten der Menschen weltweit geführt. Für die Frauen bedeutet dies im besten Fall eine mehrfache Belastung durch Haus- und Sorgearbeit, im schlimmsten Fall den Verlust ihrer Existenz. Sie haben oft ihren Arbeitsplatz und die damit verbundene elementare Sicherheit verloren. Schließungen ohne funktionierendes soziales Sicherheitsnetz führten dazu, dass Frauen gezwungen waren, sich um ihre Familien zu kümmern und von ihren Arbeitsplätzen verdrängt wurden. Die häusliche Gewalt gegen Frauen hat deutlich zugenommen und vor allem ärmere Teile der Arbeiter:innenklasse mussten ihre mageren Ersparnisse aufbrauchen, um zu überleben.

In halbkolonialen Ländern führt dies zu noch schlimmeren Folgen. Da das Gesundheitswesen für die Menschen nicht leicht zugänglich ist und die imperialistischen Länder Impfstoffe und Medikamente horten, war die Zahl der Todesopfer viel höher als in den imperialistischen Zentren.

Abgesehen von den direkten Auswirkungen von Krankheiten und Kriegen werden die Rechte der Frauen in einer Vielzahl von Ländern ständig angegriffen. Der Eingriff in die reproduktiven Rechte in den USA und der Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention über Gewalt gegen Frauen sind offensichtliche Beispiele dafür. Das Gleiche gilt für die Aufdeckung von Morden, Vergewaltigungen und Frauenfeindlichkeit, begangen durch Polizeibeamte in Großbritannien.

Dies alles wurde 2022 durch den massiven Anstieg der Inflation und den Beginn eines weiteren wirtschaftlichen Abschwungs noch verstärkt. Dies ergab sich nicht nur aus den Problemen, die dem Produktionsanstieg nach der Pandemie folgten. Lieferketten- und Ressourcenprobleme bleiben weiterhin ungelöst. Auch die Energiekrise infolge des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der westlichen Sanktionen trug ihren Teil zur Erschwerung der Lage bei. All dies trifft die Frauen am härtesten, zeigt aber auch, dass Fortschritte bei den Frauenrechten weder unvermeidlich noch unumkehrbar sind. Wir müssen unermüdlich und kontinuierlich kämpfen, um unsere Errungenschaften zu verteidigen, nicht nur gegen die unverhohlenen Attacken von rechts, sondern gegen die dem kapitalistischen System insgesamt innewohnenden Tendenzen.

Kämpfe rund um die Welt

Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini durch die sog. Sittenpolizei im September 2022 befindet sich der Iran in Aufruhr. Millionen von Menschen sind auf die Straße gegangen, um für die Emanzipation der Frauen von den grausamen Einschränkungen und damit gegen das Regime der Mullahs selbst zu protestieren. Die Regierung hat mit verschiedenen Formen der Unterdrückung hart reagiert. Es wurden nicht nur mehr als 20.000 Personen verhaftet, sondern auch über 500 Menschen getötet. Das Regime hat damit begonnen, Menschen hinzurichten, um eine Ausbreitung der Proteste zu verhindern und die Bewegung insgesamt zu unterdrücken. Doch trotz dieser massiven Repression hat der Kampf im Iran einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht, um das Regime zu schwächen und den Kämpfen der Frauen in der ganzen Welt neue Impulse zu geben.

Auch im Widerstand gegen den russischen Krieg in der Ukraine spielen Frauen eine besondere Rolle. In Russland versucht der feministische Antikriegswiderstand, unter äußerst repressiven Bedingungen Unterstützung gegen Putins Invasion zu mobilisieren. In der Ukraine hingegen stellen Frauen rund 20 % der Streitkräfte, sorgen für die Unterstützung der Flüchtlinge und die Aufrechterhaltung der notwendigen Infrastruktur.

Auch in Afghanistan kommt es nach der Machtübernahme durch die Taliban zu einer zunehmenden Unterdrückung der Frauen. Junge Frauen protestieren dort gegen das Verbot ihrer Ausbildung, und ihre Proteste müssen illegal organisiert werden. Dies könnte der Beginn eines ernsthaften Widerstands gegen das Regime sein, auch wenn die Medienberichterstattung im Westen „weitergezogen“ ist und die Aufmerksamkeit vernachlässigt hat.

In Ländern auf der ganzen Welt kommt es immer wieder zu Streiks im Gesundheitssektor. Die Krise war schon seit einiger Zeit bekannt, trat aber mit der Pandemie in den Vordergrund. In Großbritannien und Deutschland gibt es erhebliche Streiks des Gesundheitspersonals – ein Sektor, der überwiegend von Frauen getragen wird.

Internationaler Frauenkampftag

Am 8. März dieses Jahres ist es umso wichtiger, den weltweiten Kampf für die demokratischen Grundrechte der Frauen zu unterstützen und die unterschiedlichen Auseinandersetzungen miteinander zu verbinden. Ob mit Protesten, Flashmobs oder Frauenstreiks, wir müssen uns einig sein in unserem Ziel, den Kapitalismus zu beenden. Das heißt, wir müssen an der Seite der internationalen Arbeiter:innenklasse kämpfen, gleich welchen Geschlechts, um erfolgreich zu sein. Gleichzeitig ist es wichtig, den Kampf mit national oder rassistisch unterdrückten Menschen zu verbinden.

Am Internationalen Frauenkampftag ist es wichtig, die Menschen nicht zu vergessen, die unter Sexismus, Homophobie und der Auferlegung patriarchalischer und binärer Geschlechterrollen leiden. Nicht-binäre Menschen, Transmenschen im Allgemeinen sowie andere Menschen aus der LGBTQIA+-Gemeinschaft leiden vielleicht nicht genau unter der gleichen Unterdrückung, aber es ist sonnenklar, dass ihr Einsatz für ihre Rechte Teil desselben Kampfes ist. Wenn wir den Sexismus überwinden und eine Gesellschaft haben wollen, in der jeder in Frieden und als der Mensch leben kann, der er/sie ist, müssen wir den Kapitalismus stürzen und eine sozialistische Gesellschaft aufbauen. Es ist kein Zufall, dass die extreme Rechte in vielen Ländern Themen wie die Ablehnung der Homoehe und der Transrechte aufgreift.

Doch während wir die Notwendigkeit der kämpferischen Einheit, des gemeinsamen koordinierten Handelns betonen müssen, müssen wir uns auch der Tatsache stellen, dass die internationalen Frauenmobilisierungen seit einigen Jahren in einer Strategie- und Richtungskrise stecken. Die Massenstreiks der Frauen, inspiriert durch die Bewegungen in Lateinamerika gegen häusliche und institutionelle Gewalt, die Frauenbewegung in den USA und die Streiks von Millionen von Arbeiterinnen in Ländern wie Spanien waren eine Inspiration und der Beginn einer neuen internationalen Bewegung. Den bisherigen Höhepunkt stellt der revolutionäre Kampf im Iran dar.

Programm und Strategie

Jeder Kampf, der an den Grundlagen der Frauenunterdrückung im Kapitalismus rüttelt, steht auch vor der Frage, wie der Kampf weitergeführt werden kann. Dies zeigt, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung, gegen patriarchale Strukturen und Sexismus kein vom Klassenkampf getrennter Prozess sein kann. Er muss ein integraler Bestandteil davon sein.

Im Fall des Iran hat der Kampf der Frauen gezeigt, dass das islamistische Regime nur durch eine Massenbeteiligung der Arbeiter:innenklasse erfolgreich gestürzt werden kann – kurz gesagt, durch einen Generalstreik, der auch für die Masse der arbeitenden Frauen ein fortschrittliches Ergebnis bringt. So ist der Kampf gegen die Unterdrückung und die Mullahs mit dem entschlossenen Eintreten für eine sozialistische Revolution und deren Ausbreitung auf die gesamte Region verbunden.

Das Gleiche gilt nicht nur für die wirtschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen, sondern auch für die Kämpfe gegen nationale Unterdrückung, Imperialismus, Umweltzerstörung, Krieg und wachsenden Militarismus, Rassismus, Faschismus und Diktaturen.

Daher stehen wir vor zwei miteinander verknüpften Aufgaben. Erstens müssen wir uns für eine internationale Bewegung einsetzen, für eine koordinierte Aktion rund um eine Reihe von brennenden Forderungen und Themen, die die große Mehrheit der Frauen betreffen. Wir müssen alle Frauenorganisationen sowie die Gewerkschaften und die Parteien der Arbeiter:innenklasse auffordern, sich an einer solchen gemeinsamen Aktion zu beteiligen. Und wir müssen diese Notwendigkeit am Internationalen Frauenkampftag zur Sprache bringen.

  • Gleiche Rechte für Frauen! Abschaffung aller frauenfeindlichen und diskriminierenden Gesetze! Volles Recht auf Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben!

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Dies sind nur einige der Forderungen, die die Bedürfnisse der Frauen weltweit ansprechen. Sie sind wichtig, um Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bäuer:innenschaft, der Armen, junge und alte Menschen weltweit zu vereinen. Um den Kampf zu gewinnen, müssen die Frauen der Arbeiter:innenklasse an vorderster Front stehen, aber sie müssen von allen Lohnabhängigen aufgegriffen werden.

Wir müssen uns auch mit der Frage der Richtung, der Strategie und dem Ziel der Frauenbewegung auseinandersetzen, die wir aufbauen müssen. Soll es einfach nur ein Netzwerk und ein loses Bündnis sein – oder eine Einheitsfront, die auf Einigkeit und Engagement für die Verwirklichung vereinbarter gemeinsamer Ziele beruht? Soll es eine klassenübergreifende Bewegung sein, die effektiv von Frauen aus der Mittelschicht, der Intelligenz und einigen wohlwollenden bürgerlichen Frauen geführt wird – oder eine Frauenbewegung der Arbeiter:innenklasse?

Um einer globalen Frauenbewegung eine Führungsrolle zu geben, brauchen die Frauen der Arbeiter:innenklasse ihr eigenes Programm, ihre eigene Strategie – ein Aktionsprogramm, das die Kämpfe für die Befreiung von der Unterdrückung der Frauen mit dem  für eine globale sozialistische Revolution verbindet. Dafür benötigen wir eine internationale proletarische Frauenbewegung und eine neue, revolutionäre Fünfte Internationale, die für diese Rechte kämpft, nicht nur für heute, sondern als Schritt in eine Zukunft, in der sie nicht länger der scheinbar unveränderlichen Profitlogik des kapitalistischen Systems ausgeliefert sind.