Erneuerung der Gewerkschaften – oder des Apparats?

Mattis Molde, Neue Internationale 274, Juni 2023

Es war die fünfte Konferenz dieser Reihe und von der Teilnehmer:innenzahl, die bei weitem größte. “Gewerkschaftliche Erneuerung“ ist ihr Titel. Die erste dieser Art 2011 in Stuttgart hatte noch „Erneuerung durch Streik“ als Perspektive. Das wäre aber etwas zu dick aufgetragen gewesen, angesichts der Tatsache, dass die IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie, ver.di bei der Post und im Öffentlichen Dienst mit aller Macht Streiks verhinderten und Reallohnverluste für die nächsten Jahre vereinbart haben.

Abfeiern der Tarifrunden

1700 Teilnehmer:innen in Bochum belegen, dass ein Interesse am Austausch und an einer Diskussion der Zukunft der Gewerkschaften angesichts von Inflation, Krieg und Klimakatastrophe besteht.

Streiks, die mit Erfolgen enden, hätten die Gewerkschaften in Deutschland aber definitiv mehr in Bewegung gebracht, als diese Konferenz.

Bei den großen Tarifrunden im letzten halben Jahr waren Hunderttausende in Warnstreiks und ähnlichen Aktionen beteiligt. Erkämpfte Erfolge gegen die Inflation und Siege gegen Angriffe auf das Streikrecht wären eine reale „better practice“ der Gewerkschaften gewesen, als die vielen kleinen Beispiele von best practice, die in Bochum verklärt wurden. Eine realistische Bilanz der Tarifrunden kam mit ihren zentralen Fragestellungen in Bochum nicht oder kaum vor.

Beim Eröffnungsplenum kam weder bei Hans-Jürgen Urban vom IGM Vorstand, noch bei Heinz Bierbaum, dem Vorsitzenden der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS), das Wort Reallohnverlust oder – entwicklung vor. Eine „völlige Kompensation der Inflation“ sei zwar nicht gelungen, so zitierte Bierbaum in dem Beitrag „Gewerkschaftliche Kämpfe im Aufwind“ vor der Konferenz Kritiker:innen aus der IGM. Der folgenden Lobeshymne tat das aber keinen Abbruch:

„Die Resultate, die bislang in den Tarifrunden erreicht wurden, können sich sehen lassen. Den Anfang machte die IG BCE im Oktober letzten Jahres mit einem Abschluss von 6,5 Prozent und einer Ausgleichszahlung von 3.000 Euro mit einer Laufzeit von zwei Jahren. Etwas höher war der Abschluss der IG Metall im November 2022 mit einer Erhöhung von 8,5 Prozent bei einer zweijährigen Laufzeit und einer Zahlung von 3.000 Euro netto zum Ausgleich der Inflation. Allerdings gab es auch erheblich Kritik an diesem Abschluss. Trotz der massiven Warnstreiks sei die Mobilisierung unzureichend gewesen, so dass auch keine völlige Kompensation der Inflation gelungen sei. Auf der anderen Seite ist der Abschluss auf einen breiten Konsens der Beschäftigten gestoßen. Und man muss auch berücksichtigen, dass die Lage in der Metallindustrie äußerst schwierig ist, verursacht nicht nur durch die schwache Konjunktur, sondern besonders auch durch die tiefgreifenden Transformationsprozesse. Sehr bemerkenswert ist der Abschluss bei der Post, die bei einer Forderung von 15 Prozent neben beträchtlichen Einmalzahlungen mit einer Lohnerhöhung von 340 Euro im Schnitt eine Erhöhung um 11 Prozent erreicht hat, die sogar bei den untersten Lohngruppen noch deutlich höher ausfällt. Offensichtlich haben die erfolgreiche Urabstimmung und die Entschlossenheit, auch zu streiken, ausgereicht, um zu diesem Abschluss zu kommen.“

Dasselbe Abfeiern der Tarifergebnisse gab es auch aus dem Munde von Thorsten Schulten vom WSI, dem Institut der Hans-Böckler-Stiftung in der AG „Tarifrunden in Zeiten von Inflation, sozialem Protest und konzertierter Aktion“. Auch die anderen Redner:innen bemühten sich darum, die Tarifergebnisse schönzureden, einzig Jana Kamischke, Vertrauensfrau und Betriebsrätin am Hamburger Hafen vertrat eine kritischere Position.

In einem solchen politischen Rahmen erhalten die an sich richtigen Aussagen, dass es in Tarifrunden insbesondere bei der Post und im Öffentlichen Dienst eine bemerkenswerte Beteiligung von neuen und jungen Kolleg:innen gegeben hatte, eine andere Bedeutung.

Denn das kritiklose Abfeiern der gestiegenen Aktivitäten bedeutet nichts weiter als eine politische Flankendeckung des Apparates. Und die weitgehende Akzeptanz dieser Politik auf der Bochumer Konferenz verdeutlichen leider, dass es bislang gelungen ist, auch diese gestiegene Kampfbereitschaft in die Bahnen der Kontrolle durch den Apparat zu halten. Die Organisator:innen der Konferenz, die selbst aus dem linken Apparat stammen und politisch den Gewerkschaftsflügel der Linkspartei ausmachen, vergaßen dabei nicht zu erwähnen, dass dies ihren „innovativen“ Methoden geschuldet sei und dass es folglich nötig sei, dass diese linken Apparatschiks eine größere Rolle brauchen für die Umsetzung der gemeinsamen Ziele mit rechten Bürokrat:innen.

Die „gewerkschaftliche Erneuerung“, so ließen viele Vertreter:innen der RLS und der verschiedenen Organizing-Initiativen verlauten, das sind „wir“. Und mit dem „wir“ meinen sie nicht die gewerkschaftliche Basis, sondern die hauptamtlichen Kräfte und die als Organizer:innen Angestellten, die letztlich den linken Flügel des Apparates, aber keine antibürokratische Kraft bilden.

Kritik an der Gewerkschaftsführung?

Nur in wenigen Beiträgen von den Podien schimmerte eine Kritik an der derzeitigen Orientierung der Gewerkschaften und ihrer Führung durch.

So kritisierte Frank Deppe im Themenseminar „Die Waffen nieder! Gewerkschaften in Kriegszeiten gestern und heute“ die sozialpatriotische Politik der Gewerkschaften und ihre faktische Unterstützung von NATO-Erweiterung und Aufrüstung offen und eine Reihe von Redner:innen forderte unter Applaus, dass diese Konferenz eine klare Positionierung gegen die Politik wie überhaupt eine Abschlussresolution verabschieden solle, die sich gegen Sozialpartner:innenschaft und nationalen Schulterschluss mit der Regierung wendet. Doch dabei blieb es auch. Die Organisator:innen der Konferenz hatten nie vorgesehen, dass am Ende der Veranstaltung eine politische Resolution stehen solle, die sie zu einem politischen Handeln verpflichten könnte.

Einigermaßen kritische Töne gegen den Apparat und dessen Legalismus gab es nach Abschluss der Konferenz durch Wolfgang Däubler, der auf die Notwendigkeit des Generalstreiks als politische Waffe gegen die aktuellen Angriffe hinwies.

Bezeichnenderweise hielten diese Beiträge nicht Vertreter:innen der Gewerkschaften, sondern emeritierte Professoren. Sie bildeten letztlich nicht mehr als die kritische Filmmusik zum selbstgefälligen Abfeiern der eigenen „Erneuerung“. So werden Beiträge, die eigentlich konkretisiert und gegen die Bürokratie gerichtet werden müssten, noch zum Beleg für die „Offenheit“ und „Selbstkritik“ der gesamten Veranstaltung.

Kritik an den Apparaten fand insgesamt kaum statt. Wurde in irgendeiner der vielen AGen die Aussage der DGB-Vorsitzenden Fahimi angesprochen, die vor einem halben Jahr gefordert hatte, dass auch Betriebe, die Staatsknete als Energie-Beihilfen erhalten, Boni und Dividenden ausschütten dürfen? Wurde der „Aktionstag“ von IGM, IGBCE und IGBAU skandalisiert, an dem die „bezahlbare Energie“ von der Regierung gefordert wurde – nicht für die Arbeitenden, sondern für die Großunternehmen der Stahl-, Alu und Chemieindustrie? Wo wurde die „Konzertierte Aktion“ angegriffen, als Ausdruck der prinzipiell falschen Sozialpartnerschaft, deren verhängnisvolle Rolle sich gerade in den Tarifkämpfen gezeigt hatte?

Schönreden der Klimapolitik

In der AG 4 „Abseits des Fossilen Pfades“, der tatsächlich noch eine Autobahn, eine Highway to hell ist, bemühte sich Stefan Lehndorf, auch noch jede Alibi-Aktion von Unternehmen, Regierung und IGM schönzureden. So gäbe es „Transformations.Workshops“ in den Betrieben, die durch die Produktumstellung von Arbeitsplatzabbau bedroht seien. Ist Transformation – oder Konversion, wie eine Vertreter der „Initiative Klassenkampf und Klimaschutz“ forderte – der Produktion ein gesellschaftliches Problem oder ein betriebliches? Müssten gerade Gewerkschaften, die sich als „Treiber der Transformation“ sehen (Lehndorf) nicht betriebsübergreifend eine Programmatik und Aktionsplanung haben, anstatt nur betrieblich dem Kapital alternative Produkte vorzuschlagen und es seiner Willkür zu überlassen, ob und wo diese produziert werden?

In dieser AG war immerhin – im Unterschied zu vielen anderen – Diskussion zugelassen, nicht nur Fragen, wie z. B. in der AG 16 (Gegen Betriebsschließungen) oder ergänzende Berichte, wie im Forum zu Tarifrunde Nahverkehr. Wo es mal Kritik gab, wurde diese mit Selbstzensur vortragen oder von den Adressat:innen übergangen.

Beispiel Borbet Solingen: Rund 15 Beschäftigte waren zur Konferenz nach Bochum gekommen und zeigten mit Sprechchören ihre Empörung. Auf dem Podium aber saß neben den neuen Belegschaftsvertretern und Aktivisten Alakus und Cankaya der Geschäftsführer der IGM Solingen-Remscheid, Röhrig, der nichts dazu sagte, warum die IG Metall den früheren Betriebsratsvorsitzenden unterstützt hatte, warum sie ein Jahr lang fruchtlose Verhandlungen mitgemacht hatte, ohne einen betrieblichen Widerstand aufzubauen.

„Lösung“ im Kleinformat

Grundsätzlich lag das politische Problem der Konferenz aber darin, dass der Blick auf die Probleme – und somit auf die möglichen Lösungen – selbst im voraus verengt wurde. Und dies ist kein Betriebsunfalls, sondern gewollt, ja erscheint geradezu als Erfolgsgarant. So heißt es im Artikel „Durch Erneuerung in die Offensive“ von Fanny Zeise und Florian Wilde:

„Zu den Erfolgsrezepten der Konferenzen gehört, dass sie nicht ideologisch-programmatische Fragen zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die Herausforderungen der tagtäglichen Gewerkschaftsarbeit und das breit geteilte Bedürfnis nach einer Erneuerung der Gewerkschaften. Dadurch kann sie Anschlussfähigkeit über die klassischen linksgewerkschaftlichen Milieus hinaus erreichen sowie eine gewerkschafts- und generationenübergreifende Ausstrahlung entfalten. Wichtig ist dabei auch, dass kritische Positionen nicht sektiererisch und rückwärtsgewandt, sondern solidarisch, vorwärtsgewandt und im Sinne einer Stärkung der Gewerkschaften formuliert werden.“

Das aktive Verdrängen der „ideologisch-programmatischen“ Fragen ist nichts anderes als ein Codewort dafür, die Kritik an der Gewerkschaftsführung und das Herausarbeiten ihrer Ursachen zu tabuisieren. Die Abgrenzung von angeblichem Sektierer:innentum und Rückwärtsgewandtheit ist nur ein Codewort dafür, keine offene Bilanz der Tarifabschlüsse, von Sozialpartner:innenschaft, Standortpolitik und Klassenkollaboration zu ziehen. Die Gewerkschaftsbürokratie erscheint natürlich längst nicht mehr als Agent der herrschenden Klasse in der Arbeiter:innenbewegung, sondern allenfalls als etwas trägerer Mitstreiter.

Mit der Fokussierung auf „tägliche Gewerkschaftsarbeit“ wird die Praxis nicht nur verengt, die reale Politik, die reale Praxis der Gewerkschaften gerät aus dem Blick. Die gesamtgesellschaftlichten, internationalen politischen und ökonomischen Voraussetzungen des eigenen Handeln, aller betrieblichen wie gewerkschaftlichen Fragen erscheinen allenfalls Nebenfragen. Die Krise der Gewerkschaften erscheint im Grund nur noch als Frage der „kreativen“, dynamischen Umsetzung einer eigentlich richtigen Politik. Die Politik und Strategie der Bürokratie bildet kein zentrale Problem gewerkschaftlicher Erneuerung, sondern vielmehr deren Kritiker:innen, deren angebliches Sektierer:innentum und deren Insistierung politisch-ideologischen Fragen wie Krieg und Wirtschaftskrise, auf Kritik der Bürokratie und der Klassenzusammenarbeit.

Damit stehen die Protagonist:innen und die Organisator:innen der Konferenz real – unabhängig davon, was immer sie von sich glauben – fest auf dem Boden des Reformismus der Linkspartei, irgendwo zwischen Bewegungslinke und Regierungssozialist:innen. Politisch wurden die ganzen Trugbilder neu belebt, dass im Kapitalismus „Gute Arbeit-gutes Leben“ möglich bleibt, dass die „Transformation sozial und ökologisch“ vonstattengehen könne, und dass die Gewerkschaften wieder stärker werden, wenn sie nur besser „organized“ werden. Und das angesichts der „Polykrise des Kapitalismus“ (Urban).

Kämpferische Gewerkschaften wird es letztlich nur im Bruch mit Bürokratie und ihrer Politik zu haben geben. Das bleibt offensichtlich die Aufgabe von Linken Gewerkschafter:innen, die mit der Veranstaltung der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften einen der wenigen politischen Lichtblicke in Bochum veranstaltet haben.




Wunderwaffe Organizing?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 273, Mai 2023

Es geht ein Gespenst um in den Gewerkschaftshäusern – das Gespenst des Organizings. Doch es ist hohe Zeit, die Anschauungsweise, dessen Zwecke, Stärken und Schwächen darzulegen.

Einleitung

Den Gewerkschaften in Deutschland geht es im langfristigen Trend schlecht. Während 1994 9.768.378 Kolleg:innen Mitglieder einer DGB-Gewerkschaft waren, sind es 2022 nur noch 5.643.762. Dieser Trend ist nicht einzigartig, sondern reiht sich ein in die Entwicklung in den westlichen imperialistischen Staaten. Inmitten dieser ist ein Schlagwort präsenter geworden: gewerkschaftliche Erneuerung. Ein zentrales Standbein dessen ist das Organizing.

In diesem Beitrag wollen wir Organizing als Methode, aber auch als Programm beleuchten und einer solidarischen Kritik unterziehen. Denn es schafft es, beispielsweise mit der Krankenhausbewegung inmitten der sozialpartnerschaftlichen Tristesse Leuchttürme des Arbeitskampfes zu errichten, neue Generationen von Arbeiter:innen für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu begeistern, den Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu stärken, und vieles mehr. Zugleich verkörpert es ein Programm des (zumeist linken Teils des) Gewerkschaftsapparats, das seiner Stellung nicht gefährlich wird. Dabei ist es diese, die erst kürzlich trotz gigantischen Zuspruchs für den Vollstreik bei der Post den Ausverkauf des Arbeitskampfes eingeleitet hat. Und das ist nur ein Verrat unter vielen auf dem Kerbholz der Arbeiter:innenbürokratie.

In diesem Text werden wir uns in den Konkretisierungen im Wesentlichen auf Jane McAlevey beziehen, die in linken gewerkschaftlichen Kreisen und an den Schnittstellen zu sozialen Bewegungen aktuell die wirkmächtigsten Ansätze präsentiert. McAlevey ist die Strategin des US-amerikanischen Organizings und führender Kopf des internationalen Netzwerks „Organizing for Power“ (O4P) in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Das Netzwerk ist nach eigenen Angaben der RLS eine „der erfolgreichsten Online-Veranstaltungsreihen der weltweiten Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung [ … ; mit] fast 27.000 Menschen aus 130 Ländern“[i], die daran teilnahmen.

Das Schwerste zuerst: ein Definitionsversuch

An dieser Stelle sollen zwei Definitionen aus den Debatten rund ums Organizing herangezogen werden. Britta Rehder, Professorin für Politikwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum, bezeichnet Organizing als strategischen Instrumentenkasten, der darauf abzielt, neue Ansätze für gewerkschaftliche Revitalisierungsversuche zu erarbeiten (vgl. Rehder 2014)[ii]. Dabei handelt es sich um ein Programm strategischer Planung durch die führenden Abteilungen der Gewerkschaften, das zumeist darauf ausgelegt ist, (traditionell) schwer organisierbare Berufsgruppen über offensive Mitgliedergewinnung zu erreichen.

Dieser Teil des Programms wird teilweise Strategic Unionising genannt. Es findet auf drei Ebenen statt: (1) die extensive Mobilisierung zur Rekrutierung neuer Mitglieder, (2) die intensive Mobilisierung zur Einbeziehung der eigenen Basis und (3) die Koalitionsbildung mit anderen politischen Akteur:innen.

Florian Wilde, wissenschaftlicher Referent für Gewerkschaftspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, schreibt im Vorwort der deutschen Ausgabe des neuesten Buchs von Jane McAlevey „Macht. Gemeinsame Sache.“, dass das „Organizing [ … ] Herangehensweisen und Werkzeuge [vereint], um Menschen zusammenzubringen und zu befähigen, mithilfe kollektiven Handelns ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten.“ (McAlevey 2021, S. 11). Ziel ist es dabei, die Gewerkschaften als Institutionen zu stärken, um für eine gerechte (sic!) Verteilung von Reichtum und Macht zu sorgen. „Denn Macht, also die Möglichkeit oder Fähigkeit zu haben, etwas zu bewirken oder beeinflussen zu können, ist die Grundvoraussetzung, um Veränderungen zu schaffen.“ (ebd., S. 18).

Organizing ist also ein Konzept geschwächter (gewerkschaftlicher) Strukturen zum Organisationsaufbau, um (wieder) verhandlungsfähig zu werden. Darin steckt bereits ein Doppelspiel aus Strategie und Taktik. Taktiken sind in dem sogenannten Instrumenten- oder auch Werkzeugkasten zu suchen, seien es Eins-zu-eins-Gespräche, Abteilungsgänge, Stärketests, Telefonflashs, Petitionen, Flashmobs, Mehrheitsstreiks und vieles Weiteres als (un-)mittelbare Schritte, um die eigene Ausgangslage zu verbessern. Und zugleich die Zweckmäßigkeit, für die diese Mittel eingesetzt werden (Strategie), die in der (Wieder-)Erlangung von Verhandlungsmacht liegen. Organizing beruht auf der Annahme, dass sich Menschen organisieren, wenn sie die Möglichkeit sehen, dass Probleme, die ihre sind, durch kollektive Organisierung gelöst werden können.

Organizing als … Methodenwerkzeugkoffer

Im breitesten Sinne, also wenn Organizing bloß auf die verwendeten Formen begrenzt wird, handelt es sich um kein genuin progressives Konzept. Beispielsweise kann auch die Tea-Party-Bewegung als eine Organizinkampagne begriffen werden. Im breitesten Sinne ließen sich Organizing und Beteiligung fast synonym verwenden. Mit dieser Erkenntnis kann man aber genauso viel wie wenig anfangen. Ziel dieses Textes ist aber keine breite Auseinandersetzung mit allem, was unter der Klammer des Organizings auftreten könnte. Es geht hier um Aspekte des sogenannten transformativen Organizings, speziell in Bezug auf gewerkschaftliche Debatten.

Eric Mann hat den Begriff zu fassen versucht, wenn er schreibt: „Durch transformatives Organizing werden Massen von Menschen rekrutiert, um radikal für konkrete notwendige Forderungen zu kämpfen – um segregierte Einrichtungen allen zugänglich zu machen, Arbeitsplätze für Schwarze, das Ende der Militärrekrutierung auf dem Campus –, aber immer als Teil einer größeren Strategie, um die strukturellen Bedingungen in der Welt zu verändern: für ein Ende der Apartheid nach der Abschaffung der Sklaverei. Um einen Krieg zu beenden. Für den Aufbau einer wirkmächtigen, langlebigen Bewegung. Transformatives Organizing richtet sich auf eine Transformation des gesellschaftlichen Systems, des Bewusstseins der Menschen, die organisiert werden –, und im Verlauf auch des Bewusstseins der Organizer.“ (Mann 2011, S. 1f).[iii] Eine generelle Kritik der Transformationstheorien haben wir an anderer Stelle unternommen.[iv]

Durch die Fokussierung auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit, beeinflusst durch das Community Organizing, stellt das gewerkschaftliche als Werkzeugkasten eine Art Anreicherung betrieblicher Kampfformen mit Einbindung der sozialen Netzwerke der Arbeiter:innen als bürgerliche Individuen dar. Wie Marx in der Deutschen Ideologie gezeigt hat, tritt im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung das Individuum doppelt in Erscheinung, als Klassenindividuum und als zufälliges oder persönliches (frei von allen ständischen und feudalen Bindungen).

Daher erscheinen sie auch in ihrem eigene Bewusstsein als freier als die Mitglieder früher Gesellschaftsformationen, obwohl sie realiter stärker unter die materiellen Verhältnisse (und damit auch unter ihre Klassenposition) subsumiert sind. Das Community Organizing spricht die Menschen – auch die Lohnabhängigen – letztlich als zufällige Subjekte an, also als Nachbar:innen, Kinder, Eltern, Freund:innen oder Bekannte. Sie sind in Vereinen aktiv, in sozialen Medien präsent, kennen lokale Politiker:innen, sind möglicherweise gläubig usw. Im Übrigen trifft genau das auch auf deren Umfeld zu.

Um dem Theorieteil etwas vorzugreifen, lässt sich sagen: Ihre Stellung ist nicht primär die sich dialektisch bedingender sozialer Klassen, sondern eine positiv bestimmbare Kategorie des Habens. Die Methoden des Organizings bewegen sich tendenziell mehr auf dieser Ebene, die der der Verteilung (Zirkulation) entspricht. Das Organizing im Gefolge von McAlevey nimmt nicht in Anspruch, erstmalig die einzelnen Konzepte (Werkzeuge) entdeckt, sondern sie zu einem System zusammengeführt zu haben.

Zentrale Methoden: der Strukturtest und die organischen Führungspersönlichkeiten

Organizing ist oftmals ein lange andauernder Prozess mit verschiedenen Phasen. In allen werden gewisse Ziele gesetzt (X Mitglieder bis dahin, Y Teilnehmer:innen auf einer Betriebsversammlung, Z Follower:innen auf der Instagramseite). Diese Ziele werden als Strukturtests bezeichnet und bestimmen den Kampagnenfahrplan, der zumeist als eine Art Mapping bei einem Workshop erstellt wurde und nach einem Strukturtest aktualisiert werden muss. Strukturtest bedeutet nicht prinzipiell der Aufbau betrieblicher Kampfstrukturen. Es stellt sich immer die Frage der Zweckmäßigkeit. Eine Urabstimmung über die Durchführung eines Arbeitskampfes oder über dessen Fortsetzung ist immer eine Frage der Kampfperspektive, mit der diese eingebracht wird. Auch die regelmäßigen „Strukturtests“ die beispielsweise die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im TV-G (Tarifvertrag-Gesundheitsschutz) bisher absolvierte, mit monatlichen Streiktagen ohne Verhandlungsfortschritt oder Veränderung der Streiktaktik können zur Schwächung statt zum Strukturaufbau führen.

Organische (An-)Führer:innen sind Kolleg:innen oder Teile einer Community, die eine zentrale Rolle in den jeweiligen Netzwerken spielen. Auch dies Konzept ist an und für sich nützlich. So schlägt McAlevey vor, sich nicht ausschließlich auf die etablierten Kontakte zu stützen, sondern auf sogenannte organische Führer:innen. Verkürzt gesagt, soll auf jene Kolleg:innen der Fokus gelegt werden, die Gehör unter den anderen finden, Vertrauen genießen, gewissermaßen beliebt sind anstatt der reinen Gewerkschaftsmitgliedschaft oder etwaiger Stellungen (bspw. Betriebsrat, Vertrauenskörpermitglied). In gewissem Sinne handelt es sich um die Suche nach charismatischen Führer:innen.

Der Begriff der charismatischen Führung ist jenem der charismatischen Herrschaft entlehnt. Er findet sich u. a. theoretisiert bei Max Weber. Bei ihm lautet es: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 2005, S. 38)[v]. Weber benennt darüber hinaus drei Formen der Herrschaft, die traditionale, die legale und die charismatische. Letztere ist eine Qualität der Persönlichkeit, steht und fällt aber auch mit ebenjener. Charismatische Führer:innen zu gewinnen, wird dabei in den ersten Phasen des Organizings als weitaus zentraler als der Aufbau von Strukturen oder die Gewinnung deutlich mehr neuer Gewerkschaftsmitgliedern betrachtet. Die lebendigen Beschreibungen, die McAlevey beispielsweise in ihrem Buch „Macht. Gemeinsame Sache. – Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie (sic!)“ liefert, zeigen, dass teilweise Versuche, gewerkschaftsfeindliche Kolleg:innen zu gewinnen, gelangen. Umgekehrt schafften es aber auch die professionellen Union-Busting-Unternehmen teilweise, gewerkschaftsnahe Kolleg:innen auf ihre Seite zu ziehen. In den USA treten Organizing- und Union-Busting-Firmen gewissermaßen als Zwillingsgesichter zweier gegensätzlicher Interessen auf, eine im Sinne der Gewerkschafts-, die andere im Sinne der Unternehmensführung.

All diese Beschreibungen sind hoch interessant, geben praktische Tipps für Organizer:innen, doch eine wichtige Frage werfen sie nicht auf. Organische Führer:innen zu sein, sagt noch wenig über den Inhalt der Führung aus. Die Auswahl der Führung durch vom Gewerkschaftsapparat angeheuerte Organizer:innen sagt aber zugleich etwas über deren tendenzielle Perspektive aus. Organische Führer:innen, die sich aus ihrer Opposition auf Betriebsversammlungen heraus bekanntmachen, die über Wochen, Monate und Jahre für die Durchsetzung von Streikzielen ringen, sind etwas anderes als charismatische Individuen, die von Gewerkschaftsbürokrat:innen beauftragt werden, Führer:innen zu sein.

Jedoch steht sich dies nicht prinzipiell entgegen. Was zusätzlich Einfluss nimmt, ist die Frage: Wem gegenüber besteht hier Rechenschaft oder auch wer ist Ross und wer Reiter:in? Durch Organizer:innen bestimmt zu werden, etwas aufzubauen, hat eine andere Wirkung, wenn eine Kolleg:in ausgewählt wird, weil sie eine bestimmte Kampfperspektive vertritt oder sich in einem Kampf gegen die Bosse bewährt hat. Beim aktuellen Organizing nimmt die Gefahr zu, dass die handverlesene organische Führer:in im Zweifel eher mit den Gewerkschaftsbürokrat:innen als gegen sie stimmt. An und für sich ist auch eine charismatische Führung nicht demokratisch legitimiert, wobei – und das wiederholen wir – sich Charisma und Legitimität nicht prinzipiell entgegenstehen müssen. Entscheidend ist vielmehr, dass das Konzept der organischen Führung jenes der demokratischen Kontrolle tendenziell vermeidet.

Grenzen der Demokratie und politischen Ziele

Die Frage der Demokratie tritt jedoch nicht gänzlich in den Hintergrund. Die Kolleg:innen sollen die verschiedensten Phasen der sichtbaren Kampagne durch ihre Beteiligung und demokratische Mitbestimmung durchaus prägen. Dieses Vertrauensverhältnis, das das Organizingkonzept aufzubauen versucht, ist bis zu einem gewissen Grad ein Fortschritt, denn es bezieht kämpfende Arbeiter:innen in die Entscheidungen besser ein. Die Krankenhausbewegung an den Unikliniken in NRW war hier ein gutes Beispiel. Der „Rat der 200“ war eine Art der demokratischen Entscheidungsstruktur des Arbeitskampfs durch die Belegschaft und ein Vorteil gegenüber jeder von oben eingesetzten Tarifkommission.[vi]

Aber die Demokratie hat ihre Grenzen im Konzept. Kritisch wird’s, wenn es um die Frage der Demokratisierung der Gewerkschaften auch über den Arbeitskampf hinaus geht oder wenn eine andere Richtung als jene des Apparates eingeschlagen werden soll. Denn schlussendlich handelt es sich nicht um gewerkschaftliche Basiseinheiten, die aufgebaut werden, die demokratische Kontrolle übernehmen könnten und sollten, sondern um eine Art befristeten, vom Apparat finanzierten und kontrollierten Projektes. Als zugespitzte Form dessen finden in den USA teilweise Pitchformate statt, bei denen Organizer:innen vor Gewerkschaftsbürokrat:innen in kurzer Zeit Potenziale dieser und jener Projektförderung darstellen, die nach Kosten und Möglichkeiten kalkuliert und dann aus der Gewerkschaft outgesourct abgehandelt werden – eine Form des New Public Managements in den Gewerkschaften.

McAlevey, aber auch andere Vertreter:innen dieser Neuausrichtung argumentieren nicht dafür, dass die organischen Führer:innen auch in den Gewerkschaften Fuß fassen sollen oder dass hier die strategische Erneuerung stattfinden solle. Denn das sei Aufgabe des Strategic Unionising, wofür hochprofessionelle (zumeist) Hauptamtliche nötig seien. Die Grenze zwischen Organizing und Strategic Unionising bildet gewissermaßen das Werkstor. Dafür soll eine Definition des Organizing von der ver.di-Sekretärin Agnes Schreieder exemplarisch dienen. Sie schrieb 2005 „Wir selbst bilden die Gewerkschaft im Betrieb“[vii]. Das Zitat spielt a das Betriebsverfassungsgesetz an (BetrVG). In diesem wird das sogenannte Zwei-Säulen-Modell von betrieblicher und tariflicher Autonomie der Mitbestimmung fixiert. Ersteres ist Aufgabe von Betriebsräten,Zweiteres von Gewerkschaften – eine Einmischung findet formal (!) nicht statt. Netter kann also nicht gesagt werden, dass jedwede Demokratie nicht prinzipiell auf die Gewerkschaft zurückwirkt. Die Debatte der gewerkschaftlichen Erneuerung muss aber über Programm, Rolle und Funktion der Gewerkschaftsbürokratie stattfinden.

Als Letztes wollen wir kurz den Mehrheitsstreik anschneiden. Demnach soll es erst in die Arbeitsniederlegung gehen, wenn eine Mehrheit der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert ist. Schauen wir uns Deutschland an, so sind 2019 knapp 45,3 Millionen Menschen lohnabhängig gewesen. Mit dieser Zahl lässt sich zwar nicht hinreichend die Größe der Arbeiter:innenklasse verstehen, aber sie ist ein erster Indikator. Wir müssen uns ehrlich eingestehen, dass selbst in Deutschland, einem Land mit relativ großen Gewerkschaften, diese nie die Mehrheit der Klasse organisierten. Auch zeigt die Tarifrunde im öffentlichen Dienst, dass sie (hier ver.di) in der Aktion einen Großteil ihrer Mitglieder gewinnen. Die Orientierung auf Mehrheitsstreiks mag in den USA eine Vorsichtsmaßnahme aufgrund der schlechteren Arbeitsrechte sein, jedoch spielt auch die Frage der Bündnisfähigkeit hier mit hinein, wofür die mächtigste Waffe, der Schock in der Wertschöpfung, zu einer Maxime wird.

Besonders problematisch wird der Maßstab des Mehrheitsstreiks jedoch, wenn wir über den Rahmen des gewerkschaftlichen Kampfes hinausgehen. Ein Organisationsgrad von 50 % der Klasse ist im Kapitalismus immer die Ausnahmeerscheinung. Demzufolge können politische Massen- oder Generalstreiks fast nie stattfinden – oder hätten faktisch unterlassen werden müssen. In Wirklichkeit zeigen sich hier besonders deutlich die politischen Grenzen des Organizingkonzepts, das nicht auf eine politische Konfrontation mit der herrschenden Klasse und deren Sturz, sondern auf bessere Bedingungen des ökonomischen Kampfes zielt. Das System der Lohnarbeit selbst wird nicht in Frage gestellt.

Wer ist eigentlich Organizer:in?

Wie wird man es und wichtiger, wie bleibt man es? „Wer erzieht die Erzieher:innen?“ Organizing übt eine gewisse natürliche Attraktivität aus. Es stellt zumeist für studierte Aktivist:innen, die bisher in betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen wenig systematisch Fuß gefasst haben, eine Möglichkeit dar, gegenüber beispielsweise der Arbeiter:innenklasse und der strukturellen Krise ihrer größten Organisationen, der Gewerkschaften, aktiv zu werden. Dieses Verhältnis wird durch den Gewerkschaftsapparat eingeleitet und entspringt selten einer zuvor bestehenden Verknüpfung zu betrieblichen Aktiven. In seiner zugespitzten Form sind die Organizer:innen Vermittler:innen zwischen Gewerkschaft und ihrer (potenziellen) Mitgliedschaft im Interesse und materiell abhängig von Ersterer. Eine Untersuchung der Arbeit von Organizer:innen wäre eine eigene Aufgabe. Wir haben in der Vergangenheit schon Berichte gehört von überarbeiteten Organizer:innen, die faktisch als Leiharbeiter:innen durch Subunternehmen bei der Gewerkschaft beschäftigt und dort verheizt werden. Allein aus dieser Konstellation heraus ist es wenig verwunderlich, dass die dauerhafte lebendige Beziehung zwischen organischen Führer:innen und Gewerkschaften vielleicht noch aufrechterhalten bleibt, ob dies für die organizten demokratischen Entscheidungsstrukturen gilt, ist wohl ein seltener Glückswurf.

Organizing versus Mobilizing versus Advocacy

McAlevey skizziert drei verschiedene Ansätze im Kampf gegen ein soziales Problem bei ungleichen Machtverhältnissen: Advocacy, Mobilizing, Organizing. „Advocacy bezieht letztlich gar keine normalen Leute ein; stattdessen werden AnwältInnen, MeinungsforscherInnen, WissenschaftlerInnen und PR-Agenturen damit beauftragt, den Kampf zu führen.“ (McAlevey 2019, S. 34)[viii]. Ein Ansatz, der in dieser Debatte keine große Unterstützung findet, da er auf die Einbeziehung einer breiten Masse verzichtet. Es lässt sich auch klassisch als Stellvertreter:innenpolitik bezeichnen.

Der Mobilizingansatz bezieht hingegen große Menschenmassen in seine Aktionen mit ein, jedoch oftmals dieselben engagierten Aktivist:innen, die ohne großen Rückhalt in ihrem tagtäglichen Umfeld agieren und wie per Knopfdruck von Hauptamtlichen für einen kurzen Zeitpunkt abberufen werden (mobilisiert). Ein praktisches Beispiel wäre eine Antifaaktion in einer Gegend, in der keine Verankerung besteht. Dorthin wird mobilisiert, dann findet eine Aktion statt (bspw. Blockade eines Naziaufmarschs) und danach sind alle wieder weg. Zu guter Letzt das Organizing. McAlevey malt dieses natürlich in den hellsten Farben. Im Zentrum steht die Einbeziehung von Personen, die zuvor kaum oder überhaupt nicht aktiv waren. „Im Organizing-Ansatz bilden spezifische Ungerechtigkeiten und die Empörung darüber die unmittelbare Motivation zur Aktivierung, allerdings ist das letztendliche Ziel die Übertragung der Macht der Eliten auf die Mehrheit, von dem einen auf die 99 %.“ (ebd., S. 35).

Exkurs: Die populare Klasse

Mit 99 % stellt sich schnell die Frage des Subjekts. Schlussendlich ist das Organizing kein rein gewerkschaftliches Programm zum Organisationsaufbau, sondern entspringt dem US-amerikanischen Community-Organizing-Ansatz. In den verschiedensten Texten stolpert man dabei über den Begriff der popularen Klasse. Beispielsweise bei Thomas Goes, der für einen Machtblock von unten wirbt und zusammen mit Violetta Bock im Umfeld der Bewegungslinken oder der Kampagne Organisieren, Kämpfen, Gewinnen (OKG) Einfluss nimmt. Oder Jana Seppelt und Kalle Kunkel, beide (ehemalige) ver.di-Gewerkschaftssekretär:innen und an der Schnittstelle zu sozialen Bewegungen – Seppelt ist zusätzlich stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN. Die beiden schreiben in ihrem Aufsatz „Was Organizing (nicht) ist“ von massenhaften und kollektiven Aktionen als einer zentralen Machtressource der popularen Klassen (Vgl. Kunkel/Seppelt 2022)[ix]. Diese Öffnung des Klassenbegriffs von einem im Wesen des Kapitalismus verankerten Ausbeutungsverhältnis weg und hin zu einem in seiner Erscheinung auftretenden Unterdrückungsverhältnis als Begriff der Empörten eines Volkes ist dem Ansatz bereits eingeschrieben.

In den Debatten werden Organizing und das sogenannte Mobilizing oftmals entgegengestellt. Das entspringt einer Kritik an Saul Alinsky, einem Wegbereiter des Community Organizings. Alinsky, vor allem in Chicago tätig, war von zwei wesentlichen Einflüssen geprägt: der Chicagoer Schule (der Soziologie) speziell von Ernest Burgess und dessen Aufsatz „Can Neighboorhood Work Have a Scientific Basis?“ – eine Debatte, inwiefern der Communitybegriff als Ersatz für den der Klasse verwendet wird, wird hier ausgespart – und den Thesen des Gründers des Gewerkschaftsbundes CIO (Congress of Industrial Organizations) John L. Lewis. Die frühe CIO arbeite bereits mit Konzepten wie dem Mehrheitsstreik, organischen Führer:innen und Strukturtests. Jane McAlevey widmet der CIO, Lewis und Alinsky ein ganzes Kapitel in ihrem zweiten Buch „Keine halben Sachen“ (2019). Während sie Lewis die Entwicklung eines gewerkschaftlichen Organizingmodells attestiert, der angesichts des sich etablierenden Fordismus auf die Gewinnung un- und angelernter Arbeiter:innen setzte, wirft sie Alinsky dessen Entstellung vor. Dessen Organizing sei vor allem Mobilizing gewesen und in der Mehrheit der US-amerikanischen Gewerkschaften seien bis heute die Advocacy- und Mobilizing-Ansätze dominant. Alinsky entstelle das Organzingmodell der CIO an drei Punkten:

Erstens löse er die Organizingmethoden von den Motivationen der Organizer:innen ab und öffne sein Modell für „eine Eliten-zentrierte Machttheorie“ (McAlevey 2019, S. 67). Zweitens beschreibt sie ihn als Feind strategischer Bündnispolitik, da er sich alleinig auf die „Community“ der unqualifizierten Arbeiter:innen bezog und somit nicht auf die Betriebe, um dort den Schulterschluss mit angelernten und höherqualifizierten Arbeiter:innen zu suchen. Drittens ging das Konzept davon aus, dass die hauptamtlichen Organizer:innen prinzipiell ihren Basismitgliedern unterstellt seien und deswegen keine Rechenschaft über ihre Entscheidungen ablegen müssten, da sie sowieso dem Willen ihrer „Leaders“ (der Basis) folgten. In der Realität sah dies umgekehrt aus.

Warum der Exkurs? McAlevey unterstellt zwei Kräften eine Revitalisierung des Lewis-Alinsky’schen Ansatzes seit Mitte der 1990er Jahre, den Kräften rund um New Labour und den Demokrat:innen unter Obama und Hillary Clinton. Gegen diese beiden Richtungen versucht sie dementsprechend, in den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei zu agieren. In Letzterer ist McAlevey im Übrigen Mitglied. Die in linken Kreisen bekannteste Organizingkampagne, die ihren Zielen eher entspricht, unter den Demokrat:innen ist die von Alexandria Ocasio-Cortez (AOC).

Organizing als … politisches Programm

Wichtig bleibt zu verstehen, dass das Organizing keine Perspektive für eine antibürokratische klassenkämpferische Gewerkschaftsopposition aus sich heraus darstellt. Pointiert formuliert ist Organizing ein Werkzeugkasten, mit dem sich linke Bürokrat:innen, die zumeist weitläufige Erfahrungen in sozialen Bewegungen statt betrieblichen Kämpfen aufwiesen, unter Beweis stellen können (Strukturtest), dass ihre Konzepte neue Mitglieder in die Gewerkschaften bringen können, ohne eine grundlegende Opposition gegenüber der Struktur der Gewerkschaften darzustellen. Revolutionäre Antibürokrat:innen dürfen daher nicht beim Organizing stehenbleiben. Sie müssen sich der hilfreichen Elemente bedienen und zugleich den Kampf um Demokratisierung weg von der Illusion einer demokratischen Mitbestimmung inmitten der Klassengesellschaft in einen der Demokratisierung der Kampforgane der Klasse umwandeln. In diesem Sinne können wir vom Organizing Kampfmethoden, angereichert durch technische Kniffe und die sogenannten Social Skills, erlernen. Doch Organizing als reine Form zu verstehen und dessen programmatischen Kern zu ignorieren, bedeutet immer auch eine Kapitulation vor der bestehenden Führung der Klasse und eine Blindheit vor den Sackgassen, in die sie uns führen.

Doch ist es die Gewerkschaftsbürokratie als Teil der Arbeiter:innenbürokratie, die ihr Ziel nicht in der Überwindung der Klassengesellschaft sieht, sondern in der Vermittlung gegensätzlicher Interessen, im „gerechten“ Ausgleich zwischen den Klassen. Daher ist sie materiell an den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat gebunden. Dies ist ein den objektiven, historischen Interessen der Arbeiter:innen fremdes und gilt, bekämpft zu werden. Das Organizing versucht zwar, unsere Klasse in Bewegung zu bringen. So weit, so gut! Doch zugleich bleibt diese Bewegung im Rahmen des Kapitalismus.

Dass McAlevey diese Frage nicht stellt, kann ihr nur bedingt vorgeworfen werden. Schlussendlich ist sie Teil der und Ideologin der Bürokratie. Das wird deutlich, wenn wir ihre Zieldefinition des Organizings lesen. So schreibt sie: „Wir stehen vor einer Wahl: Entweder gute Gewerkschaften aufbauen, robuste Tarifverhandlungen und Streiks möglich machen – oder aber uns von der Demokratie verabschieden.“ (McAlevey 2021, S. 8)[x].

Schlussendlich geht es dem Organizing nicht um den Untergang der herrschenden Ordnung, sondern um deren Verbesserung. Das Konzept läuft auf die Überzeugung oder bestenfalls Isolation des/r politischen Feind:in hinaus, jedoch nicht auf die Vernichtung seiner/ihrer gesellschaftlichen Grundlage (Schlagwort: Eigentum und Verfügung). Statt materielle Gewalt auszuüben mit dem Ziel des Erzwingens, ist hier die oberste Maxime der Appell als moralische Kategorie des gesunden Menschenverstandes.

Der Machtressourcenansatz: die Theorie hinter dem Organizing?

In den Ursprüngen des Organizing wurde ein doppelter Einfluss beschrieben, der einerseits den gewerkschaftlichen Debatten entsprang, die nach Konzepten für neue Herausforderungen suchten (damals: Fordismus, heute: gewerkschaftlicher Mitgliederverlust) und andererseits seine Bestätigung in den Konzepten sozialwissenschaftlicher Debatten suchte. Damals war dies die Chicagoer Schule, heute tritt zumindest in Deutschland der sog. Machtressourcenansatz an diese Stelle. Im Folgenden soll daher der Ansatz von Dr. Stefan Schmalz (Uni Erfurt) und Prof. Dr. Klaus Dörre (Uni Jena) beschrieben werden.[xi]

Vergleichbar mit der Chicagoer Schule pflegen auch diese Wissenschaftler:innen ein offenes, beratendes Verhältnis zu den praktischen Organizer:innen, wie die Machtressourcenkonferenz vom April 2022 zeigt. Diese wurde vom Bereich Arbeitssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert.[xii] Unter dem Einfluss dieser Konferenzen und ihrer Akteur:innen stehen die bisherig aufgezählten deutschsprachigen Autor:innen. Thomas Goes ist beispielsweise im Forschungsverbund von Dörre, Jana Seppelt war Sprecher:in auf der Konferenz.

Bevor der Ansatz vorgestellt wird, soll schemenhaft der Kapitalbegriff Pierre Bourdieus erwähnt werden. Der französische Soziologe gilt als poststrukturalistischer Neomarxist. Sein Kapitalbegriff ist jedoch grundsätzlich verschieden vom marxistischen. Bourdieu unterscheidet vier verschiedene Kapitalarten: ökonomisches, kulturelles, symbolisches und soziales Kapital. Sie sind ineinander transformierbar, wobei das ökonomische Kapital primär ist (vgl. Bourdieu 2016, S. 11)[xiii]. Er befasst sich jedoch weniger mit der Genese als mit der ungleichen Verteilung besagten Kapitals. Kapital wird bei Bourdieu zwar als akkumulierte Arbeit (ähnlich der geronnenen Arbeit bei Marx) bezeichnet, jedoch nicht prinzipiell aus einem Ausbeutungsverhältnis hergeleitet. Ähnlich wie bei anderen postmodernen Denker:innen seiner Zeit symbolisiert für ihn Kapital kein gesellschaftliches Verhältnis, sondern eine Kategorie von Macht. Um beispielsweise soziales Kapital zu reproduzieren, bedarf es der stetigen Pflege sozialer Beziehungen. Während der Marx’sche Kapitalbegriff auf der Ausbeutung fremder Arbeitskraft fußt, ist das Bourdieu’sche Kapital durch persönlichen Einsatz reproduzierbar. Kapital bei Marx ist also ein Ausbeutungsverhältnis, bei Bourdieu eine Ressource unter vielen. Bourdieus Kapitalbegriff ist faktisch primär in der Zirkulationssphäre und der Öffentlichkeit angesiedelt.

Mit diesem gewappnet gehen die Autor:innen vor, wenn sie dem Machtressourcenansatz anhängen. Sie entwickeln vier verschiedenen Formen: strukturelle, Organisationsmacht, institutionelle und, etwas quer dazu, gesellschaftliche Macht. Ausgangsthese ist, dass Lohnabhängige in Aushandlungen „durch kollektive Mobilisierungen von Machtressourcen ihre Interessen erfolgreich vertreten können“ (Schmalz/Dörre 2014, S. 211). In einer gewissermaßen linearen Reihenfolge stehen dabei die ersten drei Machtressourcen. Die strukturelle Macht entspringt der Stellung von Arbeiter:innen in der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, die Organisationsmacht ist Ausdruck des kollektiven Zusammenschlusses in ihren Organisationen. Bis hierin erinnert das Konzept noch an Marx. Der grundlegende Unterschied wird jedoch deutlich, wenn es nun zur Frage der Zwecksetzung kommt.

An dieser Stelle kommt die institutionelle Macht ins Spiel. Diese zielt auf die Möglichkeit des zeitlichen Fortbestehens sozialer Kompromisse. In diesem Sinne muss Organizing als Aufbau von Organisationsmacht (Gewerkschaften), die aus der strukturellen Macht der Klasse folgt (Stellung im Wertschöpfungsprozess und der ständigen Herausforderung durch ihre sozialen Errungenschaften) mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der institutionellen Macht (beispielsweise der Sozialpartner:innenschaft) verstanden werden.

Dieses Programm wird durch überhöhte Argumente für ein damit zusammenhängendes Gemeinwohl anstelle der Unvereinbarkeit widersprüchlicher Interessen begründet, also mit der Kategorie gesellschaftlicher Macht in ihren Unterformen der Kooperations- und Diskursmacht. Schauen wir uns, um plakativ zu sein, einmal die Slogans von Organizingkampagnen an: Krankenhausbewegung – Mehr von uns ist besser für alle; TV-Stud – Ohne uns läuft hier nix, gebt uns unsre Kohle fix; Service Employees International Union – Justice for Janitors.

Es geht darum, das eigene Interesse als ebenfalls legitim zu markieren und dafür breite (also klassenübergreifende) Bündnisse zu schmieden. Zumeist werden dafür die weiterreichenden Ziele aufgegeben (es muss realistisch sein). Unter der Überschrift eines gerechten Ausgleichs lassen sich verschiedene bürgerliche Ideologien zusammenfassen, sowohl solche, die in der Arbeiter:innenbewegung verankert sind (Reformismus) als auch bürgerlich liberale Konzeptionen (bspw. John Stuart Mills Lohnfonds). Und damit ist auch das Problem skizziert. (Transformative) Organizingansätze zielen auf die Erreichung eines Bewusstseins für einen gesellschaftlichen Kompromiss ab, dieser ist immer einer zwischen antagonistischen Klassen. Das Programm des Organizing stellt sich also nicht die Frage, inwiefern der ursprüngliche Kompromiss (die Sozialpartner:innenschaft in Deutschland) notwendig selbst zum Niedergang der eigenen Basis führen musste und auch bei den besten Organizingkampagnen wieder führen wird. In diesem Sinne ist Organizing ein gefährliches Amalgam aus bürgerlichen Ideologien.

Doch warum jetzt? Oder: Wann, wenn nicht wir?

Mit einer These hat der Text angefangen, konkret mit dem Schrumpfen der Organisationsmacht der Gewerkschaften in Deutschland (Mitgliederzahlen). Andererseits beobachten wir als Folge der Agenda 2010, aber auch beispielsweise der Digitalisierung der Arbeitswelt (Plattformökonomie usw.) eine Zunahme nicht gewerkschaftlich erschlossener Bereiche, während zugleich der Caresektor massiv und nicht erst seit der Pandemie an neuer Bedeutung gewonnen hat. Über Organizingkampagnen, aber auch außerhalb dieser konnten wir neue kampffähige Sektoren der Arbeiter:innenbewegung sehen, die nicht so einfach ins Ausland verlagert werden können. Zur selben Zeit erleben wir eine Tendenz der Deglobalisierung und des Umbaus ganzer Wertschöpfungsketten, teilweise zurück in die imperialistischen Zentren selbst. Die neuen Sektoren zu erschließen und für ein Programm des Klassenkampfes zu gewinnen, ist also das Gebot der Stunde.

Aber das Organizing gerade in seiner linken Form verbleibt dabei im Rahmen eines bürgerlich-reformistischen Verständnisses von Klassenbeziehungen und des -kampf. Es erkennt wie andere reformistische Kräfte den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital durchaus an. Aber es will nichts wissen von seiner revolutionären Aufhebung.

So sinnvoll daher auch einzelnen Organizingtechniken sind – so grundlegend müssen Revolutionär:innen dieses strategische Konzept und das damit verbundene gewerkschaftliche und reformistische Programm ablehnen. Es entspricht der Stellung und den Zielen der (linken) Bürokratie, linker reformerischer und populistischer Kräfte und findet daher auch seine Grenzen, wenn der politische Horizont bürgerlicher Reformpolitik überschritten werden soll.

Dann wendet sich die ganze Organizingprogrammatik letztlich gegen eine klassenkämpferische, demokratische und antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften und aller anderen Arbeiter:innenorganisationen. Der Aufbau eine klassenkämpferischen Basisbewegung und erst recht kommunistischer Fraktionen in den Gewerkschaften steht dem Gesamtkonzept diametral entgegen. Das wirkliche Gespenst, das nicht nur durch die Gewerkschaftshäuser geistert – bleibt das des Kommunismus.


Endnoten

[i] https://www.rosalux.de/o4p (abgerufen am 18.04.23)

[ii] Rehder, Britta (2014): Vom Korporatismus zur Kampagne? Organizing als Strategie der gewerkschaftlichen Erneuerung. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. S. 241-264.

[iii] Mann, Eric (2011): Transformatives Organizing. Praxistheorie und theoriegeleitete Praxis. https://www.rosalux.de/publikation/id/5259/transformatives-organizing (abgerufen am 18.04.23)

[iv] Suchanek, Martin (2016): Zur „Revolutionären Realpolitik“ der Linkspartei. Revolution oder Transformation. In: Neue Internationale 215. https://www.arbeitermacht.de/ni/ni215/luxemburg.htm (abgerufen am 18.04.23)

[v] Weber, Max (2005): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Berlin: Zweitausendeins.

[vi] Hier ein Bilanzartikel von uns: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/07/21/streik-der-unikliniken-nrw-beendet/

[vii] Schreieder, Agnes (2005): Organizing. Gewerkschaft als soziale Bewegung. Berlin: ver.di Eigenverlag.

[viii] McAlevey, Jane (2019): Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing. Hamburg: VSA Verlag.

[ix] Kunkel, Kalle und Seppelt, Jana (2022): Was Organizing (nicht) ist. https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/was-organizing-nicht-ist/ (abgerufen am 18.04.23)

[x] McAlevey, Jane (2021): Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie. Hamburg: VSA Verlag.

[xi] Schmalz, Stefan und Dörre, Klaus (2014): Der Machtressourcenansatz: Ein Instrument zur Analyse

gewerkschaftlichen Handlungsvermögens. In: Industrielle Beziehungen, 21(3). S. 217-237.

[xii] https://www.machtressourcen-konferenz.de/ (abgerufen am 18.04.23)

[xiii] Bourdieu, Pierre (2016): Sozialer Raum und »Klassen«. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.




Organisierung von oben – Buchbesprechung von A Collective Bargain (McAlevey)

Tim Nailsea, Workers Power, Infomail 1220, 12. April 2023

A Collective Bargain –  Unions, Organizing and the Fight for Democracy (Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie, VSA Verlag, Hamburg 2021) ist nach Raising Expectations (and Hell) und No Shortcuts (Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing. VSA Verlag, Hamburg 2019) das dritte Buch von Jane McAlevey. Diese Bücher bilden eine nützliche Lektüre für aktive Gewerkschafter:innen und die Grundlage für ihr internationales Organizing-Netzwerk O4P, das sich auf seiner Website rühmt, seit September 2019 fast 25.000 Organizer:innen aus 110 Ländern beherbergt zu haben.

A Collective Bargain wurde im Kontext der Trump-Präsidentschaft und der daraus resultierenden Krise der Linken geschrieben. McAlevey argumentiert, dass die von ihr entwickelte Organizing-Methode in der politischen Arena von Nutzen sein kann.

Methoden

Im Hinblick auf Organizing befürwortet McAlevey „zwei Schlüsselmethoden“: Strukturtests – um die Popularität der Gewerkschaft, das Engagement der Mitglieder und ihre Bereitschaft zu Aktionen zu messen – und die Identifizierung von „organischen“ Führungspersönlichkeiten in den Betrieben durch Organisanizer:innen, um den Kampf voranzutreiben.

Beide Methoden können für jene nützlich sein, die ernsthaft versuchen, ihren Arbeitsplatz zu organisieren, aber es hängt viel davon ab, wie und von wem sie eingesetzt werden. Für Organizer:innen, die auf erfolgreiche Aktionen hinarbeiten wollen, könnten Strukturtests wertvoll sein. Aber auch für viele Gewerkschaftsführer:innen könnten endlose Strukturtests, Urabstimmungen oder eintägige Streiks dazu dienen, die Beschäftigten den Berg hinauf und wieder hinunter marschieren zu lassen, und so die Kraft zu schwächen, anstatt sie aufzubauen.

Ebenso ignoriert McAlevey mit ihrem Fetisch, eine „Supermehrheit“ zu gewinnen, bevor sie offen organisieren, geschweige denn streiken kann, die Lehren der Kommunist:innen, Sozialist:innen und Syndikalist:innen, die Organisierung als Teil des Klassenkampfes sahen. Sie befürwortet zwar die Mobilisierung sozialer Bewegungen zur Unterstützung der gewerkschaftlichen Organisierung, aber wenn sich die Gelegenheit zu Massenstreiks bietet, müssten all diese übervorsichtigen Methoden in den Hintergrund treten.

Ihre Methode ignoriert auch die Notwendigkeit, auf schwerwiegende Angriffe mit sofortigen Maßnahmen zu reagieren, die radikalisierende Wirkung eines Streiks und die Tatsache, dass die großen Wellen der gewerkschaftlichen Organisierung sich nicht auf betriebliche „Strukturtests“ oder die Sicherstellung einer Supermajorität beschränkten und es auch nicht konnten.

Wenn es um die Identifizierung von Führungspersönlichkeiten geht, sind Menschen, die sich selbst als Gewerkschaftsaktivist:innen bezeichnen, möglicherweise keine Führungspersönlichkeiten. Sie könnten das sein, was McAlevey als „Großmäuler“ bezeichnet, die von ihren Kolleg:innen einfach ignoriert werden mögen.

Stattdessen schlägt sie vor, „organische Führungspersönlichkeiten“ auszuwählen, d. h. Personen, die aufgrund ihrer Erfahrung oder ihrer Fähigkeiten Einfluss auf ihre Kolleg:innen haben, charismatisch sind oder sich selbstbewusst gegenüber der Geschäftsleitung verhalten. Eine erfolgreiche Organisierungskampagne sollte sich darauf konzentrieren, solche Beschäftigten zu gewinnen, um das Machtgleichgewicht zugunsten der Gewerkschaft zu verschieben, auch wenn sie der Gewerkschaft zunächst skeptisch oder feindlich gegenüberstehen.

McAlevey unterschätzt jedoch, wie die Identifizierung von Führungspersönlichkeiten, wenn sie von Gewerkschaftsfunktionär:innen vorgenommen wird, zur Auswahl solcher Führer:innen führen kann. Wenn eine solche organische Führungspersönlichkeit ihre Position hauptamtlichen Organisator:innen verdankt und nicht ihren Kolleg:innen , wenn sie nur durch den Gewerkschaftsapparat ersetzt werden kann und nicht durch diejenigen, die sie anführt, dann führt dies nicht langfristig zu einer stärkeren Beteiligung der Arbeiter:innen an ihrer Gewerkschaft und letztlich zu deren Kontrolle.

Prinzipien

McAlevey unterstützt jedoch „zwei Schlüsselprinzipien“: Demokratie und Beteiligung. Keine Kampagne kann ihrer Meinung nach erfolgreich sein, wenn sich die Arbeiter:innen nicht für sie verantwortlich fühlen und ihre Richtung mitbestimmen können. Ihr Verständnis von Gewerkschaftsdemokratie ist jedoch fragwürdig.

In A Collective Bargain geht sie auf diese Frage zwar nicht näher ein, aber in ihrem ersten Buch Gestiegene Erwartungen plädiert sie für eine Struktur, in der hauptamtliche Gewerkschaftsmitglieder gewählte Positionen besetzen. Die gewerkschaftliche Organisierung, so McAlevey, erfordert eine professionelle Führung.

Wie wir aus den Erfahrungen in den britischen Gewerkschaften wissen, wo sowohl die Basis als auch die hauptamtlichen Gewerkschaftsmitglieder um Positionen konkurrieren, werden die Aktivist:innen an der Basis oft von den Berufsgewerkschafter:innen verdrängt, die Zugang zur gewerkschaftlichen Infrastruktur haben, um Kampagnen durchzuführen. Für McAlevey bleibt die Basisorganisation als Ausbildungsstätte für Kämpfer:innen, die von der professionellen Bürokratie unabhängig sind, ein Buch mit sieben Siegeln.

Politik

Wie McAlevey glaubt, dass ihre Methoden in der Politik eingesetzt werden können, wird nicht wirklich erforscht. Sie ist eine US-Demokratin und sieht die Hauptschwäche der Demokratischen Partei darin, dass sie keine wirksamen Organizing-Methoden einsetzt, um ihre Basis zu mobilisieren. Aber sie geht nicht darauf ein, warum das so ist.

Die Demokratische Partei kann keine Methoden anwenden, die zu einer Organisierung und Radikalisierung am Arbeitsplatz führen, und zwar aus Gründen, die auf der Hand liegen sollten: Sie ist eine Partei der Kapitalist:innenklasse.

Die Lehrer:innen von Los Angeles, denen sie ein ganzes Kapitel widmet, befanden sich in direkter Konfrontation mit dem US-demokratischen Parteiapparat. Dies gilt auch für andere Gewerkschaftsaktivist:innen des öffentlichen Sektors in amerikanischen Großstädten. McAlevey weist auch auf die gewerkschaftsfeindliche Natur des Silicon Valley hin, das politisch fast ausschließlich demokratisch ist.

Natürlich ist die Demokratische Partei in keiner Weise eine Arbeiter:innenpartei. Aber könnten die Methoden von McAlevey innerhalb der britischen Labour Party angewendet werden?

Sie wurden in gewissem Maße in der Momentum-Bewegung ausprobiert, aber förderten keine demokratische Kontrolle, sondern überließen diese den von Jon Lansman und dem Team Corbyn ausgewählten Organizer:innen. Es wurden Kompromisse und Pakte geschlossen, um die Abgeordneten des rechten Flügels an Bord zu halten, während die Linken in den Wahlkreisen isoliert wurden.

Umwandlung der Gewerkschaften

A Collective Bargain ist wahrscheinlich das bisher am wenigsten wertvolle Buch von McAlevey. Raising Expectations war eine nützliche Darstellung der betrieblichen Organisierung in Amerika, und No Shortcuts ist ein klares und präzises Argument für ihre Organizing-Methode. Das jüngste Buch betritt wieder altbekanntes Terrain, so dass die gleichen Stärken und Schwächen zu Tage kommen.

Vor allem versteht sie weder als Organizerin noch als Akademikerin die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie als Ganzes (im Gegensatz zu den konservativen Spitzenfunktionär:innen, die das Organisieren so lange vernachlässigt haben).

Hauptamtliche und Funktionär:innen, die die Gewerkschaften bestimmen, setzen sich für den Erhalt des Verhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital ein. Ihre soziale Stellung hängt davon ab. Das ist die Quelle ihrer Feindseligkeit gegenüber der Basis, die durch die Eskalation von Konflikten bis zu dem Punkt, an dem die grundlegenden Interessen des Kapitals in Frage gestellt werden, „außer Kontrolle gerät“. Diese Ansicht liegt auch der Strategie von McAlevey zugrunde.

Die Arbeiter:innen hingegen haben kein Interesse daran, die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten, die ständig versucht, die Löhne zu drücken, die Arbeitsintensität zu erhöhen und sie regelmäßig aus der Arbeit zu werfen. Sozialist:innen versuchen, diese Spannung in den Gewerkschaften zum Vorteil der Arbeiter:innenschaft aufzulösen, indem sie die direkte Kontrolle der Lohnabhängigen über ihre Auseinandersetzungen und ihre Gewerkschaft einführen und so die Bürokratie als Ganzes auflösen.

Bei allen nützlichen Organizing-Methoden, die McAlevey befürwortet, ist diese Blindheit gegenüber der Bürokratie ein grundlegender Fehler in ihrer Analyse und ihrem Ausblick, der verhindert, dass ihr Werk ein Leitfaden für die Basis ist, um die Gewerkschaften zu transformieren und sie für den Sozialismus zu gewinnen.