Gleicher Abschluss für alle! Solidarität mit der Berliner Krankenhausbewegung!

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1166, 9. Oktober 2021

Vollstreik bringt Bewegung. Nach einem Monat Arbeitskampf bei Charité, Vivantes und den Vivantes-Töchtern beginnt die Front der sog. ArbeitgeberInnen zu bröckeln. Vor dem Streik galt ein Tarifvertrag Entlastung als unverhandelbar oder gar nicht tariffähig; die Angleichung der Einkommen bei den Vivantes-Töchtern sei ganz und gar unmöglich.

Teilerfolg

Nun machen die Klinkleitungen erste Zugeständnisse. Unter dem Druck der Bewegung unterzeichnete die Charité-Führung gemeinsam mit ver.di ein Eckpunktepapier für einen zukünftigen Tarifvertrag Entlastung. Unter anderem sieht es Mindestbesetzungsregelungen für alle Bereiche, darunter Stationen, OP-Säle und Notaufnahmen/Rettungsstellen, eine Regelung für Belastungsausgleich und eine Verbesserung der Ausbildungsbedingungen vor. Außerdem sollen in den kommenden 3 Jahren 700 zusätzliche PflegemitarbeiterInnen eingestellt werden.

Doch dieser Teilerfolg an der Charité geht mit weiterem Stillstand bei Vivantes einher. Bei den Tochtergesellschaften hat sich der Senat eingeschaltet und den ehemaligen Brandenburger SPD-Ministerpräsidenten Platzeck als „Mediator“ aus dem Hut gezaubert. Die Vivantes-Leitung selbst spielt auf Zeit.

Doch selbst ein Eckpunktpapier ist noch lange kein Tarifvertrag; eine Mediation schon gar nicht. Wie ein Abschuss genau aussieht, wird davon abhängigen, ob und wie viel Druck wir weiter gemeinsam aufrechterhalten werden.

Einheit ist unsere Stärke

Mit dem Arbeitskampf und mit der Berliner Krankenhausbewegung haben die Beschäftigten und alle UnterstützerInnen sehr viel erreicht. Tausende sind in den letzten Monaten ver.di beigetreten und haben sich den Aktionen angeschlossen. Die große Mehrheit der PatientInnen und der Berliner Bevölkerung hat längst erkannt, dass der Streik auch ihre Angelegenheit ist.

Vor diesem Hintergrund haben die Arbeit„geber“Innen ihre Taktik zu ändern begonnen. Nachdem über Monate Gewerkschaftsmitglieder und Streikende v. a. bei Vivantes lächerlich gemacht, gemobbt oder eingeschüchtert wurden, merken die Klinikleitungen, dass sie damit nicht durchkommen. Mit diesen schäbigen Methoden konnten sie weder den Arbeitskampf noch die Moral der Beschäftigten brechen. Daher versuchen sie es jetzt mit anderen Taktiken.

Die Charité-Leitung sucht Zuflucht in einem möglichen eigenen Haustarif. Bei den Vivantes-Töchtern soll der Streik während Platzecks Mediation ausgesetzt bleiben. Beim Vivantes-Konzern hofft das Management wohl, dass die Beschäftigten nach einem Abschluss an der Charité allein weiterkämpfen müssen und ihnen die Kraft fehlt, den gleichen Tarifvertrag durchzusetzen.

Kurzum, sie hoffen, unsere Einheit durch getrennte Verhandlungen, durch verschiedene Tarife, durch Mediationen, Schlichtungen und durch ein Aussetzen der Streiks zu schwächen und zu unterlaufen.

Das dürfen wir nicht zulassen!

Aber wie können wir dieser Gefahr begegnen? Liegt es nicht in der Logik eines Kampfes um Haustarife, dass Klinken zu verschiedenen Abschlüssen kommen? Letzteres Problem besteht zweifellos und ist auch ein, wenn auch ungewolltes Resultat der Taktik von ver.di, die Tarifverträge für Entlastung in einzelnen Häuserkämpfen und nicht im Rahmen eines bundesweiten Tarifvertrages anzugehen.

Aber die Beschäftigten bei Vivantes müssen nicht allein weiterkämpfen, nur weil es ein erstes Eckpunktepapier an der Charité gibt. Im Gegenteil, wenn wir unseren Druck aufrechterhalten wollen, dürfen wir sie und die KollegInnen bei den Tochterunternehmen nicht im Regen stehen lassen.

Dazu brauchen wir keine Mediation und keine Schlichtung, denn unsere Forderungen sind klar und wir sollten uns nicht von Leuten wie Platzeck hinter verschlossenen Türen über den Tisch ziehen lassen. Vielmehr müssen alle Verhandlungen und Gespräche offen und für alle Beschäftigten und Streikenden transparent geführt, am besten, indem sie öffentlich übertragen werden.

Während etwaiger Verhandlungen kann und muss der Streik aufrechterhalten werden. Die letzten vier Wochen haben gezeigt, dass die unbefristete gemeinsame Arbeitsniederlegung das beste Mittel ist, sie alle in die Knie zwingen. Steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein – und genau nach diesem Motto müssen wir vorgehen.

Das Angebot der Charité und das Eckpunktepapier müssen nicht nur von allen auf Streikversammlungen diskutiert werden. Es darf keinen Abschluss, kein Aussetzen der Aktionen ohne vorherige Diskussion und Zustimmung durch die Kämpfenden geben. Außerdem müssen wir fordern, dass das Eckpunktepapier und ein eventueller Tarifvertrag vollumfänglich von Vivantes übernommen wird. Sollte die dortige Klinikleitung dazu nicht bereit sein, müssen wir mit den Streiks, mit Demonstrationen und der Mobilisierung anderer Gewerkschaften und aller UnterstützerInnen aus der Berliner Bevölkerung vom Senat fordern, dass ein solcher Abschluss – sollte er die Zustimmung der Belegschaft erhalten – ohne Abstriche übernommen wird.

Dasselbe gilt für die Beschäftigten bei den Vivantes-Töchern. Die Mobilisierung der Belegschaften von Charité und Vivantes soll solange aufrechterhalten bleiben, bis es die Angeleichung an den TVöD gibt. Auch hier müssen wir nicht nur die Kliniken, sondern auch den Senat unter Druck setzen. SPD, Grüne und Linkspartei wurden zwar im Wahlkampf nicht müde, um unsere Stimmen zu werben und zu erzählen, wie wichtig doch die Beschäftigten an den Krankenhäusern wären. Allein, wir wollen keine wohlfeilen Worte mehr hören, sondern Taten sehen!

  • Unbefristeter Vollstreik bis zur Erfüllung der Forderungen! Öffentliche, von der Basis kontrollierbare Verhandlungen! Keine Aussetzung des Streiks ohne Abstimmung unter den Streikenden! Keine Teilabschlüsse in einem Krankenhaus oder der Tochtergesellschaften, sondern nur gemeinsamer Abschluss!

Berliner Vorbild bundesweit nachahmen!

Der Kampf in den Berliner Krankenhäusern ist weit mehr als einer für einzelne Verbesserungen. Er kann auch als Katalysator für eine bundesweite Bewegung für Entlastung und Angleichung an den TVöD  wirken. Christian Hoßbach, DGB-Vorsitzender Berlin-Brandenburg, redet zu Recht nur von einem wichtigen Teilerfolg bei der Charité und verweist auf die Brandenburger Asklepios-Kliniken, wo Beschäftigte bis zu 11 Tagen pro Jahr bei bis zu 21 % weniger Entgelt als ihre KollegInnen in Westdeutschland arbeiten. Sie traten genauso in den Warnstreik für Angleichung an den TVöD-L wie Beschäftigte der Berliner AWO und am letzten Mittwoch Berliner GEW-LehrerInnen für Klassenobergrenzen (TV Gesundheit). Am 6. Oktober gingen die Berliner GEW-LehrerInnen in einen Arbeitskampf für Klassenobergrenzen (TV Gesundheit).

In der anstehenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder müssen die Anliegen dieser KollegInnen vollständig aufgenommen werden wie die der Uni- und psychiatrischen Kliniken. Da die Uni-Kliniken bundesweit im TV-Länder sind, könnten sie sofort die Gehaltsforderungen mit dem Kampf für eine Personalbemessung verbinden. Doch ver.di plant lediglich eine Gehaltsrunde. Die Interessen der Pflegekräfte an Entlastung werden an einem bedeutungslosen Gesundheits(katzen)tisch vorgetragen, die der LehrerInnen gar nicht – aber sie müssen zum Verhandlungsgegenstand und streikfähig gemacht werden! Kollege Hoßbach, setzt Du Dich auch dafür ein und lässt Deinen Worten Taten folgen?

Sich an die Seite der streikenden KollegInnen zu stellen und dafür alle Beschäftigten, die ein Interesse an einem gut funktionierenden Gesundheitssystem unter guten Arbeitsbedingungen hegen, an Eurer Seite zu mobilisieren, wäre die Aufgabe aller DGB-Gewerkschaften. Mit einer solchen Mobilisierung – aus streikenden KollegInnen in den Krankenhäusern und KollegInnen aus allen Betrieben, einem politischen Streik – würden die  Regierenden in die Knie gezwungen werden können. Dies wäre der Weg für einen erfolgreichen Kampf gegen Privatisierungen und mangelnde personelle und finanzielle Ausstattung des gesamten Gesundheitssektors.

Für ein Gesundheitswesen im Interesse der 99 %!

Nicht erst die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass dieses System ständig am Rande des Zusammenbruchs funktioniert. Damit muss Schluss sein, wenn wir ein menschenwürdiges Gesundheitssystem aufbauen wollen! Der Markt richtet nichts, jedenfalls nicht für die Masse der Bevölkerung.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne! Freigabe der Patente auf Impfstoffe!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten von der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Plan- statt Marktwirtschaft: Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten!



Berliner Krankenhausstreiks: Schlichtung droht

Ernst Ellert, Infomail 1165, 5. Oktober 2021

Das Neue Deutschland (ND) vom 4. Oktober gibt einen Einblick in die Stimmungen unter den Streikenden nach fast 4 Wochen Vollstreik. „Sie haben es ausgesessen“, „Gleichzeitig versucht man, uns Sand in die Augen zu streuen, indem man sagt, die Klinikleitungen würden in Tarifverhandlungen nicht den Vorgaben des Senats folgen“, „Aber die Geschäftsführungen agieren auch deshalb so unangebracht hart, weil sie von übertariflichen Gehältern profitieren und deshalb das Lohndumping des Senats verteidigen“, so Charité-Krankenpfleger Markus F. Er vergaß hinzuzufügen: Während für jede/n klar ist, was mit unliebsamen Beschäftigten in Konzernen passiert, deutet das Handeln des Senats gegenüber den Klinik- und Töchtergeschäftsführungen auf gegenseitiges Einvernehmen hin.

Ausgehender Senat: Taten und Unterlassungen

Der Vorwurf des Bruchs mit dem Koalitionsvertrag der letzten Legislatur wird unter Streikenden laut. Im Jahr 2016 hieß es, dass in Landesunternehmen zügig Tarifverträge (TV) abgeschlossen werden sollten mit dem Ziel der Angleichung an den TVöD. Zudem sei sich der Senat seiner Investitionsfinanzierung gemäß dualer Krankenhausfinanzierung bewusst. Im Dezember 2018 beschloss das Abgeordnetenhaus eine Tarifstruktur für Vivantes, inklusive einer Gleichbezahlung für alle Beschäftigten. Abweichende Regelungen zum Mutterkonzern seien auszuschließen.

Es geht hier also vorrangig um den TVöD für die ausgegliederten Betriebsteile (VSG, Labor Berlin). In den bisherigen Verhandlungen erweist sich das als die härteste Nuss. Im Wahlkampf wies die grüne Spitzenkandidatin, Bettina Jarasch, darauf hin, dass SPD-Finanzsenator Kollatz gesagt habe: „Verhandlungen ja, Geld nein.“ Er und seine Vorgänger hätten die Unternehmensberatung McKinsey zu Vivantes geschickt, um beim Personal zu sparen. Die Klinikleitungen könnten aber ohne zusätzliches Geld vom Senat gar nicht erfolgreich verhandeln.

Ausnahmsweise hat sie mit allem recht – „vergaß“ aber, die Rolle ihrer Senatspartei dabei zu erwähnen, deren Rolle sich noch mehr als die von DIE LINKE mit dem Begriff passive Duldung erschöpfend skizzieren lässt.

Falsche Hoffnungen

Es war ein gravierender Fehler von ver.di-FunktionärInnen und auch der Vertreterin der Linkspartei, auf der Auftaktveranstaltung zur Streikrunde im Unionstadion an der alten Försterei Anfang Juli so getan zu haben, als finanziere sich zumindest der TV Entlastung für mehr Personal in der Pflege von allein dadurch, dass seit Anfang 2020 letztere aus den Fallpauschalen (DRGs) rausgenommen worden sei. Die Rückkehr zum alten Finanzierungssystem vor Einführung der DRGs bedeutet mitnichten eine automatische Kostendeckung durch die Krankenkassen, sondern das vorherige sog. Kostenerstattungswesen sah langwierige Budgetverhandlungen mit diesen und einem entsprechenden Spardruck vor. Und für die ausgelagerten Bereiche bedeutet dies aktuell vergeblichen Trost, denn sie fallen ja nicht darunter.

Tobias Schulze (DIE LINKE) räumt ein, dass die Investitionen, obwohl in der abgelaufenen Legislaturperiode gesteigert, zur Ausfinanzierung nicht ausreichten und deshalb wolle seine Partei in den kommenden 5 Jahren jährlich weitere 100 Millionen in den Haushalt einstellen und widme diesem Thema höchste Priorität in den Koalitionsverhandlungen.

SPD-Landesvorsitzende und designierte Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, erklärte die Krankenhausfinanzierung denn auch zum Thema der Sondierungsgespräche mit allen Parteien und schlug den ehemaligen Brandenburger Ministerpräsidenten, Matthias Platzeck (SPD), als Konfliktvermittler vor.

In den Tochterunternehmen hat sich ver.di-Streikleitung auf eine Moderation durch Platzeck eingelassen, betont aber, dass im Unterschied zu einer Schlichtung der Streik nicht ausgesetzt werden soll.

Kein Vertrauen in Schlichtungsgespräche

Zurecht sieht Sylvia Bayram von der „Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht“ eine Schlichtung kritisch. Die sog. Vermittlung stellt letztlich nur einen ersten Schritt in diese Richtung dar. Welche negativen Konsequenzen bei einer Moderation oder Schlichtung durch Platzeck zu befürchten sind, zeigt seine Rolle bei der Charitétochter CFM. Der von ihm vermittelte seinerzeitige Tarifabschluss unterläuft das Ziel „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Deswegen befindet sich die CFM im Unterschied zur VSG und Labor Berlin heute nicht im Streik. Und deswegen muss auch die Übernahme eines besseren Ergebnisses für CFM per Landesgesetz zur Forderung der aktuell Streikenden an die eingehende Landesregierung werden!

40 Streikende von Charité und Vivantes erklärten kürzlich in einer Videobotschaft: „Man nimmt uns in den Verhandlungen nicht ernst.“ Wie wahr! Nach Ablauf des im Mai an den Senat gestellten Ultimatums, nach dreitägigen Warnstreiks, der Urabstimmung und 26 Tagen im Vollstreik können wir feststellen, dass sich die klammheimliche Hoffnung der ver.di-Spitze und vieler Streikender auf einen Abschluss vor den Wahlen genauso zerschlagen hat wie auf ein Eingreifen „der Politik“ zu ihren Gunsten. Diese steht zumindest überwiegend aufseiten des Managements und die Streikenden sind fast ganz allein auf ihre Kraft und Solidarität angewiesen.

Gemeinsamer Kampf!

Daher müssen die Streikenden eine Schlichtung unter vorgeblich neutraler Vermittlung kategorisch ablehnen. Sollte es dennoch zu einer Schlichtung kommen, was wir in Anbetracht der ausgesandten Signale befürchten, darf deshalb der Vollstreik nicht eingestellt oder vermindert, sondern muss eher verstärkt werden. Des Weiteren müssen wir dafür eintreten, dass die anstehende Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder (TVöD-L) die beiden Anliegen des Berliner Streiks (Entlastung, TVöD-Angleichung) in ihre Forderungen für die diesbezüglichen Länderbeschäftigten (Uni-, psychiatrische Landeskliniken und deren Tochterunternehmen) aufnimmt.

Auch die Beschäftigten bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Berlin und in den an die große, private Klinikkette Asklepios verscherbelten ehemaligen 3 Brandenburger Psychiatrieeinrichtungen kämpfen für Angleichung an den TVöD und müssen in der anstehenden Tarifauseinandersetzung mit an Bord genommen werden. Schließlich darf es bei Charité, Vivantes, der VSG sowie der VSG-Sparte Medizinische Versorgungszentren (MVZ) und beim Labor Berlin nur zu einem gemeinsamen Abschluss kommen, der keinen Betriebsteil im Regen dastehen lässt. Dieser soll per Landesgesetz auf die von Platzecks Schlichterspruch enttäuschten und betrogenen CFM-KollegInnen, die schließlich einen mehrjährigen, beispielhaften Kampf für ein besseres Ergebnis geführt hatten, übertragen werden.

All das wird uns eine Vermittlung durch Platzeck oder sonst jemanden nicht bringen. Nein zur Schlichtung!




Volksentscheid: Deutsche Wohnen und Co. enteignen – jetzt!

Tomasz Jaroslaw, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ (DWe) war auch in seiner dritten Phase ein voller Erfolg. 56,4 %, in absoluten Zahlen 1.034.709 Wahlberechtigte, stimmten beim Volksentscheid am 26. September mit Ja.

Was wir nun brauchen, ist eine „vierte“ Phase, in der wir den Druck auf das Abgeordnetenhaus bis zur erfolgreichen Umsetzung aufrechterhalten und parallel die MieterInnenbewegung organisieren.

Auf der Wahlparty von DWe versammelten sich am 26. September mehr als 400 Aktive. Auch wenn viele Umfragen auf einen knappen Sieg hindeuteten, waren Spannung und Ungewissheit spürbar, verstärkt durch das Auszählungsdebakel des Landes Berlin und die verheerenden Verluste der Linkspartei, der einzigen, die sich öffentlich hinter den Volksentscheid stellte. Gesteigert wurde all dies noch dadurch, dass das erste Ergebnis, das um 21 Uhr von der Landeswahlleitung gemeldet werden sollte, weiter auf sich warten ließ. Und dann kam es um etwa 21:50 Uhr: Nach Auszählung von etwa 20 Prozent der Wahlkreise zeichnete sich eine klare Mehrheit ab, am Abstimmungssieg gab’s keine Zweifel mehr. Hunderte jubelten, fielen einander in die Arme.

Abstimmungstrends

Mit diesem Ergebnis ist nun der Senat beauftragt, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um große private Immobilienkonzerne auf Grundlage des Artikels 15 Grundgesetz zu vergesellschaften. Dabei spielte das Resultat die Mehrheit nur unzureichend wider, sind doch hunderttausende Berliner MieterInnen aufgrund eines nationalistischen und undemokratischen Wahl- und Referendumrechts ausgeschlossen. Alle, die keinen deutschen Pass haben, durften nicht wählen oder abstimmen, selbst wenn sie jahre- oder jahrzehntelang in der Stadt wohnen. Auch wenn dieser Beschluss im Gegensatz zum Gesetzesvolksentscheid nach Auffassung des Innensenats rechtlich nicht bindend ist, ist der politische Druck aufgrund dieses klaren Ergebnisses enorm. Schließlich hat die Initiative mehr Stimmen hinter sich vereinigt als jede einzelne Partei oder jeder Zweiparteienblock.

Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Aus den Stadtteilergebnissen lässt sich annähernd die Klassenzusammensetzung der Abstimmenden ableiten:

Innenbezirke mit einer massiven Mietpreissteigerung von ca. 100 % in den letzten 10 Jahren und klassische ArbeiterInnenbezirke tendierten zur Annahme. Demgegenüber waren die Ergebnisse in bürgerlich-konservativen Bezirken unterdurchschnittlich, in Ostbezirken besser als vergleichbare im Westen. Damit kann man sagen, dass der Fokus des Abstimmungskampfs auf die östlichen Außenbezirke eine Wirkung entfaltete und die ArbeiterInnenklasse und progressive Teile des Kleinbürgertums dazu tendierten, den Volksentscheid zu unterstützen.

Hetze bis zur letzten Minute

Der Erfolg ist umso bemerkenswerter, als er gegen die vielfältigen politisch motivierten Blockadeaktionen (Polizei, Innensenat, Landesmedienanstalt), Halbwahrheiten und Irreführungen (Notwendigkeit zur Entschädigung zum Marktwert, privater Neubau als Alternative) sowie  Falschinformationen (Enteignung von Einzelbesitz und Wohnungsgenossenschaften) des bürgerlichen Staates, von Parteien und Medien, der Immobilienlobby und auch der SPD-Führung und der Wohnungsgenossenschaften errungen wurde.

Dies wurde am Wahlkampf, wo alle Parteien u. a. an Schulen eingeladen worden sind, um sich bei der Wahl darzustellen, DWe aber nicht, sichtbar. Auch hatten die Parteien die Möglichkeit, bei den öffentlichen Fernseh- und Radiosendern Wahlwerbespots kostenfrei zu senden. DWe hatte welche vorbereitet und versuchte, ebenfalls im Sinne der Gleichbehandlung entsprechende „Slots“ zu bekommen. Die Landesrundfunkanstalt hatte dies jedoch untersagt.

Und am Abstimmungstag wurde die Parteinahme gegen das Volksbegehren sehr plastisch symbolisiert, als der rbb „fragende BürgerInnen“ präsentierte – und dabei „zufällig“ nur auf GegnerInnen der Enteignung stieß.

CDU, FDP und AfD haben immer klargemacht, dass für sie, unabhängig vom Ergebnis des Volksentscheids, keine Enteignung in Frage komme. Während sich FDP und CDU als Parteien der Immobilienlobby und EigentumsfanatikerInnen bei ihrer Kernklientel eher profilieren konnten, trug die mieterInnenfeindliche Haltung der AfD wohl auch dazu bei, dass sie in Berlin 6,2 % ihrer Zweitstimmen verlor und zur größten Wahlverliererin wurde.

Kommentare der Senatsparteien

Die bisherigen Senatsparteien hingegen sind gezwungen, auf das Ergebnis Rücksicht zu nehmen, sei es aus Überzeugung oder Opportunismus.

Der Spitzenkandidat der Linkspartei, Klaus Lederer, erwartet die Umsetzung dieses Beschlusses, egal welche Regierung sich konstituiert. Dass sich DIE LINKE als einzige Partei hinter das Volksbegehren gestellt hat, führte sicherlich dazu, dass sie in Berlin weit weniger Stimmen verlor als bei den Bundestagswahlen.

Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Grünen, die zuvor eigentlich „gemeinwohlorientierte“ Abmachungen mit den Konzerne bevorzugte und Enteignung nur als letztes Mittel ansah, erklärt die Frage zum Bestandteil von Koalitionsverhandlungen.

Franziska Giffey, Spitzenkandidatin der SPD mit enger Verbindung zur Immobilienwirtschaft, lehnt die Enteignung ab. Vor der Wahl definierte sie dies noch als „rote Linie“. Jetzt verspricht sie, das demokratische Votum „zu respektieren“, damit „verantwortungsvoll“ umzugehen. Sie sagt ferner: „Aber dieser Entwurf muss dann eben auch verfassungsrechtlich geprüft werden“.

Was wird der Senat tun?

Aus diesen Aussagen wird deutlich, dass der überwältigende Sieg des Volksentscheides die bisherigen Regierungsparteien unter Druck setzt. Aber klar ist auch, dass Giffey alles dafür tun wird, eine Umsetzung abzuwehren, indem entweder gerichtlich festgestellt wird, dass diese unverhältnismäßig ist oder KoalitionspartnerInnen ausgesucht werden, mit denen jede Gesetzesinitiative in diese Richtung im Keim erstickt wird. Der schwarze Peter wäre dann bequem an bürgerliche Gerichte oder offen ablehnende bürgerliche Parteien weitergereicht. Die SPD wäre, jedenfalls Giffeys Kalkül zufolge, fein raus und bräuchte selbst nicht eine Millionen WählerInnen zu betrügen.

Giffey hält Rot-Grün-Rot für ein Auslaufmodell. Das Wahlergebnis macht den Bruch mit der bisherigen Koalition aber schwerer als erhofft. Jedoch lässt die Zusammenstellung ihres Sondierungsteams mit VertreterInnen des rechten Parteiflügels darauf schließen, dass eine weitere Koalition mit Grünen und Linken nicht angestrebt wird. Linke und Grüne schlagen vor, R2G fortzusetzen.

Doch viele haben für den Volksentscheid gestimmt in der Hoffnung, dass ein rot-grün-roter Senat diesen Beschluss auch umsetzt. Wir lehnen eine Fortsetzung der Koalition durch die Linkspartei allerdings aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Sollte sie jedoch als einzige Unterstützerin des Volksentscheids in Koalitionsverhandlungen eintreten, so muss von ihr gefordert werden, seine Umsetzung zur Bedingung einer Koalition zu machen. Selbst darauf sollte sich niemand verlassen, schließlich hat die Partei auch in den letzten Jahren die Blockadepolitik der SPD-SenatorInnen gegenüber dem Volksbegehren im Interesse des Koalitionsfriedens geduldet.

Unter Giffey und Saleh wird die Parteirechte in der SPD eher noch forscher agieren. Ihr Ziel ist nach wie vor das Scheitern des Gesetzentwurfs. Daher müssen die Linken und VolksbegehrensunterstützerInnen in der SPD (Jusos, Bezirksverbände Mitte, Neukölln, Charlottenburg-Wilmersdorf) selbst die Sache zuspitzen. Entweder die SPD-Führung bekennt sich zum Volksentscheid oder die Entscheidung muss auf dem Landesparteitag gegen die SPD-Führung ausgefochten werden.

Was ist zu tun?

DWe muss daher weiter massiv Druck auf die Abgeordneten ausüben, ohne Wenn und Aber den Volksentscheid umzusetzen. Zugleich darf es sich darauf keineswegs verlassen. Richtig erklärte Rouzbeh Taheri von DWe dazu: „Wir akzeptieren weder Hinhaltestrategien noch Abfangversuche. Wir kennen alle Tricks“. Und Kalle Kunkel aus dem gleichen Bündnis ergänzt: „Wir lassen nicht locker, bis die Vergesellschaftung von Wohnungskonzernen umgesetzt ist.“

Natürlich bedeutet die Lage auch, dass eine Reihe von Taktiken erwogen werden muss, wie dieser Druck erhöht werden kann. So kann bei fortgesetzter Blockade und mit der gewonnenen Expertise, wenn nötig, eine weitere Volksinitiative in Form eines verbindlichen Gesetzesvolksentscheids eine mögliche sinnvolle Ergänzung verkörpern. Im Schatten des aktuellen Erfolgs, einer hohen Zustimmung in der Stadt, bestehenden Strukturen sowie einer bereits existierenden kleinen Armee von motivierten AktivistInnen stünden die Chancen gut. Dieser zweite Volksentscheid kann aber nur mit einer organisierenden Perspektive rund um Arbeitskämpfe und Mietboykotts erfolgreich sein.

Diese taktischen, technischen, rechtlichen und organisatorischen Fragen sind aber letztlich zweitrangig. Denn Giffey und Saleh werden mit uns nur reden, weil der Volksentscheid gezeigt hat, dass hinter der Losung der Vergesellschaftung breite Teile der Bevölkerung stehen. Es existiert also eine reale soziale Basis, die in eine Bewegung oder organisierte Macht umgesetzt werden und in der Folge den politischen Führungsanspruch des sozialdemokratischen Spitzenduos untergraben kann. Das zwingt sie dazu, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie werden aber alles tun, um die Enteignung zu verhindern.

Klar ist also: Am 26. September haben wir einen wichtigen Teilsieg errungen. Der Kampf muss jetzt weitergeführt, ja zugespitzt werden. Dazu schlagen wir vor:

a) Die Kiezteams sollen ihre Arbeit als Rückgrat der Kampagne fortsetzen, MieterInnen im Stadtteil organisieren und Keime der zukünftigen MieterInnenräte nicht erst per erhofftes Enteignungs- und Vergesellschaftungsgesetz von oben, sondern in der kommenden Phase von unten aufbauen. Diese MieterInnenräte können als Gremien der Vernetzung mit anderen Sektoren (MieterInneninitiativen, -verein, -gewerkschaft und lokalen Gliederungen von Gewerkschaften, UnterstützerInnen aus Linkspartei, SPD usw.) und der Mobilisierung dienen.

b) Die Vernetzung mit Betriebs- und Gewerkschaftskämpfen wird ausgebaut. DWe soll zu Treffen von Betriebsgruppen der einzelnen Gewerkschaften, bei Infoveranstaltungen und Vollversammlungen eingeladen werden, für Vergesellschaftung (in Gestalt von Kommunalisierung) eintreten, um die Grundlage für Massenmobilisierung und politische Streiks vorzubereiten und zu verbreitern, Druck auf Senat, Abgeordnetenhaus, Landes- und Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen.

c) In Kooperation mit DWe, MieterInneninitiativen und -vereinen müssen eine Auseinandersetzung zur Umwandlung der Massenorganisationen der Mietenden der Stadt geführt und neue aktive Mitglieder für diese gewonnen werden. Wenn in einem Haus, Straßenzug oder Unternehmen ein ausreichender Organisationsgrad erreicht ist (50  %), sind kollektive Mietboykotte für die Vergesellschaftung durchzuführen. Warum sollten wir den EnteignungskandidatInnen auch nur einen weiteren Cent zahlen?

d) Die gigantische Ausstrahlung von DWe birgt das Potenzial, für einen bundesweiten Mietendeckel zu kämpfen. Wir brauchen daher eine vorzugsweise bundesweite Aktionskonferenz, die sowohl die Perspektive aus dem Resultat des Volksentscheids diskutiert als auch Maßnahmen zum Mietendeckel bestimmt.

Diese Eckpunkte können das Kräfteverhältnis nach dem Volksentscheid weiter zugunsten der Lohnabhängigen und einfachen MieterInnen verschieben. Es ist nicht nur notwendig, den Druck aufrechtzuerhalten, sondern die BefürworterInnen zu einer Massenkraft in Richtung Kampf-, Veto- und Kontrollorgane zu organisieren. Mit diesen neuen Kampfmitteln und Organisationen ist es möglich, die Kommunalisierung konsequent umzusetzen – auch gegen den Senat.




Wahldebakel der Linkspartei: Verdiente Katastrophe mit Ansage

Martin Suchanek, Infomail 1164, 27. September 2021

Dass die Linkspartei bei diesen Wahlen Stimmen und Mandate verlieren würde, stand im Grunde schon vor dem 26. September fest. Seit Monaten dümpelte sie in den Umfragen um die 6 % – mit sinkender Tendenz. Am Ende kam es schlimmer.

Magere 4,9 % waren es da, 2.269.797 WählerInnen kreuzten DIE LINKE an, über 2 Millionen weniger als 2017, als die Partei 4.297.492 Stimmen erhielt. Der Verlust gegenüber den letzten Bundestagswahlen betrug 47,2 %, also fast die Hälfe der WählerInnen (bei einer etwa gleich großen Wahlbeteiligung).

Früh gingen am Wahlabend bei der Linkspartei die Lichter aus. Nur drei Direktmandate sicherten den erneuten Einzug in den Bundestag. Auf den Traum von einem rot-grün-roten Politikwechsel folgte das Erwachen wie nach einer durchzechten Nacht.

So manche StrategInnen aus den Führungsetagen der Linkspartei, von Vorstand und Fraktion mögen den Verlust von über vier Prozentpunkten bei den Bundestagswahlen mit Hochprozentigem zu verdrängen versucht haben. Umso ernüchternder weckt die Realität. Die Vorsitzenden von Linkspartei und der verkleinerten Fraktion versprechen, aus dem größten Wahldebakel seit Bestehen von PDS und DIE LINKE die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden. Schließlich stehen sie vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen Politik.

Das Ergebnis

Eine Wahlanalyse von Horst Kahrs für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt, dass DIE LINKE im Vergleich zu den letzten Bundestagswahlen praktisch in allen Wahlbezirken, vor allem aber in den fünf ostdeutschen Flächenländern (zwischen 5,4 % in Thüringen und 8,7 % in Brandenburg) und in den Stadtstaaten (zwischen 5,5 % in Hamburg und 7,3 % in Berlin verlor). Mit Ausnahme des Saarlands (5,7 %) verlor sie in den westlichen Flächenländern „nur“ zwischen 3,0 und 3,8 %).

Natürlich hängt das auch damit zusammen, dass sie in ersteren auch mehr zu verlieren hatte. Jedenfalls erhielt sie in ihren ehemaligen Hochburgen im Osten im Durchschnitt nur noch 9,8 &, in den Stadtstaaten 9,6 % und in den Westländern 3,5 %.

Auch wenn DIE LINKE im Westen besser abschnitt als die PDS vor 2005, stellt das Ergebnis in diesen Bundesländern das schlechteste in der Geschichte der Partei dar.

Betrachten wir die 4,9 % nach Alter und sozialer Herkunft, so fällt auf, dass sich DIE LINKE unter jüngeren WählerInnen noch einigermaßen behaupten konnte (8 % bei den 18 – 24-Jährigen, 7 % bei den 25 –34-Jährigen), bei den über 45-Jährigen aber bei nur 4 % liegt.

Katastrophal ist jedoch auch das Ergebnis unter ArbeiterInnen, Angestellen mit jeweils 5 % und bei RentnerInnen (4 %). Unter den Arbeitslosen gaben zwar 11 % an, die Linkspartei gewählt zu haben, aber auch das liegt weit unter früheren Ergebnissen.

Unter GewerkschafterInnen schnitt sie zwar besser als im Durchschnitt ab, aber ein Anteil von 6,6 % stellt auch hier ein katastrophales Ergebnis dar und entspricht einem Verlust von 5,2 % gegenüber 2017.

Betrachten wir die WählerInnenwanderung seit der letzten Bundestagswahl, so ergibt sich ein sehr deutliches Bild, an wen DIE LINKE vor allem verlor: an die SPD (590.000) und die Grünen (470.000). Darauf folgen die NichtwählerInnen (370.000), verschiedene kleinere Parteien (250.000) sowie jeweils rund 100.000 an AfD und FDP. Selbst an die CDU gab sie 40.000 Stimmen ab.

Ursachen der Niederlage

Für das katastrophale Ergebnis ist natürlich die Linkspartei zuerst selbst politisch verantwortlich.

Dies liegt erstens darin, dass DIE LINKE selbst seit Jahren einen politischen Schlingerkurs fährt und sich faktisch drei Fraktionen in der Partei gegenseitig paralysieren. Die sog. RegierungssozialistInnen bilden jenen Teil des Apparates und der Spitze, der fast um jeden Preis mitregieren will. Die LinkspopulistInnen um Wagenknecht setzen auf eine angebliche Rückkehr zur Politik der „kleinen Leute“, beklagen den Vormarsch der Identitätspolitik, passen sich selbst aber an rassistische und nationalistische Stimmungen an. Die Bewegungslinke schließlich will eine transformatorische Regierungspolitik mit Engagement in Bewegungen verknüpfen.

In den realen politischen Auseinandersetzungen stehen diese Flügel – damit auch die Linkspartei – immer wieder auf verschiedenen Seiten. Während sich die Bewegungslinke betont antirassistisch gibt und an wichtigen Mobilisierungen in Solidarität mit Geflüchteten teilnimmt, erklärt Sahra Wagenknecht, dass nicht allen ein „Gastrecht“ gewährt werden könnte, und die Landesregierungen in Thüringen, Berlin oder Bremen schieben derweil ab.

Besonders deutlich trat das bei der Abstimmung um den letzten Afghanistaneinsatz zutage. Nachdem die Partei jahrelang den Rückzug der Bundeswehr gefordert hatte, wollt der rechte Flügel der sog. Rettungsmission doch zustimmen. Linke Abgeordnete lehnten das ab. Der Parteivorstand versuchte in der Not, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen – und sprach sich für eine Enthaltung bei der Abstimmung aus. Im Bundestag selbst folgte  eine Mehrheit der Abgeordneten der Empfehlung, fünf stimmen jedoch für den Einsatz, sieben dagegen. Mit dieser Politik machte sich DIE LINKE nicht nur unglaubwürdig, sie geriet auch in die Defensive.

Diese Schwankungen lassen sich faktisch auf allen wichtigen Politikfeldern verfolgen. So tritt die Partei für einen rascheren Ausstieg aus der Braunkohleverstromung ein – nicht jedoch in Brandenburg. In Berlin unterstützt sie die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen und die Krankenhausbewegung. Im SPD/PDS-Senat hatte sie freilich maßgeblich Anfang des Jahrtausends zur Privatisierung des Wohnraums und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und zum Outscourcing beigetragen.

Mit anderen Worten: Was die Linkspartei an Prestige und Anerkennung in einzelnen Kämpfen und Bewegungen erringt, konterkariert sie durch Opportunismus und Regierungspolitik auf der anderen.

Das ist natürlich für eine reformistische, bürgerliche ArbeiterInnenpartei nichts Ungewöhnliches, sondern ein recht typischer, immer wiederkehrender Widerspruch. Nachdem die Partei eine revolutionäre Umgestaltung kategorisch ablehnt, muss sie logischerweise auf eine Regierungsbeteiligung abzielen, um ihre Ziele überhaupt umsetzen zu können. So weit besteht zwischen verschiedenen Fraktionen in der Partei und auch unter ihren Mitgliedern durchaus weitgehende Übereinstimmung. Differenzen gibt es, von Teilen der AKL abgesehen, freilich dazu, wann und zu welchem Preis sich die Partei dafür hergeben soll oder darf.

Veränderung der Mitgliedschaft

Verschärft wird der innere Konflikt in der Linkspartei durch eine Veränderung ihrer Mitgliedschaft und WählerInnenbasis. Die Zahl der AnhängerInnen im Osten schwindet seit Jahren. Das hat natürlich auch demographische Gründe. Jahrelang konnten PDS und später Linkspartei auf eine breite Unterstützung ehemaliger DDR-BürgerInnen zählen. Deren Klassenzusammensetzung war heterogen, schloss also auch Teile des alten Staatsapparates und der Eliten der DDR ein, die es schafften, in der BRD zu UnternehmerInnen, Selbstständigen oder höhergestellten Lohnabhängigen zu werden.

Diese soziale Struktur lässt sich für eine linke Oppositionspartei nicht dauerhaft reproduzieren und das ist auch gut so.

Aber DIE LINKE vermochte es im Osten nicht, stattdessen Erwerbslose und prekär Beschäftigte dauerhaft zu halten und neue Schichten der Lohnabhängigen für sich zu gewinnen. Dafür trägt sie selbst maßgeblich Verantwortung, weil sie nicht als entschlossene Opposition zu den herrschenden Verhältnissen agierte und agieren wollte, sondern als bessere sozialdemokratische Mitgestalterin ebendieser fungierte.

Wer den Kapitalismus nicht bekämpfen, sondern zähmen will, wird dabei letztlich nur selbst gezähmt und unterminiert seine eigene Basis.

DIE LINKE hat zwar auch neue Mitglieder gewonnen, vor allem im Westen und auch unter Jugendlichen und Lohnabhängigen, einschließlich betrieblich und gewerkschaftlich Aktiver. Aber sie gewann weniger, als sie anderer Stelle verlor.

Politisches Luftschloss Rot-Grün-Rot

Darüber hinaus gewann die DIE LINKE nach den Hartz- und Agendagesetzen jahrelang vor allem enttäuschte SPD-AnhängerInnen. Diese WählerInnenbewegung kam jedoch in den letzten Jahren immer mehr zum Erliegen.

Im Gegenteil. Sobald die SPD sich verbal etwas nach links bewegte und als eine machtpolitische Option erschien, gelang es ihr, WählerInnen von der Linkspartei zurückzugewinnen. Ein ähnlicher Prozess lässt sich auch gegenüber den Grünen beobachten und im Osten gegenüber der AfD. Letztere dürften aber in der Regel dauerhaft an ein neues rechtspopulistisches Milieu verloren sein.

Die Verluste an die SPD (und auch die Grünen) machen aber ein grundlegendes Problem der Linkspartei deutlich. Sie gewann von der SPD vor allem dadurch, dass sie sich ihren AnhängerInnen als die bessere, „echte“ sozialdemokratische Partei präsentierte. Die Agendapolitik unter Schröder und Steinbrück trieb ihr gewissermaßen automatisch Leute zu. Die Aussicht auf eine SPD-geführte Regierung und einige soziale Versprechen reichten aus, um die Sozialdemokratie unter diesen WählerInnen attraktiver zu machen. Sobald sich abzeichnete, dass diese die Wahlen gewinnen könnte, überlegten Hunderttausende, die zwischen SPD, Grünen und Linkspartei schwankten, ob sie nicht lieber die Sozialdemokratie wählen sollten, um eine CDU-geführte Regierung zu verhindern.

Diese Sogwirkung kostete der Linkspartei wahrscheinlich 1 – 2 Prozent, also über eine Million WählerInnen.

Ironischer Weise verstärkte die Linkspartei selbst diese Sogwirkung. Einigen Umfragen zufolge schien eine rot-grün-rote Regierung arithmetisch möglich. SPD und Grüne machten zwar deutlich genug, dass sie eine solche Koalition zu keinem Zeitpunkt anstrebten und allenfalls als Drohkulisse gegenüber der FPD verwenden würden, aber die SpitzenkandidatInnen, die Parteivorsitzenden und die Fraktionsführung beschworen dieses politische Luftschloss umso eifriger. Sie zogen faktisch das eigene linksreformistische Wahl-zugunsten eines vagen Sofortprogramms zurück, in dem alle wesentlichen Unterschiede zu SPD und Grünen entweder weggelassen oder auf ein Minimum reduziert wurden. Damit stellte die Linkspartei faktisch den eigenen Wahlkampf zugunsten einer Werbetour für eine Koalition ein, die außer ihr niemand wollte.

Den umkämpften WählerInnenschichten signalisierte sie damit, dass es eigentlich egal war, ob sie die Linkspartei wählten oder nicht. Schließlich sollte doch alles in einer gemeinsamen Regierung enden. Und diese zogen den Schluss, dass sie doch lieber gleich für das sozialdemokratische (oder grüne) Original stimmen sollten statt für die linke Möchtegern-Steigbügelhalterin.

Diese Katastrophe hat ausnahmsweise einmal nicht Sahra Wagenknecht zu verantworten, sondern vor allem jene, die das „Sofortprogramm“ auf den Weg gebracht haben: Susanne Hennig-Wellsow, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch und die Parteilinke Janine Wissler.

Deren „Taktik“ offenbart nicht nur den tief sitzenden Opportunismus, sich faktisch um jeden Preis einer rot-grün-roten Koalition anzubiedern. Nicht minder dramatisch ist die Realitätsferne der Führung der Linkspartei.

Für sie stellte sich der Wahlkampf als eine Konfrontation zwischen einem neoliberalen und einem „Reformlager“ dar. SPD und Grünen fehlte es demzufolge nur an Mut für eine soziale, ökologische Koalition für echte Verbesserungen.

Diese oberflächliche Sichtweise verkennt völlig, dass Grüne und SPD seit Jahrzehnten eng mit dem bestehenden politischen Herrschaftssystem verbunden sind. Über diese Kanäle vermitteln sich auch die Interessen des deutschen Kapitals oder bestimmter Kapitalfraktionen in diese Parteien hinein.

Das Problem der Linkspartei besteht darin, dass sie als unsichere Kantonistin gilt, wenn wichtige strategische Interessen des Gesamtkapitals auf dem Spiel stehen, selbst wenn sich deren Spitzen noch so sehr bemühen, als  zuverlässig, also harmlos zu erscheinen. Die herrschende Klasse sieht keinen Grund, dieses zusätzlich Risiko angesichts einer schier unendlichen Fülle außen- und europapolitischer Probleme, angesichts von Pandemie und wirtschaftlichen Krisenprozessen einzugehen.

Die Auflösung des traditionellen Parteiensystems verursacht schon genug Kopfzerbrechen, es bedarf keiner weiteren Ungewissheiten. Die Spitzen von SPD und Grüne wissen, dass von ihnen in dieser Lage erwartet wird, dass sie eine möglichst stabile Regierung herbeiführen – und das heißt, mit FPD und/oder CDU/CSU koalieren.

Diese realen Klassenbeziehungen spielen in den Kalkulationen der Führung der Linkspartei ebenso wenig eine Rolle wie der Klassencharakter des Programms von SPD und Grünen. Wäre dem anders, hätten sie wissen müssen, dass Rot-Grün-Rot immer nur ein politisches Hirngespinst war, was immer man sonst davon halten möchte.

Die Führung der Linkspartei sitzt stattdessen den Oberflächenerscheinungen des bürgerlich-parlamentarischen Betriebs auf und nimmt sie für bare Münze. Obwohl sich Grüne und SPD im Wahlkampf als Parteien der sozial und ökologisch abgefederten Modernisierung des deutschen Kapitalismus und Imperialismus präsentierten, tat sie so, als wollten SPD, Grüne und DIE LINKE im Grunde dasselbe.

In dem sie die realen Verhältnisse verschleierte, statt sie deutlich zu machen, schuf sich die Linksparteiführung ein Wolkenkuckucksheim. Sie täuschte damit vor allem sich selbst – und machte die Partei im Wahlkampf überflüssig. Am 26. September erhielt sie dafür die Quittung.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielte die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde und auch nie eingeladen worden wäre. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen.

Klarheit

Dies bedeutet aber nicht nur, sich innerparteilich zu positionieren. Es erfordert auch, sich selbst über den reformistischen Charakter der Linkspartei selbst klar zu werden. Die Orientierung auf Regierungsbeteiligungen ist keine Warze am Gesicht einer Partei, die selbst fest auf dem Boden der bürgerlich-demokratischen Ordnung steht. Vielmehr liegt es in der Logik einer Politik, die den Kapitalismus nicht stürzen will, dass sie zur Umsetzung ihrer Ziele eine Regierungsbeteiligung anstreben muss.

Solange die Kritik an der Anbiederung an Rot-Grün-Rot nur auf der Ebene verbleibt, dass sie heute zu viele Zugeständnisse beinhalte, ist sie letztlich oberflächlich und moralisch. Sie kritisiert nur die Resultate, nicht die Grundlagen des Reformismus.

Genau diese Kritik muss die Linke in wie außerhalb der Linkspartei leisten, um eine politische Alternative zu entwickeln, die über deren Rahmen programmatisch, strategisch wie taktisch hinausgehen kann. Diese grundlegende Debatte um ein revolutionäres Programm ist jedoch unerlässlich, damit die Katastrophe vom 26. September nicht zur nächsten führt.




Mehr Personal – noch vor der Wahl!

Jürgen Roth, Infomail 1163, 16. September 2021

„Mehr Personal – noch vor der Wahl! TVöD – für alle an der Spree!“ Um 8 Uhr am Morgen des 16.9.2021 versammelten sich geschätzt 300 – 400 Streikende unter diesen lauthals skandierten Parolen vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Dieses historische Gebäude diente zu Kaisers Zeiten einem Teil des Preußischen Landtags als Sitz. Hier tagte auch der 1. Reichsrätekongress im Dezember 1918 und im dortigen Festsaal erfolgte die Gründung der KPD zur Jahreswende 2018/19. Nach einer kämpferischen Kundgebung und vielen Reden übers Megaphon zogen die Streikenden in einer kurzen Demonstration durch die Stadt.

Angebote?

Vivantes hat mittlerweile ein Angebot offeriert, das ver.di-Streikleiterin für den TVE (Tarifvertrag Entlastung), Meike Jäger, zwar als verhandelbar bezeichnete, es aber ablehnte, dafür den Streik auszusetzen. An diese Bedingung knüpft die kommunale Krankenhausführung jedoch die Aufnahme von Verhandlungen.

Nach 120 Tagen „Schweigen im Wald“ der „ArbeitgeberInnen“ bezeichnete Jäger dieses Junktim zu Recht als dreist. Das Angebot ist sehr vage gehalten. Man will Arbeits- und Ausbildungsbedingungen verbessern. Zu den gewerkschaftlichen Forderungen nach mehr Praxisanleitung für Azubis und personeller Mindestbesetzung bzw. Belastungsausgleich bei deren Unterschreitung findet sich kein Wort. Konkret ist nur vom Ende des Arbeitskräfteleasings die Rede. Das ist sicher begrüßenswert, weil die KollegInnen weniger Stress ausgesetzt sind, ständig neue Leute auf Station einzuweisen und anzulernen, und es sich gegen die Praxis der Leiharbeit richtet. Doch wenn diese Arbeitskräfte entfallen, droht die Gefahr, dass das Personal noch mehr zwischen verschiedenen Abteilungen umherspringen darf. Ohne verbindliche Personalbemessungsregelungen handelt es sich dabei also um einen vergifteten Köder.

Zum zweiten Thema neben Entlastung, der Angleichung der Einkommen und Bedingungen der Tochterunternehmen der beiden Klinikmütter (VSG im Fall von Vivantes und Labor Berlin auch bei der Charité), schlug Vivantes eine Angleichung bis 2028 (!) unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation der Häuser vor. Also wenig mehr als nichts. Auch nichts dazu, wie hoch Zulagen, Zuschläge und Weihnachtsgeld und die Angleichungsschritte in den Tabellen ausfallen sollen. Nichtsdestotrotz bietet ver.di am kommenden Samstag, wenn bei VSG/Labor Berlin nicht gestreikt wird, Verhandlungen an. Sollte man an diesem Tag vorwärtskommen, steht eine Aussetzung des Streiks für folgenden Montag im Raum.

Streik und Notfallversorgung

Seit Beginn der unbefristeten Arbeitsniederlegung laufen täglich neue Streikmeldungen aus verschiedenen Standorten beider Häuser ein, so dass sich mehr KollegInnen als erwartet beteiligen wollen. Ver.di sah sich gezwungen, bei Vivantes etliche wieder auf die Stationen und in die Funktionsabteilungen zurückzuschicken, da noch immer PatientInnen dort weilten bzw. neue aufgenommen wurden. Bei der Charité lief das Ganze gesitteter ab. Dort liegen seit 2015 genügend Erfahrungen mit dem Umgang solcher Situationen vor. Außerdem eskalierte Vivantes und beklagte laxes Umgehen mit der Notdienstabsicherung. Lt. Jäger stimmt das nicht. Zusätzliche KollegInnen aus Reihen der Streikwilligen würden abgestellt, wenn sie gebraucht würden.

Sie wies darauf hin, dass ihre Gewerkschaft deshalb eine Notdienstvereinbarung vorgelegt habe, die zu unterzeichnen aber die „ArbeitgeberInnen“ sich geweigert haben. Zudem warf sie die Frage auf, wieso solche Fälle in der Clearingstelle nicht schon geklärt wurden, bevor es zu solchen Engpässen kommen konnte. Ver.di könne belegen, wie viele Rettungsstellen wegen Personalmangels abgemeldet wurden und dass die Klinikleitung überdramatisiere, wenn sie von streikbedingter Gefährdung der Notfallversorgung in der Stadt spreche.

Wie weiter?

Der Streik bei Charité und Vivantes hat in der letzten Woche eine beachtliche Dynamik entwickelt. Das ist auch der Grund, warum die Klinikleitungen jetzt notdürftige Angebote aus dem Hut zaubern.

Es ist klar: Sie wollen dem Druck der Arbeitsniederlegung ausweichen und ihn brechen, um so zu verhindern, dass noch mehr Beschäftige ver.di beitreten und die Streikfront ausgeweitet wird. Darüber hinaus haben sich Einschüchterung und Repression gegenüber den Kämpfenden als Rohrkrepierer erwiesen. Statt den Streik zu brechen, trugen sie dazu bei, Wut und Entschlossenheit, aber auch Organisiertheit, Selbstbewusstsein und politische Klarheit zu steigern.

Daher auch das Junktim, dass der Streik für Verhandlungen „ausgesetzt“, also unterbrochen werden soll. Die Beschäftigten und die Streikleitungen sind gut beraten, das zurückzuweisen. Die Erfahrung zeigt, dass sich Arbeitskampfbewegungen nicht einfach „aussetzen“ und dann wieder anwerfen lassen. Vielmehr sollten die aktuelle Dynamik und die Woche vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus noch genutzt werden, um den Arbeitskampf weiter hochzufahren, um die Tarifrunde Entlastung und den Kampf bei den Töchtergesellschaften zeitgleich und koordiniert zu führen. Daher: Nein zum etwaigen Aussetzen des Arbeitskampfes! Darüber entscheiden sollen nicht Tarifkommissionen und Streikleitungen, sondern die Streikenden selbst!

Die Verhandlungen mit Vivantes und Charité sollten dabei nicht hinter verschlossenen Türen geführt werden, sondern öffentlich. So können sie alle Beschäftigen und die gesamte Öffentlichkeit direkt verfolgen, so können sie sich selbst ein Bild von den Angeboten von Vivantes und Charité machen. So können die Kämpfenden ihre Verhandlungskommission effektiv kontrollieren und starkmachen, damit sie nicht schwach wird. Denn nur die Streikenden selbst können und sollen nach Diskussion auf Vollversammlungen entscheiden, welchen Tarifvertrag sie gegebenenfalls anzunehmen bereit sind.




Das Sofortprogramm der Linkspartei: Anbiederung aus Verzweiflung

Martin Suchanek, Infomail 1161, 9. September 2021

Das Unvorhergesehene ist eingetreten. Die SPD und ihr Spitzenkandidat führen in den Umfragen. Liegt das an den Fettnäpfen, in die Laschet und Baerbock abwechselnd hüpfen? Liegt es daran, dass MerkelanhängerInnen deren Erbe bei Scholz besser aufgehoben sehen?

Beides macht eigentlich klar, dass eine mögliche rechnerische Mehrheit für Rot-Rot-Grün, die der SPD-Höhenflug mit sich bringt, nicht das Szenario einer „Linkswende“ der WählerInnen abbildet. Trotzdem wittert die Führung der LINKE, die aus der Krise der SPD fast nichts nach links gewinnen konnte, ausgerechnet jetzt die Chance, die Partei aus ihrer Krise herauszuwinden. Mit heißer Nadel wurde ein „Sofortprogramm“ gestrickt, das einer politischen Kapitulationserklärung der Vorsitzenden von Partei und Fraktion der Linken gegenüber SPD und Grünen gleichkommt.

In einem achtseitigen Papier, das am 6. September veröffentlicht wurde, schlagen Janine Wissler, Susanne Hennig-Wellsow, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch Eckpunkte eines Regierungsprogramms vor, das so ziemlich jeden strittigen Punkt gegenüber SPD und Grünen beiseitelässt. Austritt aus der NATO? Rückzug aller Bundeswehreinheiten aus dem Ausland? Fehlanzeige. Zur Pandemie und deren Bekämpfung findet sich gleich gar kein Wort im Text. Enteignung von Deutsche Wohnen und Co.? Nicht im Sofortprogramm!

Klarheit und Verlässlichkeit – für wen?

Gleich zu Beginn des Textes versprechen die AutorInnen „Klarheit und Verlässlichkeit, wenn es um die Zukunft unseres Landes“ geht. Verlässlich wollen sie offenbar für Scholz, Baerbock und Co. sein. Dass das Fallenlassen der meisten strittigen Punkte mit den anvisierten KoalitionspartnerInnen zu einer wirklichen Koalition führt, darf getrost bezweifelt werden.

Grüne und SPD ziehen allemal eine Koalition mit der FPD einer mit der Linkspartei vor – und zwar nicht wegen einer größeren Schnittmenge im Forderungsabgleich, sondern weil sie eine stabile, für das deutsche Kapital verlässliche Regierung anstreben. So viele Punkte kann die Linkspartei gar nicht fallenlassen, dass Grüne und SPD, die beide eine Regierung im Einvernehmen mit den Spitzen des deutschen Großkapitals und der EU-Kommission anstreben, nicht lieber auf FDP oder selbst auf eine Kombination mit CDU/CSU (z. B. Schwarz-Grün-Gelb) setzen.

Doch der Spitze der Linkspartei gilt offenkundig politische Harmlosigkeit gegenüber SPD und Grünen als Beweis für Verlässlichkeit. Wen kümmert da schon, dass das  Wahlprogramm, mit dem die Linkspartei antritt und das von einem Parteitag beschlossen wurde, ohne jede demokratische Debatte, ohne Konsultation und Diskussion des Parteivorstands faktisch fallen gelassen wurde?

Wenn das Lancieren des Sofortprogramms politisch einen Sinn machen soll, so doch nur den, SPD und Grünen wie der gesamten bürgerlichen Öffentlichkeit zu signalisieren, dass es der Linkspartei mit ihrem Wahlprogramm nicht weiter ernst ist. Das mag im bürgerlichen Politikbetrieb nicht weiter verwundern. Es zeigt aber, wie rasch und wie viele Abstriche die Spitzen der Linkspartei zu machen bereit sind, selbst wenn sie dafür nichts erhalten.

Gedeckt wird dies, indem Stimmung in der Bevölkerung beschworen wird, die die Politik für die Millionen und nicht für die MillionärInnen herbeisehnt. Als ob die Formel schon klären, würde, welche Politik im Interesse der Millionen nötig wäre und welche SPD und Grüne verfolgen. Doch die Linke macht ihre Differenzen zur noch regierenden SPD oder einer Grünen Partei, die so weit rechts steht wie nie zuvor, nicht deutlich.

Für viele Mitglieder der Linkspartei, die sich aktiv an Streiks wie bei den Berliner Krankenhäusern, an der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder an den Mobilisierungen gegen das Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen beteiligen, muss das Sofortprogramm wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Die sog. roten Haltelinien und Mindestbedingungen für Koalitionen mit SPD und Grünen wurden einfach fallen gelassen.

Doch das Lancieren des Sofortprogramms zeigt nicht nur, dass man sich auf die Spitzen der Partei nicht verlassen kann. Da helfen auch keine TV-Auftritte Bartschs, der laut von sich gibt, dass die Linke nur mit ihrem Ganzen und keinem halben Programm in Koalitionsverhandlungen geht. Faktisch tritt das Sofortprogramm an die Stelle des Wahlprogramms.

Der Text zeigt nicht nur, wie weit das Führungspersonal der Linkspartei bereit ist zu gehen. Es offenbart aber auch ein erschreckendes Ausmaß an politischer Fehleinschätzung, einen Mangel an jener Klarheit, die das Papier verspricht.

Lageeinschätzung

Angesichts der aktuellen Umfragen, denen zufolge die SPD unter Olaf Scholz zur stärksten Partei im Bundestag werden könnte, und dass es rein arithmetisch für Rot-Grün-Rot reichen könnte, unterstellt das Papier eine Art gesellschaftlicher Aufbruchsbewegung, die  eine Reformmehrheit signalisieren würde. Wie wird das begründet? Indem eine „andere Mehrheit“ im Land suggeriert wird.

„Es gibt in diesem Land eine Mehrheit, die Ungleichheit und Armut nicht länger hinnehmen will. Eine Mehrheit, die nicht länger hinnehmen will, dass die Löhne von Millionen Beschäftigten stagnieren, während Mieten und Preise weiter steigen. Eine Mehrheit, die weiß, dass gleiche Chancen für alle nur mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur möglich sind. Eine Mehrheit, die nicht länger Zeit beim Klimaschutz verlieren will. Die Politik für die Gesellschaft erwartet, nicht für Lobbygruppen oder ‚den Markt’. Eine Mehrheit, die jeden Tag den Laden zusammenhält, die sich für ihre Nächsten engagiert und das Träumen nicht verlernt hat.“ (Sofortprogramm)

Diese schwammigen Formulierungen sollen offenbar eine politische Lageeinschätzung ersetzen. In Wirklichkeit vernebeln sie sie nur. In der Allgemeinheit ist so ziemlich jede/r gegen Ungleichheit und Armut, für faire Mieten. Löhne und Preise. „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ versprechen schließlich nicht nur LINKE, SPD und Grüne, sondern auch FDP, Union und AfD. Zu jenen, die den Lagen zusammenhalten, rechnet sich auch fast jede/r. Und beim Klimaschutz nicht länger verlieren – wer will das nicht? Solche Phrasen sagen nichts aus darüber, ob und für welchen Klimaschutz man überhaupt eintritt.

Mit der ständigen Beschwörung einer diffusen, im Grunde nichtssagenden Mehrheit soll jedoch das Bild einer Gesellschaft gezeichnet werden, die in zwei Lager zerfällt: die reformorientierten AnhängerInnen eines Politikwechsels einerseits und das neoliberale Lager (FDP, CDU/CSU) samt AfD andererseits.

Verkennen der Lage

Diese Sicht verkennt die Lage gleich mehrfach. Sie geht nämlich von einer realitätsfernen Sicht des bürgerlichen Lagers aus. Dieses ist zurzeit – so weit die gute Nachricht – von einer tiefen Krise und Umgruppierung geprägt. Darin besteht auch die tiefere Ursache für den Niedergang der CDU/CSU in den Umfragen und für die drohende Niederlage der Unionsparteien. Die traditionelle Hauptpartei der Bourgeoisie in der Bundesrepublik vermag nicht mehr, die Einheit der verschiedenen Klassenfraktionen, angelagerter Schichten des KleinbürgerInnentums und auch von Teilen der ArbeiterInnenklasse erfolgreich zu einer gemeinsamen Politik zu vermitteln. Es fehlt ihr vielmehr angesichts der aktuellen Krisen ein strategisches Konzept. Dass CDU/CSU auf einen Kandidaten wie Laschet verfielen, drückt das aus. Selbst wenn er das Ruder noch einmal rumreißen sollte und die Unionsparteien als stimmenstärkste in den Bundestag einzögen, würde das ein Wahldebakel bedeuten. Die Krise der Union speist die Wahlchancen der FDP und auch der AfD – aber auch von Grünen und SPD.

Die Grünen sind in den letzten Jahren selbst zu einem wichtigen Bestandteil des bürgerlichen Lagers geworden. Sie vertreten – im Unterschied zu CDU/CSU – ein relativ klares Konzept der Modernisierung des deutschen Kapitals, den Green New Deal, der ökologische Nachhaltigkeit mit gesteigerter Konkurrenzfähigkeit zu vereinen verspricht und dafür auch staatliche Konjunktur- und Investitionsstützen vorsieht.

Die SPD vertritt das im Grunde auch. Aufgrund ihres historischen Erbes und ihrer sozialen Verankerung in den Gewerkschaften und größeren Teilen der ArbeiterInnenklasse präsentiert sie sich jedoch glaubwürdiger als Partei des sozialen Ausgleichs als die Grünen, als Partei, die die ökologische Modernisierung mit mehr Sozialschaum abfedert. Daher kann sich Scholz bei Teilen der WählerInnen auch eher als Nachfolger von Merkel verkaufen als Laschet oder Baerbock. Grundsätzlich begründet sich aber der mögliche Erfolg von Scholz aus den Fehlern und Schwächen von Union und Grünen bzw. von deren SpitzenkandidatInnen.

Betrachten wir die politische Lage in Deutschland genauer, so drücken die Wahlergebnisse der letzten 10, 20 Jahre insgesamt eine Verschiebung nach rechts aus. Mit der Einführung der Hartz-Gesetze, für deren Reform, aber nicht Abschaffung das Sofortprogramm steht, und der Ausweitung des Billiglohnsektors erlitt nicht nur die ArbeiterInnenklasse eine tiefe, strategische Niederlage, die SPD hat dafür auch einen wohlverdienten Preis bezahlt. Die bürgerliche ArbeiterInnenpartei hat nachhaltig an Verankerung in der Klasse verloren, stützt sich in der Hauptsache noch auf Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte in Großkonzernen.

Diese Krise – wie auch den Rechtsschwenk der Grünen – konnte die Linkspartei seit ihrer Gründung jedoch auf elektoraler Ebene nicht nutzen, auch wenn ihr Einfluss in Gewerkschaften und Betrieben wie auch ihre Verankerung in sozialen Bewegungen größer geworden ist. Auf Wahlebene verlor sie jedoch in ihren ehemaligen Hochburgen im Osten und konnte das nicht durch Zuwächse im Westen ausgleichen. So droht ihr das schlechteste Ergebnis seit der Fusion von PDS und WASG.

Fiasko

Zweifellos tragen die schlechten Umfragen dazu bei, dass die Linkspartei-Spitze ihr Sofortprogramm aus dem Hut zaubert, um das Ruder rumzureißen. Rauskommen wird dabei jedoch ein politisches Fiasko.

Grüne und SPD präsentieren sich im Wahlkampf als Parteien der sozial und ökologisch abgefederten Modernisierung des deutschen Kapitalismus und Imperialismus. Die Spitze der Linkspartei tut jedoch so. als wollten im Grunde SPD und Grüne dasselbe wie die LINKE, die im Grunde ein reformistisches Programm zur Zähmung des Kapitalismus von seinen Auswüchsen vertritt. Schon aus politischem Eigeninteresse müsste die Linkspartei die beiden dafür angreifen und wenigstens ihr eigenes Programm starkmachen.

Mit dem Sofortprogramm tut sie genau das Gegenteil. Sie biedert sich SPD und Grünen an. Wie viel dabei Opportunismus oder Verzweiflung ist, ist sekundär.

In jedem Fall verkennt sie, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; und sie verkennt, dass eine Regierung mit einer SPD unter Scholz auch nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.

Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green New Deal im Kapitalinteresse. Dafür wirft das Sofortprogramm, wie z. B. Christian Zeller in seinem Beitrag „Sagt die Linke gerade ihren Wahlkampf ab?“ feststellt, praktisch alle Reformforderungen über Bord, die mit den aktuellen Interessen des deutschen Imperialismus inkompatibel sind.

RegierungssozialistInnen wie Bartsch und Hennig-Welsow mögen damit persönlich wenig Probleme haben. Ein paar Reförmchen, die zum politischen Erfolg hochstilisiert werden können, dürfte schließlich auch Rot-Grün-Rot abwerfen. Der ehemaligen Anhängerin von marx21, Wissler, mag das Sofortprogramm als politisch kluger Schachzug erscheinen, SPD und Grüne unter Druck zu setzen.

In Wirklichkeit ist es genau das Gegenteil. Die Linkspartei macht sich faktisch zum Anhängsel von SPD und Grünen und stellt jede ernstzunehmende, weitergehende Kritik an diesen ein. Warum dann noch DIE LINKE wählen, werden Unentschlossene erwägen, wenn sie ohnedies nichts anders als SPD und Grüne will?

Da die „Rote-Socken“-Kampagne von CDU/CSU und FDP nicht greift, sind Grüne und SPD auch nicht gezwungen, eine Koalition mit der Linken vorab kategorisch auszuschließen. Vielmehr können sie das nutzen, um die FDP in eine SPD-Grünen-geführte Koalition zu drängen. Die Linkspartei bliebe dabei im Regen stehen.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.




Sagt die LINKE gerade ihren Wahlkampf ab?

Gastbeitrag von Christian Zeller, 6. September 2021, Infomail 1161, 7. September 2021

Das am Montag, 6. September vorgestellte Sofortprogramm der LINKEN für einen Politikwechsel verwundert. Das achtseitige Papier enthält eine politische Einschätzung, allgemein formulierte politische Ziele und unmittelbare „erste Schritte“ in acht thematischen Feldern. Einige sind konkret formuliert, andere bleiben unbestimmt. Mit diesem minimal gehaltenen Sofortprogramm unterbreitet die Partei- und Fraktionsleitung der LINKEN ihren ersehnten Koalitionspartnern der SPD und den Grünen de facto ein Unterordnungsangebot. Der Inhalt dieses Papiers ist so bescheiden, dass man sich als außenstehender Beobachter fragt, ob diese Partei gerade dabei ist ihren Wahlkampf knapp drei Wochen vor der Wahl einzustellen.

Mit SPD und Grünen für einen sozial-ökologischen Politikwechsel, wirklich?

Das Sofortprogramm geht von zwei Annahmen aus: Erstens, es gibt eine gesellschaftliche Mehrheit für einen sozial-ökologischen Politikwechsel. Zweitens kann diese Mehrheit in einer Koalition SPD-Grüne-LINKE ihren politischen Ausdruck finden.

Die erste Annahme gilt es zu überprüfen. Doch die zweite Annahme entspringt reinem Wunschdenken. Weder die SPD noch die Grünen setzen sich für eine sozial-ökologische Wende ein. Ihre Programme orientieren sich an einer liberalen Modernisierung des deutschen Kapitalismus mit seinem Führungsanspruch in Europa. Beide Parteien stehen weiterhin fest zum Erbe der rot-grünen Regierung Schröder-Fischer von 1998 bis 2005. Diese Regierung setzte die bislang radikalsten neoliberalen Reformen im Bereich der Arbeitsbeziehungen durch, baute mit der „Riester-Rente“ kapitalgedeckte Altersvorsorgesysteme zur Fütterung des Finanzkapitals auf, senkte die Unternehmenssteuern, liberalisierte die Finanzmärkte und führte erstmals im großen Stile Krieg. Warum sollen diese beiden Parteien plötzlich für ernsthafte sozial-ökologische Reformen einstehen. Das behaupten diese ja nicht einmal selber.

Die politische Landschaft in Deutschland wird derzeit von vier liberalen Parteien geprägt, einer konservativliberalen, einer ultraliberalen, einer sozialliberalen und einer grünliberalen Partei Diese werden die Regierungszusammensetzung kapitalfreundlich unter sich aushandeln. Die nationalliberale AfD mit ihrem faschistischen Flügel vertritt ein rassistisches Programm.

Die von der LINKEN erhoffte sozial-ökologische Wende lässt sich nur gegen diese Parteien durchsetzen. Um das dafür notwendige Kräfteverhältnis aufzubauen, braucht es nicht eine Abkehr vom eigenen Programm und Koalitionsangebote an bürgerliche Parteien, sondern gesellschaftliche Mobilisierungen und eine geduldige Aufbauarbeit am Wohnort und in den Betrieben.

Das taktische Kalkül hinter dem Sofortprogramm scheint banal zu sein. Offensichtlich will die Partei- und Fraktionsleitung der LINKEN mit dieser Operation nochmals Schwung in die mediale Berichterstattung bringen. Sie geht davon aus, dass sie mit diesen weichgewaschenen Vorschlägen die Führungen von SPD und Grüne dazu bringen könnte, sich auf eine Koalitionsdebatte einzulassen. Doch der Preis für diesen Unsinn ist hoch. Ohne Not verzichtet DIE LINKE auf Kerninhalte ihres Parteiprogramms und Wahlprogramms. Aber genau diese Inhalte, der Wunsch nach wirklichen Verbesserung und nach einer anderen Gesellschaft sind für viele Menschen doch der Grund die LINKE zu wählen. Genau dafür genießt die LINKE ein hohes Ansehen unter kritischen Menschen auch außerhalb Deutschlands.

Programm über Bord

Die Autor:innen machen nicht klar, was mit „sofort“ in ihrem Sofortprogramm meinen. Sollen das die ersten 100 Tage der neuen Regierung sein oder sind damit nur einfach die dringlichsten Maßnahmen in der vierjährigen Legislaturperiode gemeint? Die Autor:innen scheinen selber nicht zu glauben, dass sie ihre Ziele in einer Regierung unterbringen können. Darum beschränken sie sich gleich auf eine bescheidene regierungskonforme Wunschliste. Wollten die Autor:innen nichts fordern, was SPD und Grüne „einfach ablehnen können“? Das ist wohl die taktische Idee dahinter. Tragisch dabei ist, dass DIE LINKE mit diesem Papier jeden Ansatz eines eigenständigen Projekts, ja sogar eines eigenständigen Reformansatzes, aufgibt.

Das Sofortprogramm enthält Aussagen über gute Arbeit und faire Löhne, zur sozialen Sicherheit, Angleichung von Ostdeutschland, zu sozial-ökologischen Investitionen, zum Gesundheitssystem, zur Wohnungspolitik, zu einer neuen Friedensordnung sowie zur Demokratisierung und Unterstützung von Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen wollen. Ich beschränke meine Kritik auf die drei Bereiche Klima, Gesundheit und Frieden.

Auch mit der Linken heizt Deutschland dem Klima ein

Das Sofortprogramm orientiert sich allgemein am Wahlprogramm und will eine „Energiewende mit verbindlichen Ausbauzielen, die sich am 1,5 Grad-Ziel ausrichten“. Doch die konkreten Vorschläge dienen nicht dazu, dieses Ziel zu erreichen. Deutschland verbleibt unter der Annahme einer gleichen pro Kopf-Verteilung gemäß Konzeptwerk Neue Ökonomie ab 2022 noch ein Budget von 2,97 Gt C02 , damit die Welt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% die 1,5° Grad Marke nicht zu überschreitet. Die historische ökologische Schuld Deutschlands sowie der Flug- und Schiffsverkehr sind dabei nicht einmal berücksichtigt. Deutschland müsste ab sofort bis 2035 jährlich 40 GW Wind- und Solarenergie zubauen, das sagt eine von Fridays for Future beauftragte Studie des Wuppertal-Instituts. Wenn der Begriff „Sofortprogramm“ angemessen ist, dann hier. Würde Deutschland den bisherigen Verbrauch fortsetzen, wäre das Budget ein Jahr nach der kommenden Wahlperiode aufgebraucht. Die Energiewende, Kohleausstieg 2030 und ein Zukunftsinvestitionsprogramm klingen gut, reichen aber nicht. Die vorgeschlagenen Maßnahmen im Verkehr sind komplett unverbindlich und ungenügend: keine Absage an Gaskraftwerke, kein Wort zur Verkehrsvermeidung, keine Aussage gegen die massenhafte Einführung von Elektroautos, nicht einmal ein Tempolimit auf Autobahnen als minimalste Sofortforderung. Dagegen soll ein „Industrie-Transformationsfonds“ Unternehmen und Konzerne mit über jährlich 20 Milliarden Euro bei ihren Nachhaltigkeitsübungen subventionieren. Das klingt nach Wachstumsprogramm.

Gesundheit, doch die Pandemie geht vergessen

Das Sofortprogramm verlangt ein „gerechtes Gesundheitssystem“ und will „den Pflegenotstand stoppen“. Richtig. Doch die Autor:innen vergessen bei den ersten Schritten merkwürdigerweise die Pandemie. Auch nach der Wahl wird sie Menschen in Deutschland und noch viel mehr auf der ganzen Welt in Tod reißen und langzeitig leiden lassen. Das Programm erwähnt in keinem Wort die solidarische Versorgung der Weltbevölkerung mit Impfstoffen. Mit einer Aufhebung oder zumindest Sistierung der Patente auf Impfstoffe könnte das Leid reduziert werden. Doch das Sofortprogramm verliert kein Wort dazu. Zählt eine stillschweigende Duldung der imperialistischen Wettbewerbs- und Impfpolitik bereits zur Staatsräson?

Friedensordnung weiterhin mit deutschen Waffen

Das Sofortprogramm will Rüstungsexporte in Krisengebiete stoppen. Richtig. Doch was ist mit den anderen Rüstungsexporten? Kein Wort dazu. Wir wissen alle, dass stabile Gebiete plötzlich die Krisengebiete von morgen sein können. Wirklich befremdlich ist diese Forderung: „Wir führen den Rüstungsetat auf das Niveau von 2018 zurück.“ Ernsthaft? Diese Forderung soll die Menschen motivieren, die LINKE zu wählen? Das ist lächerlich. Jede halbwegs friedenspolitische und solidarische Partei würde eine massive Reduktion der Rüstungsausgaben fordern. Zudem sind Rüstungsindustrien und Armeen wesentliche Treiber von CO2-Emissionen. Sollen auch diese auf den Stand von 2018 eingefroren werden? Wer so was vorschlägt, macht sich lächerlich.

Sogar wenn man die Grundannahmen teilen würde –  was ich nicht tue -, dass eine Regierungskoalition mit der SPD und den Grünen einen Politikwechsel einleiten würde, dann müsste die LINKE doch versuchen, ihre Verhandlungsposition zu stärken.

Der Wahlkampf findet eigentlich bislang nicht statt. Scholz präsentiert sich zu Recht als Erbe von Merkel und ist damit erfolgreich. Die CDU wird nervös und bringt die LINKE in die öffentliche Debatte. Anstatt dass die LINKE diesen Ball selbstbewusst aufgreift und ihre Ablehnung dieses Systems, das Mensch und Umwelt zerstört, in die Breite trägt, gibt sie auf, bevor die Wahlen überhaupt stattgefunden haben. Welchen Sinn ergibt das? Diese Operation hinterlässt wohl nicht nur mich ratlos.

Die Reaktionen von den Spitzen der SPD und der Grünen sind wie erwartet. Sie bleiben da, wo sie sind. Ihr Projekt ist eben die sozial-grün angestrichene Modernisierung der Kapitalherrschaft. Das Projekt der LINKEN ist es, mit einer Mobilisierung aus der Gesellschaft wirkliche sozial-ökologisch Reformen durchzusetzen. Das sind also nicht nur zwei komplett unterschiedliche Ziele, auch die Wege verlaufen ganz anders.




Krankenhausbewegung – Streik-Auftakt in Berlin

Mattis Molde, Infomail 1159, 24. August 2021

Montag 23. August 2021: Ver.di ruft die Krankenhausbeschäftigten von Vivantes und Charité zu einem dreitägigen Warnstreik auf – nachdem weder die Klinikleitungen in ernsthafte Verhandlungen über mehr Personal und gleiche Arbeitsbedingungen in den ausgegliederten Unternehmen von Vivantes eingetreten sind noch die politisch Verantwortlichen in Stadt und Land entsprechenden Druck auf diese ausgeübt hatten.

Was die Klinikleitungen von den berechtigten Forderungen halten, hat Vivantes klargemacht: Anstatt über bessere Bedingungen für alle Beschäftigte zu verhandeln, lassen sie den Warnstreik bei den Tochterfirmen über eine einstweilige Verfügung beim Arbeitsgericht Berlin verbieten.

Dies ist ein klarer Affront gegen die Interessen der Beschäftigten und ihrem Willen, für deren Durchsetzung in den Kampf zu gehen. Nicht nur die privat organisierten Konzerne wie Helios, Asklepios u.a. setzen auf Konfrontation, sondern nun auch die noch öffentlich geführten Häuser. Kein Wunder geht es doch in dieser Auseinandersetzung letzten Endes um die politische Ausrichtung der Gesundheitsversorgung – öffentlich mit einer entsprechenden finanziellen Ausstattung, die auch die wirklich aufkommenden Kosten der Behandlungen und der notwendigen Ausstattung refinanziert oder weiter mit Privatisierung und Fallpauschalen, die letztlich zu Personalabbau und Konkurrenz unter den Krankenhäusern führt und letztlich zu Schließungen von Häusern, die der Konkurrenz nicht standhalten können.

Großartiger Start

Von daher haben die KollegInnen recht, wenn sie trotzdem in den Warnstreik gehen und eine öffentliche Kundgebung gegen diese Entscheidung abhalten. Deutlich über 1000 Streikende und UnterstützerInnen versammeln sich um halb elf vor der Vivantes-Zentrale. Die Stimmung ist prima.

Es sprechen die SpitzenkandiatInnen der SPD, der Linken und Grünen. Frau Giffey erntet auch einige Pfiffe, aber für ihre Aussagen hinter dem Kampf und seinen Zielen zu stehen, bekommen alle drei Applaus. Die Streikleitung hat einen guten Vorschlag: Eine Delegation soll die Rücknahme der einstweiligen Verfügung gegen den Streik der Tochterfirmen von der Geschäftsführung verlangen. Die WahlkämpferInnen sollen mit – eigentlich sind sie als Senatsspitze die AuftraggeberInnen dieser Geschäftsleitung.

Die Streikleitung ruft: “Wir gehen hier nicht weg, bevor die Erklärung zurückgenommen worden ist.“ Die Streikenden rufen: „Wir bleiben hier!“ Die Logistik vom Streikzelt wird in die Aroser Allee gebracht – mit Kaffee streikt sich’s besser.

Dann gegen halb eins der Schock: Es gibt eine zweite einstweilige Verfügung, angestrengt ebenfalls von den Vivantes-Bossen: Sie wollen geklärt haben, ob die Frage der Personalbemessung überhaupt tariffähig sei. Es gelte ja der laufende Tarifvertrag vom vergangenen Herbst, abgeschlossen zwischen ver.di und den kommunalen Arbeitgeberverbänden.

Kurz darauf kommt die Delegation von dem Spitzengespräch zurück: Die Geschäftsführung nimmt nichts zurück. Das hatte auch jetzt niemand mehr erwartet.

Ein Sprecher der Geschäftsführung erläutert nochmal deren Position, bietet aber an, doch über die Aufstockung von Personal reden zu können: „Wir haben viele offene Stellen, kommen Sie zu uns.“ und: „Wir haben doch die gleiche Meinung wie ver.di, dass da mehr getan werden muss – aber kein Tarifvertrag.“ Und dann: „Es wird keine arbeitsrechlichen Konsequenzen für diesen Streiktag geben.“ Was man auch als Drohung für den nächsten Streiktag auffassen kann.

Die Mitglieder der Tarifkommissionen und der Streikleitung ziehen sich zurück zur Beratung. Nach zwei Stunden wird der Streik vorläufig beendet. Viele sind unzufrieden. Solidaritätsadressen der IG Metall und der GDL machen etwas Mut.

Es geht hin und her: Sollen wir weiter hier die Zentrale von Vivantes blockieren, oder machen wir einen Sitzstreik vor dem SPD-Sommerfest? Am Ende verlagert sich alles dorthin, eine lange Nacht steht bevor.

Wie geht es weiter?

Wenn der Streik am Dienstag nicht fortgesetzt wird, wird die großartige Mobilisierung nicht so einfach wieder aufzunehmen sein. Eigentlich muss ver.di jetzt da durch und den Streik auch trotz der Verfügungen fortsetzen.

Der alte Plan sah vor, dass in den Krankenhäusern nur eine Minimalbesatzung im Einsatz ist. Dies ist völlig richtig angesichts der Weigerung der Klinikführungen, auch über einen Streiknotfahrplan zu verhandeln. Bei Vivantes haben zwölf, bei der Charité sieben Teams angekündigt, ab der Dienstagsfrühschicht nicht mehr auf den Stationen zu erscheinen.

Natürlich sollte ver.di in die Offensive gehen und den Kampf um einen Entlastungstarifvertrag in den beiden Berliner Häusern als Ausgangspunkt nehmen, um eine bundesweite Entlastungskampagne zu initiieren.

Natürlich würde auch die im September beginnende Tarifrunde der Länder im öffentlichen Dienst eine weitere Chance, um in dieser Richtung weiterzukommen, darstellen. Diese müsste dazu genutzt werden, die Beschäftigten aller Unikliniken in einen gemeinsamen Kampf um mehr Personal zu führen, anstatt die Entlastungskampagne auf die Zeit nach der Tarifrunde zu verschieben.

Aber beides braucht Anlaufzeit. Darauf hat die Gewerkschaft sich und die Belegschaften nicht vorbereitet. Auch, wenn sie damit jetzt beginnt, der begonnene Streik darf solange nicht ausgesetzt werden!




Streik! Die einzige Sprache, die Vivantes und Charité verstehen!

Jürgen Roth, Infomail 1159, 22. August 2021

8.397 Unterschriften hatten Beschäftigte der Berliner städtischen Kliniken Vivantes sowie von deren Tochterunternehmen und der landeseigenen Uniklinik Charité am 12. Mai vor dem Roten Rathaus überreicht. Sie forderten, in ernsthafte Verhandlungen über einen Tarifvertrag (TV) Entlastung und einen für die Vivantes-Töchter einzutreten, nach dem deren Beschäftigte zukünftig auf TVöD-Niveau bezahlt werden sollen. Nachdem 100 Tage ohne ernsthaftes Angebot verstrichen sind, folgt nun die Antwort: Streik!

Gut daran ist dreierlei: Erstmals ziehen die Beschäftigten der Unikliniken aller 3 Standorte und der kommunalen Krankenhäuser an einem Strang. Schon 2017 waren die Vivantes-Beschäftigten drauf und dran, sich denen der Charité anzuschließen. Zum Zweiten wird diesmal wie in den beiden Unikliniken Düsseldorf und Essen das Personal der Vivantes-Tochtergesellschaften einbezogen. Drittens setzen die Beschäftigten ein Signal des Widerstandes für alle Lohnabhängigen.

Krankenhausbeschäftigte: Hausaufgaben erfolgreich bewerkstelligt

Von Montag, den 23., bis Mittwoch, den 25.8.2021, soll nun gestreikt werden. Der TV Entlastung sieht als Kernelement eine feste Quotierung bei der PatientInnenversorgung vor. Möglich wurde der Streik durch die Gewinnung zahlreicher neuer ver.di-Mitglieder. Auf einigen Stationen stieg der Organisationsgrad von 10 % auf 70 %! Man entwickelte einen Streiknotplan, der die Streikwilligkeit der KollegInnen konstruktiv mit der Versorgung der Stationen in Übereinkunft bringen soll. Wie schon 2015 (TarifberaterInnen) wurde in Gestalt der Teamdelegierten eine mobilisierungsfähige Basisstruktur geschaffen, die für die Initiierung und Kontrolle des Streiks, aber auch der Umsetzung evtl. erzielter Ergebnisse eine Schlüsselfunktion innehat bzw. -haben kann.

All dies zeigt die hohe Mobilisierung und den Druck der Belegschaften, dem sich auch die ver.di-FunktionärInnenriege nicht entziehen konnte. Weitere günstige Faktoren für einen erfolgreichen Kampf kommen hinzu: Im September stehen in Berlin zwei Wahlen und ein Volksentscheid zur Enteignung der großen Immobilienkonzerne an. Darüber hinaus folgt im Herbst die Tarifrunde für die 2,2 Millionen Länderbeschäftigten im öffentlichen Dienst. Schließlich haben Volksentscheidskampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ (DWE) und das Netzwerk „Gesundheit statt Profite“ dem Anliegen des Klinikpersonals ihre Unterstützung zugesagt. Und schließlich hat für den Zeitraum der ersten Streikwelle die LokführerInnengewerkschaft GDL die Durchführung ihrer zweiten beschlossen.

Klinikvorstände und Senat: Durchgefallen!

Acht Verhandlungstermine für die Vivantes-Töchter sind ergebnislos verlaufen, ebenso die zwei für den TV Entlastung. Senat und Klinikleitungen haben die 100-Tage-Frist am 20. August verstreichen lassen. Die kurzfristige Gesprächsbereitschaft des Charité-Vorstands erbrachte keine Vorschläge außer zu noch mehr Flexibilisierung der Beschäftigten und „effektiverer“ Personalsteuerung. Schließlich mündete die Umsetzung der Forderungen darin, dass weniger PatientInnen versorgt werden könnten, so ließ der Vorstand anklingen. Er prognostizierte für diesen Fall einen Abbau von 360 – 750 Betten und 870 – 1.360 Stellen, kalkulierte das zusätzliche Defizit auf 25 – 45, das für die Vivantes-Tochterbetriebe auf 35 Millionen Euro.

Die Vivantes Geschäftsführung ist zudem am letzten Freitag mit Ablauf der Frist in letzter Sekunde gegen den Streik bei den Vivantes-Töchtern rechtlich vorgegangen und wollte ihn per einstweiliger Verfügung verbieten lassen. Das Vorgehen von Vivantes und die Entscheidung des Gerichts sind ungewöhnlich und ein Skandal! Ver.di wurde von dem Richter nicht einmal angehört. Vivantes hat den Antrag kurzfristig eingereicht und auch gefordert, dass es wegen der Kurzfristigkeit keine Verhandlung dazu gibt. Und das, obwohl der Streik seit mehreren Tagen bekannt war!

Auftakt

Völlig zu Recht betrachtet das die Berliner Krankenhausbewegung als Angriff aufs Streikrecht und braucht die Unterstützung aller GewerkschafterInnen und der Linken. Ein erster Schritt ist die Unterstützung der Kundgebung am Montag, den 23.8.2021, um 10:30 Uhr vor der Vivantes-Zentrale (Aroser Allee), ein zweiter akut ein konsequent gegen die Medienhetze durchgeführter Streik für die vollständige Durchsetzung der GDL-Forderungen.

Ab dann gilt auch die Regelung, dass in den Krankenhäusern nur eine Minimalbesatzung im Einsatz ist. Dies ist völlig richtig angesichts der Weigerung der Klinikführungen, auch über einen Streiknotfahrplan zu verhandeln. Bei Vivantes haben zwölf, bei der Charité sieben Teams angekündigt, ab der Dienstagsfrühschicht nicht mehr auf den Stationen zu erscheinen.

Vertrauen in die ver.di-Führung ist gut – Kontrolle ist besser!

Die Streikenden sind jedoch gut beraten, der ver.di-Spitze nicht blind Vertrauen zu schenken: mit der Bürokratie, wo möglich, gegen sie, wo nötig! Sie fordert ja nicht, dass die Kliniktochtergesellschaften allesamt wieder unters Dach ihrer Mütter kommen, sondern lediglich die Anwendung des TVöD auf diese, was zweifellos schon ein Fortschritt wäre. Ein sich lange hinziehender Arbeitskampf ihrer KollegInnen von der Charité-Tochter CFM mit insgesamt 85 Streiktagen führte schließlich zu einem Kompromiss, der weder die Übernahme noch vollständige Angleichung an den TVöD zeitigte. Die Rückführung in den Schoß der Kliniken war zudem ein Versprechen des rot-rot-grünen Senats. Auch gegenüber ihm müssen die Streikenden also skeptisch bleiben. Ein Vertreter der Gesundheitssenatorin hatte zudem vorletzten Donnerstag auf einer Kundgebung von Auszubildenden in der Krankenpflege darauf verwiesen, dass ein Abschluss mit einem Rauswurf der Kliniken aus dem Kommunalen Arbeit„geber“Innenverband (KAV) gekontert werden könnte. Hier rächt sich, dass ver.di die Anliegen der Pflege (Entlastung) und der ausgelagerten Bereiche (Angleichung an den TVöD) nicht zum Bestandteil der Tarifrunde im Frühjahr gemacht und auf einen „Ausweg“ in Form des Kampfs einzelner Häuser wie jetzt in Berlin verwiesen hatte.

Nicht gelöst und durch einen TV Entlastung auch schwer zu lösen ist das Problem seiner Umsetzung bei Unterschreitung der vereinbarten Personaluntergrenzen. Statt der schwerfälligen Interventionskaskade, die außerdem trotz sozialpartnerschaftlicher Gremien letztlich in der Hand der Klinikleitung liegt, brauchen wir eine wirksame Kontrolle mit Bettensperrungen bzw. Stationsschließungen, wenn’s kritisch wird. Jena zeigt hier den Weg.

Womit beginnen?

Im Streikfall müssen die Streikkomitees demokratisch aufgebaut werden und funktionieren und jederzeit durch die Basis absetz- und erneuerbar sein. Die TarifberaterInnen bzw. -botschafterInnen/Teamdelegierten, die eine wichtige Funktion in der Gewinnung neuer Gewerkschaftsmitglieder und als MultiplikatorInnen der Kampagne für den Arbeitskampf hatten, dürfen sich von den SpitzenfunktionärInnen weder im noch nach einem Streik aufs Abstellgleis schicken lassen, wenn sie in deren Augen ihre Schuldigkeit getan haben. Sie können einen mächtigen Hebel für die Revitalisierung des Gewerkschaftslebens im Krankenhaus abgeben, Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper ins Leben rufen oder aus dem Dornröschenschlaf erwecken.

Ihre zweite wichtige Aufgabe bestünde darin, das dynamische Element für die auszuübende Kontrolle der Beschäftigten über ihre Arbeitsbedingungen abzugeben, bei der Organisierung echter ArbeiterInnenkontrolle (Betriebskontrollkomitees) initiativ zu werden und die Solidarität mit den anderen DGB-Gewerkschaften für einen politischen Streik für ein Personalbemessungsgesetz im Gesundheitswesen herzustellen, der schließlich auch die ganze Frage der Rekommunalisierung der privatisierten Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und PatientInnen und der vollen Refinanzierung der aufkommenden Kosten im Gesundheitsbereich aufwerfen muss. Schließlich sollten sie auch ihr Augenmerk auf den Aufbau von Solidaritätskomitees besonders mit den proletarischen Teilen der Bevölkerung richten, v. a. PatientInnenverbänden, aber auch UnterstützerInnen wie DWE und „Gesundheit statt Profite“.

Darüber hinaus müssen die Betriebs- bzw. Personalräte und ver.di die Initiative ergreifen, die in Berlin gestartete Kampagne aufs ganze Bundesgebiet auszudehnen, vorzugsweise in Gestalt einer Bundeskrankenhauskonferenz mit von unten gewählten Delegierten.

Forderungen und Perspektiven

  • Schluss mit den Privatisierungen im Gesundheitswesen!
  • Entschädigungslose Rückverstaatlichung der bereits privatisierten Krankenhäuser; die ausgelagerten Bereiche müssen wieder dort integriert werden!
  • Fortführung dieser unter Kontrolle von Beschäftigten, Gewerkschaften und VertreterInnen aller weiteren Lohnabhängigen!
  • Weg mit dem System der Fallpauschalen – die real entstehenden Kosten einer Behandlung müssen refinanziert werden!
  • Volle Übernahme der notwendigen Investitionskosten durch den Staat!
  • Offenlegung aller Bilanzen!
  • Für eine ihrem verantwortungsvollen Beruf angemessene, also massiv erhöhte und tarifgebundene Bezahlung der Beschäftigten im Pflegebereich!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für flächendeckende Vollstreiks wie z. B. während Gehaltstarifrunden, die alle Beschäftigten einbeziehen! Kontrolle über Streik und Umsetzung des Ergebnisses durch die Basis (ArbeiterInnen- statt Managementkontrolle)! Einbeziehung aller Berufsgruppen! Wiedereingliederung der ausgegliederten Bereiche zu vollen TVöD-Ansprüchen!
  • Für einen politischen Massenstreik gegen Pflegenotstand, ausgerufen durch den DGB!
  • Plan- statt Marktwirtschaft: Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und PatientInnen unter Hinzuziehung von ExpertInnen ihres Vertrauens!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!

Diese Forderungen können einen Schritt darstellen zur Sozialisierung der gesamten Care- und Reproduktionsarbeit einschließlich der unbezahlten in Privathaushalten. Das kann auch die prekär Beschäftigten auf unterster Stufenleiter unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit, ferner alle Azubis mitnehmen und die Tür aufmachen zu einem vernünftigen Gesellschaftssystem, das den arbeitenden Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Produktionszwecke stellt: Sozialismus statt Kapitalismus!




Versammlung der Berliner Krankenhausbewegung im Union-Stadion: Eisern bleiben!

Peter Königsberg/Jürgen Roth, Infomail 1155, 13. Juli 2021

Im Rahmen der Tarifbewegung für Entlastung rief ver.di am Donnerstag und Freitag, dem 8. und 9. Juli 2021, in den großen öffentlichen Krankenhausunternehmen Berlins, Charité und Vivantes, zum Warnstreik auf. Betroffen waren alle Bereiche im Krankenhaus. Nicht aufgerufen waren die ÄrztInnen, die Verwaltung und die Fakultät. „Die Beschäftigten von Charité und Vivantes sind bereit, für einen Tarifvertrag Entlastung zu kämpfen. Mit diesem Warnstreik werden sie deutlich machen, dass es ihnen sehr ernst damit ist“, erklärte ver.di-Landesfachbereichsleiterin Meike Jäger.

Durch die Streiks werde voraussichtlich die Krankenversorgung in der Stadt nicht nennenswert eingeschränkt. Es sei nicht davon auszugehen, dass OPs verschoben werden müssen oder Sprechstunden ausfallen, so die Verhandlungsführerin. Es werden ausgewählte Delegierte aus den Stationen und Bereichen zusammenkommen, um sich über die Forderungen auszutauschen und das weitere Vorgehen zu beraten. Sichtbar sollte der Protest dennoch werden. Deswegen stellte der 1. FC Union Berlin den Klinikbeschäftigten – das waren ca. 1.000 Leute – das Stadion „An der Alten Försterei“ für ihre Versammlung am Freitag zur Verfügung, wo wir uns dann auch einfanden, um Solidarität zu zeigen. Es bleibt zu hoffen, dass die Beschäftigten und ihre UnterstützerInnen so eisern und erfolgreich in ihren Forderungen und ihrem Kampf bleiben, wie die normalerweise im Stadion tätigen Profis in der abgelaufenen Bundesligasaison ihrem Fußwerk nachgingen.

Beschäftigte schildern ihre Arbeitsbedingungen

Es gab eine Ansprache zur Begrüßung gefolgt von 3 La-Ola-Wellen auf den Rängen. Dann berichteten KollegInnen von der Situation in den Krankenhäusern. Mit dabei waren auch Beschäftigte der Vivantes-Tochtergesellschaften und der Labor Berlin GmbH, die eine Bezahlung nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) fordern. „Die Krankenversorgung braucht mehr als Ärzte und Pflegkräfte. Ohne die Kolleginnen und Kollegen der Töchter funktioniert es nicht“, stellte Krankenpfleger Benny Dankert von Vivantes klar. „Wir stehen solidarisch zusammen und unterstützen den Kampf für faire Bezahlung in allen Bereichen der Krankenhäuser.“ Es sprachen darum auch diese Beschäftigten (Reinigung, Sterilisation, Labor, MVZ), die sonst selten zu Wort kommen, neben Pflegekräften und Hebammen.

PolitikerInnen reden …

Drei PolitikerInnen der Berliner Landes- und Stadtpolitik hatten sich auch zur Teilnahme bereit erklärt und sich dahin getraut. Einer von ihnen war der SPD-Chef von Berlin Raed Saleh. Der hat dann auch seine üblichen Floskeln von sich gelassen und im Prinzip nicht viel zugesagt. Er behauptete z. B. wahrheitswidrig, dass der aktuelle Senat die Töchter der landeseigenen und kommunalen Kliniken wieder unter ihr Dach zurückgeführt hätte. Wozu dann für den TVöD für diese kämpfen, wenn’s so wäre? In seinem zweiten Beitrag ruderte er auch deutlich zurück und gestand ein, dass dies nur möglich sei, wenn bezahlbar!

Landesvorsitzende Katinka Schubert von der Partei DIE LINKE bekam mit ihrem Beitrag am meisten Beifall, obwohl sie aus dem Blauen heraus versprach, die Forderungen würden von den Krankenkassen gegenfinanziert. Der Co-Landesvorsitzende der Grünen, Werner Graf, wollte sich offenbar schon für eine schwarz-grüne Koalition empfehlen. Immerhin erntete er verdientermaßen Pfiffe, als er behauptete, das Geld für die ver.di-Forderungen müsse woanders aus den bestehenden Ausgaben des öffentlichen Haushalts weggenommen werden.

Union sei Dank!

Uns als Gruppe ArbeiterInnenmacht freut es auch, dass der 1. FC Union Berlin den Klinikbeschäftigten das Stadion für ihre Versammlung am Freitag zur Verfügung stellte, weil es ein tolles Zeichen der Solidarität mit den Beschäftigten der öffentlichen Krankenhäuser darstellt, die jeden Tag alles dafür geben, die Menschen in der Stadt bestmöglich zu versorgen. Der Personalmangel führe in den Kliniken zum Teil zu menschenunwürdigen Zuständen, und die MitarbeiterInnen z. B. auf den Intensivstationen der Charité brauchen in den Schichten mehr Personal, sonst werden sie selbst krank.

Widersprochen werden muss der Darstellung von Arbeit„geber“Innen, die dafür nötigen Fachkräfte stünden nicht zur Verfügung. Ganz klar muss sein: „Es gibt keinen Mangel an Fachkräften, sondern einen Mangel an Fachkräften, die unter diesen Bedingungen im Krankenhaus arbeiten wollen.“ Mit besseren Arbeitsbedingungen könnten viele tausend Pflegekräfte in den Beruf zurückgeholt und Teilzeitbeschäftigten die Aufstockung ihrer Arbeitszeiten ermöglicht werden.

Wie weiter nach Ablauf der Schonfrist?

Dann noch eine kämpferische Ankündigung: „Das Ultimatum, das wir am 12. Mai den ‚ArbeitgeberInnen’ und dem Berliner Senat übergeben haben, läuft. Wenn sich bis zum 20. August keine Lösung für spürbare Verbesserungen abzeichnet, schalten wir noch ein paar Gänge hoch“, kündigte Dankert an.

Gegen 20 Uhr war dann die Veranstaltung für uns beendet.

In gut 40 Tagen läuft also das Ultimatum ab. Bis heute haben weder der Landesbetrieb Charité noch die städtische Vivantes ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Tarifverhandlungen mit ver.di erklärt. Vivantes ging sogar seit Donnerstag rechtlich gegen den Warnstreik vor! Neben TVöD für alle fordert ver.di mehr Geld, Festlegung von Mindestpersonalausstattung für alle Bereiche, ein Verfahren zur Feststellung von Belastungssituationen sowie mehr Zeit und Qualität für Auszubildende wie PraxisanleiterInnen. Am 19. August will man sich lautstark und zahlreich vor dem Abgeordnetenhaus versammeln, das an diesem Tag, an dem auch das Ultimatum ablaufen wird, aus der Sommerpause kommt.

Es fehlte allerdings bei allem Positiven eine Diskussion über die Art und Weise des zu führenden Arbeitskampfs. Diese ist aber dringend notwendig, wollen Pflegekräfte und Beschäftigte der Vivantes Servicegesellschaften (VSG) sowie des gemeinsamen Laborbetriebs nicht vom Apparat mit einem schäbigen Kompromiss abgespeist werden. Dazu braucht es basisdemokratische, von unten gewählte, rechenschaftspflichtige und jederzeit abwählbare Streikkomitees und aufzubauende Kontrollorgane über die eigenen Arbeitsbedingungen, damit die Mindestbesetzung auch eingehalten werden kann.

Dazu müssten auch die Lehren aus ähnlichen Arbeitskämpfen seit 2015 gezogen werden. Mehr zu unseren Vorschläge siehe: Kein Vertrauen in die Gesundheitsministerkonferenz – selber kämpfen!