Bürgergeld als Bürgerschreck?

Jürgen Roth, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Als bedeutendste Sozialreform der letzten 20 Jahre war es angekündigt worden, das „neue“ Bürgergeld. Wir hatten bereits in Neue Internationale 268 erläutert, warum dieses hochtrabend formulierte Etikett auf einer Mogelpackung, die Hartz IV fast aufs Haar gleicht, nichts zu suchen hat.

Das parlamentarische Gerangel um das Reförmchen, das diese Bezeichnung kaum verdient, hat in einem Kompromiss gemündet, der fernab von einem Abschied von Hartz IV selbst die wenigen Brosamen an Verbesserungen, die das neue Gesetz mit sich bringt, fast vollständig getilgt hat.

Die Debatten in Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss werfen aber auch in ihrer unangemessenen Hitze ein Schlaglicht auf die Argumente von Gegner:innen wie Anhänger:innen des Entwurfs der Ampelkoalition.

Minimal ist schon zu viel

Dieser Untertitel beschreibt recht gut die Haltung von CDU/CSU und AfD. Ihre Redner in der 1. Bundestagsdebatte am 10. November überboten sich mit Vokabeln. „Anstrengung, Leistungs- und Risikobereitschaft“ würden durch eine vermeintlich vom Bürgergeld geförderte „Arbeitsverweigerung“ unterhöhlt. Der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter (ein passender Nachname) verstieg sich sogar dazu zu behaupten, „man müsse unsere Arbeitslosen vor dieser Regierung schützen“. Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linkspartei, richtete das rhetorische Feuer auch gegen die Ampelkoalitionär:innen: „Sie haben mit ihrer Bräsigkeit erst Friedrich Merz ermöglicht“. Er verwies auch auf den Zusammenhang des ALG II mit dem Niedriglohnsektor: „Wir haben ein millionenfaches Lohnproblem.“

Tags zuvor war seine Stellvertreterin Susanne Ferschl konkreter geworden. Es handele sich beim Gesetzentwurf nicht um eine Abkehr von Hartz IV oder gar der „Arbeitsgesellschaft“. Gut sei, dass Ausbildung und Qualifizierung Vorrang vor prekären Bullshit-Jobs bekämen. Der Koalitionsentwurf sieht vor, bei Absolvieren einer Weiterbildung 150 Euro auf die Grundsicherung draufzulegen, bei unterstützenden Maßnahmen, die zur langfristigen Rückkehr in den Job führen, 75 Euro. Die Freibeträge bei Zuverdienst sollen steigen. Ein Berufsabschluss soll in 2 statt 3 Jahren nachgeholt werden können.

Schließlich sei jede/r 4. Empfänger:in von Grundsicherungsleistungen erwerbstätig (Aufstocker:innen). Notwendig seien eine „armutsfeste“ Grundsicherung im Fall der Bedürftigkeit sowie gute, tarifgebundene Arbeit in der Fläche. Lassen wir mal beiseite, dass die von ihr geforderten 200 Euro Erhöhung nur „armutsfest“ in dem Sinne sind, dass sie nicht davor schonen, sondern Armut festschreiben, und tarifgebundene Beschäftigung angesichts der Zaghaftigkeit und Zahnlosigkeit „unserer“ Gewerkschaften noch lange nicht mit guter Entlohnung identisch ist, so hat sich Ferschl von allen Redner:innen am deutlichsten links positioniert.

Holpriger Weg zum Kompromiss

Union und AfD stimmten im Bundestag gegen den Gesetzentwurf, DIE LINKE enthielt sich. Damit nahm die 1. Parlamentskammer die Regierungsvorlage mit den Stimmen der Koalition an. Sie sah eine Erhöhung des Regelsatzes von 449  auf 502 Euro vor, ferner Lockerungen bei Sanktionen in Gestalt von Leistungsentzug, stärkere Unterstützung bei Weiterbildungsmaßnahmen, verbesserte Vorgaben zur Höhe des Schonvermögens, das nicht auf die Bezüge angerechnet wird, und Wohnungsgröße.

Viele Sozialverbände und auch Gewerkschaften, die zuvor noch den Ampelentwurf kritisiert hatten, begrüßten jetzt das Abstimmungsergebnis. Dieser „Sinneswandel“ erfolgte vor dem Hintergrund, dass die Union angekündigt hatte, im am 14. November tagenden Bundesrat, der 2. Parlamentskammer, das Gesetz scheitern zu lassen. Getreu der sozialdemokratischen Politik des „kleineren Übels“ reagierten also unter diesem Druck die SPD-Parteigänger:innen in ihren Vorfeldorganisationen. Nur neigt diese Logik die Wippe des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses zuungunsten der Lohnabhängigen, führt auf dieser schiefen Ebene schnell zum nächstgrößeren Übel.

Im Bundesrat fiel das Gesetz denn auch prompt durch. Dabei agierten auch einige SPD-geführte Landesregierungen (Brandenburg) im Sinne des nächstgrößeren Übels und enthielten sich der Zustimmung zum Gesetzesantrag der von der eigenen Partei im Bund geführten Koalition.

Folglich ging die Vorlage in den Vermittlungsausschuss am 23. November. Tags zuvor hatten sich rot-grün-gelbe Koalition und oppositionelle Union auf einen Kompromiss geeinigt. Er beinhaltete den Verzicht auf die geplante sechsmonatige Vertrauenszeit. In den ersten 6 Monaten des Bürgergeldbezugs können nun Jobcenter Leistungen bei Nichtkooperation kürzen. Die geringfügigen Sanktionslockerungen, die die Bundesregierung vorsah, umfassten aber sowieso erstens nur das, was das Bundesverfassungsgericht bereits 2019 moniert hatte, und zweitens blieben damit die häufigsten Verstöße gegen die Zusammenarbeitsvorschriften mit der Agentur für Arbeit, solche gegen Meldepflichten (80 %), von Sanktionsbefreiung ausgenommen. Im Vergleich zur aktuellen Situation läuft der Deal sogar auf eine Verschlechterung hinaus, denn als Übergang zur Einführung des Bürgergeldes gilt gerade ein Sanktionsmoratorium.

Außerdem sah der vor der Tagung des Vermittlungsausschusses ausgekungelte Kompromiss eine Senkung der Schonvermögenshöhe vor. Für den Haushaltsvorstand gelten jetzt 40.000 statt 60.000 Euro, für jede weitere Person 15.000 statt 30.000. Lediglich eine private Altersvorsorgeversicherung wird von der Anrechnung auf die Sozialleistung ausgenommen und geschützt. Die Karenzzeit, bis es anrechnungsfrei bleibt, sinkt von zwei Jahren auf eines. Ebenfalls nach einem Jahr statt zweien greift jetzt der Zwangsumzug in eine kleinere Wohnung.

Die Erhöhung des Regelsatzes war auch bei der Union nicht umstritten, wohl weil es sich gar nicht um eine Erhöhung, sondern verspätete und unzureichende Anpassung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten handelt.

Vermittlungsausschuss gibt grünes Licht

Nicht überraschend wurde oben geschilderter Deal denn auch in der Sitzung des Vermittlungsausschusses am 23. November abgesegnet. Bundesarbeits- und -sozialminister Heil (SPD) dankte CDU und CSU für ihre Zustimmung. Mit der Einigung sei eine gesellschaftliche Polarisierung entgiftet. Die SPD lobte das Bürgergeld als einen „Systemwechsel“, die Union dafür, gerade diesen verhindert zu haben. So viel zur Einigkeit.

Doch wie war es um die Standhaftigkeit der 2. deutschen Sozialdemokratie alias DIE LINKE bestellt? Gesine Lötzsch gestand freimütig, im Vermittlungsausschuss für ihre Fraktion gegen den Kompromiss gestimmt zu haben. Im Bundestag hatte die Fraktion sich beim Regierungsentwurf enthalten. Besser wäre auch hier ein Nein gewesen auch auf die Gefahr hin, mit AfD und Christenfraktionsgemeinschaft in einen Topf geworfen zu werden.

Parlamentarischer Schlussakkord

Doch nun musste dieser Mehrheitsbeschluss des Vermittlungsausschusses noch durch beide Kammern abgesegnet werden. Der Bundestag stimmte mit 557 Stimmen dafür (98 dagegen, 2 Enthaltungen). AfD und DIE LINKE votierten geschlossen dagegen. Und im Bundesrat? Thüringen stimmte für den Kompromiss. Jedenfalls treten somit die erhöhten Regelsätze ab Beginn nächsten Jahres in Kraft. Die weiteren Neuerungen greifen ab Juli 2023.

Oberjanuskopf Katja Kipping, Berlins Nochsozialsenatorin, argumentierte so für die Richtigkeit diese unterschiedlichen Abstimmungsverhaltens: „Zu den von der Union erzwungenen sozialen Verschlechterungen haben wir als Linke ganz klar Nein gesagt, im Bundestag“, um gleich nachzuschieben, bei der Abstimmung im Bundesrat gehe es dagegen um die Regelsatzerhöhung und einige Verbesserungen. Wüsste man es nicht besser und glaubte Gen. Kipping, könnte man meinen, es handele sich um 2 entgegengesetzte Abstimmungsthemen.

Die organisierte Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, sich nicht auf die parlamentarischen Winkelzüge beider bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verlassen, sondern ihrer Kraft in Betrieben und auf der Straße zu vertrauen. In diesem Zuge ist es gut, DIE LINKE daran zu erinnern, wie eilig sie 2004 auf den Zug der Proteste und Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 aufgesprungen ist. Heute verleiht sie Hartz IV Flankendeckung von links, mit welchen rhetorischen Kniffen auch immer sie dies zu tarnen versucht.




Vom Hoffen auf den heißen Herbst: Ey Linkspartei, was machst du?

Jaqueline Katharina Singh, Neue Internationale 269, November 2022

In England gingen Hunderttausende auf die Straße, in Frankreich werden Betriebe bestreikt und Besetzungen diskutiert. Und auch in Deutschland wurde im Sommer noch von der Linkspartei ein heißer Herbst angekündigt. Groß sollte er werden, kämpferisch. Der größte Aktionstag brachte bundesweit gerade 24.000 Menschen auf die Straße. Dahinter reihen sich wenige lokale Demonstrationen mit Tausenden in Berlin und Leipzig und zahlreiche kleine Aktionen von mehreren hundert Menschen ein. In der Realität ist der heiße Herbst bisher leider nicht mehr als ein lauwarmes Lüftchen. Die Gründe dafür sind zahlreich, doch einer sticht heraus: der Scherbenhaufen mit dem Namen Linkspartei. Was sind die Probleme? Und was müsste getan werden? Ein Debattenbeitrag für alle, die ernsthaft gegen die Inflation kämpfen wollen.

Lage

Potenzial, auf die Straße zu gehen, wird genügend geliefert. Meistens direkt in unsere Briefkästen in Form von Gasabschlägen von mehreren Hundert Euro oder in Form von Kassenbons, die einem nach dem Einkauf in die Hand gedrückt werden.

Zeitgleich versucht natürlich auch die Bundesregierung, die Kosten abzufangen. Auch wenn die Entlastungspakete weit hinter dem zurückbleiben, was die Lohnabhängigen – und vor allem die Armen – brauchen, können sie einen Teil des Unmuts abfangen. (Genauso wie die 20 Grad im Oktober helfen, die Heizung erstmal runterzustellen, Klimawandel sei Dank.)

Doch vergessen wir nicht. Diese Zugeständnisse der Regierenden sind selbst eine Reaktion auf die Wut und Empörung von Millionen. Unmöglich machen sie Proteste sicher nicht. Denn die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung ist angespannt, wenn sich bei vielen auch Frustration und Hoffnungslosigkeit breitzumachen beginnen.

Kämpfen lohnt sich nicht?

Anders als in Frankreich kann man in Deutschland nicht auf eine Tradition von einigermaßen erfolgreichen Abwehrkämpfen blicken. Vielmehr wurden Niederlagen eingesackt, ob nun vor Jahren bei den Protesten gegen die Hartzgesetze, ob von der antirassistischen Bewegung. Von kämpferischen Streiks will man gar nicht erst reden. Kämpfe wie jene der Krankenhausbewegung in Berlin und Nordrhein-Westfalen stellen die Ausnahme dar. Es herrschen sozialpartnerschaftliche Regulierung, ritualisierte Tarifrunden vor – im Extremfall der nationale Schulterschluss oder die Konzertierte Aktion zwischen Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Regierung.

Die Erfahrung, die allgemein hängenblieb, lautet: Politischer Streik geht nicht. Doch gerade in einer Krise ist es nicht unmöglich, diese bürgerlichen Ideologien aus den Köpfen der Bevölkerung zu fegen. Doch dazu bräuchte es eine Organisation, die sich den Interessen der Beschäftigten verschreibt, in Opposition zur Regierung, eine Organisation, die den Kampf gegen die Preissteigerungen mit dem gegen Krieg, Umweltkatastrophe, Rassismus und Imperialismus verbindet. Eine Organisation, die Druck auf Gewerkschaften ausübt, die aktiv vorantreibt.

Dabei verspricht die Linkspartei auf Parteitagen und in Sonntagsreden eine Politik im Interesse der Mehrheit, verkündet einen heißen Herbst und manche schreiben gar eine „verbindende Klassenpolitik“ auf ihre Fahnen. Zu sehen ist davon nichts. Bevor wir jedoch zu den öffentlich einsehbaren Machtspielchen der Partei kommen, wollen wir einen Blick auf die inhaltliche Antwort der Linkspartei auf die aktuelle Situation werfen.

Forderungen

Gesammelt auf einer Themenseite (https://www.die-linke.de/themen/preissteigerungen/) findet man die Forderungen der Linkspartei. So heißt es: Die Gaskrise verschärft sich und die Bundesregierung agiert hilflos. Die Linkspartei fordert dagegen folgende Sofortmaßnahmen:

a) Ein drittes Entlastungspaket, einen „sozialen Klimabonus“ von 125 Euro im Monat für jeden Haushalt. Weitere 50 Euro sollen für Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen ausgezahlt werden. Ebenso fordert sie eine sofortige Erhöhung der Sozialleistungen um 200 Euro pro Monat und eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets bis zum Jahresende.

b) Einen sofortigen Gaspreisdeckel sowie ein Verbot von Strom- und Gassperren, verbunden mit einem bezahlbares Grundkontingent für Strom und Gas für alle.

c) Eine Übergewinnsteuer und den Ausbau von erneuerbaren Energien.

Viel könnte man an dieser Stelle ergänzen, wir wollen es aber bei den wesentlichen Punkten belassen. Zum einen stellt sich einem/r die Frage, warum das 9-Euro-Ticket nur bis zum Jahresende verlängert werden soll. Die geforderten Summen stellen sicher ein Verbesserung gegenüber den Einmalzahlungen der Regierung da, aber letztlich bleiben sie auch hinter dem, was notwendig ist: einer Erhöhung der Renten und Arbeitslosengelder auf 1.600 Euro pro Monat mit automatischer Inflationsanpassung.

Zum anderen ist gerade der Punkt mit der Übergewinnsteuer sehr verklausuliert. Die Forderung an sich ist richtig, im Absatz des Forderungskatalogs findet man jedoch auch Aussagen wie „Es ist richtig, Unternehmen zu retten, um einen Kollaps der Versorgung zu verhindern. Der Bund sollte dauerhaft Eigentümer bleiben, um Bürger entlasten zu können.“

Die Verstaatlichung von Unternehmen ist sicher ein Schritt zur Verhinderung von Entlassungen. Doch DIE LINKE drückt sich hier nicht nur darum herum, dass sie ohne Entschädigung erfolgen soll. Es fragt sich auch, warum eigentlich Profiteur:innen von der Krise, die selbst die Preise nach oben treiben, nicht enteignet werden sollen, zumal wenn es nicht nur darum geht, die Versorgung zu sichern, sondern auch, die Energieversorgung ökologisch umzurüsten.

Schließlich wird die Frage, wer die Produktion in solchen verstaatlichten Unternehmen kontrollieren soll – das Management oder die Beschäftigten – erst gar nicht aufgeworfen. Im Grunde geht das Sofortprogramm der Linkspartei nicht über das hinaus, was auch die Bundesregierung tut. Sie will nur, dass das „dauerhaft“ bleibt.

Vor allem aber muss man in einem Land, in dem die Kampferfahrung gering ist, aufzeigen, wie man die eigenen Forderungen umsetzen will. Als Gruppe Arbeiter:innenmacht unterstützen wir beispielsweise Forderungen wie die nach einem Gaspreisdeckel, glauben aber, dass diese nur unter direkter Kontrolle von Beschäftigten sinnvoll ist. Praktisch bedeutet es, ein Gremium aus deren Vertreter:innen zu wählen, das rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar ist. Doch wie kann so eine scheinbare Utopie zur Wirklichkeit werden? Wie können die Forderungen nicht nur hübsch auf Flyer gedruckt, sondern in der Praxis umgesetzt werden?

Eine Antwort auf diese Frage findet man nicht auf der Homepage. Auch nicht im FAQ, welches sonst recht gut kurz und knapp Sachen erklärt.

Über Terminankündigungen hinaus finden wir auch nichts, wie eine Bewegung aufgebaut werden kann oder soll, und schon gar nichts, wie diese in die Betriebe zu tragen ist.

Würde die Linkspartei (bzw. jede ihrer Strömungen) ihren eigenen Anspruch, ihre eigenen Versprechen ernst nehmen, müsste/n sie aktiv daran arbeiten, ein breites Aktionsbündnis, eine Einheitsfront aller Akteur:innen der Arbeiter:innenbewegung aufzubauen. Sie müsste/n dazu vor allem die Gewerkschaften zum gemeinsamen Kampf und Bruch mit Sozialpartner:innenschaft und Konzertierter Aktion auffordern.

Doch DIE LINKE schafft es nicht einmal, konkrete Forderungen für die Tarifabschlüsse mit in die Kampagne aufzunehmen. Nicht nur Sozialleistungen, sondern auch Löhne müssen an die Inflation angepasst werden und die kommende Metallrunde sowie die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst sind kein Nebenschauplatz des Kampfes gegen Preissteigerungen, sondern müssen vielmehr als konkrete Möglichkeit begriffen werden, diesen mit betrieblichen Aktionen zu bestzen. Dass dies nicht thematisiert wird, ist kein Zufall.

Strategische Schwäche

Wie oben bereits erwähnt, unterminiert und fesselt die Sozialpartner:innenschaft der Gewerkschaftsbürokratie die Kampfkraft der Arbeitenden. Der Schulterschluss mit dem Kapital bringt mit sich, dass man aus Sorge um den lokalen Standort zu beschwichtigen versucht. In der Praxis bedeutet das oft genug, dass Arbeitsplätze vernichtet und die Beschäftigten mit Sozialplänen abgespeist werden oder Tarifabschlüsse hinter der aktuellen Inflationsrate zurückbleiben.

Aber warum muss sich eine linke Partei dazu verhalten? Die sogenannte soziale Frage, die nach Verbesserung des Lebensstandards ist nicht nur Kerninteresse von Linken, weil man ein reiner Gutmensch ist. Die 5 Millionen Mitglieder des DGB bilden die stärkste Kraft, wenn es darum geht, Forderungen durchzusetzen. Denn Streik ist eines der effektivsten Mittel, um Druck auf Unternehmen sowie Regierung aufzubauen. Wer also Einfluss in den Gewerkschaften ausübt, kann Kämpfe ganz anders führen. Oder anders herum: Wenn es nicht gelingt, die Gewerkschaften und ihre Millionen Mitglieder für den Kampf gegen Preissteigerungen und die Rezession auf der Straße und in politischen Massenstreiks zu mobilisieren, werden wir die Angriffe von Kapital und Regierung nicht stoppen können.

Doch es stellt seit Jahren eine strategische Schwäche der Linkspartei dar, sich in diesem Bereich nicht als klare Opposition zur SPD und zur Gewerkschaftsbürokratie aufgestellt zu haben. Nicht dass die Linkspartei komplett ohne Einfluss wäre, das zeigen Figuren wie Bernd Riexinger. Aber DIE LINKE will keine antibürokratische Opposition, sondern den Apparat ideologisch nach links verschieben. Diese Politik führt aber dazu, dass ihre gewerkschaftlich Aktiven und vor allem die Funktionär:innen letztlich als Anhängsel der sozialdemokratischen dominierten Bürokratie agieren, ob sie das nun wollen oder nicht.

Dies ist nichts Neues, sondern ein Merkmal reformistischer Parteien – ebenso wenig die Auftrennung zwischen politischen und ökonomischen Kämpfen. Die Linkspartei agiert demzufolge im Parlament und vielleicht auch auf der Straße. In den Betrieben und in den Gewerkschaften überlässt sie aber den ökonomischen Kampf bzw. dessen Verhinderung der Bürokratie (und der SPD). Doch genau dieses Prinzip wird in Krisenzeiten sichtbar aufgebrochen, denn  Inflation oder drohende Rezession zeigen, dass es keine unabhängigen Sphären sind, die voneinander existieren.

Statt also die Gewerkschaftsführungen offen aufzufordern, sich an den Mobilisierungen zu beteiligen, beispielsweise durch offene Briefe und eine Kampagne in den Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörpern, schweigt man. Statt offen eine Positionierung in den Tarifkämpfen einzunehmen und die Beschäftigten in diesen Kämpfen zu unterstützen, ordnet man sich der Gewerkschaftsbürokratie unter und wird damit indirekt Unterstützerin der Sozialpartner:innenschaft.

Verquere Debatte

Das ist nicht die gleiche Debatte, die im Vorfeld zum Parteitag geführt wurde. Denn auch wenn die populäre Linke und Wagenknecht schnell dabei sind, das Bild vom Arbeiter im Blaumann herauszuholen und die Ausrichtung auf diesen zu fordern, so schweigen sie bei der Frage der Gewerkschaften, der Rolle der Bürokratie und dem Kampf, den man gegen diese führen muss. Ähnliches gilt jedoch auch für das Lager der Bewegungslinken, das Organizing als Antwort sieht, das aber der offenen Konfrontation mit der Bürokratie ausweicht. Von den Regierungssozialist:innen will man an der Stelle lieber nicht reden, denn sie haben gar kein wirkliches Interesse, auch nur partiell Druck aufzubauen – das schadet letztendlich nur den Chancen, in eine Regierung zu gelangen.

Hätte man jedoch eine klare Strategie in dem Bereich, wäre die Verbindung von ökonomischen Kämpfen mit jenen Bewegungen wie der gegen Umweltschäden kein großes Rätsel mehr. Denn im Endeffekt müssen diese beiden aktiv miteinander verbunden werden, um erfolgreich Errungenschaften für die gesamte Klasse zu erkämpfen wie beispielsweise ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket oder einen kostenlosen ÖPNV. Stattdessen verliert man sich im internen Richtungsstreit, der aktuell eine neue Ebene des Elends erreicht.

Flügelstreit statt Klassenkampf

Leipzig, 05. September 2022. Sören Pellmann, einer der drei Gründe, warum die Linksfraktion überhaupt im Bundestag sitzt, organisiert einen ersten Protest. Rund 5.000 Menschen versammeln sich auf dem Augustusplatz und beteiligen sich an der Demonstration der Linkspartei. 5 Wochen später wird die Linkspartei wieder einen Protest organisieren – diesmal als Bündnis unter der Führung von Juliane Nagel. Sie ist eine Vertreterin des Lagers der Regierungssozialistinnen und erklärt, dass weder Sahra Wagenknecht noch Sören Pellmann auf dieser Kundgebung sprechen dürfen. Kurzum: Man ist zwar in einer Partei, aber setzt alles daran, nicht gemeinsam zu arbeiten.

Ein Einzelfall, könnte man meinen. Aber nein, auch in Berlin im Bündnis „Heizung, Brot, Frieden“ gibt es ähnliche Querelen. Hieran ist unter anderen Aufstehen beteiligt. Nachdem am Anfang auch Gesichter der Bewegungslinken und marx21 anwesend waren, hätte man meinen können, dass es ein positives Beispiel sein könnte. Trotz Differenzen ist man in einem Bündnis, mobilisiert gemeinsam, während man inhaltlich streitet und versucht, die Partei insgesamt zum Handeln zu zwingen. Hätte, hätte, Fahrradkette! Dieses Verhalten ist ein Schlag ins Gesicht für alle Basismitglieder, die versuchen, aktiv gegen die Preissteigerungen zu kämpfen.

Feindbild Populismus

Dass es Teile der Partei gibt, die den Linkspopulismus von Sahra Wagenknecht ablehnen, ist gut. Doch erstens ist Kritik an ihr keineswegs immer eine fortschrittliche. Im Gegenteil, der jüngste Sturm der Empörung entbrannte, gerade weil Wagenknecht auch einmal etwas Richtiges gesagt hatte, nämlich dass Deutschland und seine Verbündeten einen Wirtschaftskrieg gegen Russland führen.

Der rechte Parteiflügel will es sich offenkundig mit der Regierung nicht verscherzen. Fast noch mehr scheint er von einem wahrhaften Abgrenzungswahn gegenüber Sahra Wagenknecht und Aufstehen, also dem linkspopulistischen, an Mélenchons Partei La France Insoumise orientierten Flügel, der Partei besessen zu sein.

Der Aufstehen-Flügel hingegen will eine linkspopulistische Massenmobilisierung, die auch Gewerkschaften und radikale Linke umfassen soll. Gegenüber einer realen Orientierung auf die Arbeiter:innenklasse, der Frage von Streiks und betrieblichen Kämpfen verhält er sich ignorant. Stattdessen wird das „Volk“ aufgerufen, eine Allianz bis hin zu den krisengeschüttelten Unternehmen angestrebt und der russische Imperialismus real verharmlost. Aber er beteiligt sich mit sehr viel Elan an den Aktionen, ja prägt diese in etlichen Städten. Dass Aufstehen versucht, den Mobilisierungen seinen politischen Stempel aufzudrücken, für seine Zwecke zu nutzen, um sich stärken zu wollen, kann ihm niemand ernsthaft vorwerfen. Das will schließlich jede politische Kraft, die in solchen Mobilisierungen aktiv ist.

Die Mehrheit der Linkspartei agiert demgegenüber einfach sektiererisch. Vom Standpunkt der Regierungssozialist:innen ergibt das durchaus Sinn. Ihnen sind Regierungsposten und Verbindungen und gutes Einvernehmen mit SPD, Grünen und Gewerkschaftsbürokratie allemal wichtiger als eine Bewegung, die diese in Schwierigkeiten bringen könnte. Die sog. Bewegungslinke – und in ihrem Schlepptau Strömungen wie marx21 – macht sich zunehmend zur politischen Gehilfin der Lederers, Nagels und Ramelows.

Hoffen auf Veränderung?

Die Spaltung der Linkspartei ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Die verschiedenen Flügel rüsten faktisch zum entscheidenden Kampf und warten vor allem auf eine günstige Gelegenheit. Dabei ist die Krise selbst nur Ausdruck der strategischen Perspektivlosigkeit einer kleinen reformistischen Partei. Zwischen Bewegungsspielerei und Regierungsbeteiligung lässt sich eine schlüssige Strategie schlecht ausarbeiten. Es ist also kein Wunder, dass die Partei ideologisch zwischen verschiedenen Spielarten von Populismus, Reformismus und Identitätspolitik hin und hergerissen wird. Der Krieg um die Ukraine hat die Flügel weiter polarisiert, treibt die einen mehr ins Putinlager, die anderen Richtung Regierung und westlichem Imperialismus.

Kein Wunder, dass immer mehr Aktivist:innen sich abwenden. Zweifellos stellt der kommende Untergang für die sozialistischen Kräfte in der Partei eine zentrale Frage dar. Es ist eigentlich höchste Zeit, offen dem Reformismus den Kampf anzusagen und einen revolutionären Bruch mit der Partei vorzubereiten, also die eigenen Kräfte als Alternative zu bestehenden reformistischen und populistischen Strömungen zu sammeln.

Eine solche Intervention in den Flügelstreik müssten sie zugleich mit dem Kampf für eine Einheitsfront aller Kräfte der Arbeiter:innenbewegung – also auch aller Teile der Linkspartei – verbinden. Das Fatale am inneren Flügelstreit ist ja nicht, dass sich dieser zuspitzt, sondern er vor allem von den Regierungssozialist:innen und der Bewegungslinken mit einer bewussten Sabotage gemeinsamer Aktionen gegen Inflation und Krise verbunden wird. Unglücklicherweise finden sich diese mit ihrem Sektierertum in der „radikalen Linken“ in guter Gesellschaft.

Es mangelt nicht an verschiedenen Bündnissen mit teilweise fast identischen Forderungskatalogen, die – anders als der „solidarische Herbst“ von Gewerkschaften, NGOs und Sozialverbänden – Kapital und Regierung als politischen Gegner:innen verorten und, zumindest verbal, die Notwendigkeit einer Massenmobilisierung proklamieren.

Doch wer diese wirklich will, muss auch danach trachten, aktionsfähige Bündnisstrukturen aufzubauen, Kräfte wie „Heizung, Brot, Frieden“, „Genug ist Genug“, „Nicht auf unserem Rücken“ oder „Umverteilen“ auf lokaler und bundesweiter Ebene zu einem Bündnis zusammenzuschließen. Ein erster Schritt dazu wäre es in jedem Fall, gemeinsame Demonstrationen und Aktionen zu organisieren.

Schon heute ist klar: Wie es ist, kann und darf es nicht bleiben. Wir wissen auch, dass wir im Kampf gegen Inflation, Rezession und Kosten des Krieges einen langen Atem brauchen werden. Umso dringender ist es freilich, die linken Bündnisse auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis zusammenzuführen und dazu möglichst rasch lokale und bundesweite Aktionskonferenzen zu organisieren.




Proteste gegen die Preissteigerungen: Wir müssen Klartext sprechen

Martin Suchanek, Infomail 1202, 25. Oktober 2022

Seit Monaten erleben die massivsten Preissteigerungen seit Jahrzehnten. Millionen droht die Verarmung. Die Bundesregierung reagiert einmal zynisch, einmal viel zu spät. Die Landesregierungen und die parlamentarische Opposition geben ebenfalls eine blamable Figur – natürlich auf unsere Kosten – ab.

Eigentlich eine günstige Bedingung, Massen gegen diese Politik und für Sofortmaßnahmen gegen die Preissteigerungen auf die Straße zu bringen; eigentlich eine günstige Gelegenheit, den Kampf um eine Deckelung der Preise für Gas, Strom, Mieten und Lebensmittel mit den laufenden und kommenden Tarifrunden zu koordinieren; eigentlich eine günstige Möglichkeit, für eine klare, internationalistische Antwort von links und für die Enteignung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft wie Energie und Verkehr, der Immobilienkonzerne und anderer Branchen zu mobilisieren.

Doch die Realität ist eine andere. Die Linke und die Arbeiter:innenbewegung vermögen es bisher nicht, die Wut und den Zorn der Bevölkerung auf die Straße zu bringen. In den meisten Städten und Regionen ist die Rechte – zuletzt beim schaurig-reaktionären Aufmarsch der AfD am 8. Oktober in Berlin – der Linken voraus.

Solidarischer Herbst

Optimistische Gemüter könnten natürlich entgegenhalten, dass sich lt. Veranstalter:innen rund 24.000 Menschen an den sechs Demonstrationen des Bündnisses „Solidarischer Herbst“ am 22. Oktober beteiligten. Selbst diese Zahl ist überaus wohlwollend geschätzt. Aber unabhängig davon, ob es nun wirklich 24.000 waren oder nicht, so war die von Gewerkschaften, der Linkspartei, Sozialverbänden, Umweltbewegung und NGOs getragene Bündnisdemonstration die bislang größte gegen die Preissteigerungen und die drohende soziale Katastrophe. Und genau darin liegt das Problem. Eigentlich müssten die Gewerkschaften und die Linke weitaus mehr Menschen auf die Straße bringen können.

Zu den Demonstrationen am 22. Oktober mobilisierten im Wesentlichen die aufrufenden Organisationen die aktiveren Teile ihrer Mitgliedschaft. Darüber hinaus stellten die Linkspartei und Gruppierungen links von ihr größere Blöcke bei den Demos.

Generell zeigten die beiden bundesweit aufrufenden Gewerkschaften – ver.di und GEW – sichtbare und organisierte Präsenz. Bedenkt man freilich, dass in den letzten Monaten wichtige Auseinandersetzungen geführt wurden und die Tarifrunde im öffentlichen Dienst ins Haus steht, so war es eine Mobilisierung mit angezogener Handbremse. Die meisten übrigen DGB-Gewerkschaften blieben auch demgegenüber weit zurück und zeigten bei den meisten Demos kaum sichtbare Präsenz.

Erst recht trifft dies auf die Umweltbewegung zu, auf Fridays for Future, auf Organisationen wie den BUND, auf die Sozialverbände oder die NGOs.

Die Linkspartei mobilisierte zwar beispielsweise in Berlin etliche hundert Teilnehmer:innen in ihrem Block, aber auch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass von der einst verkündeten Großmobilisierung gegen die „soziale Kälte der Bundesregierung“ bisher wenig zu sehen ist.

Die bescheidene Gesamtzahl kommt letztlich nicht von ungefähr. In vielen Städten gab es keine Flugblätter, keine Plakate, keine systematische Werbung in den Betrieben oder Wohnbezirken. Erreicht wurden in erster Linie die schon aktiven Mitglieder oder, im Falle der Gewerkschaften und betrieblichen Strukturen, die Funktionsträger:innen. Die Masse der Bevölkerung – und damit auch deren Wut, Angst, Furcht – wurde am 22. Oktober nicht erreicht. Und genau genommen wurde das auch nicht ernsthaft versucht.

Schließlich ging es dem aufrufenden Bündnis nicht um eine Mobilisierung gegen die Regierungspolitik, gegen deren Abwälzung der Kosten von Krieg und Krise auf die Lohnabhängigen. Für die aktuellen Preissteigerungen wird die Bundesregierung oder das deutsche Kapital erst gar nicht verantwortlich gemacht – allein der Putin sei’s gewesen.

Natürlich wird beklagt, dass die Reichen auch in den letzten Jahren reicher und die Armen wieder ärmer geworden seien, zu Recht wird eine Reihe von Maßnahmen zur Umverteilung von oben nach unten eingefordert. Doch die Regierung erscheint im Aufruf des Bündnisses nicht als Teil des Problems, sondern als einer der Lösung, dessen „Potential“ bisher jedoch blockiert wird. So heißt es im Aufruf:

„Die Ampel muss Vermögende und Krisengewinnler zur Solidarität verpflichten und endlich angemessen belasten – damit der Staat gezielt entlasten und in unsere Zukunft investieren kann.

Ob es in diesem Winter gelingt, unsere Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren und gleichzeitig die klimapolitischen Weichen zu stellen – das hängt entscheidend davon ab, wie viel Solidarität die Ampel einzufordern bereit ist. Sie hat es in der Hand, wie dieser Winter wird: Einer der Verzweiflung und Wut. Oder einer mit neuer Zuversicht für eine sozial gerechtere, ökologische und lebenswerte Zukunft.

Bisher wird in der Ampel ein konsequenter, solidarischer Wandel blockiert. Das wollen wir ändern. Gemeinsam gehen wir auf die Straßen – für solidarische Politik und Klimaschutz, gegen Spaltung und Hetze!“

Wer hofft mit einigen Demos die Regierung zum konsequenten und solidarischen Wandel treiben zu können, braucht weder wirkliche Massendemos noch eine Kampfperspektive für die kommenden Monate. Dazu reichen auch Symbolpolitik und das Prinzip Hoffnung.

Eine solche Politik mobilisiert keine Massen. Sie führt allenfalls dazu, dass die Regierung einige Zugeständnisse macht, um eine noch größere soziale Verwerfung und Explosionen in Zeiten von Krieg und Krise zu vermeiden. Dies wird den Rechten weiter ermöglichen, ihre reaktionäre, chauvinistische Demagogie zu verbreiten und dafür Gehör zu finden. Angesichts des Fehlens einer massenwirksamen politischen Mobilisierung der Linken werden natürlich nicht alle nach rechts getrieben, wohl aber werden neben Wut, Angst, Empörung auch Frustration und Desillusionierung, Passivität und Resignation über kurz oder lang gefördert – also eine Stimmungslage, die der Regierung unverdientermaßen über den Winter helfen kann.

Die politische Hauptverantwortung für diese Lage tragen die Gewerkschaftsführungen, die bürokratischen Apparate – und zwar nicht aus Zufall, sondern als notwendiges Resultat einer Politik, die auf konzertierte Aktion statt Klassenkampf, auf nationalen Schulterschluss statt Kritik am Wirtschaftskrieg des deutschen Imperialismus setzt. Dass diese Ampel konforme Politik nicht nur in den gewerkschaftlichen Apparaten, sondern auch in der Linkspartei und selbst Teilen der „radikalen“ Linken ihre Fortsetzung findet, verdeutlicht das Problem, vor dem wir politisch stehen.

Was tun?

Angesichts dieser ungünstigen Ausgangslage, müssen sich alle linken, klassenkämpferischen Kräfte die Frage stellen, wie die kann die Blockadehaltung der Gewerkschaftsapparate durchbrochen werden. Ein Hoffen auf kämpferische Tarifrunden von IG Metall und ver.di mag zwar angesichts der massiven Widerstände von Kapital und Staat (den sog. öffentlichen Arbeitgeber:innen) eine gewisse Berechtigung haben, ein Selbstläufer ist das jedoch keinesfalls. Wer zum 22. Oktober nur mit angezogener Handbremse (ver.di) oder fast gar nicht (IG Metall) mobilisiert, dem sind auch faule, tarifpolitische Kompromisse zuzutrauen, wenn auch mit etwas mehr Theaterdonner inszenierte.

Natürlich stehen auch SPD und Grüne von Teilen ihrer Wähler:innenbasis und Mitgliedschaft unter Druck, doch auch hier regiert das Prinzip Hoffnung trotz Verlängerung von Atom- und Kohleverstromung, trotz Milliarden für Aufrüstung und Bundeswehr, trotz imperialistischer Kriegspolitik im Kampf um die Ukraine, trotz einer Gas- und Energiepreisbremse, von der bis heute niemand weiß, ob überhaupt und wenn ja, wie viel sie den Lohnabhängigen und den Mittelschichten bringen und was es sie im Gegenzug (Steuern, Sozialbeiträge) kosten wird.

Immerhin kann man die Politik von DGB, SPD und Grünen noch insofern nachvollziehen, als sie alle entweder Bestandteil der Regierung oder im Falle der Gewerkschaftsapparate und großen Konzernbetriebsräte eine wesentliche soziale Stütze ebendieser darstellen.

Teile der Linkspartei bringen freilich das Kunststück fertig, der Regierung hinterherzulaufen, obwohl diese von ihr gar nichts wissen will. Eine viel dümmlichere „linke“ Opposition könnte sich die Ampelkoalition gar nicht wünschen.

Zuerst verkündet der neue Parteichef der Linken einen „heißen Herbst“ gegen die Regierung, dann sabotiert die eigene Partei die Anstrengungen. Nachdem in Leipzig unter Führung Sören Pellmanns am 5. September 4.000 – 5.000 Menschen mobilisiert wurden, wurde der kleine Achtungserfolg vom anderen Parteiflügel faktisch zunichtegemacht, die Montagsdemos wurden eingestellt und den Rechten überlassen.

Auf der Demonstration am 15. Oktober durfte dann auch Pellmann bei der Demonstration der den Antideutschen nahestehenden Leipziger Parteispitze um Juliane Nagel erst gar nicht als Redner auftauchen. Dieses Bild liefert nicht nur die Linkspartei in Leipzig, sondern im gesamten Bundesgebiet ab. So weigerte sich die Berliner LINKE, die Demonstration von Heizung, Brot, Frieden am 3. Oktober zu unterstützen, weil diese „russlandfreundlich“ sei und zu viele Leute von Aufstehen an der Mobilisierung beteiligt wären.

Doch mit diesem Sektierertum der reformistischen Linkspartei-Führungen nicht genug.

Auch im radikaleren, linken Spektrum mangelt es nicht an verschiedenen Bündnissen mit teilweise fast identischen Forderungskatalogen, die – anders als der „solidarisch Herbst“ – Kapital und Regierung als politischen Gegner verorten und, zumindest verbal, die Notwendigkeit einer Massenmobilisierung proklamieren.

Doch wer diese wirklich will, muss auch danach trachten, aktionsfähige Bündnisstrukturen aufzubauen, Kräfte wie Heizung, Brot, Frieden, wie Genug ist Genug, wie Nicht auf unserem Rücken oder Umverteilen auf lokaler und bundesweiter Ebene zu einem Bündnis zusammenzuschließen. Ein erster Schritt dazu wäre es in jedem Fall, gemeinsame Demonstrationen und Aktionen zu organisieren.

Schon heute ist klar: Wie es ist, kann und darf es nicht bleiben. Wir wissen auch, dass wir im Kampf gegen Inflation, Rezession und Kosten des Krieges einen langen Atem brauchen werden. Umso dringender ist es freilich, die linken Bündnisse auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis zusammenzuführen und dazu möglichst rasch lokale und bundesweite Aktionskonferenzen zu organisieren.




Schweden nach den Wahlen: Rechte Kräfte müssen durch Massenkampf geschlagen werden

Arbetarmakt Schweden, Infomail 1202, 18. Oktober 2022

Das Wahlergebnis von 2022 bedeutet mehr als nur einen parlamentarischen Sieg der Rechten. Schweden wird nun eine Regierung haben, die sich auf den militanten Klassenkampf von oben konzentriert. Der Lebensstandard und die Rechte der arbeitenden Menschen werden angegriffen werden. Die parlamentarische Abhängigkeit von einer rassistischen rechtspopulistischen Partei mit nationalsozialistischem Hintergrund garantiert, dass einige der am stärksten unterdrückten Gruppen der Gesellschaft zur Zielscheibe werden. Die rassistische Hetze während des Wahlkampfes gibt einen Vorgeschmack auf das, was uns bevorsteht.

Der Sieg der rechten Kräfte ist größer, als die Medienberichterstattung vermuten lässt. Die Zentrumspartei ist nicht Teil eines linken Blocks, sie ist eine neoliberale, kapitalistische Partei mit massiven Kürzungen im Sozialbereich als zentralem Thema. Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass sie sich den anderen Koalitionsparteien anschließen und den rechten Flügel im Parlament weiter stärken wird.

Entwicklung des Reformismus

Ein weiterer Aspekt des Sieges der Rechten ist die Art und Weise, wie es ihnen gelungen ist, die reformistischen bürgerlichen Arbeiter:innenparteien, die sozialdemokratische und die Linkspartei, nach rechts zu ziehen. Als viele Sozialist:innen und klassenbewusste Arbeiter:innen dachten, dass es für sie nicht möglich sei, weiter nach rechts zu gehen, taten ihre Führungen genau das. Die Sozialdemokraten übernahmen zentrale Elemente der rassistischen Rhetorik in der vergeblichen Hoffnung, den Zustrom von Stimmen zu den Schwedendemokraten (SD) zu stoppen. Die Linkspartei wiederum versuchte, sich als „verantwortungsbewusst“ zu profilieren, und scheiterte kläglich daran, bei der Mehrheit der Arbeiter:innen Fuß zu fassen, während sie einen Teil ihrer linken Wähler:innenschaft verlor.

Darüber hinaus hat die kürzlich gegründete Nuance-Partei, eine islamische, wertkonservative, rechtsgerichtete Partei, zwei kommunale Sitze errungen und damit die Sozialdemokratie in einigen Wahlbezirken mit hohem Migrant:innenanteil geschwächt. Auch dies ist Teil des Vormarsches der rechten Kräfte.

Wie immer ist das Bild nicht einheitlich. Einige Teile der Arbeiter:innenklasse und sicherlich auch andere Schichten erkannten die Gefahr von rechts und wandten sich der sozialdemokratischen und Linkspartei zu oder hielten an ihnen fest, um die Rechten abzulehnen. In einigen Gebieten, vor allem in Stockholm, wo die Mehrheit in der Kommune auf sie übergehen wird, haben diese Parteien sogar zugelegt.

Dass die beiden Parteien insgesamt auf dem Rückzug sind, ist jedoch kein Wunder. Ihre Basis ist die Arbeiter:innenklasse und ihr Einfluss hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Bedingungen für diese Klasse zu verbessern und für fortschrittliche Ziele zu stehen. Wenn sie dies nicht tun, sondern im Gegenteil die Arbeiter:innenklasse angreifen, wie es insbesondere bei der Sozialdemokratischen Partei der Fall ist, sägen sie den Ast ab, auf dem sie selbst sitzen.

Jahrzehnte rechter Politik von Sozialdemokraten, gefolgt von der Linkspartei, haben beide geschwächt und auch große Teile der Arbeiter:innenklasse politisch und ideologisch desorientiert. Die Wahlergebnisse von 2022 sind eine Folge dieses Prozesses.

Vor diesem Hintergrund ist es absurd, davon zu sprechen, dass die Liberalen eine Art Verrat begehen, wenn sie mit den Schwedendemokraten zusammenarbeiten. Dieses Argument beruht auf der Illusion, dass es eine anständige Bourgeoisie gibt, und davon abgesetzt gibt es die Rechtsaußenpartei SD. Die Liberalen sind eine aggressive kapitalistische Partei, die alle Tendenzen in der Gesellschaft verstärken will, die objektiv die SD begünstigen.

Diejenigen in der Linken, die sagen, dass „der Liberalismus eine stolze Geschichte des Widerstands gegen den Faschismus aufweist“, lügen oder sind unwissend. Das wichtigste Beispiel sind die deutschen Liberalen, die im März 1933 für die Sondergesetze (Ermächtigungsgesetz) stimmten, die Hitler und den Nazis die uneingeschränkte Macht gaben. Die Liberalen waren und sind eine völlig unzuverlässige Kraft gegen Rassismus und Rechtsextremismus, was die schwedischen eindeutig bestätigen. Sie „verraten kein Erbe“, wenn sie die SD unterstützen. Das ist ihr Erbe, sie haben immer die Bourgeoisie und das Wohl des Kapitalismus an die erste Stelle gesetzt, selbst wenn das eine Zusammenarbeit mit der antiliberalen rechten Reaktion bedeutet.

Auf jeden Fall bedeutet der Erfolg der Schwedendemokraten nicht, dass wir in Schweden ein faschistisch dominiertes Regime erleben werden. Der Begriff Faschismus sollte nicht verwässert werden, er gilt nur für die gewalttätigste Form der bürgerlichen Reaktion wie das Dritte Reich, die Herrschaft Mussolinis oder den Aufstieg des Islamischen Staates. Als rassistisch-populistische Partei ist die SD natürlich extrem reaktionär, aber wir stehen nicht vor einer nahen Auflösung der liberalen bürgerlichen Demokratie. Auf der anderen Seite erwartet uns eine harte und repressive rechte Politik im Rahmen der bürgerlichen Demokratie, die auch in eine nichtliberale Richtung umgestaltet werden kann.

Bei aller Warnung vor dem kommenden Vormarsch rechter Kräfte sollten wir die Bedeutung eines Wahlergebnisses nicht überbewerten. Bei Parlamentswahlen in einem kapitalistischen Staat geht es im Grunde nur darum, welche politische Fraktion die Interessen der herrschenden Klasse verwalten darf. Die große Schlacht findet nun außerhalb des Parlaments statt, auf den Straßen, an den Arbeitsplätzen und in den Wohnvierteln.

Was tun?

Die vorrangige Aufgabe besteht darin, sich dort zu organisieren, wo sich die Arbeiter:innenklasse befindet, um gegen jeden kommenden Angriff mobilisieren zu können. Wenn es gelingt, außerhalb des Riksdag (schwedisches Parlament)  genügend Kräfte zu mobilisieren, spielt es keine Rolle, wer die Mehrheit hat. Keine parlamentarische Mehrheit kann dem Druck von Massendemonstrationen und Streiks standhalten – und das sind die Methoden, die in Zukunft gebraucht werden.

Die Führungen der Sozialdemokratie und der Linkspartei meiden den außerparlamentarischen Kampf wie die Pest. Sie können bestehende Protestbewegungen unterwandern und sie dann ablenken und neutralisieren. Für beide gerät die Unterstützung eines starken außerparlamentarischen Kampfes in Konflikt mit ihren strategischen Zielen. Beide werden immer dem Kapital und seinem Staat gegenüber loyal sein, wenn es wirklich darauf ankommt. Es handelt sich um reformistische Parteien, die von Bürokrat:innen geführt werden, die sich in entscheidenden Situationen als Klassenverräter:innen betätigt haben.

Der Kampf kann sich also nicht auf das beschränken, worauf sich diese beiden Parteien einigen können, denn dann wird nicht viel erreicht. Langfristig muss sich die Arbeiter:innenklasse in einer neuen Partei organisieren, um die rechten Kräfte grundlegend zurückzuschlagen.




Energiekrise und Preisexplosion: Oh weh, wo bleibt der DGB?

Leo Drais, Neue Internationale 268, Oktober 2022

7,9 Prozent Inflation im August und die IG Metall geht artig mit 8 % in die Tarifrunde Metall und Elektro. Man kann sich denken, wie das weitergeht. Ein bisschen hin und her, vielleicht wird auch mal gestreikt, dann wieder verhandelt, und am Ende gibt‘s einen Abschluss, der definitiv unter der Teuerungsrate liegt, zumal diese im Winter wahrscheinlich zweistellig werden wird.

„Solidarität gewinnt“ ist das Motto dieser Tarifrunde. Es fragt sich bloß: Solidarität mit wem?

Der Gesamtmetallchef Wolf hatte kackdreist eine Nullrunde gefordert. Der arme Mittelstand sei durch die Inflation und die Energiekrise ansonsten existenzbedroht. Die von Verarmung bedrohte Arbeiter:innenklasse hat dem davon bedrohten Kapital unter die Arme zu greifen!

Und auch wenn die gewünschten 8 % natürlich nicht der Kapitalforderung nach einer Nullrunde entsprechen, so stellen sie doch ein Zugeständnis dar. Ohne irgendeinen Kampf ist bereits von vornherein klar, dass der Abschluss selbst bei unwahrscheinlicher vollster Durchsetzung einen Reallohnverlust bedeutet. Seit Corona beteiligt sich die IG Metall an der Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innenklasse, unterschrieb eine Nullrunde, schloss einmal handzahm ab.

Bezeichnend

Das Verhalten der IG Metall ist ein für alle Gewerkschaften bezeichnendes. Mit dem niederträchtigen Überfall Russlands auf die Ukraine stellte sich der DGB untertänig stramm hinter die Kriegsziele des deutschen Imperialismus und damit auch hinter Sanktionen und die Bestrebung, wegzukommen vom Putin-Gas, koste es, was es wolle.

Das 100 Milliarden-Paket für die Bundeswehr wurde nur insofern kritisiert, als dass es nicht auf Kosten sozialer Ausgaben gehen dürfe. Ansonsten wurde das Geschenk an den bundesdeutschen Militarismus nicht hinterfragt oder sogar frenetisch begrüßt. Die IG-Metall-Betriebsräte in den Panzerfabriken Rheinmetalls sabberten auf ihren fürstlich gedeckten Schreibtisch.

Dann schlugen die sozialen Auswirkungen des Krieges und der Sanktionen voll durch. Der Kreml machte ernst mit der deutschen Unabhängigkeit vom sibirischen Gas und drehte den Hahn zu. Die Preise für Strom, Gas und Sprit explodierten. In der Folge auch die für Lebensmittel, nicht ohne dass der eine oder andere Energieriese dabei fette Gewinne abkassierte, die natürlich in privater Hand bleiben werden. Immerhin stellt die FDP das Finanzministerium. Die marode Uniper-Bude wird dafür mit 30 Milliarden auf Steuergeldkosten gerettet, anstatt die Energiekrise durch die entschädigungslose Enteignung des gesamten Sektors anzugehen.

Einen Sommer lang hielt der DGB die Füße still. Statt eine gesamtgesellschaftliche Antwort durch die gesamte Klasse zu vertreten, wurden Kämpfe gegen die Teuerung nur vereinzelt in Betrieben wie den Nordseehäfen geführt. Gerade mal im Ansatz wurde hier das Kampfpotential der Belegschaft genutzt. Nach drei Warnstreiks und einer offensiv geführten Demonstration zog ver.di es vor, sich in drei Verhandlungen halb über den Tisch ziehen zu lassen. Nicht, dass sich Geschlossenheit, Kampfgeist und Selbstvertrauen der Hafenarbeiter:innen am Ende noch am berufsmäßig feigen Gewerkschaftsapparat entladen, der sein ganzes borniertes selbstgefälliges Dasein sowohl einer passiv gehaltenen Basis als auch aktivem Kuscheln mit den Bossen verdankt.

Forderungspaket

Nach einem Sommer des Stillhaltens veröffentlichte der DGB am 22. September ein Forderungspaket, um die sozialen Auswirkungen der Energiekrise und Inflation zu bekämpfen.

Einiges Richtiges steht da drin, sei es die Besteuerung von Übergewinnen, Superreichen sowie großen Erbschaften, der Schutz von Mieter:innen oder eine Gaspreisbremse. Vieles fehlt, vor allem aber jede Kampfperspektive.

Charakteristisch steht der Schlussabsatz des DGB-Papiers für die gesamte klassenverräterische Politik des Gewerkschaftsdachverbandes und seiner Teilgewerkschaften: „Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften haben schon immer in schwierigen Zeiten Verantwortung übernommen: für die Arbeitnehmer*innen, für die Unternehmen, für unsere Gesellschaft. Wir tun dies auch jetzt!“

„Für unsere Gesellschaft“, das heißt doch nichts anderes als für den deutschen demokratischen Imperialismus und sein Kapital, seine Unternehmen. Nicht „nur“ für die Ausgebeuteten, sondern auch für die Ausbeuter:innen übernimmt die DGB-Spitze Verantwortung. Nicht für die Belange der Klasse wird gekämpft, nein, es wird der sozialpartnerschaftliche, solidarische Ausgleich mit dem Kapital gesucht. Folgerichtig wird kurz zuvor auch nochmal die Richtigkeit der Sanktionspolitik betont, ganz gleich, welche sozialen Auswirkungen diese auf die russische oder deutsche Arbeiter:innenklasse zeitigt.

Entsprechend sagt uns der DGB auch überhaupt nicht, wie sein Forderungspaket erkämpft werden soll. Wozu auch, wenn die Ampel ohnedies auf dem richtigen Weg zu sein scheint? So lobt die DGB-Chefin Fahimi Anfang September das Entlastungspaket 3 über den grünen Klee: „Insgesamt ist der Maßnahmenkatalog geeignet, die Belastungen der Menschen und der Unternehmen tatsächlich spürbar zu verringern. Er hat eine klare soziale Handschrift und trägt zur Stabilisierung von Nachfrage und Konjunktur bei.“

Bürokratie und Kapital

Die Führungen von DGB, IG Metall, ver.di und Co. tragen die Verantwortung dafür, dass die Gewerkschaften mitunter wie Pressestellen der Bundesregierung agieren. Vermittelt über die enge Verbindung mit der regierenden SPD wird dem Kapital die servile, privilegierte Treue gehalten. Bloß kein Klassenkampf!

Der Apparat der Gewerkschaften, aber auch der Betriebsräte in den Großunternehmen ist derart in den deutschen Kapitalismus, in seine Konzerne und seinen Staat eingebunden, dass er selbst über weite Strecken wie eine politisch-ideologische Polizei fungiert. Die Ideologie der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeiter:innen und Kapital ist der ideelle Ausdruck dieser sozialen Funktion – und zugleich Mittel, die Illusionen in die „soziale“ Marktwirtschaft am zuverlässigsten zu verbreiten.

Dass der institutionalisierte Klassenkompromiss so tiefe Wurzeln geschlagen hat, diese Ideologie auch noch besonders hartnäckig verteidigt wird, wenn sie immer weniger Resultate erzielt, hängt mit tiefen Faktoren zusammen.

Charakter des gewerkschaftlichen Kampfes

Einer hängt eng mit dem Wesenskern des gewerkschaftlichen Kampfes zusammen. Für sich genommen stellt dieser das Lohnarbeit-Kapital-Verhältnis nicht in Frage. Im Gegenteil, Preis und Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft, also Löhne und Arbeitszeit, bilden dessen Kern. Dieser ökonomische Kampf ist einerseits unerlässlich, um überhaupt sicherzustellen, dass die Lohnabhängigen ihre Arbeitskraft zum Wert verkaufen, also ihre Reproduktion sichern können. Andererseits geht mit dem Lohnkampf auch die Vorstellung einher, dass ein „gerechter Lohn“ nicht bloß die Reproduktionskosten der Arbeitskraft decken würde, sondern auch der gesamten geleisteten Arbeit entsprechen würde. Hinter der Vorstellung von „fairen“ Löhnen, die in der kapitalistischen Gesellschaft automatisch das Bewusstsein der Lohnabhängigen prägen, verschwindet der Mehrwert, die eigentliche Basis des kapitalistischen Reichtums.

Die gesamte Ideologie der Sozialpartner:innenschaft, die gesamte Vorstellung vom „gerechten Ausgleich“ zwischen allen Klassen baut auf diesem falschen Bewusstsein auf. Die Stellung der Gewerkschaftsbosse beruht auf ihrer Funktion als Profis bei der Aushandlung eines „fairen Lohns“ und darauf, die Gewerkschaften auf den ökonomischen Kampf und reformistischen Ausgleich zwischen den Klassen zu beschränken.

Bürokratische Kaste

Für den Tausende Funktionär:innen zählenden bürokratischen Apparat lohnt sich zudem diese Ideologie und Praxis in Form von Aufsichtsratsposten, Karrieren und zum Teil einem Einkommen, das das eines/r prekären Lohnabhängigen, um das mehr als 10-Fache übersteigt. Natürlich umfasst diese Kaste auch untere Schichten, gewissermaßen Einsteiger:innen, Trainees, die ihre Eignung zum/r Gewerkschaftssekretär:in erst unter Beweis stellen müssen.

Auch wenn dieser Apparat auf dem Boden des rein gewerkschaftlichen Kampfs und seiner politischen Verlängerung im Reformismus entstanden ist, so kann eine so große Bürokratie wie in Deutschland nur auf Grundlage eines bestimmten globalen Klassenverhältnisses entstehen und dauerhaft reproduziert werden. Die Bürokratie weiß auch, wem sie das verdankt. Ihre Existenz knüpft sich an zwei Bedingungen.

Erstens ist sie selbst Ausdruck einer bessergestellten Schicht in der Arbeiter:innenklasse, der Arbeiter:innenaristokratie. Für sie vermag die Bürokratie auch immer wieder noch was rauszuholen oder für die Mitgliedschaft zumindest halbwegs akzeptable Abwehrkämpfe zu führen, oft genug auf Kosten anderer Teile der Klasse oder Belegschaften. Abseits davon stellen Gewerkschaften zudem Rechtsschutz, Brillenzuschläge oder Wohnzuschüsse nur für Mitglieder, was auch einen guten Teil der Mitgliedschaft bindet. Der Umfang einer solchen Aristokratie hängt jedoch nicht vom Geschick der Gewerkschaftsführungen ab, sondern ganz entscheidend auch von der Stellung des nationalen Kapitals auf dem Weltmarkt, von der Fähigkeit, Extraprofite aus der Überausbeutung der Arbeiter:innenklasse in den vom Imperialismus beherrschten Ländern zu ziehen. Daher auch die Tendenz von nationalen Gewerkschaften oder Betriebsratsfürst:innen, „ihren“ Betrieben, „ihren“ Standorten, „ihren“ Unternehmen in der globalen Konkurrenz beizustehen und diese nationalchauvinistische Ideologie in den Belegschaften zu stärken.

Zweitens hängt die Bürokratie auch am Futtertrog der Bosse und des Staates selbst. Sie ist dort unterm Strich eine in Tarifkämpfen vielleicht manchmal nervige, aber im Ganzen sehr nützliche Aus-der-Hand-Fresserin aus Sicht des Kapitals. Ist sie doch eine korrumpierbare Verhandlungspartnerin, die gerade wegen ihrer Privilegien gar keinen Bock darauf hat, Arbeitskämpfe bis zur Erfüllung der allerletzten Forderung durchzufechten. Erst recht hegt sie kein Interesse, die Kontrolle über diese Kämpfe an die Klasse selbst abzugeben, warum auch? Sie wäre vor allen Augen als überflüssig offenbart.

Daher bewegt sich die Gewerkschaftsbürokratie auch immer entlang einer Grenzlinie zwischen dem Angewiesensein auf eine große Mitgliedschaft einerseits und ihrer chronischen Nichteinbindung in Aktivitäten andererseits.

Nur alle paar Jahre, in operettenhaft ritualisierten Tarifrunden, wird in Betrieben selbst mobilisiert. Vielleicht auch mal zum Ersten Mai, wobei jene, die da auf die Straße gehen, in der Mehrzahl selbst betriebliche oder gewerkschaftliche Funktionsträger:innen sind, also Leute, die auf die eine oder andere Weise selbst in den Apparat eingebunden sind.

Heißer lauwarmer Herbst

In Zeiten der Hochkonjunktur vermochte die reaktionäre sozialpartnerschaftliche Politik, nicht nur die privilegierten Teile der Klasse, sondern die Masse der Lohnabhängigen in einen gewissen „Ausgleich“ zu integrieren, der mit der Ausweitung des sog. Sozialstaates und sozialer Rechte verbunden war. Diese erodieren seit Jahren. Umso hartnäckiger hält aber die Bürokratie an der Klassenzusammenarbeit fest, vereinigt die Basis der Gewerkschaften auf kleiner werdende, aber besser organisierte und besser bezahlte Sektoren, die oft für die Profitmacherei von entscheidender Bedeutung sind. Gegenwärtig befinden wir uns freilich in einer Lage, wo selbst die tradierte Arbeiter:innenaristokratie mehr und mehr in Frage gestellt wird – was die Widersprüche in den Gewerkschaften objektiv vertieft und den Handlungsdruck auf die Apparate erhöht.

Doch selbst wenn sich der DGB unter dem Eindruck größer werdender Proteste an Mobilisierungen gegen Energiekrise und Preisexplosion flächendeckend beteiligen sollte – teilweise tun das lokale Gliederungen von Mitgliedsgewerkschaften ja auch schon – der Zustand der Gewerkschaften ist ein denkbar schlechter, um den Kampf gegen die Krise zu gewinnen. Und wie oben gezeigt, kommt die Misere nicht von ungefähr. Die Führungskrise der Arbeiter:innenklasse und die Krise der Gewerkschaften sind aufs Engste miteinander verschränkt. Alles, was sie derzeit anbieten, ist ein unentschlossenes Lauwarm, aber davon lässt sich keine Wohnung heizen.

Es führt Mitglieder in die Resignation, den Austritt oder in die Fänge der Rechten. Denn gepaart mit der Krise der Linken stehen wir vor einer Situation, wo der Wettlauf um die Führung eines heißen Herbstes für die organisierte Arbeiter:innenbewegung schwer zu gewinnen ist. Rechte und faschistische Kräfte halten in Städten wie Leipzig oder Plauen bisher eindeutig die Initiative in der Hand und versuchen, die Krise für ihr eigenes reaktionäres Programm zu nutzen. Wenn sie auch kein kohärentes Programm bieten, Nord Stream 2 öffnen wollen und die Klimakrise wegleugnen, so stellen sie doch den Platz für Wut dar.

Und auch der DGB selbst hat es mitzuverantworten, dass unter seinen Mitgliedern die AfD mehr Zuspruch erfährt als im Bundesschnitt. Längst zählt die AfD in Sachsen unter Gewerkschaftsmitgliedern zu den beliebtesten Parteien, vor der SPD und LINKEN.

Ohne Großmobilisierung, ohne glaubwürdiges Programm gegen die Teuerungen ist der Forderungskatalog des DGB nicht ernst zu nehmen. Das Feld bleibt den Rechten überlassen, gegenüber denen der DGB seit vielen Jahrzehnten in seinen eigenen Reihen keine tauglichen Antworten liefert. Ein bisschen Bildung hier, ein Hashtag da reichen nicht. Gegen die Aufnahme Geflüchteter sträubte sich der DGB, gegen den Rauswurf rechter, nicht erst in letzter Instanz arbeiter:innenfeindlicher Kräfte auch.

Dabei ist der rechte Sumpf nur trockenzulegen, wenn Unzufriedenheit und Wut in eine Bahn gelenkt werden, die eine glaubwürdige Perspektive aufweist. Der Reformismus der Gewerkschaften repräsentiert diese in Krisenzeiten zusehends schlechter, denn sie steuert permanent darauf zu, einen kriselnden Kapitalismus retten zu müssen, um die eigenen Begünstigungen zu behalten, bezahlt mit Verrat, Stillhalten und Halbheiten.

Gewerkschaftsopposition

Und so wird zwangsläufig der Kampf gegen die Inflation, für einen Energiepreisdeckel, für das Begleichen der Rechnung durch die Reichen und die Krisengewinner:innen zu einem gegen den bürokratischen Zwangsapparat der Gewerkschaften.

Sie müssen aufgefordert werden, voll zu mobilisieren und der Ampel den Kampf anzusagen.

Nicht, dass wir die Illusion hätten, dass sie das einfach so machen. Die Führung der Gewerkschaften und des DGB wird sich erst bewegen, wenn große Teile einfacher Gewerkschaftsmitglieder schon auf der Straße sind oder Druck machen. Eine ähnliche Geschichte erzählen die Proteste gegen die Hartz-Gesetze, eine Geschichte, die uns warnt.

Denn selbst wenn der DGB den Arsch hoch kriegt, mobilisiert, Großdemos abhält und eine Führungsrolle gegen die Krise einnehmen sollte, kann die Bürokratie das Ganze auch genauso schnell wieder abblasen. Das zeigt die Geschichte der Anti-Hartz-Proteste.

In jedem Fall werden Fahimi, Hofmann und Werneke immer mit einem Fuß auf der Bremse stehen, Mittel wie einen politischen Streik oder gar einen Generalstreik werden sie gesetzestreu bekämpfen. Ihre Bürokratien sind längst zum ersten Hindernis für erfolgreiche gewerkschaftliche Kämpfe geworden. Lange bevor man mit den Bossen oder den Bullen konfrontiert ist, stellen sich Gewerkschaftsapparatschiks und Betriebsratsfürst:innen in den Weg.

Dagegen ist der Aufbau einer innergewerkschaftlichen Opposition mit eigenen Strukturen dringend notwendig.

Die beste Keimzelle für eine antibürokratische, klassenkämpferische Strömung stellt seit drei Jahren die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften dar. Aber sie ist vergleichsweise klein und stagniert im Ganzen.

Viele Kräfte der radikalen Linken beteiligen sich bisher nicht an ihrem Aufbau, entweder weil sie das organisatorische Gewicht der Gewerkschaften für die Arbeiter:innenklasse negieren oder unterschätzen oder weil sie selbst im Apparat aufgingen oder es anstreben. Vielleicht sogar ehrgeizig und mit dem ehrlichen Ziel, etwas für die Klasse zu tun, wie so viele vor ihnen, die sich dann eines Tages im Spiegel betrachteten und in das Gesicht einer selbstzufriedenen Bürokratie blickten und das Problem nicht mehr erkannten.

Für alle Linken und kämpferischen Gewerkschafter:innen ist essenziell zu verstehen: Es ist nicht möglich, einfach die bestehenden Gewerkschaftsstrukturen zu übernehmen und besetzen. Für Aktivist:innen, die dies individuell und ohne Basis in den Betrieben versuchen, ergeben sich drei Wege: Isolation als linkes Feigenblatt, Einbindung in den Apparat bei Aufgabe der eigenen Politik, ihr Ausschluss.

Der Apparat ist ideologisch und strukturell so gestrickt, dass er nicht einfach klassenkämpferisch übermalt werden kann. Eine kämpferische Antwort auf die Inflation ist von ihm nicht zu erwarten. Allenfalls kann sie ihm von unten aufgezwungen werden. Nur eine organisierte, koordinierte oppositionelle Bewegung, die sich explizit als antibürokratisch versteht, kann ihn herausfordern und perspektivisch die Gewerkschaften basisdemokratisch reorganisieren.

Programm

Aber dafür braucht es auch ein Programm, um das Aktivist:innen und kritische Gewerkschaftsmitglieder versammelt werden können. Es muss die Krise der Gewerkschaften korrekt analysieren und die Anforderungen an sie benennen. Gegenwärtig bedeutet das: Volle Mobilisierung gegen die Teuerungen, Schluss mit den Sanktionen, Durchsetzung mit Großdemos und politischen Streiks. Zugleich muss bei allen Diskussionen um die Gasversorgung dem Klimawandel Rechnung getragen werden. Die Eröffnung von Nord Stream 2 ist nicht nur unnötig, sondern auch ökologisch katastrophal.

Ebenso müssen Kampftaktiken benannt werden: Aufbau oppositioneller Betriebsgruppen, bei Kämpfen: selbstgewählte Komitees, demokratische Entscheidungen über Forderungen und Kampfmethoden direkt durch die Belegschaften.

Und wie sollen die Gewerkschaften künftig aufgebaut sein? Anstatt bürokratischer Strukturen muss für die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit aller Funktionen gekämpft werden genauso wie für das Verbot, Aufsichtsratsposten zu besetzen oder mehr als den Durchschnittslohn von Arbeiter:innen zu verdienen.

Endlich bedarf die Entwicklung eines solchen Programms einer politisch bewussten Instanz: einer revolutionären Arbeiter:innenpartei. Spontan und innerhalb der Gewerkschaften entsteht kein sozialistisches oder revolutionäres Klassenbewusstsein. Es bleibt Aufgabe von Revolutionär:innen, es in die Klasse, in die Gewerkschaften hineinzutragen.




Dänemark: Scheitern der „neuen“ Sozialdemokratie

Markus Lehner, Neue Internationale 267, September 2022

Seit einigen Jahren wurde die „Modernisierung“ der dänischen Socialdemokraterne unter ihrer Frontfrau Mette Frederiksen als so etwas wie das Modell für die europäische Sozialdemokratie gefeiert. Jetzt deutet vieles darauf hin, dass bei vorgezogenen Neuwahlen im Herbst der Mette-Stern wieder im Sinken begriffen ist.

Rechtsruck

Auch Dänemark war im letzten Jahrzehnt durch das Aufkommen des Rechtspopulismus rund um die Migrationsfragen nach rechts gerückt. Bei der Folketingwahl 2015 hatte die Antimigrationspartei Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei), vergleichbar der AfD zu jener Zeit, um die 20 % der Stimmen bekommen und war so im bürgerlichen Lager zur stärksten Partei geworden. Die wichtigste offen bürgerliche Partei, mit dem irreführenden Namen Venstre (übersetzt eigentlich Die Linke, die wohl im 19. Jahrhundert als linksliberale galt) bildete unter Duldung auch der Rechtspopulist:innen eine Minderheitsregierung unter Løkke Rasmussen. Die in Opposition geschickte Sozialdemokratie „erneuerte“ sich daraufhin unter ihrer neuen Vorsitzenden Mette Frederiksen, indem sie weitgehend die rassistische Einwanderungspolitik der Rechtspopulist:innen übernahm, diese aber mit einem sozialen Programm nur für „einheimische“ Dän:innen koppelte. Tatsächlich konnte dann bei der Wahl 2019 die Sozialdemokratie wieder mit über 25 % zur stärksten Partei werden – gleichzeitig halbierten sich die Rechtspopulist:innen der Dänischen Volkspartei auf unter 10 %. Dies ging jedoch nicht nur zu Gunsten der Sozialdemokrat:innen – auch die anderen bürgerlichen Parteien, insbesondere Venstre und die Konservative Volkspartei waren nach rechts gerückt und gewannen Anteile von den Rechten. Insgesamt reichte es aber für eine Minderheitsregierung der Sozialdemokrat:innen.

In Dänemark sind Minderheitsregierungen der Normalfall. Es wird von einem roten Block um die Sozialdemokrat:innen, einem blauen Block um Venstre und die Konservativen ausgegangen, die abwechselnd Minderheitsregierungen bilden. Nach dänischem Recht bleiben diese im Amt, solange aus dem jeweiligen Block keine explizite Ansage getroffen wird, dass die Regierung nicht mehr unterstützt wird. Im roten Block befinden sich traditionell die Sozialistische Volkspartei (SF, die zwar aus einer eurokommunistischen Abspaltung der Kommunistischen Partei hervorgegangen ist, aber nicht zufällig im Europaparlament in der grünen Fraktion sitzt; sie bildet eine etwas linkere Version der deutschen Grünen) und die Rot-Grüne Einheitsliste (die Schwesterorganisation der deutschen LINKEN). Wesentlicher Bestandteil des Blocks ist aber immer auch eine offen bürgerliche Partei, die Radikale Venstre (vor Jahrzehnten als linksliberale Abspaltung aus Venstre hervorgegangen). Diese Radikalen sorgen jeweils dafür, dass die sozialdemokratischen Regierungen „maßvolle“ Sozial- und Steuerpolitik betreiben. Bei der Wahl 2019 ging es 52 % zu 48 % für den „roten Block“ aus. Somit war auch die Einheitsliste (mit ihrem 7 %-Anteil) durch ihre Tolerierung mitbeteiligt an solchen rassistischen Gesetzen wie der Unterbindung von „Ghettobildung“ durch Quoten für den Zuzug von MigrantInnen in bestimmte Gemeinden.

EU-Imperialismus

Die Regierung Frederiksen stand auch sonst während der Coronakrise und im Gefolge dem Ukrainekrieg ganz auf Linie der europäischen Bourgeoisie. Dänemark ist vorne dran bei Waffenlieferungen, Aufrüstung (insbesondere der Marine). Außerdem setzte Frederiksen per Volksabstimmung durch, dass Dänemark nun auch der europäischen Verteidigungsgemeinschaft beitritt, wogegen früher vehement opponiert wurde. Dänemark erreichte hierzu bei den europäischen Verträgen eine Ausnahme, die nun aufgehoben wird. Nur die Einheitsliste opponierte, hielt aber an der Tolerierung fest. Außerdem ist Frederiksen eine radikale Unterstützerin aller Aspekte der israelischen Politik und benützt dies regelmäßig zur Begründung rassistischer Politik gegen Migrant:inen aus arabischen Ländern und deren linke Unterstützer:innen mithilfe von Vorwürfen des auf Israel bezogenen Antisemitismus‘. Kurz gesagt war Frederiksen in fast allen Aspekten für die rechte Sozialdemokratie in Europa so etwas wie die Anti-Corbyn.

Dass sie jetzt gerade trotzdem von der dänischen Bourgeoisie in Gestalt der Radikalen gestürzt wird, ist bemerkenswert. Vordergründig geht es um eine Untersuchungskommission zur Schlachtung der Nerzbestände während der Coronakrise. Dabei kam wohl heraus, dass die Regierung (wie viele andere in der Coronakrise) im rechtlichen Graubereich agierte, als sie auf Studien der Übertragung von Coronaviren durch Nerze die Massenkeulungen anordnete. Offensichtlich ist dies ein Vorwand. Umfragewerte hatten seit einiger Zeit einen Umschwung zugunsten des blauen Blocks gezeigt. Die dänische Bourgeoisie sieht wohl die Notwendigkeit, in einer wirtschaftlichen Krisensituation möglichst nicht über eine Regierung zu verfügen, die Rücksichten auf Gewerkschaften und Linke nehmen muss. Sowohl Gewerkschaften wie Einheitsliste drängen auf Preiskontrollen, Mietpreisbremsen und in bestimmten Bereichen auch auf Verstaatlichungen – und finden dafür auch in Teilen der Sozialdemokratie breite Unterstützung. Die rechten Parteien setzen dagegen auf Steuererleichterungen, was auch die Radikalen für den besseren Weg sehen. Dafür haben sie jetzt die „Nerzaffäre“ genutzt, um zu erklären, dass sie die Regierung Frederiksen nicht mehr unterstützen werden. Da Steuerpolitik zugunsten der Reichen und Nerze allein sicher keine Wahlen gewinnen lässt, spielt zufällig auch der Rechtspopulismus wieder seine Rolle.

Neuwahlen

Auch wenn der Niedergang der Dänischen Volkspartei weitergeht, so ist doch eine neue rechtspopulistische Alternative aufgetaucht: Ein Mitglied der ehemaligen Venstre-Regierung, Inger Støjberg, hatte als Integrationsministerin gesetzeswidrig migrantische Eheleute getrennt und war dafür sogar zu 60 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Nunmehr aus Venstre ausgetreten, gründete sie eine neue Partei, nach schwedischem Vorbild Dänemarkdemokraten genannt. Als „Heldin“ des Antimigrationskampfes und stramme EU-Establishmentkritikerin sammelte sie sofort eine große Anhängerschaft und katapultierte ihre Partei auf Anhieb auf 11 % in den Umfragen. Wiederum ist sich der blaue Block nicht zu schade, diese noch übleren Rechten in ihre Reihen aufzunehmen. Konservative und Venstre schachern gar schon darum, wer von beiden künftig den Ministerpräsidenten stellt (es gibt dafür nur zwei männliche Kandidaten). Entsprechend sind die Sozialdemokrat:innen auf 21 % abgesackt so wie der rote Block insgesamt auf 48 %. Allerdings durchkreuzt der ehemalige Ministerpräsident Løkke Rasmussen die Rechnung, da er mit seiner Abspaltung von Venstre, den Moderaten, aus beiden Blöcken ausscheiden und eine „große Koalition“ (wohl unter seiner Führung) erzwingen will.

Es sieht also nach „Zeitenwende“ in Dänemark aus, allerdings in jedem Fall nicht im Sinne der Arbeiter:innen und migrantischen Menschen. Die Sozialdemokrat:innen, statt aus dem Debakel ihrer Rechtswende zu lernen, werden weiterhin versuchen, sich als die Rassist:innen mit sozialem Antlitz und als getreue NATO-Kriegstreiber:innen zu präsentieren mit linker Flankendeckung durch die SF. Allerdings hat die Rechtswende ihnen gerade in den Großstädten wie Kopenhagen oder Odense starke Verlust nach links, insbesondere in Richtung Einheitsliste gebracht (in Kopenhagen wurden letztere zur stärksten Kommunalpartei). Auch in den Umfragen legen SF und Einheitsliste auf jeweils 9 % zu. Auch wenn die Einheitsliste sich in den letzten Jahren als Steigbügelhalterin der Rechtswende der Sozialdemokratie betätigt hat, vereinigt sie jetzt schon im Vorwahlkampf all diejenigen hinter sich, die für Antirassismus, Antimilitarismus und Forderungen nach Umverteilung von oben nach unten in Zeiten der Inflation kämpfen wollen. Es mag sein, dass ein größerer Teil der organisierten Arbeiter:innenklasse weiterhin Sozialdemokratie wählen will, aber mit Inkaufnahme oder gar Unterstützung des rassistischen Kurses der Partei. Die Einheitsliste vereinigt daher die fortschrittlichen Teile der Arbeiter:innenklasse hinter sich, und sollte daher im Wahlkampf auch kritisch unterstützt werden. Eine Antikrisenbewegung in Dänemark, die sich gerade gegen die rechte Frederiksen-Sozialdemokratie herausbildet, kann tatsächlich ein Zeichen für die ganze EU setzen. Dies erfordert aber auch letztlich, dass sich jenseits der Einheitsliste und der in ihr vertretenen zentristischen Organisationen in diesen Kämpfen wieder eine neue revolutionäre dänische Arbeiter:innenpartei herausbildet.




1918: Die Gründung der revolutionären KPÖ

Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), ursprünglich erschienen in Flammende 1, Infomail 1196, 19. August 2022

Hiermit veröffentlichen wir einen schon älteren Artikel. Er wurde im Oktober 1993 unter dem Titel „Vor 75 Jahren: Gründung der revolutionären KPÖ“ in unserer Zeitung „ArbeiterInnenstandpunkt“ Nr. 55 von unserem damaligen Genossen Manfred Scharinger publiziert.

Hintergrund

Als die KPÖ am 3. November 1918 in den Eichensälen in Wien-Favoriten gegründet wurde, gehörte sie zu den ersten Kommunistischen Parteien der Welt und war im heutigen West- und Mitteleuropa sogar die allererste Gründung. Gleichzeitig war dieser formale Akt ein vorläufiger Abschluss in einem länger andauernden Differenzierungsprozess im Schoße der deutschen Sozialdemokratie in Österreich. Die am konsequentesten mit der russischen Revolution in Solidarität Stehenden vollzogen den Schritt zur eigenständigen politischen Kraft.

Zweitens war diese Gründung eingebettet in eine politisch aufs äußerste zugespitzte Situation in Mitteleuropa: Die Hohenzollernmonarchie in Deutschland stand im Herbst 1918 ebenso vor dem Ende wie die Habsburgerdynastie, deren Österreich-Ungarn im Oktober in Nationalstaaten zerfiel. Beide teilten das Schicksal des russischen Zarismus, der schon im März 1917 von den Petersburger Massen in die Knie gezwungen wurde. Nach russischem Vorbild entstanden
überall Arbeiter:innenräte – vier lange Kriegsjahre hatten weite Teile der Gesellschaft von ihrer anfänglichen Kriegsbegeisterung geheilt und Platz gemacht für Friedenssehnsucht und revolutionäres Gedankengut. Auch in Österreich schien der Weg bereitet für eine Lösung der Krise ähnlich wie in Russland, dessen soziale Revolution das Europa der Monarch:innen von Grund auf umzugestalten begonnen hatte.

In den ersten Monaten nach der Gründung der KPÖ (bzw. der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs – KPDÖ-, wie sie bis Jänner 1921 hieß) war das Proletariat die entscheidende Kraft in Österreich. Julius Braunthal, einer der Parteitheoretiker der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SdAP), stellte fest: „Die österreichische Arbeiterklasse hat seit November 1918 zu jeder Stunde die Macht, die Rätediktatur zu errichten“. Und Otto Bauer, der SP-Parteiführer, bemerkte in seiner „Österreichischen Revolution“: Jede bürgerliche Regierung wäre „binnen 8 Tage in Straßenkämpfen gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden“. Nur eine Partei war in der Lage, eine Revolution in Österreich aufzuhalten: die SdAP, der es gelungen war, sich die Massenloyalität der radikalisierten Arbeiter:innenklasse zu erhalten. Ihrer Führung glückte das Kabinettstück, die revolutionären Erwartungen so weit zu kanalisieren, dass das kapitalistische System erhalten blieb, ohne dass gleichzeitig größere Teile der Basis zur neugegründeten Kommunistischen Partei überliefen. Diese Erblast wird die KPÖ von ihrer Gründung bis heute begleiten: Die übermächtige Konkurrenz der Sozialdemokratie im Lager der Arbeiter:innenklasse.

Vorgeschichte

Die österreichische Sozialdemokratie war in ihrer Geschichte immer auf zwei Dinge ganz besonders stolz: erstens auf ihre Rettung Österreichs „vor dem Bolschewismus“. Und zweitens darauf, dass in der SdAP bzw. der SPÖ nach 1945 quasi die Einheit der Arbeiter:innenklasse repräsentiert sei – mit einer KPÖ als zu vernachlässigender und entweder belächelter oder dämonisierter Restgröße. Wo liegen nun die Gründe dafür, dass die KPDÖ nach 1918 nicht zur Massenkraft wie z.B. ihre deutsche Schwesterpartei werden konnte? Der Grund ist ganz sicher nicht in einem besonderen, fast mythischen Einheitsstreben des österreichischen Proletariats zu suchen – eine populäre Erklärung, die von Viktor Adler bis Bruno Kreisky immer wieder bemüht wurde. Genauso wenig ein besonderer Antikommunismus der SPÖ – ein Argument, mit dem sich die KP-Führer:innen vor jeglichem Anteil an der spezifischen Schwäche des österreichischen „Kommunismus“ freizusprechen trachteten. Die SPD war in ihrer Geschichte nicht weniger antikommunistisch, und trotzdem war die KPD die stärkste Partei der Kommunistischen Internationale außerhalb der UdSSR. Stattdessen liegen die Gründe in den Bedingungen, mit denen die KP bei ihrer Gründung konfrontiert war und in Fehlern der jungen, unerfahrenen KP-Führung.

Anders als im Falle der russischen Bolschewiki, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die notwendige Spaltung der Sozialdemokratie in revolutionäre und reformistische Kräfte vollzogen hatten, existierte in Österreich nie eine durchgehende revolutionäre Opposition. Dies behinderte ganz wesentlich die Herausbildung einer revolutionären Alternative zur Sozialdemokratie auch nach 1914, als die SdAP mit fliegenden Fahnen ins Lager der Vaterlandsverteidigung übergewechselt war und die Arbeit an der Gründungeiner neuen revolutionären und internationalistischen Arbeiter:innenpartei notwendig geworden war. Eine organisierte Linksopposition bestand im Unterschied zu Deutschland, wo Karl Liebknecht gegen die Kriegskredite im Reichstag gestimmt hatte, nicht. Einzig dem Reichenberger „Vorwärts“ (Nordböhmen) gebührt die Ehre, wegen seiner Antikriegsartikel verboten worden zu sein. Erst langsam bildete sich im Verlauf des Weltkrieges, als die Massenstimmung bereits zu schwanken begann, auch in Österreich eine klarer umrissene Oppositionsströmung gegen die Kriegspolitik der sozialdemokratischen Parteiführung heraus. Friedrich Adler, der gewichtigste Exponent dieser „Linken“ – wie sie sich selbst nannte – hatte 1916 den amtierenden Ministerpräsidenten, Graf Stürghk, aus verzweifeltem Protest gegen die Burgfriedenspolitik der SdAP-Führung erschossen.

Im Kreise der oppositionellen Sozialdemokrat:innen ergaben sich 1916/1917 zwei getrennte Entwicklungslinien: Einerseits kam es zu einer Versöhnung der „Linken“ mit der SdAP-Parteiführung, und andererseits setzte sich die Bewegung der „Linksradikalen“, einer Minderheitsströmung der „Linken“, zunehmend stärker von der SdAP-Führung und den nun wieder mit ihr versöhnten „Linken“ ab: Mit ihrer kompromisslosen Antikriegspolitik („Nieder mit dem imperialistischen Krieg! Es lebe der Klassenkampf! Er allein kann dem Krieg ein Ende bereiten! Arbeiter seid bereit!“- so der Schluss eines 1917 illegal verbreiteten Flugblattes) konnte sie vor allem unter proletarischen Jugendlichen und sozialistischen Student:innen viel Sympathie gewinnen – im Frühjahr 1917gewann die linksradikale Richtung vorübergehend sogar die Oberhand unter den sozialistischen Jugendlichen. Natürlich kam ihr dabei die internationale Entwicklung zugute: Die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 in Russland standen Pate für den Aufschwung der proletarischen Bewegung, und wenn die Linksradikalen – nunmehr bereits als „revolutionäre Sozialisten“ – in einem Aufruf an die Arbeiter:innen des Artilleriearsenals schrieben: „Lernet Russisch, lernet von Petersburg!“, so konnten sie sich der Zustimmung der fortgeschrittenen Arbeiter:innen sicher sein.

Jännerstreik 1918

So hatten, als der Jännerstreik 1918 begann, die „Linksradikalen“ in Wien, vor allem aber in Wiener Neustadt und im Wiener Becken, eine beschränkte Massenbasis und Einfluss vor allem unter den fortgeschrittensten Arbeiter:innen. Der Jännerstreik wurde damit zur ersten entscheidenden Auseinandersetzung zwischen der jungen „linksradikalen“ Bewegung, die die Notwendigkeit eines Bruches mit der SdAP-Parteiführung erkannt hatte, und der „alten“ Sozialdemokratie. Die Bewegung gewann rasch an Stärke und wurde – vor allem im Wiener Neustädter Gebiet – schnell zu einem politischen Streik: Sofortige Annahme des Friedensangebotes der russischen Arbeitermacht war die Losung der Stunde.

Doch der sozialdemokratischen Parteiführung gelang das Abwürgen der Bewegung: Zu unerfahren waren die Führer:innen der „Linksradikalen“, zu sehr war es der Parteiführung gelungen, die schweren Bataillone des Proletariats von ihrer Friedenssehnsucht und Kampfbereitschaft zu überzeugen – und zu sehr lastete noch das Gewicht des Militärapparates auf der ersten großen revolutionären Streikbewegung, die mitten im Krieg die Monarchie an den Rand des inneren Zusammenbruchs gebracht hatte. Doch dieser Jännerstreik hatte noch eine zweite, für die Gründung der KPDÖ wichtige Seite: Der nach dem Abbruch der Bewegung folgenden Repressionswelle fielen v.a. die wenigen überzeugten „Linksradikalen“ zum Opfer. An die Front abkommandiert, ins Gefängnis geworfen oder aber demoralisiert von der Niederlage in der Bewegung, der im Juni 1918 eine zweite in einer Niederlage endende Streikbewegung folgte, sollten sie bis zum Untergang der Monarchie im Herbst zu ohnmächtigen Zuschauer:innen degradiert werden.

Im Frühjahr 1918 trat neben den „Linksradikalen“ eine weitere revolutionäre Gruppe um das Ehepaar Elfriede und Paul Friedländer (1) in Erscheinung. Gemeinsam mit dem sich ihnen anschließenden Kreis um Klaus Steinhardt führten sie eine streng konspirative Arbeit und blieben so, nachdem die „Linksradikalen“ vom Staatsapparat zerschlagen wurden, die einzig intakte marxistische Struktur, die dazu noch eine monatliche Zeitung, „Der Weckruf“, herausgab. So wurde die „Weckruf“-Gruppe zum Motor der Parteigründung.

Die Zerschlagung der „Linksradikalen“, die im ostösterreichischen Proletariat verankert waren, und die Festigung der Kontrolle der Bürokratie über die sozialdemokratischen Parteiorganisationen nach der Niederlage der Jännerstreiks 1918 erschwerten die revolutionäre Massenarbeit ungemein. Trotzdem: Der Zerfall des Habsburgerreiches im Oktober 1918 und allgemeine Zuspitzung der Kriegswirren machten klar, dass in Mitteleuropa die Revolution auf der Tagesordnung stand. Die Kommunist:innen zogen daraus völlig zurecht die logische Schlussfolgerung: Keine Zeit ist zu verlieren – eine Kommunistische Partei muss gegründet werden.

Nach der Gründung

Die Gründungsversammlung am 3.11.1918 selbst wurde nicht öffentlich angekündigt. Die Herausgabe eines Agitations- und Propagandaorgans wurde beschlossen, dass zuerst als „Weckruf“ dreimal pro Woche erschien und 1919 als „Rote Fahne“ zur Tageszeitung wurde. Mit mehreren Flugblättern wurden die Arbeiter, Soldaten und die „geistigen Arbeiter“ zum Beitritt in die neue Partei aufgefordert. Die Wiener Bezirksversammlungen vom 4.-12.11. waren allerdings eher mäßig besucht, was auf die relativ schwache Verankerung der Organisation hindeutet.

Dazu kam noch, dass es erst schrittweise gelang, die anderen revolutionären Kräfte außerhalb des FriedIänder/Steinhardt-Kreises für den Beitritt zu gewinnen. Die „alten Linksradikalen“ um Koritschoner wollten ursprünglich in der Sozialdemokratie Fraktionsarbeit leisten, schlossen sich aber dann am 7.12. der KPDÖ an. Dazu kamen dann auch noch die aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Linken (wie Tomann und Koplenig) sowie viele revolutionäre Jugendliche, die aus dem sozialdemokratischen Jugendverband ausgeschlossen wurden oder ausgetreten waren. Etwas später stießen dann schließlich noch die Linke der jüdischen Arbeiterpartei Poale Zion sowie die „Föderation revolutionäre Sozialisten ‚Internationale‘“ hinzu.

Versagen der SdAP-Linken

Die Linken innerhalb der reformistischen Partei blieben großteils ihrer Haltung während des Krieges treu: Radikal reden, aber um jeden Preis in der Partei bleiben. Zu einem beträchtlichen Teil gelang es der alten Führung um Victor Adler und Karl Renner 1917,die Linken zu integrieren, die sich dafür mit einer loyalen, pro-kapitalistischen Politik bedankten. Bekannt ist der Ausspruch Otto Bauers: „Arbeiter und Soldaten hätten jeden Tag die Diktatur des Proletariats aufrichten können. Es gab keine Gewalt, sie daran zu hindern“. Der verbal radikalere Friedrich Adler, Attentäter von 1916, sprach sich zwar in Worten für die „Diktatur des Proletariats“ aus, wenn es aber darum ging, die Massen für den Sturz der bürgerlichen Herrschaft zu mobilisieren, versagte er komplett. AII das wurde mit Phrasen, um jeden Preis die Einheit der Partei (unter dem Deckmantel der „Einheit des Proletariats“) aufrecht erhalten zu wollen, gerechtfertigt.

Schließlich gab es noch die besten Elemente der SdAP-Linken, einerseits die Reichenberger Linke um Isa und Josef Strasser (Verfasser der Broschüre „Der Arbeiter und die Nation“), die sich umgehend der KPDÖ anschloss und andererseits die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft Revolutionärer Arbeiterräte (SARA) um Josef Frey und Franz Rothe. Letztere war von der Notwendigkeit der proletarischen Revolution überzeugt und wollte die SdAP für ein revolutionäres Programm und für den Anschluss an die kommunistische Internationale (Komintern) gewinnen. Sie übte vor allem innerhalb des Wiener Arbeiterrates eine einflussreiche Rolle aus. Doch so sehr sie auch gegen die reformistischen Verräter in der SdAP-Führung kämpfte, so schreckte sie doch vor der letzten Konsequenz zurück. Entgegen der Aufforderung der Komintern, „Vernichtungskampf gegen die österreichische Sozialdemokratie… und Vereinigung mit der KPDÖ“, schreckten Frey-Rothe in den entscheidenden Monaten 1919 vor der letzten Konsequenz, der Spaltung der SdAP und dem Anschluss an die KPDÖ, zurück. Zwar traten die revolutionärsten Teile der SARA im Jänner 1921 dann doch über und spielte gerade Josef Frey eine wesentliche Rolle in der KPDÖ, aber dieser Schritt kam zu spät. Gerade am Höhepunkt der Krise, als auch die SARA einen bedeutenden Einfluss in der Arbeiter:innenklasse besaß, gerade in dieser Situation wäre ein Bruch mit dem Reformismus am günstigsten gewesen. Eine qualitativ stärkere und einflussreichere KPDÖ wäre die Folge gewesen. So überließ die SARA der Parteibürokratie die Initiative. Nach dem Rückfluten der Revolution Ende 1920/21 wurden sie aus allen wichtigen Positionen verdrängt und schließlich ausgeschlossen. Der Rückgang ihres Einflusses drückte sich in den mageren 1,4% bei den Wahlen zum Arbeiterrat im Dezember 1920 aus, die nicht einmal 1/3 des KPDÖ-Ergebnisses darstellte.

Die Lehre daraus liegt auf der Hand: Ist es grundsätzlich immer die klare Pflicht revolutionärer Marxist:innen, eine eigenständige bolschewistische Organisation aufzubauen, so gilt das in Situationen des zugespitzten Klassenkampfes noch mehr. Nur so kann gewährleistet werden, dass man ohne Einschränkungen revolutionäre Ideen und Aktionen umsetzen kann. Diese zentrale Lehre zogen die Marxist:innen in der SARA zu spät. Andere, wie der „Vorwärts“ und seine internationale Militant-Strömung, ziehen sie teilweise überhaupt nicht, teilweise zu spät und dann aber auch nur halbherzig. Das britische Militant ist Mitte der 1980er Jahre, als es in Teilen der Labour Party einen nicht unbeträchtlichen Einfluss ausübte, in dieser um den Preis beträchtlicher politischer Anpassungen geblieben, um Anfang der 1990er Jahre, in einer Situation des Niedergangs und der Passivität der Parteibasis, auszutreten. Und Congress Militant in Südafrika weigert sich sogar angesichts der vorrevolutionären Situation in Südafrika und des offenen Ausverkaufs der bürgerlichen ANC-Führung, eine eigenständige marxistische Organisation aufzubauen, und ist auch bereit, für das Verbleiben innerhalb des ANC seine politische Kritik an der bürokratischen Führung zu mäßigen.

Aufstieg und Krise der KPDÖ

Nach Anlaufschwierigkeiten gelang der KPDÖ im Frühjahr 1919 ein kometenhafter Aufstieg von ca. 3000 Mitgliedern im Februar 1919 auf 10000 im März und schließlich 30-40000 Mitglieder im Mai 1919. Als die KPDÖ im März endlich zu den Wahlen im Arbeiterrat zugelassen wurde, erreichte sie immerhin 10% der Stimmen. Besonders unter den Heimkehrern aus der Gefangenschaft, aber auch den Soldaten (v.a. im Volkswehrbataillon 41), aber auch den arbeitslosen Massen übte sie einen bedeutenden Einfluss aus, und konnte zehntausende von ihnen für Demonstrationen mobilisieren. Dies zeigte das Potential für revolutionäre Politik und die Richtigkeit, eine selbstständige kommunistische Partei aufzubauen.

Im Zentrum der kommunistischen Agitation stand angesichts der revolutionären Zuspitzung die von den Bolschewiki entwickelte Forderung, dass die Arbeiterräte nicht der Koalitionsregierung von Sozialdemokratie und Christlich-Sozialen vertrauen dürfen, sondern selbst die Macht übernehmen müssten. „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!“ hieß die zentrale Losung. Die KP war damit die einzig konsequente Organisation, die angesichts des kapitalistischen Desasters auf der Notwendigkeit des Sturzes der bürgerlichen Herrschaft beharrte.

Aber auch international spielte die Partei eine wichtige Rolle. Das enthusiastische und überzeugende Auftreten des österreichischen Delegierten Steinhardt sicherte gegen die zaudernde deutsche KP die Gründung der kommunistischen Internationale im März 1919. Ebenso nahm die KPDÖ den proletarischen Internationalismus ernst und entsendete eine Kompanie der „Roten Garde“ in das von den Weißen bedrohte Räte-Ungarn, wo deren Kommandant, Leo Rothziegel, fiel. Im Arbeiter:innenrat brachte sie einen Antrag durch, aufgrund dessen in Osterreich ein eintägiger Solidaritätsstreik mit der ungarischen Räterepublik durchgeführt wurde.

Doch sollen hier nicht die Schwächen der jungen KP verschwiegen werden. In der Frühphase dominierte eine ultralinke Politik, die davon ausging, dass die Massen bloß auf den Sturm des Parlaments durch eine entschlossene revolutionäre Minderheit warten würden. (2) Daraus ergab sich eine Politik, die die Revolution mehr proklamierte als durch systematische Agitation und Kampagnen die Notwendigkeit einer Umwälzung hier und jetzt in den Massen zu verankern. Damit ging eine sektiererische Herangehensweise an die SdAP einher, die immerhin noch das Vertrauen der überwältigenden Mehrheit des Proletariats besaß. Einheitsfrontpolitik war den damaligen Kommunist:innen ein Fremdwort. Schließlich litt die Partei unter schweren Fraktionskämpfen. Dies alles führte zu einem deutlichen Rückgang ihres Einflusses. Bei den Wahlen zum Arbeiterrat im Dezember 1920 erreichte die KPDÖ nur noch 4,7%.

Erst durch die vehemente Intervention der Komintern und nach der Vereinigung mit der SARA Anfang 1921 konnte die Partei ihre Fehler weitgehend korrigieren. Unter der Führung von Frey entwickelte sie, entsprechend der Beschlüsse des 3. und 4. Weltkongresses eine flexible Einheitsfronttaktik gegenüber der Sozialdemokratie. Sie beschränkte sich nun nicht mehr auf propagandistische Entlarvungen, sondern kombinierte diese mit konkreten Aufforderungen an die SdAP zur gemeinsamen Aktion. Auf Initiative der Kommunist:innen organisierte der Wiener Arbeiterrat im Frühjahr 1922 eine Demonstration unter der Losung „Für den 8-Stunden-Tag!“, die zur machtvollsten Kundgebung der Nachkriegszeit wurde. Doch auch wenn die reformistische Parteispitze in der Regel gemeinsame Aktionen ablehnte, konnten durch diese Taktik viele sozialdemokratische Arbeiter:innen in Aktionen einbezogen werden. So wurde in Österreich, trotz Ablehnung der SdAP, die größte Spendensammlung für Sowjetrussland aller kapitalistischen Länder durchgeführt. Ebenso kam es, trotz des dezidierten Boykotts der SP-Parteispitze, am 1. Mai vielerorts zu gemeinsamen Kundgebungen. Einen Höhepunkt fand diese Politik vor dem Hintergrund der sogenannten Genfer Sanierung 1922. Durch dieses Gesetz wurde faktisch die gesamte österreichische Wirtschaft dem Diktat des Völkerbundes unterstellt. Die Sozialdemokratie kläffte, aber biss nicht. Sie schlug das Angebot zu einer gemeinsamen Protestkampagne aus. Trotzdem vermochte die KP, über 30000 Arbeiter:innen auf die Straße zu bringen.

Die zunehmende Bürokratisierung der russischen KP durch die Sinojew-Stalin-Clique führte auch zur Bürokratisierung der Komintern. Dies bedeutete eine verstärkte Unterordnung der Sektionen unter Moskau. Deren Intervention spielte dann auch eine Rolle bei der Verdrängung Freys aus der Führung auf dem VI. Parteitag im März 1923. Danach verfiel die Partei in einen permanenten Zick-Zack-Kurs zwischen sektiererischer „Einheitsfront nur von unten“ und opportunistischer Anpassung. Nach einer ultralinken Periode 1929-1933 („Sozialfaschismus-Theorie“) folgte ein scharfer Rechtsruck, der die KPÖ endgültig in eine reformistische Kraft verwandelte. Austropatriotische Ergüsse, die die Volksfront mit den Schuschnigg-Faschisten vorbereiteten, und die Erfindung der „Österreichischen Nation“ durch Alfred Klohr rundeten diese Degeneration ab.

Anmerkungen:

(1) Elfriede Friedländer spielte später bei der deutschen KP unter dem Namen Ruth Fischer eine zentrale Rolle. In den 1930er Jahren arbeitete sie eine Zeit lang bei der trotzkistischen Bewegung mit.

(2) Man nannte dies, nach einem ungarischen Emissär, „Bettelheimerei“.




Der Sonderweg der KPÖ Steiermark – ein Vorbild für die Linke?

Michael Märzen, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), ursprünglich erschienen in Flammende 1, Infomail 1196, 16. August 2022

Von den verschiedenen Landesorganisationen der Kommunistischen Partei Österreich nimmt die steirische einen besonderen Platz ein. Sie ist die bisher erfolgreichste Teilorganisation, aber auch diejenige, welche recht deutlich aus dem programmatischen und ideologischen Verständnis der Bundespartei ausschert. Aus diesem Grund war und ist ihr Verhältnis zum Bundesvorstand von Konflikten geprägt. Die KPÖ Steiermark hat sich daher aus dem zentralen Führungsgremium zurückgezogen und geht ihren Weg autonom vom Rest der Partei.

Viel interessanter und wichtiger als dieses besondere Verhältnis zur restlichen Partei sind aber die Wahlerfolge der KPÖ Steiermark. Nicht nur, dass sie in Graz Ende der 1980er Jahre als Einzige ihr Mandat im Gemeinderat halten konnte oder sie im Landtag der Steiermark seit 2005 vertreten ist, bei den Wahlen der steirischen Landeshauptstadt 2021 konnte sie ihre Stimmen um ganze 8,5 % ausbauen. Sie wurde mit 28,8 % zur Siegerin, stellt nun mit Elke Kahr die Bürgermeisterin von Graz und führt eine linke Koalition an – gemeinsam mit Grünen und SPÖ. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die KPÖ Steiermark einen gewissen Respekt und sogar Bewunderung innerhalb von Teilen der österreichischen Linken genießt. Die Partei habe sich durch ihren ehrlichen Stil, ihre hartnäckige Unterstützungsarbeit für die Grazer Bevölkerung und ihre Bescheidenheit die Unterstützung ihrer Wähler:innen verdient. Für die österreichische Linke gelte es demnach, sich diese Erfolgsstrategie in Form von langfristiger Verankerung auf kommunalpolitischem Gebiet zu eigen zu machen.

Dem Glanz der KPÖ Steiermark stehen aber auch immer wieder politische Skandale gegenüber, die auch die wohlwollende Linke verdutzt den Kopf schütteln lassen. So wurde medienwirksam skandalisiert, dass der Landtagsabgeordnete Werner Murgg auf Vermittlung der österreichisch-weißrussischen Gesellschaft ins autoritär regierte und staatskapitalistische Weißrussland reiste, um im dortigen Staatsfernsehen die Sanktionen der EU zu kritisieren: „Sie treffen nur die einfachen Leute, das könnte Aufstände provozieren.“ Oder die Rede von Thomas Pierer im Brucker Gemeinderat, in der er mit einer kopierten AfD-Rede genderneutrale und gendersensible Sprache verhöhnte.

Auch wenn die Erfolge der KPÖ Steiermark nicht von der Hand zu weisen sind, wollen wir mit diesem Beitrag linke Organisationen und Aktivist:innen davor warnen, diese als politisches Vorbild zu betrachten bzw. ihre Politik oder gar Programmatik nachzuahmen. Die Politik der steierischen Landesorganisation ist eine defensive Ausprägung ihres stalinistischen Erbes, die kurzfristig als Erfolgsmodell erscheinen mag, aber langfristig nur in einer reformistischen1 Sackgasse enden kann.

Von Erfolgen und Konflikten

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schlitterte die Kommunistische Partei Österreich in eine tiefe Krise. War sie schon davor jahrzehntelang in der politischen Landschaft marginalisiert, stellte sich nun die Frage ihrer Existenz. Der Stalinismus hatte abgewirtschaftet und auch die Reformversuche der Perestroika waren gescheitert. Die KPÖ war immer eine sehr treue Partei gegenüber der Linie der KPdSU gewesen. Ihre Beschönigung der bürokratischen Diktaturen über das Proletariat sowie die Unterdrückung von progressiven Bewegungen, wie z. B. im Prager Frühling 1968, hatten der Partei schon früher geschadet. Nun war die stalinistische KPÖ ihres wichtigsten politischen Bezugspunktes beraubt, ihre Glaubwürdigkeit am Boden. Die Wahlergebnisse erreichten ihren Tiefpunkt.

Die Erneuerungsversuche unter Michail Gorbatschow wurden zwar noch mit Hoffnung betrachtet, aber über die Ergebnisse bestanden in der österreichischen Partei nicht ausgetragene Meinungsverschiedenheiten. Mit der Krise des „kommunistischen Systems“ verfestigten sich in der KPÖ auf der einen Seite eine Mehrheit der „undogmatischen“ Erneuerung und auf der anderen Seite ein „traditionalistischer“ Flügel. Der außerordentliche Parteitag im Juni 1991 in Graz sollte ein „Reformparteitag“ sein. Der „Maxismus-Leninismus“2 der kommunistischen Parteien habe sich von vielem Neuen (Frauenfrage, Ökologie usw.) abgekapselt, hieß es dort. Die Partei sollte sich ideologisch öffnen für einen vom Dogmatismus befreiten Marxismus. Die stalinistische Diktatur habe schwerwiegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt. Offen gehalten wurde die Option einer „echten Erweiterung der KPÖ und ihre Vereinigung mit anderen linken Kräften“ sowie eine ausführliche programmatische Debatte. Der demokratische Zentralismus3 wurde mit einem neuen Statut abgeschafft. Die Selbstauflösung der Partei wurde zwar überwunden, aber die Krise hatte erst begonnen.

Bei den Nationalratswahlen 1994 erreichte die KPÖ mit lediglich 11.919 Stimmen ihren historischen Tiefpunkt. In eine andere Richtung ging der Trend lediglich in der Steiermark. In Graz hatte die Partei 1988 trotz Krise der Sowjetunion ihr Gemeinderatsmandat mit Ernest Kaltenegger halten können. Bei den Gemeinderatswahlen 1993 konnte sie noch ein zweites Mandat für Elke Kahr dazugewinnen. In der Stadt hatte sich die KPÖ Graz mit Wohnungspolitik und Mieter:innenberatung sowie –hilfe ein lohnendes Politikfeld geschaffen. 1998 erzielte sie schon 7,9 % und erreichte den Einzug von Ernest Kaltenegger in den Stadtsenat (so heißt die dortige Proporzregierung), wo er Wohnungsbaustadtrat wurde. 2003 kam dann beinahe der Durchbruch, als die KPÖ vor dem Hintergrund der tiefen Krise der FPÖ 20,8 % in Graz erreichte, allerdings bei der darauffolgenden Wahl 2008 auf 11,2 % abrutschte. Dazwischen gelang jedoch noch einer der bedeutendsten Erfolge, nämlich der Einzug der KPÖ Steiermark in den dortigen Landtag, mit 4 Mandaten (Ernest Kaltenegger, Renate Pacher, Claudia Klimt-Weithaler, Werner Murgg) – auf Landesebene immer noch das beste Wahlergebnis. Nach 2008 ging es aber zumindest in Graz schrittweise bergauf, bis zum Wahlsieg im letzten Jahr.

Wahlergebnisse der KPÖ Graz
1945 6,7 %
1949 5,7 %
1953 5,8 %
1958 3,9 %
1963 3,5 %
1968 2,8 %
1973 3,0 %
1978 2,0 %
1983 1,8 %
1988 3,1 %
1993 4,2 %
1998 7,9 %
2003 20,8 %
2008 11,2 %
2012 19,9 %
2017 20,3 %
2021 28,84 %

Die KPÖ Steiermark hatte entgegen der Bundespartei der alten Doktrin des „Marxismus-Leninismus“ nicht abgeschworen. Somit bestand eine ideologische Spannung, die sich folglich zu einer politischen Zuspitzung entwickelte. Beim 31. Parteitag im Dezember 2000 unterstützte ein Teil der steirischen Parteileitung eine „Alternativplattform“, welche wesentliche Positionen der „Erneuerung“ zurücknehmen wollte. Außerdem sollte die Parteispitze abgewählt werden, was misslang. Im Herbst 2003 legte die Landespartei eine „Grundlage für ein noch zu beschließendes Programm“ zur Diskussion vor. Die bedeutendsten praktischen Differenzen drehten sich jedoch um die Haltung zur Europäischen Union und zum Pluralismus als Parteikonzeption. Vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1995 war die KPÖ gegen einen Beitritt gewesen und anschließend für einen Austritt4. Mit der Zeit weichte sie diese Position aber auf und ließ sie als unmittelbare Forderung fallen. In diesem Kontext diskutierte sie auch die Verbindung mit anderen Linksparteien in Europa und nahm an der Gründung der Partei der Europäischen Linken5 im Jahr 2004 teil. Anstelle dieser Haltung zur Europäischen Union und der ELP wollte die KPÖ Steiermark lieber auf traditionalistische und stalinistische Parteien wie die KP Griechenland orientieren. Der Pluralismus, wie er auch in der Europäischen Linken gelebt werde, führe laut ihrer Kritik zu einer Kapitulation6. In weiterer Folge formierten sich Teile der steirischen Partei (z. B. Werner Murgg) mit anderen traditionalistischen Kräften innerhalb der KPÖ zur „Kommunistischen Initiative zur Erneuerung der KPÖ“. Mehrere Oppositionelle wurden nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung um die Legitimität des 33. Parteitags (Dezember 2004) ausgeschlossen und die Kommunistische Initiative ging einen organisatorisch unabhängigen Weg (heute trägt sie den Namen „Partei der Arbeit“). Die KPÖ Steiermark ging jedoch den eigenständigen Weg nicht mit. Die steirischen Mitglieder akzeptierten die Beschlüsse des Parteitags nicht, zogen sich aus dem Bundesvorstand der KPÖ zurück und betrachten ihre Organisation seither als autonom gegenüber der Bundespartei.

Wahlsieg in Graz

Die Grazer Gemeinderatswahlen im September 2021 hievten die KPÖ überraschenderweise – offenbar hatte sie bis kurz davor selbst nicht damit gerechnet – mit 28,84 % an die Spitze. Im November wurde die Stadtregierung als Koalition aus KPÖ, Grünen und SPÖ mit Elke Kahr als Bürgermeisterin angelobt. Der Wahlkampf in Graz und die Arbeit der KPÖ in der Regierung sind wohl die wichtigsten Referenzen, um zu verstehen, wie die Praxis der steirischen Genoss:innen aussieht. Aber zunächst stellt sich die Frage: Wie konnte es überhaupt zu diesem Erfolg kommen?

Der Aufstieg der KPÖ in Graz ist nicht ohne den Abstieg der Sozialdemokratie zu verstehen. Diese hielt 2003 in der Landeshauptstadt noch knapp 26 % der Stimmen. Von da an ging es schrittweise bergab, bis sie 2017 nur noch 10 % erreichte und von der KPÖ vom zweiten Platz verdrängt wurde. Im letzten Jahr verlor sie zwar prozentuell nicht mehr so viel, rutschte aber auf den fünften Platz zurück, nur noch vor den NEOS und den anderen Kleinstparteien. Schon in den 1990er Jahren, als sich die SPÖ dem Neoliberalismus hingab, wurde die Partei unbeliebter. In der jüngeren Vergangenheit der Steiermark war aber die sogenannte „Reformpartnerschaft“ von Bedeutung. Im Wesentlichen war das ein gemeinsam von ÖVP und SPÖ groß angelegtes Sparprogramm, um das Landesbudget auf dem Rücken von Lohnabhängigen, Frauen, Kindern und Bedürftigen zu sanieren. So wurden im Doppelbudget 2013/14 ganze 1,5 Mrd. Euro eingespart. Dabei wurde nicht nur in der Verwaltung gekürzt oder wurden Gemeinden fusioniert, unter den Einsparungen litt auch der Sozialbereich, dessen Beschäftigte auf die Straßen gingen, und es wurden viele kleinere Volksschulen geschlossen. Dazu kommt aber auch die beharrliche Arbeit der KPÖ insbesondere im Wohnungsbereich, erst unter Ernest Kaltenegger und dann mit Elke Kahr. 1992 zog Kaltenegger den Mieternotruf auf, welcher Mietverträge, Betriebskostenabrechnungen und die Höhe von Provisionen prüfte sowie bei Schikanen, Kündigungen und Räumungsklagen unterstützte. Auch die Tatsache, dass KPÖ-Mandatar:innen von ihrem Einkommen nur einen Teil in der Höhe eines Facharbeiter:innenlohns beziehen und den Rest für Sozialpolitisches spenden, hilft dem Image der Partei, das sie auch sehr behutsam als ehrlich, hilfsbereit, nicht abgehoben usw. pflegt. Hinzu kommt der Absturz der ÖVP bei der Wahl 2021 um beachtliche 11,88 Prozentpunkte! Das hatte zu tun mit teuren und unpopulären Groß- und Prestigeprojekten, welche die ÖVP umsetzte oder plante, beispielsweise das Mur-Kraftwerk oder eine mögliche U-Bahn. Es hing aber wohl auch mit den Skandalen rund um Sebastian Kurz zusammen, die die ÖVP damals erschütterten. Und mit ihrem plumpen Antikommunismus, mit dem die Konservativen eine Katastrophe im Falle eines kommunistischen Wahlsiegs beschworen, hatten sie sich auch noch lächerlich gemacht und die Sympathie für die KPÖ gestärkt.

Wie sah nun die Politik der KPÖ im Wahlkampf aus? Wirft man einen Blick auf die wohl öffentlichkeitswirksamsten Elemente, die Wahlplakate, dann findet man Slogans wie „Soziales darf nicht untergehen“, „Lebensraum vor Investoren“, „Wohnraum bezahlbar für alle“ oder „Da sein wenn‘s drauf ankommt“. Alles Plakate, die sich keineswegs von sozialdemokratischen oder grünen unterscheiden, geschweige denn sich durch Radikalität, Kapitalismuskritik oder Aufzeigen eines Klassenwiderspruches abheben. In dieselbe Kerbe schlägt auch das Wahlprogramm der KPÖ Graz. Schon der Form nach ist es dem gewöhnlicher bürgerlicher Parteien nachempfunden, als Ansammlung von Themenblöcken, in denen allgemeinpolitische Floskeln mit Auflistungen von kleinen Reförmchen gespickt werden. Inhaltlich vermisst man bitter die Analyse der politischen Klassenverhältnisse (inkl. Geschlechterverhältnisse u. v. a.) in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus, was eine propagandistische und aufklärerische Rolle zur Herausbildung von Klassenbewusstsein spielen kann, und aus der eine konkrete Strategie zur Befreiung der Arbeiter:innenklasse formuliert werden könnte. Das würde eine marxistische Partei auszeichnen. Nun könnte man einwenden, dass es sich hierbei um das Programm für eine Gemeindewahl handelt. Aber selbst wenn man eine ernsthafte linke Kommunalregierung stellen möchte, ist die Machtfrage zumindest perspektivisch aufgeworfen, schon durch den Konflikt, der sich mit der Zwangsgewalt des kapitalistischen Zentralstaates ergeben würde. Und dafür sollte die Kommunalpolitik in einem allgemeineren Kontext behandelt werden. Den Schlüssel bildete, auch schon im Kleinen die Macht der Kapitalist:innen, ihr Vermögen und ihr Eigentum zu konfrontieren und dabei die massenhafte Organisierung der Lohnabhängigen in Stadtteilen und Betrieben voranzutreiben.

Linke Koalition

Was kann man also von der linken Koalition und ihrem Regierungsprogramm halten? Das sogenannte „Arbeitsprogramm“ trägt den Titel „Gemeinsam für ein neues Graz. Sozial. Klimafreundlich. Demokratisch.“ Es liest sich eingangs durchaus positiv und vieles kann man auch begrüßen. Es stellt sich ideologisch in die Tradition des Antifaschismus, der Friedens-, Frauen- und Umweltbewegung. Die Klimakrise wird als eine zentrale Herausforderung benannt. Aber es stellt sich eben auch nur in die Tradition dieser Bewegungen. Weitere Bezüge auf Kämpfe und Bewegungen bzw. deren Rolle zur Durchsetzung von wichtigen sozialen Veränderungen gibt es keine. Für einen Eindruck vom Arbeitsprogramm der Koalition seien an dieser Stelle ein paar der 21 Schwerpunktprojekte genannt: An erster Stelle die Realisierung der Südweststrecke, einer Straßenbahnverbindung, die schon vor zwei Jahren im Grazer Gemeinderat beschlossen wurde. An zweiter Stelle die Schaffung leistbaren Wohnraums durch den Bau neuer Gemeindewohnungen, aber leider nicht, wie viele. An dritter Stelle kommt „jeden Tag einen Baum pflanzen“. Weitere nennenswerte Punkte sind die Reduktion der Kinderbetreuungsbeiträge, die Erhöhung des Zuschusses zur Jahreskarte Graz und zum Klimaticket Steiermark, ein Fahrrad für jedes Kind oder die Ausrichtung der Wirtschaftsförderung nach sozialen, regionalen und ökologischen Kriterien. Und – abseits von diesen Schwerpunkten – das Bekenntnis zu einem ausgeglichenen Budget.

Ein zentrales Anliegen im Wahlprogramm der KPÖ Graz war die „Wiedereingliederung aller ausgelagerten Betriebe in das Eigentum der Stadt und Rückführung der Grazer Linien in einen städtischen Eigenbetrieb“. Dabei ging es insbesondere um das „Haus Graz“, also um die direkten und indirekten Beteiligungen der Stadt, denn die Ausgliederungen brächten keine Einsparungen und der Gemeinderat habe keine Entscheidungsbefugnis über Leistungen, Tarife und Personalpolitik mehr. Nach der Wahl war das Thema schnell vom Tisch. Laut KP-Klubobmann Manfred Eber habe man sich das genauer angesehen und festgestellt, dass man bei einer Rekommunalisierung unter den Abteilungen keine Gegenrechnungen mehr machen könnte und Körperschaftssteuer zahlen müsse. Das würde Belastungen in Höhe von einem bis zu zweistelligen Millionenbetrag jährlich bedeuten. Stattdessen findet sich im Koalitionspakt nur noch die Sicherstellung von Plätzen in den Aufsichtsräten für alle im Stadtsenat vertretenen Parteien. Das Argument ist schwer nachvollziehbar, immerhin müssten sich über Zusammenführungen und die Abschaffung von teuren Managergehältern deutliche Einsparungen bewirken lassen. Und wenn nicht, könnte man es sich oder die Reichen ruhig auch ein bisschen kosten lassen. Denn die Überführung von zentralen Unternehmen in öffentliches Eigentum ist wohl das wichtigste Anliegen kommunistischer Politik, weil es den Weg aus der Profitlogik ebnet und demokratische Kontrolle bis zur Verwaltung durch die Arbeiter:innen selbst ermöglicht und damit die Durchsetzung der Interessen jener, welche die notwendige Arbeit in unserer Gesellschaft leisten.

Erst kürzlich tat sich die Grazer Stadtregierung positiv damit hervor, dass sie die jährliche Erhöhung von Kanal- und Müllgebühren sowie der Mieten in den Gemeindewohnungen aussetzte. Argumentiert wurde das mit den im Zuge der massiven Inflation ohnehin schon stark gestiegenen Lebenserhaltungskosten. Grundsätzlich ist das natürlich auch ein begrüßenswerter Schritt. Aber auch hier wird wieder einmal klar, dass sich die KPÖ Steiermark voll und ganz im bürgerlich-demokratischen Rahmen bewegen möchte. Denn gesetzlich ist es nicht möglich, den vom Justizministerium festgelegten Richtwert der Miete zu beeinflussen, geschweige denn eine generelle Beschränkung der (Privat-)Mieten in Graz.

Generell zeichnet sich die Linkskoalition also nicht gerade durch eine Konfrontation mit dem Kapital aus. In einem Bündnis mit den Grünen und der Sozialdemokratie ist das auch nur schwer vorstellbar. Zugegeben, die Möglichkeiten einer Stadtregierung hierfür sind durchaus begrenzt und die Stimmung der Massen ist nicht unbedingt revolutionär. Aber trotzdem wäre es die Aufgabe einer linken Regierung unter Führung von Kommunist:innen, in Worten und Taten die Widersprüche zwischen den Klassen für alle sichtbar zu machen und zuzuspitzen. Konkrete Mobilisierung auf der Straße und in den Betrieben für die Politik, die an die Grenzen des bürgerlich-kapitalistischen Rechtsstaats stößt, wären hier ein Anfang. Statt sich aber darauf zu konzentrieren, betont die KPÖ lieber die Arbeit auf Augenhöhe selbst mit den reaktionären bürgerlichen Kräften ÖVP und FPÖ.

Wenn sie sich nicht auf die Enge des Stadtbudgets einschränken würde, könnte sie weitreichende Sozialmaßnahmen einleiten und einen politischen Kampf um deren Finanzierung führen. Die Strategie der KPÖ Graz läuft auf das Gegenteil hinaus, nämlich Haushaltssanierung, wie ein Artikel auf ihrer Homepage zeigt. Was das für die Reformbemühungen der Linkskoalition bedeutet, wird spannend zu beobachten. Große Würfe darf man sich jedenfalls nicht erwarten. Laut dem Artikel erzielte die Stadt im letzten Jahr ein negatives Nettoergebnis von 73 Mio. Euro und hatte einen Schuldenstand von 1,6 Milliarden Euro. Laut Grazer Haushaltsordnung müsse nach dreimalig negativem Nettoergebnis ein Haushaltskonsolidierungsplan erstellt werden, wobei 2020 und 2021 schon negativ waren. „Auch unter der derzeitigen wirtschaftlichen Lage werden wir alles daransetzen, die Vorgaben des Landes Steiermark zu erfüllen sowie unter Berücksichtigung einer möglichen Wiedereinführung des Stabilitätspakts zu budgetieren.“

Programmatik

Wie kann man die Politik der KPÖ Graz bzw. der KPÖ Steiermark verstehen? Gibt es theoretische, ideologische oder programmatische Auffassungen, aus denen sich ihr Handeln ableitet? Oder herrschen Pragmatismus und personelle Beliebigkeit? Nach einem Studium ihres Landesprogramms glauben wir, dass sich die Praxis der Landespartei schon aus ihrem programmatischen Verständnis ergibt, insbesondere unter den Umständen eines niedrigen Klassenbewusstseins und Klassenkampfes. Wie sieht dieses Verständnis also aus?

Das Programm der KPÖ Steiermark (Fassung 2012) überrascht auf den ersten Blick. Der oftmals „unideologischen“, pragmatischen Praxis (siehe Beispiel Graz) der Organisation steht ein in orthodox-marxistischer Terminologie geschriebenes Programm gegenüber. Es erscheint der Eindruck, die steirische KPÖ nehme den Marxismus ernster als die Bundespartei und positioniere sich konsequenter. So verortet sie die Entwicklung des Kapitalismus weiterhin in seinem imperialistischen Stadium, versucht, die kapitalistische Krise mit einer marxistischen Theorie zu erklären, betont den Charakter der Partei als einer marxistischen Partei der Arbeiter:innenklasse und spricht von der Revolution. Gleichzeitig verschreibt sie sich einer „progressiven Reformpolitik“, deren Ziel nicht ein revolutionäres Erkämpfen des Sozialismus darstellt, sondern der Aufbau eines „progressiven Sozialstaates“. Hier erkennen wir die Tradition der stalinistischen Etappentheorie7 in Form einer antimonopolistischen Demokratie.

Spannend am Imperialismusverständnis der KPÖ Steiermark ist, dass zwar die USA als hegemoniale Weltmacht bezeichnet werden und die Europäische Union als Bündnis imperialistischer Staaten, abseits davon aber keine imperialistischen Mächte benannt werden. Russland kommt in dieser Beziehung überhaupt nicht vor und bei China scheint sich die KPÖ Steiermark nicht einmal sicher zu sein, dass es sich um ein kapitalistisches Land handelt und nicht etwa um einen legitimen Weg zum Sozialismus („Die KP China definiert das Land in der Anfangsphase des Sozialismus“).

Interessant im Kontext der Einschätzung der Weltlage ist der Blick auf Lateinamerika. Dort hätten sich revolutionäre Bastionen entwickelt. Gemeint sind die Staaten der „Bolivarischen Allianz“ (ALBA) unter der damaligen Führung Venezuelas. Vollkommen unkritisch wird der Linksnationalist Hugo Chávez zitiert, der den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ beschwört. Bei aller Sympathie und Solidarität mit den damaligen linken Bewegungen, die diese Regierungen in Lateinamerika an die Macht brachten, muss man schon feststellen, dass es sich dabei keineswegs um revolutionäre Regierungen der Arbeiter:innenklasse oder um sozialistische Experimente handelte. Die Länder des Sozialismus des 21. Jahrhunderts waren großteils linkspopulistische und teilweise bonapartistische8 Regimes, die weder vermochten noch beabsichtigten, die Macht des Kapitals zu brechen, und daher mit ihrem Anspruch umfassender Sozialreformen für die ärmere Bevölkerung scheitern mussten.

Schon positiver liest sich der Abschnitt zur „Bilanz des Realsozialismus“, besonders wenn man bedenkt, dass sich die KPÖ Steiermark nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den traditionalistischen Block eingeordnet hatte. Selbst bezeichnet sie sich natürlich nicht als stalinistisch9, auch wenn sie davon ein ungenaues, unklares und eingeschränktes Verständnis hegt. „Der Marxismus-Leninismus beruhte zum Teil auf dogmatisch eingeengten Bruchstücken des Marxismus“, „Die Politik des Realsozialismus war teils richtige, teils verfehlte, teils vereitelte Politik“, „Der Stalinismus nach Stalin brach mit dem Terror, aber nicht mit den Deformationen und den unwissenschaftlichen Methoden, die sich verfestigten“, „Gemessen an dieser Aufgabenstellung [der Wiederherstellung der kommunistischen Bewegung und einer revolutionären Perspektive] ist der Stalinismus ein Synonym für Dogmatismus, Verflachung, Einengung, Realitätsverlust, ein Anachronismus“. Richtig an der steirischen Analyse des „Realsozialismus“ ist das Problem des Aufbaus des Sozialismus im rückständigen Russland bei Scheitern der internationalen Ausweitung der Revolution auf das ökonomisch fortgeschrittene Europa. „Die ökonomischen und politischen Strukturen entfremdeten sich der Masse der Gesellschaft und entwickelten eine Eigenlogik, den Vollzug der Eigeninteressen einer exklusiven, der demokratischen Kontrolle entzogenen bürokratischen Schicht.“ Dass die wesentlichen Grundlagen des Sozialismus laut Programm durch „schwerwiegende Deformationen“ beeinträchtigt wurden, liest sich vor diesem Hintergrund fast schon beschönigend. Wesentlich ist unserer Auffassung nach hingegen, dass die soziale und politische Degeneration einen Bruch mit der Bürokratie und ihrer Politik bedingen. Dafür brauchte es eine von den stalinistischen Regimen unabhängige Organisierung der Arbeiter:innenklasse sowie den Sturz der Bürokratien der stalinistischen Länder in einer politischen Revolution. Diese Konsequenzen hat die KPÖ Steiermark bis heute nicht gezogen, weil sie das Phänomen des Stalinismus und seine reaktionäre politische Rolle immer noch nicht richtig erfasst hat.

Aus den Erfahrungen des „Realsozialismus“ schließt das Programm glücklicherweise auf die Notwendigkeit, „neue Sozialismusvorstellungen zu entwickeln, die auf der vollständigen und konsequenten Demokratisierung aller Bereiche der Wirtschaft, des Staates und der Zivilgesellschaft beruhen“. Unglücklicherweise besinnt sie sich dabei aber nicht auf die positiven Errungenschaften der Russischen Oktoberrevolution im Sinne der Diktatur des Proletariats – einer Arbeiter:innendemokratie in Form von Räteherrschaft und Arbeiter:innenkontrolle. An deren Stelle tritt bei der KPÖ Steiermark die alte Leier einer „sozialistischen Demokratie“. Dabei ist es kein Zufall, dass nirgendwo von der Notwendigkeit gesprochen wird, den von einer tatsächlichen demokratischen Kontrolle der Bevölkerung bürokratisch abgehobenen kapitalistischen Staat zu zerschlagen und die Macht in die Hände von Organen der proletarischen Gegenmacht10 zu legen. Anstelle der organisierten Arbeiter:innenklasse tritt für die KPÖ Steiermark der progressive Nationalstaat (dazu gibt es ein eigenes Kapitel: „Progressiver Nationalstaat – Basis und Hauptstütze von Gegenmacht“).

Dazu ein paar Zitate: „Wie der neoliberale Staat die Interessen des Großkapitals stützt, muss sich eine demokratische Reformbewegung auf einen erst zu erkämpfenden, neuartigen Sozialstaat stützen können, der der Wohlfahrt seiner Bürger verpflichtet ist und in dem die Lohnabhängigen das entscheidende Wort zu sprechen haben. (…) Anders als durch die Rückeroberung des Staats durch die revolutionären Kräfte ist es unmöglich, eine progressive Sozialpolitik zu betreiben. Dazu braucht der Staat Organe, die mit umfangreichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kompetenzen ausgestattet sind, um, wenn nötig auch mit Mitteln des außerökonomischen Zwangs eingreifen zu können. (…) Letzten Endes läuft alles darauf hinaus, dass der Staat dem Kapital Zügel anlegt und seine Institutionen in Einflusssphären des öffentlichen Eigentums verwandelt, die in Händen einer progressiven Volksmacht liegen. (…) Erst dann, wenn jedes Land das Recht hat, über seine Geschicke frei zu entscheiden (…) sind Kapitalverkehrskontrollen, Besteuerung von Transaktionen des Geld- und Finanzkapitals, wichtige Bausteine für die Rückgewinnung einer gesellschaftlichen Steuerung, möglich. (…) Aus kommunistischer Sicht steht also nicht die ‚Abschaffung des Nationalstaates‘ auf der Tagesordnung, sondern die Umformung vom Staat des Monopolkapitalismus in progressive Nationalstaaten, die, wenn sie auf Dauer bestehen wollen, Schritte in Richtung Sozialismus machen müssen.“

Die KPÖ Steiermark verfolgt das Konzept einer antimonopolistischen Demokratie, welche erst einmal durch Reformen des bürgerlichen Staates verwirklicht werden soll. Erst dann wäre es möglich, Schritte Richtung Sozialismus zu setzen. Eine solche Konzeption ist natürlich reine Utopie und ähnelt der stalinistischen Vorstellung, nach der die Bürokratie der Sowjetunion kapitalistische Pufferstaaten („Volksdemokratien“) in Ost- und Mitteleuropa errichten wollte, frei vom politischen Einfluss des westlichen Kapitals. Das war überhaupt nur denkbar z. B. durch die militärische Kontrolle Osteuropas durch die Rote Armee nach dem Zweiten Weltkrieg und ist gescheitert, worauf „von oben“ die Umwandlung in bürokratische Arbeiter:innenstaaten erfolgte. Die Idee, im Bündnis mit einer „antimonopolistischen“ Bourgeoisie den Kapitalismus so weit zu reformieren, dass in weiterer Folge Schritte zum Sozialismus ergriffen werden können, verkennt, dass auch die „nichtmonopolistische“ Bourgeoise lieber das Bündnis mit dem Monopolkapital sucht als mit der Arbeiter:innenklasse und die imperialistische Epoche eine des Niedergangs und der kapitalistischen Krise ist, in der eine friedliche Reformperiode hin zum Sozialismus keine ökonomische und politische Basis besitzt.

Schlussfolgerung

Ein kommunistisches Programm sollte eigentlich zwei wesentliche Aufgaben erfüllen. Auf der einen Seite sollte es eine Handlungsanweisung für den Klassenkampf bzw. den politischen Rahmen dafür bilden. Auf der anderen Seite sollte es im Inneren der Partei als gemeinsames Verständnis dienen, durch das eine kollektive und demokratische Praxis möglichst der gesamten Partei ermöglicht wird. Das Programm der KPÖ Steiermark ist dagegen eine Art langwierige Grundsatzerklärung und kann dadurch den ersten Anspruch nicht erfüllen und aufgrund der Abgrenzung ihrer alltäglichen Praxis von diesen Grundsätzen auch nicht den zweiten. Diese Aufspaltung von hochtrabenden Erklärungen in irgendwelchen Schriften auf der einen Seite und der Beschränkung auf kleine Reförmchen in der eigentlichen Arbeit entspricht sehr dem – für Sozialdemokratie und Stalinismus typischen – Aufspalten der Programmatik in einen Maximalteil, wo das Ziel des Sozialismus beschworen wird, und einen Minimalteil, in dem konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt formuliert werden, ohne dass eine Verbindung der beiden Hälften hergestellt wird.

Das Konzept der „progressiven Reformpolitik“ und des „progressiven Nationalstaats“ reproduziert die Kluft von Minimal- und Maximalprogramm und erklärt in gewisser Weise die orthodox-ideologische Programmatik der KPÖ Steiermark bei ziemlich ideologiefreier, pragmatischer politischer Praxis. Die Orientierung auf die Kommunalpolitik ist die logische Konsequenz dieser Strategie, weil aufgrund der eigenen Schwäche nur auf der niedrigen Ebene Möglichkeiten für „Reformen“, praktische Hilfestellungen und mittelfristige Eroberungen von Posten im bürgerlichen Staat erkannt werden.

Natürlich kann eine solche Politik kurz- und mittelfristig Erfolg haben. Wer in der politischen Praxis aber nicht versucht, in Propaganda und Agitation die Arbeiter:innenklasse als politisches Subjekt anzusprechen, die Konfrontation mit dem Kapital zu suchen und dadurch anzustreben, ein revolutionäres Klassenbewusstsein zu prägen, wird mittel- und langfristig über keine Machtbasis verfügen, um über kleine demokratische und soziale Reförmchen hinaus zu wirken. Sollte sich der Einfluss der KPÖ Steiermark steigern, wird sie sich mit dieser politischen Praxis in der kleinteiligen und bescheidenen Reformarbeit verlieren und schlichtweg den Platz der steirischen Sozialdemokratie einnehmen. Zum Abschluss wollen wir dieses Problem noch mit einem Zitat von Franz Stephan Parteder (ehem. Vorsitzender der Landespartei) unterstreichen: „Wir wollten eigentlich als ganz normale Partei, die innerhalb des Verfassungsbogens steht, verstanden werden.“ Wer so etwas will, braucht sich mit dem Aufbau einer Partei zur Überwindung des Kapitalismus wohl auch nicht weiter zu beschäftigen.

Referenzen

Endnoten

1 Unter Reformismus verstehen wir eine Praxis, welche die Politik der Arbeiter:innenklasse auf Verbesserungen (oder Abwendung von Verschlechterungen) innerhalb des kapitalistischen Rahmens eingrenzt und somit letztlich in bürgerlicher Politik befangen bleibt. Dabei kann sich der Reformismus in Worten durchaus radikal oder gar marxistisch geben.

2 Der Marxismus-Leninismus ist die stalinistisch entstellte Kanonisierung des Leninismus.

3 Der demokratische Zentralismus ist ein Grundprinzip der leninistischen Parteikonzeption und bezeichnete vor der Entstellung durch den Stalinismus das Verhältnis von innerparteilicher Demokratie zur Einheit der Partei in der Aktion nach außen.

4 Der Arbeiter*innenstandpunkt hat sowohl die neoliberalen und undemokratischen, als auch die für die Lohnabhängigen positiven und sie zusammenführenden Seiten der Europäischen Union betont und bei der Volksabstimmung 1994 für eine Enthaltung argumentiert. Einen Austritt aus der Europäischen Union lehnen wir ab, weil wir in einem „Zurück zum alten Nationalstaat“ keine besseren Kampfbedingungen für die Arbeiter:innenklasse erkennen, sondern nur das Gegenteil. Wir kämpfen für die internationale Einheit der Arbeiter:innenklasse und eine europäische sozialistische Revolution.

5 Die Europäische Linkspartei ist ein Zusammenschluss von eurokommunistischen und anderen linksreformistischen Parteien. Mittlerweile hat sie sich stark der Position einer „Transformation“ des Kapitalismus verschrieben. Wir kritisieren die sogenannte Transformationstheorie als eine Form von Reformismus.

6 Auch wenn wir mit der Parteikonzeption der KPÖ Steiermark gewiss nicht viel Übereinstimmung haben, können wir ihre Zurückweisung des Pluralismus teilen. Unserer Auffassung nach ist eine marxistische Partei ein Instrument zur Verwirklichung eines revolutionären Programms und bedarf zu diesem Zweck einer ihm angemessenen Klarheit und Geschlossenheit. Das ist keine Absage an unterschiedliche Meinungen, sondern eine strategische und taktische Handlungsunfähigkeit.

7 Etappentheorie bedeutet hier, dass vor der revolutionären Enteignung der Kapitalist:innenklasse und dem anschließenden Aufbau des Sozialismus eine besondere Etappe liegen müsste. Erst nach deren Absolvierung kann dann an eine sozialistische Revolution gedacht werden. In der Tradition des Stalinismus wurde ein solches Modell oftmals auf halbkoloniale Länder angewandt, also Länder, die aufgrund ihrer Abhängigkeit indirekt von imperialistischen Mächten beherrscht werden. Dort müsse man, gestützt auf die Volksmassen und im Bündnis mit dem patriotischen Kapital, das ausländische Kapital zurückdrängen und eine bürgerliche Demokratie erkämpfen.

8 Als Bonapartismus bezeichnet man im Marxismus ein autoritäres Regime, welches seine Macht auf eine Balance zwischen gegensätzlichen Klassen oder Blöcken von Klassen stützen, dafür aber die Herrschaft autoritär und ideologisch absichern muss. Dabei kann sich dieses Regime, scheinbar und im Sinne der Nation über die Klassen und gesellschaftlichen Gegensätze erheben.

9 Wir verstehen unter Stalinismus das soziale Phänomen der bürokratischen Degeneration eines Arbeiter:innenstaates sowie damit zusammenhängend die politischen Ausprägungen der Kommunistischen Partei im Interesse dieser Bürokratie, was mit einer entsprechenden Entstellung des Marxismus einhergeht. Wir charakterisieren die Herrschaftsformen in der Sowjetunion, China, Jugoslawien, Kuba und Nordkorea dementsprechend ebenfalls als stalinistisch sowie auch die politischen Ausprägungen der KPdSU nach der „Entstalinisierung“ unter Nikita Chruschtschow.

10 Unter proletarischer Gegenmacht verstehen wir eigene, vom bürgerlichen Staat unabhängige, demokratische Organisationen der Arbeiter:innenklasse. Solche können bestehen in Form von Parteien, Gewerkschaften, Streikkomitees, Betriebsgruppen, Kontrollkomitees, Milizen und in ihrer höchsten Form als Arbeiter:innenräte.

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Die KPÖ nach 1990: Geschichte und Programm

Heidi Specht und Mo Sedlak, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), ursprünglich erschienen in Flammende 1, Infomail 1195, 15. August 2022

Ob die Kommunistische Partei Österreichs denn tatsächlich kommunistisch ist, war die letzten 30 Jahre auch für die Partei selbst eine schwierige Frage. Nach dem Zusammenbruch von Sowjetunion und DDR ging ihr neben Finanzierung und Infrastruktur auch der ideologische Bezugspunkt verloren.

Die Suche der KPÖ nach einer Neuorientierung können wir anhand ihrer Praxis und ihres Programms verstehen. Eine ehrliche Kritik am Verhältnis der alten und neuen KPÖ zum Kommunismus kann helfen, zu einem erfolgreichen, revolutionären und kommunistischen Widerstand gegen den Kapitalismus zu gelangen.

Gründung und erste Schritte der KPÖ

Die KPÖ war bei ihrer Gründung im November 1918 weltweit eine der ersten kommunistischen Parteien. Ihre Gründung fällt nicht nur international in eine entscheidende Phase, auch für das österreichische Proletariat war 1918 ein bedeutsames Jahr. Nachdem die sozialdemokratische Führung die massenhaften, revolutionären Jännerstreiks erfolgreich abgewürgt hatte, nutzte sie auch im November 1918 ihren Einfluss, um eine Revolution in Österreich zu verhindern. Die Gründung der KPÖ in jener Situation, als das Proletariat in Österreich die entscheidende Kraft war, stellte den einzig richtigen Schritt dar. Nach ersten Anlaufschwierigkeiten konnte sie 1919 massiv Mitglieder gewinnen. „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ war dabei ihre zentrale Losung. Als einzige Kraft arbeitete sie auf den Sturz der bürgerlichen Gesellschaft hin. Mit revolutionären Losungen schaffte es die KPÖ auch, sozialdemokratische Arbeiter:innen für Kampagnen wie jene zur Unterstützung der ungarischen Räterepublik zu gewinnen. Und der jungen Partei gelang es damals – nicht ohne den einen oder anderen Fehler –, revolutionäre Forderungen, Aktionen und eine Ausrichtung auf fortschrittliche Arbeiter:innen zu solider revolutionärer Politik zu kombinieren. Doch die zunehmende Bürokratisierung der Sowjetunion und im weiteren Verlauf der Komintern zeigten auch Wirkung bei der KPÖ. Bereits 1923 beginnt der politische Niedergang der anfangs vielversprechenden revolutionären Kraft.

Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion

Was die stalinistischen Regierungen des so genannten „Ostblocks“ veranstaltet haben, war natürlich kein Kommunismus: Einparteienherrschaft einer sich selbst nachbesetzenden Bürokratie, weder Arbeiter:innendemokratie noch Kontrolle darüber, was produziert wird, Auslöschen der innerparteilichen Opposition, umfassende Polizeirepression und Militärinterventionen in Staaten, die der eigenen Einflusszone zugerechnet wurden – das ist viel, aber sicher kein Sozialismus oder Kommunismus. Und auch den kommunistischen Parteien im kapitalistischen Ausland wurde eine Rolle als linke – aber bestenfalls in Sonntagsreden staatsgefährdende – Teilnehmer:innen am demokratischen Wettbewerb „vorgeschlagen“. Eine Weltrevolution wurde nämlich schon unter Stalin abgelehnt.

Dennoch boten die stalinistischen Staaten ein greifbares Gegenkonzept zum Nachkriegskapitalismus und konnten dem westlichen Imperialismus etwas entgegensetzen: Industrialisierung und „Wettrennen im Weltraum“, aber auch atomare Aufrüstung und Militärinterventionen in Ungarn und der Tschechoslowakei. „Bruderparteien“ wie die KPÖ konnten ihre Führungsaktivist:innen an Parteihochschulen ausbilden lassen und danach mit den Gewinnen als de facto Handelsvertretung im Osten als Hauptamtliche anstellen. Damit gab es zumindest einen Begriff von „Kommunismus“, auf den und dessen Unterstützung sich die KPÖ beziehen konnte.

Das war nicht in jeder Situation ein Vorteil: Zum Beispiel kostete die öffentliche Unterstützung des sowjetischen Einmarschs gegen den Prager Frühling die KPÖ einige Mitglieder und Parteiintellektuelle. Sie blieb in der gesamten Geschichte der Zweiten Republik eine Kleinpartei, konnte sich aber (sicher mithilfe des sowjetischen und ostdeutschen Außenhandels) einen großen Parteiapparat und kulturelle Institutionen leisten.

Scheideweg: Linksreformismus oder Linksreformismus?

Damit war es 1990 vorbei. Seitdem hat sich in der KPÖ einiges getan, etwa die Umstellung auf eine „Aktivist:innenpartei aus Freiwilligen“ und der fliegende Wechsel des Bezugspunkts von KPdSU und SED auf „die sozialen Bewegungen“. Neben einer unübersichtlichen Landschaft aus neuen linken Experimenten (von „Munizipalismus“ bis zu Lesekreisen, die „die Linke“ dekonstruieren wollen), gibt es in Europa zwei grobe Vorbilder für traditionell kommunistische Parteien ohne großen Moskaubezug.

Der Eurokommunismus versucht durch Teilnahme am bürgerlich-demokratischen Prozess (bis hin zur Regierungsbeteiligung) und Verankerung in der traditionellen Arbeiter:innenbewegung einen reformistischen Weg zum Kommunismus oder zumindest einen zu einem von der kommunistischen Partei mitgestalteten Kapitalismus. Beispiele bilden vor allem die Orientierung der kommunistischen Parteien in Italien und Frankreich sowie nach ihrer Gründung die Mehrheit der deutschen Linkspartei[i].

Auf der anderen Seite gibt es die oft vermischten Spielfelder der Transformationstheorie und des Linkspopulismus, die beide eher aus den Universitäten und der intellektuellen Opposition gegen die Moskautreue kommen. Beide versprechen sich, verkürzt gesagt, aus der Eroberung von ideologischen, kulturellen oder, im Linkspopulismus, „diskursiven“ Hochburgen das stückweise Aufbauen einer Alternative zum Kapitalismus, aus der heraus dieser auch überwunden werden kann. Das ist ein Reformismus im ursprünglichen Sinne, der Weg der kleinen Schritte zum Kommunismus[ii].

Die KPÖ seit 1990

Der Zusammenbruch der Sowjetunion brachte einen Wendepunkt für die Welt – und insbesondere für alle Parteien, die wie die KPÖ eine enge Bindung an die Sowjetbürokratie aufwiesen: Es mischten sich Ratlosigkeit und sehr unterschiedliche Vorstellungen über die nächsten Schritte. Vorschläge von der Auflösung in einer breiten linken Formation bis hin zur Rückbesinnung auf den orthodox-stalinistischen „Marxismus-Leninismus“ wurden ernsthaft diskutiert.

Auch finanziell musste sich die KPÖ umstellen: Einen großen Teil ihrer Finanzen hatte sie direkter Unterstützung der und Einbindung in die Außenwirtschaft von Sowjetunion und DDR verdankt. Beispielsweise gab es Firmen im KPÖ-Besitz, die exklusive Geschäfte mit der UdSSR und der DDR abwickelten. So gehörte beispielsweise ein Großteil der Turmöl-Tankstellen bis 1989 über zwielichtige Strohpersonen der KPÖ. Sie deckten teilweise bis zu 80 % des österreichischen Heizölmarktes für Haushalte ab. Als diese Einnahmen wegfielen, musste sich die KPÖ stark umstellen – sie konnte sich beispielsweise bei weitem nicht mehr so viele Angestellte leisten, die hauptberuflich Parteiarbeit leisteten. 2004 verlor die KPÖ durch ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtshofs weiteres Eigentum, das der DDR zugesprochen und zugunsten der Rechtsnachfolgerin Bundesrepublik Deutschland enteignet wurde.

Die vergangenen 30 Jahre der KPÖ sind geprägt von parteiinternen Konflikten, bürokratischen Manövern und immer weniger gemeinsamem Parteiprofil. Als 1990 Walter Silbermayr und Susanne Sohn den Parteivorsitz übernahmen, verlor die KPÖ ein Drittel ihrer Mitgliedschaft, das nicht mit den Vorschlägen zwischen Selbstauflösung bzw. Umwandlung in eine pluralistische Linke einverstanden war. Bereits 1991 endete das Projekt der beiden Vorsitzenden: Sie traten aufgrund mangelnder Unterstützung zurück. Der nächste Parteitag wählte dann Sprecher:innen statt Vorsitzenden und leitete die Dezentralisierung der KPÖ ein. In den kommenden Jahren wurden immer wieder (letzten Endes erfolglose) Versuche getätigt, die KPÖ wieder auf einen funktionierenden Kurs zu bringen.

1994 erhielten die parteiinternen Differenzen bereits einen klaren Ausdruck – es gab offene Konflikte zwischen der Parteiführung und oppositionellen Strömungen wie jenen der neuen Volksstimme oder der Internetplattform „kominform“. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei warfen sich gegenseitig unter anderem Revisionismus und stalinistische Tendenzen vor. Diese Konflikte eskalierten 2001/02 und verzögerten zum Beispiel die damals geplante Programmdebatte.

Ein Wendepunkt für die KPÖ war der Beitritt zur Europäischen Linkspartei im Jahr 2004. Bis dahin hatte sich die KPÖ für einen EU-Austritt starkgemacht. Mit der Position der Europäischen Linkspartei, die eine ökosoziale Reformierung der EU anstrebte, war diese Forderung nicht mehr vereinbar. Der EU-Austritt – bis dahin eine zentrale Forderung der KPÖ – wurde ab sofort nur noch als eine Option betrachtet. Die gleichzeitige Beteiligung an den globalisierungskritischen „Europäischen Sozialforen“ stand im Spannungsverhältnis zu Reformversuchen der imperialistischen EU, wie die KPÖ in ihrer „Politischen Plattform“ 2004 auch bemerkte. Mittlerweile ist dieses Spannungsverhältnis mit dem Niedergang der Sozialforen weitgehend aufgehoben.

Im selben Jahr gründete sich mit der „Kommunistischen Initiative“ eine Plattform der stalinistischen Kräfte innerhalb der KPÖ, die der Parteiführung Verrat am Marxismus vorwarf.

2004 gipfelten die Konflikte in bürokratischen Manövern wie Parteiausschlüssen und innerparteilichen Klagedrohungen (vor bürgerlichen Gerichten) rund um den 33. Parteitag. Die Flügel trugen Konflikte auf organisatorischer statt politischer Ebene aus. Walter Baier gab nach 12 Jahren als Parteivorsitzender auf und trat Anfang 2006 zurück. Die Kommunistische Initiative spaltete sich aufgrund der undemokratischen Vorgehensweise von der KPÖ ab. 2013 konstituierte sie sich als Partei der Arbeit. Der parlamentarisch erfolgreichste Landesverband – die KPÖ Steiermark – weigerte sich, die Beschlüsse des Parteitags anzuerkennen, blieb aber innerhalb der KPÖ und ist seitdem autonom von der Bundespartei.

Diese Spaltung führt auch bis heute zu Auswirkungen auf die Jugend- und Student:innenorganisationen. Der Kommunistische StudentInnenverband (KSV) und die Kommunistische Jugend Österreich (KJÖ) gingen (abseits der Steiermark) mit der Kommunistischen Initiative beziehungsweise der PdA. Erst 2021 wurde das Naheverhältnis aufgekündigt. Die 2017 ausgeschlossenen Jungen Grünen schlossen sich als Junge Linke in einem besonderen Naheverhältnis zur KPÖ an.

Die KPÖ findet weiterhin keine klare gemeinsame Ausrichtung und pflegt stattdessen den Pluralismus nach innen und außen. Als Taktik zum Aufbau oder zum Aufgehen in einer breiteren Linken begibt sie sich vor allem in Wahlbündnisse mit auffällig uneinheitlicher Zusammensetzung. Ein Beispiel ist der Antritt zur EU-Wahl 2004 mit der Plattform LINKE Liste, deren Spitzenkandidat Leo Gabriel sich gegen den Sozialismus aussprach. Einen gemeinsamen Antritt mit mehr Ausdauer bildete die Plattform KPÖ PLUS gemeinsam mit den Jungen Grünen zur Nationalratswahl 2017. Diese Öffnung gegenüber jüngeren linken Kräften begründete das Bündnis der heutigen Jungen Linken mit der KPÖ. Unter demselben Namen traten KPÖ und Umfeld 2019 zur EU-Wahl an und schafften im selben Jahr sogar den Einzug in den Salzburger Gemeinderat. Auch wenn die Öffnung, die die KPÖ mit KPÖ PLUS gegangen ist, einen positiven Schritt in Richtung Handlungsfähigkeit darstellen, so haben sie doch nichts an den grundlegenden politischen Schwächen und der reformistischen Politik der KPÖ selbst geändert.

Gemeinsam mit LINKS konnte die KPÖ 2021 bei der Wiener Gemeinderatswahl  das beste Wahlergebnis (2,06 %) seit fast 50 Jahren erzielen. Die Wahlen in Graz 2021 (28,84 %) und Salzburg 2019 (3,7 %) waren für sie sogar noch beachtlichere Erfolgserlebnisse. In Graz wurde sie stärkste Kraft und stellt mit Elke Kahr die Bürgermeisterin. Zwar war die KPÖ Graz schon davor außergewöhnlich stark, was unter anderem mit einer enormen Schwäche der SPÖ und andererseits einem klaren Fokus auf Kommunalpolitik zusammenhängt. Der Sieg über den ÖVP-Bürgermeister Nagl ist dennoch beispiellos.

Doch auch wenn die Politik der KPÖ-geführten Stadtregierung durchaus fortschrittliche Züge trägt, befindet sie sich in keiner Weise auf Konfrontationskurs mit dem Kapital und dem herrschenden System.

Von der einst revolutionären KPÖ ist nicht mehr viel geblieben. Sie wurde zu einer reformistischen Partei mit traditionalistischen Anhängseln wie der Alfred Klahr Gesellschaft (AKG) oder einzelnen Grundorganisationen. Die letzte bescheidene Verbindung zur Arbeiter:innenklasse behält sie über ihre Gewerkschaftsfraktion, den Gewerkschaftlichen Linksblock (GLB).

Programm der KPÖ: Schrittweise vom Bewegungssozialismus zum Linksreformismus

Das letzte gültige Programm der KPÖ wurde 1994 beschlossen[iii]. Der Titel „Grundzüge einer Neuorientierung“ bezieht sich auf den Zusammenbruch der Sowjetunion. Der hatte, wie erwähnt, die davor eher „moskautreue“ Partei vor große Herausforderungen gestellt, während gleichzeitig die Antiglobalisierungsbewegung der 1990er Jahre von allen Linken eine Umorientierung erforderte.

Dazu kommen noch das Forderungsprogramm von 2007 „KPÖ in Aktion, Partei in Bewegung“[iv] und die programmatischen Leitanträge der Parteitage 2004 („Politische Plattform der KPÖ“)[v], 2011 („Für eine solidarische Gesellschaft“)[vi] und 2017 („Wie Weiter“)[vii]. Die „Politische Plattform“ von 2004 ist zwar kein Programm, schließt aber einige Diskussionen ab, die in den „Grundzügen einer Neuorientierung“ aufgeworfen wurden. Sie definiert als Aufgabe der KPÖ, die radikale Gesellschaftskritik der Antiglobalisierungsbewegung in Reformen des Kapitalismus zu verwandeln. Die beiden Dokumente zur „solidarischen Gesellschaft“ legen daneben die neue Zielsetzung der KPÖ fest, in der die „sozialistische Ausgestaltung“ nur noch eine von vielen wünschenswerten Möglichkeiten ist.

„Grundzüge einer Erneuerung“

Die „Grundzüge einer Neuorientierung“ (1994) wurden vor fast 30 Jahren beschlossen. Das Programm versucht, die doppelte Herausforderung des sowjetischen Zusammenbruchs und der beginnenden Antiglobalisierungsbewegung zu beantworten. Das war auch die Zeit des „Aufspragelns“ der KPÖ zwischen Stalinismus, Eurokommunismus und Transformationsreformismus.

Wie bereits angemerkt, verließen die traditionell stalinistischen (in eigenen Worten „marxistisch-leninistischen“) Teile  als Kommunistische Initiative 2004 die KPÖ und gründeten später die Partei der Arbeit, die sich 2021 noch einmal spaltete. Die Auseinandersetzung zwischen Eurokommunismus und Transformationstheorie fand innerhalb der KPÖ statt.

Grob gesagt versucht der Eurokommunismus eine Mischung aus Kommunismus und westlicher Demokratie in Abgrenzung von den stalinistischen Staaten, also parlamentarischen Reformismus auf Basis der bestehenden KP-Strukturen. Der transformationstheoretische Reformismus sieht hingegen neben parlamentarischer Arbeit (beziehungsweise allgemeiner der Arbeit im bürgerlichen Staat) vor allem Bewegungen, Selbstorganisierung und soziale Zusammenhänge als Ausgangspunkt, mit schrittweisen Verbesserungen, effektiven Brüchen und Machtverschiebungen den Kapitalismus zu überwinden.

Die notwendige radikale Umorientierung nach dem Wegfall von politischem Bezugspunkt und finanzieller Absicherung 1990 spiegelt sich auch im Programm wider. Der Anspruch, als revolutionäre Partei im Klassenkampf voranzugehen, wird eigentlich aufgegeben: „Die ‚Kommunistische Weltbewegung‘, die sie zum Hauptkriterium des ‚Proletarischen Internationalismus‘ machte, wird in der alten Form nicht wieder erstehen. Schon heute ist erkennbar: Der neue Internationalismus wird durch eine Vielfalt von Strömungen (Kommunisten, linke Sozialisten, fortschrittliche Christen u. a.) […] gekennzeichnet sein.“ (KPÖ 1994).

Das Programm positioniert sich tatsächlich antikapitalistisch, aber eigentlich nicht kommunistisch. Aus der notwendigen „Neuerfindung“ der kommunistischen Parteien wird ein positiver Bezug auf die sozialen Bewegungen abgeleitet. Die KPÖ stellt der „Krise der gesamten bisherigen Produktions-, Regulierungs- und Lebensweise des Kapitalismus“ einen linksreformistischen Antikapitalismus entgegen.

Bei Luxemburg soll das kommunistische Programm eine Kampfanleitung für die Arbeiter:innenklasse sein, vom Hier und Jetzt mit jedem Schritt zum Sozialismus[viii]. Gerade dieser Bezugspunkt fehlt dem Programm der KPÖ aber. Sie bekennt sich zur kommunistischen Gesellschaft als langfristigem Projekt, lehnt aber ab, sie zum konkreten Ziel zu machen: „Weil ein solcher Prozess ständige Weiterentwicklung bedeutet, sind vorgefertigte ‚Sozialismusmodelle‘ verfehlt“ (KPÖ 1994).

Die neue Gesellschaft, die sie im Bündnis schaffen will, soll zwar soziale Gleichberechtigung, Menschen- und Bürger:innenrechte verwirklichen. Die soziale Umwälzung, die in einem kommunistischen Programm die Aufhebung der Klassenwidersprüche wäre, wird aber auf die Schaffung einer Gesellschaft reduziert, die „soziale Sicherheit für alle als Voraussetzung für freie und gleichberechtigte Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess verwirklicht, [..] gesellschaftliche Eigentumsverhältnisse [schätzt], […] [und] in der Demokratie den Alltag erfaßt und auf den Arbeitsprozeß ausgedehnt wird “ (KPÖ 1994).

„Politische Plattform der KPÖ“ (2004)

Die „Politische Plattform der KPÖ“ von 2004 spielt eigentlich eine ähnliche Rolle wie das Programm von 1994 „Grundzüge einer Neuorientierung“. Sie bettet die Aufgaben der KPÖ noch mehr in die globalisierungskritische Bewegung, aber auch in das Bekenntnis zur EU ein, das mit Beitritt zur und dem Aufbau der Europäischen Linkspartei abgelegt wurde. In der „Politischen Plattform“ bezeichnet sich die KPÖ als antikapitalistische Partei und verbindet das mit einem Schwerpunkt auf den antipatriarchalen Kampf. Daraus schließt das Programm: „Wichtigste Aufgabe der KPÖ ist es, zu einer breiten und vielfältigen antikapitalistischen und antipatriarchalen Bewegung beizutragen“.

Die Plattform beginnt mit einer Analyse des „normalen Kapitalismus“ und seiner neoliberalen Besonderheiten. Der Bezug auf den Nachkriegskapitalismus romantisiert diesen Normalzustand, bezieht sich auf Lohnwachstum und Sozialstaat. Kritisiert werden nur Ausformungen wie die patriarchale Aufteilung von produktiver und reproduktiver Arbeit. Die Grundlagen des Kapitalismus in dieser (und jeder anderen) Zeit waren aber auch die Unterdrückung des Arbeiter:innenwiderstands, die rassistische Überausbeutung von Arbeitsmigrant:innen, koloniale und neokoloniale Schreckensherrschaft, Kriegstreiberei bis zur atomaren Aufrüstung und Umweltzerstörung.

Nach einer Beschreibung von normalem, neoliberalem und neoimperialistischem Kapitalismus (vor allem unter dem Eindruck des „Kriegs gegen den Terror“) macht die KPÖ den Übergang vom Sein zum Tun am „Widerspruch unserer Epoche“ fest: Der Neoliberalismus als „passive“, innerkapitalistische Revolution von oben und die Globalisierung führten zu einer Entwicklung der Produktivkräfte, die sich in der „revolutionär[n] Dialektik […] „Eine andere Welt ist möglich!“ […] ausdrückt. Sie sieht ihre Rolle vor allem in der Gegenbewegung – der „Bewegung der Bewegungen“ – analysiert aber auch, dass deren Forderungen nur im Bündnis mit Arbeiter:innenklasse und Gewerkschaften durchgesetzt werden können.

„Der grundlegende Klassenwiderspruch im Kapitalismus zwischen Kapital und Arbeit führt auch dazu, dass die neuen Produktivkräfte in der heutigen Zeit einerseits ein ungeheures Vernichtungs- und Gefahrenpotential, andererseits aber auch Möglichkeiten für die Gestaltung einer neuen, höheren Stufe der menschlichen Zivilisation in sich bergen. Diese revolutionäre Dialektik der Epoche ist es, die in der Losung der globalisierungskritischen Bewegung – ‚Eine andere Welt ist möglich!‘ ausgedrückt wird.” (KPÖ 2004)

Trotz Bekenntnis zu Kommunismus und Marx sowie harten Worten gegen Kapitalismus und sozialdemokratischen Reformismus ist die „Politische Plattform“ der KPÖ ein linksreformistisches Programm. Dabei unterscheidet es sich vom sozialdemokratischen Reformismus, der durch Reformen den Kapitalismus erträglicher machen möchte. Der Linksreformismus der KPÖ ist die Ansage, durch Pluralität, einem breiten Verständnis von Partei sowie Sozialismus („Sozialistisch ist jene Gesellschaft, in der die Bewegung zur Überwindung des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln eine hegemoniale Rolle spielt“) und kleinen Verbesserungen die Überwindung des Kapitalismus möglich zu machen:

„Die politische Funktion von KommunistInnen ist es daher, in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld die Notwendigkeit von (gesellschaftspolitischen) Veränderungen bewusst zu machen: • Bedürfnisorientiertes Wirtschaften auf der Basis des gesellschaftlichen Besitzes der Produktionsmittel anstelle der mörderischen Jagd nach Profiten • Tatsächliche Gleichberechtigung anstelle der patriarchalen und rassistischen Segmentierung der Gesellschaft • Sozialismus anstelle der Herrschaft des Kapitals • Hinterfragen der persönlichen Lebensgewohnheiten • Besinnen auf die „Qualität“ des Lebens“ (KPÖ 2004).

Die solidarische Gesellschaft (2011)

Unabhängig vom Weg zur freiwilligen Aktivist:innenpartei nach 1990 veränderte die KPÖ sowohl ihre programmatischen Grundlagen als auch ihre Praxis. Der Fokus auf die Einbettung in Bewegungen vor Ort und auf europäischer Ebene (vor allem die Europäische Linkspartei und das transform-Netzwerk) spiegelte sich auch in einer stetigen Neudefinition ihrer gesellschaftlichen Ziele wider. Ganz grob gesagt wurde das Vorbild des stalinistischen bürokratischen „Arbeiter:innenstaats“ ersetzt durch eine „solidarische Gesellschaft“, die zwar im Widerspruch zum Kapitalismus steht, diesen aber nicht notwendigerweise ersetzen muss. Das ist eine humanistische Utopie, weil sie die ökonomische Diktatur des Kapitals mit der politischen Gestaltung durch die Unterdrückten vereinbaren möchte. Sie ist auch der Übergang vom Transformationsreformismus, der den Kapitalismus durch viele kleine Schritte in die richtige Richtung überwinden will, zum Mitverwaltungsreformismus, der durch Teilhabe und Bewegungen von unten einen lebenswerten Kapitalismus für möglich hält.

Die „Solidarische Gesellschaft“ von 2011 ist kapitalismuskritisch, aber nicht antikapitalistisch. Sie ist nicht bedingungslos auf die Überwindung des Kapitalismus ausgerichtet und begründet deshalb auch nicht die Alternativlosigkeit des kapitalistischen Untergangs. Statt Luxemburgs „Sozialismus oder Barbarei“ wird, ähnlich wie von Bernstein, die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus an die von ihm selbst zugespitzten Widersprüche angenommen.

Gleichzeitig ist das Programm natürlich nicht kapitalismusunkritisch. Es betont, dass das Konkurrenzprinzip im Kapitalismus alternativlos ist und sich als Verwertungslogik in allen Lebensbereichen niederschlägt. Der Fokus der Kritik liegt auf dem „Kreislauf aus ökonomischer Profit- und hegemonialer Hegemonieproduktion“ (KPÖ 2011). Die Handlungsanweisung, die aus dieser Kritik entsteht, ist der Aufbau der solidarischen Gesellschaft als „Strategie des Lebens und Überlebens im System und dessen gleichzeitiger Überwindung“ (KPÖ 2011). Die Analyse ist im Grunde transformationstheoretisch. Sie geht von verknüpften und schrittweisen Kämpfen aus, die im Kapitalismus solidarische Lebensentwürfe ermöglichen und so an dessen Grundfesten rütteln. Sie stützt sich auf sechs Aufgaben (gewerkschaftliche Praxis, Widerstand gegen Sozialabbau, demokratische Teilhabe, Pluralismus/Diversität in der Bewegung, Antirassismus und Vergesellschaftung der Lebensgrundlagen). Dafür wird Luxemburgs Begriff der revolutionären Realpolitik verwendet, was für eine neogramscianisch-transformationstheoretische Position typisch ist. Gleichzeitig wird der Antireformismus vor allem von Luxemburg, aber auch von Gramsci unterschlagen. Das Programm stellt elf Forderungen auf, mit denen sich die KPÖ in die Bewegung für die solidarische Gesellschaft einbringen möchte, von sozialer Existenzsicherung und Umverteilung des Reichtums bis zu ökologischer Transformation und Antimilitarismus.

Diese Forderungen sind radikal reformistisch und entsprechen dem Minimalprogramm der frühen Sozialdemokrat:innen und der Stalinist:innen. Aber sogar das sozialistische Maximalprogramm wird nicht einfach auf Sonntagsreden beschränkt, sondern gleich auf eine von mehreren möglichen Ausgestaltungen der solidarischen Gesellschaft reduziert. Das ist eine Willensbekundung, keine sozialistische Methode. Sie bietet weder die von Luxemburg eingeforderten Schritte für das Proletariat, vom Hier und Jetzt bis zum Sozialismus, noch eine Begründung für eine grundlegende Ablehnung des Kapitalismus. Folgerichtig auch kein Wort über das revolutionäre Subjekt, das diesen überwinden kann und muss.

Die KPÖ ist pluralistisch in ihrem Linksreformismus

Der neue Bundessprecher:innenrat, den die KPÖ 2021 gewählt hat, ist ein weiterer Versuch, eine Identität als Partei zu finden beziehungsweise diese zu erneuern. Die Widersprüche in den programmatischen Dokumenten, zum Beispiel der zwischen EU-Reformierung und Antiglobalisierungsbewegung, werden auch angesprochen.

Vor 1990 hat sich die KPÖ als linker Teil des österreichischen Staatsprojekts verstanden. Das war vor allem eine außenpolitische Rolle im Auftrag der bürokratischen Herrschaft von DDR und Sowjetunion, die in Österreich einen neutralen und ungefährlichen Kapitalismus haben wollten, aber keine Revolution und auf gar keinen Fall eine tatsächlich sozialistische Entwicklung. Diese Rolle wurde der KPÖ vom österreichischen Kapital und seinen sozialdemokratischen Verbündeten aber auch nicht zugestanden.

Programm und Praxis der KPÖ schwanken heute, je nach Bundesland, zwischen Mitgestaltung der Lokalpolitik und dem Versuch, radikalreformistische Bewegungen loszutreten. Der Pluralismus, auf den sich die KPÖ beruft, ist nicht stolz. Er bringt nicht verschiedene kämpfende Aktivist:innengruppen aus unterschiedlichen Richtungen zusammen, sondern repräsentiert viele bisher erfolglose Versuche, sich aus der gegenwärtigen Schwäche der Linken zu befreien. Das spiegelt sich auch in den Programmen wider. Wie die frühsozialdemokratischen und stalinistischen Programme spalten sie tagesaktuelle Minimalforderungen und langfristige „Maximalforderungen“ auf, wobei das Minimalprogramm die Einheit der Partei sicherstellen soll und das Maximalprogramm immer weiter zurückgedrängt wird. Aber selbst das Maximalprogramm ist so vage, dass zwischen „solidarischer Gesellschaft“ und Sozialismus alles denkbar ist.

Eine revolutionäre Partei muss Debatten offen führen und verschiedene Meinungen aufeinandertreffen lassen. Aber sie muss diese Debatten auch in ein gemeinsames Verständnis und eine kollektive Praxis überführen, die den Kapitalismus überwindet. Dazu gehört auch die Einsicht, dass ein schrittweises Verbessern bis zur klassenlosen Gesellschaft eine utopische Illusion ist. Sie scheitert in dem Moment, wo sie eine kritische Masse erreicht hat, am bewaffneten und gut organisierten Widerstand der herrschenden Klasse. Eine revolutionäre Partei braucht ein Übergangsprogramm, das die brennendsten Probleme der Unterdrückten aufgreift und mit Zielen versieht, um die es sich zu kämpfen lohnt. Weil die kapitalistische Produktionsweise im Zentrum der meisten brennenden Probleme (zum Beispiel Armut, Hunger, Krieg und Umweltzerstörung) steht und die Forderungen den Aufbau proletarischer Gegenmacht in den Mittelpunkt stellen, führen diese Antworten über den Kapitalismus hinaus. Sie verwandeln den Kampf gegen Verschlechterungen in einen gegen deren Ursache.

Und jetzt?

Die Aufgaben der KPÖ in den letzten 30 Jahren waren unglaublich schwierig. Dass die ideologische und finanzielle Grundlage ihrer Arbeit weggebrochen war, während gleichzeitig ein neues und unübersichtliches Kapitel im weltweiten Klassenkampf begonnen hatte, ist kein Zufall: Der Zusammenbruch der Sowjetunion, ein imperialistisches Rennen um die Aufteilung der dadurch frei gewordenen Märkte und Einflusszonen (Globalisierung) und der entstehende breite Widerstand waren eng miteinander verwoben. Aber für die KPÖ kam zu den Herausforderungen für alle Linken auch noch die interne Neuordnung hinzu. Die herrschende Bürokratie in der „kommunistischen“ Weltbewegung hatte sich selbst diskreditiert. Das wäre eine Chance für die KPÖ-Basis gewesen, zu einer Klassenkampfpartei zu werden, in manchen Aspekten zurückzukehren zu ihren revolutionären Wurzeln der Ersten Republik, in anderen Aspekten nach vorne zu gehen zu einer revolutionären Politik des 21. Jahrhunderts. Das ist ihr nicht gelungen.

In den vergangenen Jahren hat die KPÖ es allerdings geschafft, ihre Mitgliedschaft zu öffnen und zu verjüngen. Das zeigt sich auch am neuen Bundessprecher:innenrat, dessen Mitglieder zum Teil aus der neu gewonnenen Jungen Linken kommen. Die aktiveren und erfolgreichen Wahlkämpfe in Wien, Salzburg und Graz, aber auch Kampagnen zu Preiserhöhungen und leistbarem Wohnen zeigen, dass sich die KPÖ zumindest in einzelnen Feldern auf eine gemeinsame und öffentlichkeitswirksame Aktivität einigen kann.

Sowohl die Wahlprogramme als auch die radikalen, aber radikal reformistischen Forderungen der Kampagnen zeigen aber, aus welcher politischen Einigung die neue Handlungsfähigkeit stammt. Die KPÖ hat sich in den letzten 30 Jahren von einer stalinistischen zu einer plural-linksreformistischen Partei gewandelt. Auch die Veränderung der programmatischen Dokumente geht in dieselbe Richtung (weg vom Kommunismus, hin zur „solidarischen Gesellschaft“, weg vom Antikapitalismus hin zum „Beitragen zu den sozialen Bewegungen“). Das kann sich durchaus noch ändern, wenn die Grenzen der reformistischen Politik in der Praxis offensichtlich werden (solange sie sich auf Forderungen und Öffentlichkeitsarbeit beschränken, sind sie oft nicht so spürbar).

Eine handlungsfähige linksreformistische Kraft ist besser als keine. Aber um die sich zuspitzenden kapitalistischen Widersprüche – von Klimakatastrophe bis zur Weltkriegsgefahr – auflösen zu können, braucht es eine revolutionäre Perspektive. Die KPÖ hat eine solche im Moment nicht und es wird ihr angesichts ihrer programmatischen Orientierung auch keine in den Schoß fallen.

Endnoten

[i] Martin Suchanek, 2015, „Krise, Klasse, Umgruppierung. Strategie und Taktik in der aktuellen Periode.“ Revolutionärer Marxismus 47, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm47/umgruppierung.htm

[ii] Eine ernsthafte Besprechung der Transformationstheorie kann man zum Beispiel bei Markus Lehner, 2017, „Modell Oktoberrevolution. Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption.“ Revolutionärer Marxismus, 49, nachlesen. http://www.arbeitermacht.de/rm/rm49/modelloktoberrevolution.htm

[iii] KPÖ, 1994, „Grundzüge einer Erneuerung“. https://alte.kpoe.at/home/positionen/programmatik-kpoe/beschluesse-und-grundlagen/1994/grundzuege-einer-neuorientierung.html

[iv] KPÖ, 2007, „KPÖ in Aktion. Partei in Bewegung.“ https://alte.kpoe.at/home/positionen/programmatik-kpoe/34-parteitag/2007/beschluss-forderungsprogramm-kpoe-in-aktion-partei-in-bewegung.html

[v] KPÖ, 2004, „Politische Plattform der KPÖ“. https://alte.kpoe.at/home/positionen/programmatik-kpoe/beschluesse-und-grundlagen/2004/politische-plattform-der-kpoe.html

[vi] KPÖ, 2011, „Für eine solidarische Gesellschaft“. https://alte.kpoe.at/home/positionen/programmatik-kpoe/35-parteitag/35-pt-beschluesse/2011/leitantrag-fuer-eine-solidarische-gesellschaft.html

[vii] KPÖ, 2017, „Wie Weiter“. https://alte.kpoe.at/partei/positionen/2017/quot-wie-weiter-quot-leitantrag-des-37-parteitags.html

[viii] „Ist unser Programm einmal die Formulierung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus, dann muß es offenbar auch alle Übergangsphasen dieser Entwicklung formulieren, in sich in den Grundzügen enthalten, also auch das entsprechende Verhalten im Sinne der Annäherung zum Sozialismus in jedem Moment dem Proletariat anweisen können. Daraus folgt, daß es überhaupt für das Proletariat keinen Augenblick geben kann, in dem es gezwungen wäre, sein Programm im Stiche zu lassen, oder wo es von diesem Programm könnte im Stiche gelassen werden.“ Rosa Luxemburg, 1899. „Sozialreform oder Revolution“, Abschnitt 3 „Die Eroberung der politischen Macht“




Parteiordnungsverfahren gegen Schröder scheitert: Genosse der Bosse bleibt SPD-Mitglied

Martin Suchanek, Infomail 1195, 9. August 2022

Längst ist der einstige SPD-Vorsitzende und Bundeskanzler, Gerhard Schröder, seiner Partei zur politischen Last geworden. Doch so schnell wird die Sozialdemokratie jenen Mann nicht los, der ihr einst den Sieg über Helmut Kohl und eine rot-grüne Regierung einbrachte – und dessen Kabinett uns die Unterstützung der Kriege gegen Jugoslawien und Afghanistan, Hartz- und Agenda-Gesetze bescherte.

Doch wegen der rot-grünen Regierungspolitik im Interesse des deutschen imperialistischen Kapitals stand Schröders SPD-Mitgliedschaft ohnedies nie zur Disposition. Unterordnung unter die Interessen der herrschenden Klasse gehört schließlich seit dem August 1914 zum Wesen sozialdemokratischer Politik.

Schiedskommission

17 SPD-Gliederungen hatten in den letzten Monaten vielmehr die Einleitung eines Parteiordnungsverfahrens gegen Schröder – also faktisch dessen Ausschluss – gefordert wegen seiner prorussischen Politik, seiner Freundschaft zu Putin und seiner geschäftlichen Verstrickung mit russischen Energiemonopolen. Vor der Schiedskommission des SPD-Unterbezirks Region Hannover wurden diese Anträge am 7. August allesamt zurückgewiesen. Weitere Instanzen und möglicherweise der Weg vor bürgerliche Gerichte könnten folgen.

Wie schwer oder leicht der SPD die Trennung vom peinlich gewordenen Ex-Kanzler fallen mag, der sein Parteibuch partout nicht freiwillig abgeben will, interessiert uns ebenso wie die Parteiordnung der Sozialdemokratie nur am Rande. Wie einst beim Rechtspopulisten Thilo Sarrazin mag sich ein Ausschlussverfahren über Jahre hinziehen und der bürgerlichen politischen Konkurrenz ständig leichte Munition gegen die Sozialdemokratie liefern. Insofern würde die SPD-Spitze den Fall wohl am liebsten ad acta legen und hofft wohl darauf, dass das Thema „einschläft“, was freilich wenig mehr als ein frommer Wunsch sein dürfte, solange der Krieg um die Ukraine weiter wütet.

So tröstet sich der Co-Vorsitzende Lars Klingbeil mit der Behauptung, dass „Gerhard Schröder mit seinen Positionen in der SPD isoliert“ wäre. Mag sein.

Nicht bloß eine Personalie

Unter den Tisch soll dabei wohl gekehrt werden, dass es mit der Distanzierung von Schröder keineswegs bloß um eine unliebsame Personalie und einen störrischen Ex-Vorsitzenden und -Kanzler geht, der sich mit „seiner“ Partei entzweit hat. Schröder und seine Kabinette standen – wie übrigens auch jene von Kohl und die ersten Merkels – für die außenpolitische Doktrin einer strategischen Partnerschaft mit Russland.

Diese Ausrichtung stellte keineswegs weder bloß Schröders Privatmeinung dar noch beruhte sie, wie es heute die Weißwäscher:innen des aktuellen Kurses der Bundesregierung darstellen, auf einer „naiven“ Einschätzung Putins oder Russlands – und erst recht nicht auf „Männerfreundschaften“.

Die durchaus immer schon fragwürdige Kumpanei eines Kohl mit Jelzin, eines Schröder mit Putin symbolisierte in Wirklichkeit nur eine andere strategische Ausrichtung des deutschen (wie auch des französischen) Imperialismus in den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf einen eigenständigeren, zur Weltmacht fähigen, von Deutschland und Frankreich geführten imperialen EU-Block. In diesem Rahmen zielte die Partnerschaft mit Russland immer auf dieses Land als Juniorpartner ab, als militärische und geopolitische Größe, die allerdings ökonomisch immer nur eine zweite oder dritte Geige spielen konnte.

Diese strategische Option des deutschen und französischen Imperialismus stellte damals für die USA eine globale Herausforderung dar – und, wäre sie aufgegangen, keine geringere als das heutige China. Die Ukrainepolitik der USA bildete dabei seit 2004 einen der Hebel, um diese mögliche Allianz zwischen Berlin, Paris und Moskau zum Scheitern zu bringen. Spätestens 2014 waren die USA darin so weit erfolgreich, dass die „Partnerschaft“ mit Russland aufgekündigt werden musste. Mit dem Krieg 2022 ist an eine Rückkehr zu diesem Kurs, jedenfalls für die absehbare Zukunft, nicht mehr zu denken.

Derweil müssen die imperialistischen Ambitionen Deutschlands und der EU daher im Rahmen einer US-geführten westlichen Kooperation und NATO-Kriegsallianz verfolgt bzw. bewältigt werden. Für Schröder und anderer Vertreter:innen seines außenpolitischen Kurses findet sich im bürgerlichen politischen Establishment auf absehbare Zeit kein Platz. Daher ging er einiger seiner Privilegien als Ex-Kanzler Verlust, daher will heute in der SPD niemand oder jedenfalls niemand, der/die einen Posten an der Spitze ergattern will, Schröders Namen auch nur in den Mund nehmen.

Doppelmoral

Zweifellos. Schröders zynisch-makabere Unterstützung der russischen Aggression, seine Tätigkeit für das Monopolkapital, die Kumpanei mit dem von ihm zum „lumpenreinen Demokraten“ verklärten Bonaparten Putin empören zu Recht Tausende, wenn nicht Zehntausende sozialdemokratische Parteimitglieder. Sicherlich wollen viele von ihnen aus ehrlichen, gerechtfertigten Motiven endlich den Genossen der Bosse loswerden – nicht nur wegen seiner Russland-, sondern gerade auch wegen der Regierungspolitik unter und seit seiner Amtszeit.

Afghanistan-, Jugoslawienkrieg, EU-Austeritätspolitik und Spardiktate, Hartz-Gesetze, Agenda 2010 und massive Ausweitung des Billiglohnsektors – dafür stand und steht Schröder. Doch nur er? Wohl nicht. Vom Kanzler Scholz abwärts exekutieren die Spitzen der SPD seit Jahren und Jahrzehnten diese Politik des Altkanzlers. Gewandelt hat sich im Wesentlichen „nur“ die außenpolitische, imperiale Ausrichtung.

Doch die zynische Beschönigung der russischen Invasion in der Ukraine darf nicht vergessen machen, dass der NATO-Krieg gegen Afghanistan nicht minder barbarisch war. Wer Schröder wegen seiner menschenverachtenden Pro-Putin-Politik anklagt und vor das SPD-Schiedsgericht bringt, muss sich zumindest die Frage gefallen lassen, warum niemand wegen des nicht minder reaktionären Afghanistankrieges, der Zustimmung zum 100-Milliarden-Sondervermögen, zur NATO-Aufrüstung und –Expansion ein Parteiordnungsverfahren fürchten muss(te).

Die Antwort fällt wenig schmeichelhaft aus – auch wenn es manche SPD-Mitglieder nicht hören wollen: Wer die „richtige“, d. h. westliche imperialistische Politik unterstützt, ist in der SPD gut aufgehoben.