Chile: Boric gewinnt Präsidentschaftswahlen deutlich

Dave Stockton, Infomail 1174, 22. Dezember 2021

Am 19. Dezember 2021 besiegte Gabriel Boric in der zweiten Runde der chilenischen Präsidentschaftswahlen José Antonio Kast und erhielt 55,9 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 55,6 Prozent die höchste seit Abschaffung der Wahlpflicht im Jahr 2012.

Offensichtlich hat die Drohung eines chilenischen Bolsonaro die fortschrittlichen WählerInnen mobilisiert. Die Wahlbeteiligung lag um 1,2 Millionen höher als im ersten Wahlgang, um den Verfechter einer Diktatur im Stile Pinochets und einer neoliberalen Verarmung zu besiegen. Obwohl die liberale bürgerliche Mitte bei der Wahl zerschlagen wurde, ist die Behauptung der bürgerlichen Medien, es handele sich um einen Kampf zwischen zwei Extremen, falsch. Im Fall von Kast gab es zwar ein Extrem, aber Boric ist in Wirklichkeit ein ziemlich „demokratischer Sozialist“ der Mitte, wenn auch ohne Parteibuch.

Dennoch war es völlig richtig, dass praktisch alle Linken für Boric gestimmt haben. Sie haben nicht nur den Aufstieg eines aggressiven Rechten an die Macht verhindert, sondern sie werden auch Boric selbst an der Regierung auf die Probe stellen. Die Stärkung der Moral und des Vertrauens seiner AnhängerInnen wird die besten Voraussetzungen für die Erneuerung der Massenmobilisierung für fortschrittliche wirtschaftliche und politische Forderungen schaffen, die zweifellos notwendig sein wird.

Lehren der Vergangenheit

Das bedeutet, nicht darauf zu warten, dass Boric über das Tempo der Umsetzung seines Programms entscheidet, und schon gar nicht, die Kompromisse zu akzeptieren, die wir von ihm gegenüber der Rechten anzubieten erwarten können. Es bedeutet, die Bewegung der ArbeiterInnenklasse und Jugend aufzubauen und zu organisieren, die seit 2019 in großer Zahl auf die Straße gegangen ist und die Grundlage für die Abschaffung der Pinochet-Verfassung und die Wahl eines jungen „Linken“ gelegt hat.

ChilenInnen, die sich an die Präsidentschaft von Salvador Allende (3. November 1970 – 11. September 1973), die mit seiner Ermordung endete, und an die Diktatur Pinochets (1973 – 1990) erinnern können, wissen, dass die Wahl einer linken Regierung nicht das Ende der Geschichte oder den Beginn glücklicherer Tage bedeutet.

Diese Diktatur, die Kast regelmäßig lobt, war eine der blutigsten der 1970er Jahre. Mehr als 3.000 namentlich identifizierte Menschen wurden getötet oder verschwanden, rund 37.000 wurden verhaftet und unsäglichen Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt, und 200.000 mussten ins Exil fliehen. Wie in Francos Spanien und Videlas Argentinien wurden Pinochet und seine MörderInnenriege nie vor Gericht gestellt, und aus demselben Grund unterstützten die Vereinigten Staaten und die westlichen Demokratien diese Regime weiterhin. Im Fall von Pinochet lag dies daran, dass er der erste war, der die neoliberale Politik der „Chicago Boys“ vollständig durchsetzte. Henry Kissinger (98), der Mann hinter dem Staatsstreich von 1973, ist noch am Leben und wird mit Ehrungen überhäuft, darunter dem Friedensnobelpreis.

Keine faulen Kompromisse!

Kasts 44 Prozent der Stimmen zeigen, dass diejenigen, die von der Diktatur profitierten, nicht verschwunden sind. Eine weitere, bleibende Hinterlassenschaft jener Jahre ist ein rechtsgerichteter Militär- und Polizeiapparat, der zweifellos bereit ist, jedes ernsthaft radikale Programm zu blockieren. Obwohl das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr 12 Prozent erreichen soll, nachdem es 2020 um 5,8 Prozent geschrumpft war, weist die OECD darauf hin, dass es sich dabei um einen kurzfristigen Schub durch ein umfangreiches Konjunkturpaket handelt, und erwartet, dass es bis 2023 auf nur 2 Prozent sinken wird. Es besteht kein Zweifel, dass sowohl das chilenische als auch ausländische Kapital bereits planen, wie sie nach der Wahl von Boric jegliche progressive Politik sabotieren können.

Es besteht jedoch die Gefahr, dass Boric den Weg der Annäherung an die AnhängerInnen von Kast beschreitet, um die Kluft zwischen „den“ ChilenInnen zu überwinden überwinden. Der Preis für einen solchen faulen Klassenkompromiss wird darin bestehen, dass er alle radikalen Elemente seines Programms fallen lässt, insbesondere die Besteuerung der reicheren Teile der Bevölkerung, um sinnvolle Sozialreformen zu finanzieren. Dies könnte die Massenbewegungen demoralisieren und demobilisieren, wenn es keine konzertierte Opposition der Gewerkschaften und der Linken gibt.

Sollte er jedoch ernsthafte Reformen anstreben, ist mit Sabotage und Störungen seitens der chilenischen Führungsschicht im Kongress und im Wirtschaftsleben zu rechnen. Die USA und ihre willfährigen internationalen HelferInnen wie der IWF werden Boric der Menschenrechtsverletzungen und der Diktatur beschuldigen. Obwohl Chile über eine relativ fortschrittliche Wirtschaft verfügt und einst als „älteste Demokratie Lateinamerikas“ bezeichnet wurde, bleibt es dennoch eine Halbkolonie, die Sanktionen und Blockaden ausgesetzt sein könnte, sollte es versucht sein, den „bolivarischen“ Weg eines Chávez oder Morales einzuschlagen.

Die chilenische Linke und alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte, die für Boric gestimmt haben, müssen sich erneut auf der Straße und am Arbeitsplatz mobilisieren, ihre eigenen Forderungen erheben und auf alles gefasst sein, was ihre FeindInnen vorbringen. Mehr noch, die junge Linke muss sich auf das radikale, ja revolutionäre Vermächtnis des 20. Jahrhunderts besinnen und sich von den kompromittierenden und pazifistischen Traditionen des „demokratischen Sozialismus“, dem Boric nahesteht, lösen. Die chilenischen KapitalistInnen, bewaffnet mit ihren Militär- und Polizeikräften und, hinter ihnen stehend, der CIA, sind echte TigerInnen, die sich nicht friedlich durch Wahlmandate und bürgerliche Demokratie ihrer Zähne und Krallen berauben lassen.




Den Vormarsch der Reaktion in Chile stoppen – Kritische Wahlunterstützung für Boric!

Markus Lehner, Infomail 1173, 16. Dezember 2021

Am 19. Dezember findet die hart umkämpfte und stark polarisierte Stichwahl um die Präsidentschaft in Chile statt. Im ersten Wahlgang lag der rechtsextreme Antonio Kast mit 27,9 % vor dem Kandidaten des Linksbündnisses „Apruebo Dignidad“ (dt.: „Ich stimme der Würde zu“), Gabriel Boric, der 25,8 % der Stimmen auf sich vereinen konnte.

Wie wir vor dem ersten Wahlgang im Artikel „Das Ende des chilenischen Modells?“ dargestellt haben, finden diese Wahlen in einer seit zwei Jahren von Protesten geprägten Situation statt. Seit Oktober 2019 steht das „Modell Chile“, das lange als Eldorado neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik galt, durch eine immer stärker werdende Protestbewegung der großen Zahl der VerliererInnen dieses Modells unter Beschuss. Jugendliche, Frauen, ArbeiterInnen, Indigene, MigrantInnen haben das Heft des Handelns in die Hand genommen  und auch die bisher in die Nach-Pinochet-Ära integrierte sozial-liberale „Concertación“ (Sozial- und ChristdemokratInnen; dt.: „Koalition der Parteien für die Demokratie“) von der Führung der Opposition verdrängt.

Stattdessen sind die Bündnisse rund um die Kommunistische Partei Chiles, insbesondere die „Frente Amplio“ (dt.: „Breite Front“) in den Vordergrund gerückt. Gabriel Boric, ein früherer Sprecher der StudentInnenproteste und Repräsentant dieser Front, hat zusammen mit den GewerkschaftsführerInnen und FunktionärInnen der KP daran mitgewirkt, dass die Protestbewegung letztlich in den Prozess der Neugestaltung der Verfassung übergeleitet wurde. Mit dem Referendum zum Verfassungsprozess und der Wahl zur Konstituante in diesem Mai zeigt dieser reformistische Weg natürlich inzwischen seine erwartungsgemäßen Grenzen. Dass dieser parlamentarisch-institutionelle Weg die Grundpfeiler der sozialen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten des „Modell Chile“ grundlegend angreifen könnte, ist für immer weniger Beteiligte der Proteste glaubhaft. Dies hat sich nicht nur in der äußerst geringen Wahlbeteiligung für die Konstituante ausgedrückt, sondern auch in dem vehementen Wiederaufflammen der Protestbewegung seit September 2021. Trotz dieser aufkeimenden Unzufriedenheit hofft die Masse der Bewegung und der unterdrückten Klassen bei den Wahlen auf  Boric, und das erst recht angesichts der Alternative: ein Wahlsieg des rechten Pinochet-Verehrers Kast.

Die Rechte vereint die Bourgeoisie

Mit dem Schwinden des Vertrauens in den Verfassungsprozess fühlt sich auch die Rechte wieder stark genug, um ihre Kräfte zu mobilisieren. Es gibt nicht wenige in den Mittelschichten und auf dem Land, die durch die hohen Ausbeutungsraten und die Stellung Chiles auf dem Weltmarkt eine günstige soziale Stellung erworben haben. Die Proteste und die Wahlversprechen der Linken wurden daher von der Rechten benutzt, um den drohenden wirtschaftlichen Niedergang gerade gegenüber diesen Schichten zu beschwören. Dazu kommt, dass sie mit Kast einen Kandidaten gefunden haben, der mit allen Elementen des Rechtspopulismus auch weit über die üblichen Konservativen hinaus mobilisieren kann. Insbesondere war Chile in den letzten Jahrzehnten ein Anziehungspunkt für MigrantInnen aus ganz Lateinamerika, z. B. aus Haiti. Diese wurden in den letzten Jahren immer mehr an den Rand gedrängt und sind Ziel starker rassistischer Ausgrenzung. Hetze gegen MigrantInnen und Indigene (insbesondere die Mapuche) als „Hort der Kriminalität“ und „SchmarotzerInnen“ sind für Kast ebenso Kernelement seiner Propaganda wie Klimawandel-Leugnung, Hetze gegen Homosexuelle und die Beschwörung der „Gefahr des Feminismus“. Trotz dieser widerlichen Züge eines Anden-Bolsonaro (mit dem er sich auch gerne auf Fotos zeigt) verfügt Kast über die vollständige Unterstützung des chilenischen Establishments. Die Angst, selbst vor dem Wahlsieg der reformistischen Linken, lässt die chilenische Bourgeoisie auf Kast setzen, um nicht nur eine Marionette des Neoliberalismus im Präsidentenpalast sitzen zu haben, sondern auch einen Erzreaktionär, der bereit ist, gestützt auf den Staatsapparat und eine kleinbürgerlich-reaktionäre AnhängerInnenschaft, mit dem linken Spuk Schluss zu machen.

In den letzten Umfragen (in Chile gibt es seit letzter Woche allerdings ein Umfragemoratorium) lag Boric mehr oder weniger knapp vor Kast. Die fortschrittliche Massenbewegung, aber auch die meisten WählerInnen zentristischer Parteien tendieren eher dazu, Boric zu wählen. Außerdem liegt er insbesondere bei Frauen, Jugendlichen und ArbeiterInnen im Verhältnis 40:20 vorne. Insbesondere Frauenorganisationen haben zu Recht gegen die reaktionären, frauenfeindlichen Programmpunkte von Kast mobil gemacht und rufen in großer Zahl zur Wahl von Boric auf. Gleiches gilt für alle wichtigen Gewerkschaftsführungen. Boric verspricht vor allem die Rücknahme der Privatisierungspolitik in Bereichen wie Gesundheit und Rente. Dies führt auch zu einer starken Unterstützung in den Umfragen bei älteren WählerInnen.

Die Präsidentschaftswahl stellt angesichts der politischen Krise und Zuspitzung der gesellschaftlichen Polarisierung der letzten Jahre auch eine wichtige Konfrontation nicht einfach zwischen zwei KandidatInnen dar, sondern zwischen den gesellschaftlichen Hauptklassen, zwischen Lohnarbeit und Kapital. Trotz der reformistischen Grenzen der Politik und des Programms von Boric kann und darf die ArbeiterInnenklasse hier nicht neutral bleiben. Auch alle linken, revolutionären Kräfte müssen mit ihrer Stimme mithelfen, Kast an der Wahlurne zu schlagen. Denn sein Sieg wäre eine Niederlage für die gesamte ArbeiterInnenklasse, die Jugend, die Frauen, Indigene, die armen Bauern und Bäuerinnen in Chile und ganz Lateinamerika.

Grenzen des Reformismus

Gleichzeitig dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass Boric,  die KP und die „Frente Amplio“ nicht die notwendige revolutionäre Antwort auf die Probleme von sozialer Ungleichheit und Unterdrückung in Chile darstellen. Ihr Manöver, die Protestbewegung in das Fahrwasser des Verfassungsprozesses zu lenken, hat dagegen tatsächlich die Möglichkeit einer revolutionären Zuspitzung der Proteste 2019 abgewürgt und so der Reaktion ermöglicht, wieder die Initiative zu erlangen. Dass mit der Enttäuschung in Bezug auf die eigentlichen Ziele des Protestes jetzt die Konterrevolution umso schlimmer wieder ihr Haupt erhebt, ist letztlich kein Wunder. Daraus ergibt sich die Polarisierung bei der gegenwärtigen Wahl, zwischen einem Kandidaten der reformistischen Linken, die die Lohnabhängigen und Unterdrückten repräsentiert, und der extremen Rechten mit Unterstützung der Bourgeoisie.

Auch wenn Wahlen und Parlamentarismus letztlich nichts an den wirklichen Fragen der Macht (sprich den dahinterliegenden Eigentumsverhältnissen) ändern können, so spiegelt sich gerade in solch einer polarisierten Kampagne nicht nur das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen wider. Der Ausgang selbst wird in dieses eingehen.

Es kann der ArbeiterInnenklasse daher nicht egal sein, wer solche Wahlen gewinnt. Ein Wahlsieg von Kast wäre sicherlich für die herrschende Klasse eine Ermutigung zu weiteren Angriffen und würde der Konterrevolution zudem ein „demokratisches“ Mandat geben. Für die sozial Unterdrückten und die Protestierenden der letzten Jahre wäre dies ein schwerer Rückschlag und keine Ermutigung für den weiteren Kampf, sondern hätte wahrscheinlich sogar entmutigende Wirkung.

Auch ein Wahlsieg von Boric ist natürlich keine Garantie für bessere Kampfbedingungen oder tatsächliche Veränderungen. In jedem Fall ist nur der Kampf in den Arbeits- und Ausbildungsstätten, auf der Straße und in sozialen Protesten der wirkliche Hebel gegen das Wiedererstarken der Rechten und für einschneidende soziale Veränderungen. Vor allem aber müssen wir anerkennen, dass ein großer Teil der ArbeiterInnen, Frauen, Indigenen etc. tatsächlich glaubt, dass ein Wahlsieg von Boric ihren Kampf voranbringe. Dies machen sowohl die Umfragen als auch die Unterstützung durch Gewerkschaften und soziale Bewegungen mehr als deutlich. RevolutionärInnen müssen natürlich vor Illusionen in Boric warnen (siehe sein Agieren im Abkommen zur „Befriedung der Proteste“) und die ihn unterstützenden Organisationen zu unabhängiger Mobilisierung im Kampf gegen rechts, zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens, zur Einführung einer staatlichen Rente etc. aufrufen.

Boric wird vielmehr versuchen, sich mit der Bourgeoisie und ihren im Parlament vertretenen Parteien auf die Aufrechterhaltung der alten Ordnung zu einigen (was man schon an seinen jüngsten „Versprechen“ sieht, dass man leider einige der Inhaftierten der Protestbewegung nicht amnestieren könne).

Eine kritische Unterstützung von Boric bei den Wahlen muss diese Zugeständnisse anprangern und von ihm und den Massenorganisationen einfordern, mit dieser Politik zu brechen. RevolutionärInnen muss dabei bewusst sein, dass Boric und die Führungen der bürokratisierten Gewerkschaften und reformistischen Parteien und Organisationen, auf die er sich stützt, diesen Schritt nicht gehen wollen. Wenn wir die Mobilisierung jedoch vorantreiben und den Kampf zuspitzen wollen, so müssen wir die Unterstützung von Boric damit verbinden, seinen AnhängerInnen zu helfen, über die Begrenzungen seiner Politik hinauszugehen. Dabei ist es notwendig, an die durchaus bedeutenden Versprechungen des Kandidaten anzuknüpfen wie z. B. ein einheitliches und öffentliches Gesundheitssystem für alle, eine solidarische Altersversorgung,  Steuererhöhungen für Reiche und Unternehmen und Anerkennung der indigenen Völker und ein Dialog mit ihnen sowie Abschaltung aller Kohlekraftwerke bis zum Ende seiner Regierungszeit.

Wir rufen daher zur kritischen Wahlunterstützung von Boric ohne Illusionen auf und verbinden diese mit der Notwendigkeit, die Protestbewegung fortzusetzen und  eine organisierte Opposition zur bestehenden Ordnung voranzutreiben. Wir fordern ihn, die KP und die „Frente Amplio“ auf, mit der Bourgeoisie zu brechen und eine Regierung der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen zu bilden, die sich auf die Mobilisierung der Massen stützt, auf Stadtteil- und Betriebskomitees und diese zu Räten in Stadt und Land ausbaut; auf eine Mobilisierung, die die Konterrevolution entwaffnet und die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen bewaffnet, die die einfachen SoldatInnen auffordert, mit den OffizierInnen zu brechen und SoldatInnenräte zu bilden. Eine solche Regierung müsste zugleich, drastische Maßnahmen zur Umsetzung ihrer Wahlversprechen und zur Enteignung des chilenischen und ausländischen Großkapitals und Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft ergreifen.

Auch wenn Boric, die KP und die Frente diese radikalen, antikapitalistischen Schritte hin zu einer sozialistischen, revolutionären Umwälzung nicht gehen wollen, so können und sollen diese Forderungen helfen, die ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen davon zu überzeugen. Doch das wird nur möglich sein, wenn RevolutionärInnen bereit sind, diese im Kampf gegen Kast zu unterstützen.

Absentismus ist nicht revolutionär!

In diesem Zusammenhang müssen wir uns damit beschäftigen, welche Antworten andere Linke in Chile geben. Sicherlich ist es verständlich, dass viele der aktivsten Beteiligten an den wieder aufgenommenen Protesten keine Hoffnung in Boric setzen und ihn wegen seiner Teilnahme an dem „Befriedungsabkommen“ als „Verräter“ betrachten. Revolutionäre Politik kann sich aber nicht an verständlichen Abneigungen orientieren, sondern muss sich nach den Notwendigkeiten in der gegebenen Situation ausrichten. Und die aktuelle Lage ist dadurch geprägt, dass in dieser entscheidenden Zuspitzung eben kein/e KandidatIn der Protestbewegung mit einem Programm zur revolutionären Lösung der Krise zur Wahl steht – und gleichzeitig ein in der ArbeiterInnen- und sozialen Bewegung stark verankerter Kandidat sehr viel Unterstützung gerade von dieser Seite erhält. Wir mögen dies zur Illusion erklären und vor seiner wahrscheinlichen zukünftigen Politik warnen. Aber dies kann kein Argument sein, in der aktuellen Klassenkonfrontation, die die Wahl auch darstellt, nicht eindeutig Stellung zu beziehen. Wer nicht bereit ist, Boric und die Massenbewegung auch an der Wahlurne gegen die Reaktion zu unterstützen, weigert sich nur, die ArbeiterInnenklasse in dieser gesellschaftlichen Großkonfrontation zu stärken, und trägt somit letztlich nur dazu bei, die Chancen von Kast zu verbessern. Wer mit einer Wahlenthaltung zu einem Sieg von Kast beiträgt, wird zu Recht bei den enttäuschten ArbeiterInnen, Frauen, Jugendlichen, Indigenen und Bauern/Bäuerinnen, die Boric gewählt haben, kein besonders gutes Gehör für die notwendige Fortsetzung des Kampfes gegen rechts und für soziale Veränderung finden. Im Gegenteil ist die Gefahr der Demoralisierung groß, wenn dann die reformistische Linke wie in Brasilien ihre AnhängerInnen um Volkfrontprojekte „gegen rechts“ versammelt.

Von daher halten wir die Wahlposition der „Partido de Trabajadores Revolucionarios“ (PTR, chilenische Sektion der Fracción Trotskista – Cuarta Internacional) für falsch. In mehreren Deklarationen zur Stichwahl gibt sie als Slogan zur Wahl aus: „Kast und die Rechte besiegen, aber ohne Illusionen in Boric und sein Projekt“ (z. B.: https://www.laizquierdadiario.cl/A-derrotar-a-Kast-y-la-derecha-sin-confiar-en-Boric-ni-en-su-proyecto). Die berechtigte Kritik an Boric und seiner Rolle im „Befriedungsabkommen“ sowie an seinem halbherzigen Programm verbindet sie nicht mit der Taktik der kritischen Wahlunterstützung – wie wir sie auf Basis der Methode von Lenin und Trotzki oben entwickelt haben. Während sie richtigerweise betont, dass nur unabhängige Mobilisierungen der Klasse den Kampf gegen rechts und für soziale Veränderungen voranbringen können, tut sie so, als ob der Ausgang der Wahl und die Tatsache der massenhaften Illusionen in Boric dafür völlig unerheblich wären.  Sie rettet sich dann in die widersprüchliche und schwammige Formel:  „Wir organisieren diesen Kampf mit den Genossinnen und Genossen, die im Bewusstsein dessen, was Boric repräsentiert, kritisch für ihn stimmen werden, sowie mit denjenigen, die der Rechten entgegentreten wollen und nicht wählen werden, weil sie der Meinung sind, dass Boric nicht die Forderungen des Oktobers vertritt“. D. h., sie selber ruft nicht zur Wahl von Boric auf (also tritt wohl für Wahlenthaltung ein), „toleriert“ aber die Wahl von Boric, sofern sie kritisch „im Bewusstsein dessen, was Boric repräsentiert“, erfolgt.

Wenn Boric so ein Verräter sein soll, dass sich kritische Wahlunterstützung verbietet, warum arbeitet man dann gerade mit denjenigen zusammen, die genau wissen, was Boric repräsentiert – und nicht z. B. mit den tausenden, die tatsächlich Illusionen in Boric hegen, aber die richtigen Forderungen, die er auch verficht, tatsächlich umgesetzt sehen wollen? Wird die PTR bei den Mobilisierungen jetzt in Zukunft überprüfen, ob nur Menschen, die wissen, was Boric und seine politische Strömung repräsentieren, teilnehmen? ArbeiterInnen, die von Boric, den Gewerkschaftsführungen, der KP etc. erwarten, dass sie ein staatliches Gesundheits- und Rentensystem auf sozialer Grundlage einführen und die gewerkschaftsfeindlichen Arbeitsgesetze abschaffen, werden in großer Zahl nicht einfach durch Aufklärung oder Schulung oder „vollkommen unabhängige Mobilisierung“ lernen, dass dies keine dafür geeignete Führung ist.

Wir müssen  den ArbeiterInnen im Kampf helfen, die Schranken der reformistischen Führung zu erkennen. Das bedeutet nicht nur, vor dieser Politik zu warnen, sondern auch, die Mobilisierung und Konfrontation zuzuspitzen, um den ArbeiterInnen in organisierter Form zu ermöglichen, über die Politik von Boric hinauszugehen und daraus eine alternative, revolutionäre Führung mit Verankerung in den Massen aufzubauen. Bei der Wahlauseinandersetzung im Abseits zu stehen, vor allem vor Illusionen in den reformistischen Kandidaten Boric zu warnen und die kleine, radikale Minderheit zum unabhängigen Kampf gegen die Gefahr von rechts „jenseits des Wahlspektakels“ aufzurufen – das ist pseudorevolutionäre Pose, die in Wirklichkeit einem Fernbleiben von der realen Konfrontation bei den Wahlen, einer Verweigerung des Kampfes gegen die Reaktion gleichkommt. Wer die „Kritik“ am Reformismus und das Beschwören der „unabhängigen Mobilisierung der Klasse“ als Begründung zur Wahlenthaltung heranzieht, weigert sich nur, die Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen den  Kandidaten von  vereinigter Bourgeoisie und Reaktion zu unterstützen. Die Überwindung der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse ist auf dieser Basis unmöglich.




Das Ende des chilenischen Modells?

Markus Lehner, Neue Internationale 260, November 2021

Viele Jahrzehnte war Chile eines der Lieblingsländer von Wallstreet & Co. Das Land galt als Modell für den „Weg nach oben“ im Sinne des Neoliberalismus. Natürlich konnte schlecht bestritten werden, dass am Beginn dieser Erfolgsgeschichte die „unschöne“ brutale Militärdiktatur des Pinochet-Regimes mit seinen Toten und Folteropfern stand, aber nach der „Transition“ zu angeblich demokratischen Verhältnissen sei es zu einem Vorbild für den globalen Süden geworden.

Erfolg für wen?

Erfolgreich war die „Transition“ tatsächlich nur für die Reichen und globalen Konzerne, während die soziale Ungleichheit enorm zunahm. Die „Reformen“ der Militärdiktatur hatten praktisch alles nur Mögliche privatisiert. Die „Transition“ brachte zwar gewisse soziale Rechte zurück, aber die Gewerkschaften blieben in ein strenges Reglement eingespannt und konnten insbesondere im privaten Bereich kaum wirkungsvoll für Einkommenssteigerungen der arbeitenden Massen auftreten.

Auch die mit dem Gewerkschaftsverband CUT verbundenen Parteien (Sozial- und ChristdemokratInnen, KommunistInnen) brachten in den Jahren, als sie an der Regierung beteiligt waren, wenig Änderung. Allenfalls wurden die schlimmsten Folgen des Neoliberalismus abgefedert wie etwa durch Anhebungen von Mindest- und Soziallöhnen. So kommt es, dass im Paradies der Wallstreet heute der Monatsdurchschnittslohn eine/r ArbeiterIn bei 530 US-Dollar liegt.

Massenproteste

Als im Oktober 2019 die Ticketpreise für die Metro in Santiago um fast 4 % erhöht werden sollten, kam es in Folge zu einem regelrechten Aufstand. Mit Verzögerungen schlossen sich auch die Gewerkschaften mit Arbeitsniederlegungen an – und drohten gar mit Generalstreik.

Das Ziel der Massenbewegung war schnell klar: das Ende des „chilenischen Modells“! Dieser Wunsch wurde auch noch durch die Reaktion der Herrschenden bestärkt, die einen Polizeieinsatz befahlen, der an die schlimmen Zeiten der Diktatur erinnerte. Insbesondere die Übergriffe gegen Frauen und Indigene führten zu einem Zusammengehen der schon vorher starken Frauen- mit der sozialen Bewegung, aber auch mit den Protesten gegen den Rassismus gegen Indigene. Der Ruf nach dem Rücktritt von Piñera war so stark, dass die Kommunistische Partei und die mit ihr verbündete Frente Amplio (Breite Front von Linksparteien; FA) zunächst die Aufforderung der Regierung zu Verhandlungen ausschlugen.

Während sich ArbeiterInnen, Frauen, Indigene, kommunale AktivistInnen immer mehr in selbstorganisierten Strukturen vernetzt hatten und auf den Sturz der Regierung hinarbeiteten, fanden die reformistischen BürokratInnen einen anderen Ausweg – die Einleitung der Erarbeitung einer neuen Verfassung, die die noch von Pinochet verantwortete und in der Transition kaum veränderte ablösen sollte. Auch wenn die Einleitung eines verfassunggebenden Prozesses mit demokratischen Vorgaben für die Wahl und Durchführung einer Konstituante von großen Teilen der Bewegung als Erfolg gefeiert wurde, blieb die Regierung damit an der Macht und konnte ihre Krisenpolitik weiter durchziehen und zusätzlich noch den Verfassungsprozess so gut wie möglich beschneiden.

Damit war auch klar, dass letztlich die Proteste weitergehen würden. Ihr Wunsch nach einer Kehrtwende weg von einem privatisierten Gesundheits-, Renten-, Erziehungssystem etc. war mit dem Versprechen einer neuen Verfassung in keiner Weise garantiert. Die reformistischen Organisationen versprachen, diese Reformen mit Hilfe der Wahlurne umzusetzen – im „Superwahljahr“ 2021. In diesem Jahr fanden nicht nur die Wahlen zur Konstituante (im Mai) und zu den Provinzregierungen statt, sondern steigt im November die erste Runde der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Die eigentliche Entscheidung werden die Stichwahlen im Dezember bringen, da für beide Wahlen 50 % der gültigen Stimmen nötig sind, um die Präsidentschaft oder ein Abgeordnetenmandat zu erringen.

Wahlen

Die geschwundenen Illusionen darüber, was im Wahltheater und in einem jahrelangen Verfassungsprozess tatsächlich zu erreichen ist, drückten sich bereits in der geringen Wahlbeteiligung zur verfassunggebenden Versammlung aus (37 %) – im Jahr zuvor bei der Abstimmung über die Einberufung beteiligte sich noch über die Hälfte der ChilenInnen. Allerdings wurde der Plan der Herrschenden durchkreuzt, durch den Listenzwang etablierten Parteien wieder eine Mehrheit zu verschaffen. Die traditionell herrschenden Kräfte (die Konservativ-Liberalen Piñeras und die „Konzentration“ von Sozialistischer und Christdemokratischer Partei) fielen beide unter vernichtende 20 %.  Nur die FA konnte ein nennenswertes Ergebnis erzielen, während Listenverbindungen unabhängiger BasiskandidatInnen große Erfolge aufwiesen. Die FA errang außerdem auch bei den Gouverneurswahlen wichtige Erfolge, z. B. mit dem Gewinn einer ihrer FrauenaktivistInnen in Santiago.

Mit Gabriel Boric liegt auch für die Präsidentschaftswahlen momentan der Kandidat der FA in den meisten Umfragen in Führung. Der 35-Jährige war selbst einer der führenden Köpfe der StundentInnenrevolte 2011 und später Frontfigur in verschiedenen unabhängigen linken Organisationen, die im Umfeld der KP standen und zum Kern der FA wurden. Obwohl Boric am besagten Abkommen mit Piñera beteiligt war, wird er vom Zentralorgan des globalen Liberalismus, dem britischen „Economist“, in dessen Ausgabe vom 30. Oktober als „gefährlicher Radikaler“ gekennzeichnet. Angeprangert wird vor allem, dass die Linke in der neuen Verfassung Strafen gegen die Glorifizierung der Militärdiktatur bzw. für Verharmlosungen von deren Folterregime fordert. Dies wird als Beginn einer „Unterdrückung der Meinungsfreiheit“ gesehen.

Ebenso bedenklich findet der Economist, dass die Verfassung auch gegen die Stimmen der bisher herrschenden Parteien durchgesetzt werden solle – natürlich ein schlimmer „antidemokratischer“ Akt: Die liberale Bourgeoisie betrachtet es offenkundig schon als antidemokratisch, wenn sie überstimmt wird (und die Liberalen in der chilenischen Konstituante vereinen weniger als ein Drittel der Mandate). An die Wand gemalt werden natürlich die schlimmen Folgen von ökologischen Auflagen für den Bergbau und die Ankündigungen von Wiederverstaatlichung, die Boric wie auch die Linke in der Konstituante äußern. Das Wahlprogramm der FA konzentriert sich tatsächlich auf solche Punkte wie die Wiedereinführung eines staatlichen Gesundheitssystems. Boric will z. B. ein System ähnlich dem NHS in Britannien in Chile einführen.

Ende des Neoliberalismus?

Nun sind einige dieser Programmpunkte sicherlich auch wichtige Forderungen der Protestbewegungen. Aber wäre bei einem Wahlsieg von Boric tatsächlich mit dem Ende des „Neoliberalismus“ in Chile zu rechnen?

Dem stehen mehrere Hindernisse entgegen. Die FA-Spitzen wollen im Parlament, in der Konstituante und auch in den Gewerkschaften weiterhin mit Teilen des Establishments, vor allem aus der „Konzentration“ (Sozialdemokratie, Christdemokratie), zusammenarbeiten. Sie und die „unabhängigen Linken“ in der Konstituante sind ihrerseits nicht wirklich zu einem entscheidenden Bruch mit dem bisherigen System bereit.

Dabei erweist sich die Behauptung, erstmal ginge es „nur“ um ein Ende des Neoliberalismus, als hochproblematisch. Sie geht nämlich von der falschen Vorstellung aus, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen speziell der krisenhaften Entwicklung in Lateinamerika eine andere, „menschlichere“ Form von Kapitalismus in Chile geben könnte und diese dauerhaft von der herrschenden Klasse akzeptiert würde. Eine Infragestellung der wichtigen Rolle Chiles in den internationalen Produktionsketten wird schnell zu einer Konfrontation mit den mächtigen Kapitalien im In- und Ausland führen. Auch eine von Boric geführte Regierung müsste sich entweder schnell mit dem internationalen Kapital arrangieren (mit ein paar sozialen Regulierungen im Gesundheitssystem als Brosamen) – oder zu einer radikalen Konfrontation mit dem Kapital gezwungen sein.

Was letztere betrifft, ist die weitere Entwicklung und Verstärkung der sozialen Proteste von entscheidender Bedeutung. Nachdem einige der mit Corona begründeten Einschränkungen jetzt im Oktober gelockert worden waren, hat sich diese Bewegung wieder in ihrer vollen Radikalität gezeigt. Gerade zum Jahrestag des 2019er Protestes kam es wieder zu Straßenschlachten, bei denen die Hauptlosung laut „Economist“ die Forderung nach dem Ende des Kapitalismus war. Einmal mehr ging die Polizei mit aller Härte vor und es kam landesweit zu 3 Todesopfern. Natürlich benutzen die bürgerliche Presse und ihre FreundInnen im liberalen Ausland die Zuspitzung auf der Straße, um vor der „Anarchie“ und der „Zertrümmerung“ der ökonomischen Sicherheit zu warnen, sollte Boric die Wahlen gewinnen.

Zuspitzung

Bezeichnend auch, was sich dann im bürgerlichen Lager getan hat: War lange Zeit der „gemäßigte“ Liberale Sebastián Sichel der Piñera-Gruppierung der Wunschkandidat der Bourgeoisie, so rückte jetzt der Pinochetfan José Kast in den Vordergrund. In einigen Medien wird bereits behauptet, er würde Boric in den Umfragen überholen. Das Projekt Kast setzt ganz auf die Law-and-Order-Schiene, die Abwendung der drohenden „Anarchie“ – daneben verkündet Kast den Bau von Grenzbefestigungen gegen die „Migrationsflut“, die angeblich den chilenischen Wohlstand bedroht, wie auch entschiedene Maßnahmen gegen „kriminelle“ Mapuche.

Dies zeigt, dass die krisenhafte Entwicklung in Lateinamerika nun auch in Chile wie zuvor in Brasilien zur Konfrontation zwischen der Linken und einer Bourgeoisie führt, die nicht mehr davor zurückschreckt, solche Clowns und Rassisten wie Bolsonaro oder Kast als ihre „Retter“ aufs Schild zu heben, so wie es Marx schon am Aufstieg des Louis Bonaparte beschrieben hatte.

Eine politische Zuspitzung ist in der kommenden Periode daher unvermeidlich. Programm und Strategie der KP und FA bilden dabei jedoch selbst ein zentrales Problem für die Lösung der Krise im Interesse der Lohnabhängigen, der Bauern/Bäuerinnen und Unterdrückten. Warum? Weil sich ihre Volksfrontpolitik, also das Verfolgen eines Regierungsbündnisses mit den gemäßigten Teilen der herrschenden Klasse, wie schon unter Allende als Fessel für den heroischen Kampf der chilenischen Massen erweisen wird müssen. Andererseits stützen sich KP und FA auf die Gefolgschaft von Millionen und feste Stützen in den Gewerkschaften. Daher werden weit über eine Million Lohnabhängige und AktivistInnen der sozialen Bewegungen diesen Parteien ihre Stimme geben, um so die verschiedenen Fraktionen des chilenischen und internationalen Kapitals zu schlagen.

Taktik

Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen, diesen Prozess zu vertiefen und zuzuspitzen. Zur Zeit gibt es in Chile keine alternative, revolutionäre Partei der Klasse, auch wenn verschiedene linke Organisationen in Teilbereichen über eine gewisse Verankerung verfügen. Dazu zählt sicherlich auch die PTR („Revolutionäre ArbeiterInnenpartei“, chilenische Sektion der „Trotzkistischen Fraktion“). Mit ihren wenigen Kräften trat sie im Mai bei den Wahlen zur Konstituante an und erzielte 50.000 Stimmen – sicherlich ein achtbares Ergebnis, aber mit 0,8 % weit von einem signifikanten Einfluss in der Klasse entfernt. Für die kommenden Wahlen ging die PTR ein Wahlbündnis mit anderen linken Kleingruppen ein, die „Front für ArbeiterInneneinheit“.

Sehr wahrscheinlich wird diese Kandidatur angesichts der Konfrontation von FA und der Rechten kein sehr viel besseres Ergebnis als die PTR für die Konstituante erzielen. Hinzu kommt, dass das Programm dieses Wahlblocks zwar korrekte Kritik an der FA und ihrem Verrat mit dem „Abkommen“ enthält, selbst aber kein revolutionäres, antikapitalistisches Aktionsprogramm aufstellt. Es enthält zwar richtige Forderungen nach Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle, es fehlt jedoch das Aufzeigen der notwendigen Mittel zu ihrer Durchsetzung wie die Frage des Kampfes um eine ArbeiterInnenregierung, des Bruches mit dem bürgerlichen Staat und der Errichtung der Räteherrschaft der ArbeiterInnenklasse. Die Kandidatur stellt somit auch auf programmatischer Ebene keine revolutionäre, sondern bloß eine zentristische, zwischen Reform und Revolution schwankende, Alternative dar.

Kritische Unterstützung für Boric!

Vor allem aber beantwortet die Kandidatur eines Bündnisses kleiner linker Gruppierungen nicht die Frage, welche Haltung RevolutionärInnen in der Konfrontation zwischen Boric und den offen bürgerlichen KandidatInnen bei den Präsidentschaftswahlen einnehmen sollen bzw. zwischen denen der FA/KP und den offen bürgerlichen Kräften bei den Parlamentswahlen.

Die aktuelle zugespitzte Situation erfordert, in dieser Konfrontation zur Wahl von Boric und der FA/KP aufzurufen. RevolutionärInnen müssen deutlich machen, dass sie diese gegen den unvermeidlichen Angriff der herrschenden Klasse und direkt konterrevolutionärer Kräfte verteidigen. Zugleich müssen sie von der FA/KP fordern, mit den offen bürgerlichen Kräften – konkret jenen der  „Konzentration“ zu brechen.

Dies ist umso wichtiger, als ein großer Teil der organisierten ArbeiterInnenklasse, der sozial Unterdrückten und selbst der AktivistInnen der Protestbewegung weiterhin der Führung reformistischer Organisationen folgt. Das betrifft vor allem die Kernschichten der Lohnabhängigen. Trotz „Neoliberalismus“ hat sich in Chile der „informelle Sektor“ (deregulierte Beschäftigungsbedingungen) nur auf unter 30 % belaufen, während er im Rest des Kontinents auf über 60 % gestiegen ist. In Chile hat sich das Bruttosozialprodukt von 1990 bis 2015 verdreifacht. Auch wenn, wie anfangs ausgeführt, für die Masse der Bevölkerung dabei nur Brosamen abfielen, so hat sich doch eine besser bezahlte mittlere Schicht von ArbeiterInnen herausgebildet, die auch stark in den Gewerkschaften vertreten ist und für die reformistischen Parteien (KP und SP) eine feste soziale Basis darstellt. Sicher ist auch, dass ohne den Gewinn dieser Schichten und der Gewerkschaften keine wirkliche Umwälzung in Chile möglich sein wird.

Gerade die Krise der letzten Jahre hat auch viele dieser besser bezahlten ArbeiterInnen getroffen und zwingt sie zu einer politischen Neuorientierung. Die politische Stärkung der FA gegenüber der „Konzentration“ ist ohne diese Entwicklung gar nicht zu erklären – natürlich ebenso wie der Aufstieg Kasts durch die sich bedroht fühlenden Mittelschichten.

Ein Wahlaufruf für Boric bedeutet nicht, die Kritik an seinem Programm und seiner Rolle beim „Abkommen“ zurückzustellen. Aber er bedeutet, dass man den Millionen ArbeiterInnen und sozial Unterdrückten, die für ihn stimmen wollen, erstens sagt, dass es uns nicht egal ist, ob Boric oder Kast (oder ein anderer bürgerlicher Kandidat) siegt. Vielmehr geht es darum, Boric zu helfen, sie zu besiegen.

Mobilisierung

Gleichzeitig gilt es, deutlich zu machen, den Kampf für die Forderungen von Boric tatsächlich auf der Straße fortzuführen. Schon jene nach einem frei zugänglichen Gesundheitswesen für alle oder Verstaatlichungen unter ArbeiterInnenkontrolle werden sich nur durch Massenmobilisierungen erzwingen lassen. Diese würden zugleich eine Grundlage für die Bildung von Aktionsräten in den Betrieben und Kommunen schaffen. Diese Konfrontation mit dem Kapital würde die Frage aufwerfen, welche Klasse herrscht – und damit die Bildung einer ArbeiterInnenregierung auf die Tagesordnung setzten, die zur Enteignung der Bourgeoisie und der Zerschlagung ihres Staates schreitet. Dies wäre eine Taktik, mit der tatsächlich sowohl die Masse der Protestbewegung wie auch die kämpferischen Teile von Gewerkschaften und AnhängerInnen der reformistischen Parteien für ein revolutionäres Projekt gewonnen werden könnten. Die Kräfte der sozialen Revolution in Chile sind dabei, sich herauszubilden – es kommt jetzt darauf an, dass auch eine politische Führung entsteht, die diese zum Sieg über den chilenischen Kapitalismus führt.




Krise des deutschen Krankenhaussektors

Katharina Wagner, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung, März 2021

Man hatte es kommen sehen! Nicht erst seit dem Beginn der weltweiten Corona-Pandemie war es um das deutsche Gesundheitssystem nicht gut bestellt. Seit vielen Jahren existiert ein Fachkräftemangel im Gesundheits- und vor allem im Altenpflegebereich. Die herrschenden, schlechten Arbeitsbedingungen tun ihr Übriges dazu, potenzielle BerufsanfängerInnen abzuschrecken bzw. Fachkräfte aus dem Arbeitsumfeld zu vertreiben. Dabei war und ist der Bereich Kranken- und Altenpflege, sowohl der bezahlten als auch in viel größerem Maße der unbezahlten, weiterhin eine Domäne der Frauen. Der Anteil weiblicher Beschäftigter liegt bei über 80 %. Nun, inmitten  der Pandemie, mehren sich die Stimmen, die vor einem Kollaps des deutschen Gesundheitssystems warnen, vor allem auf den Intensivstationen.

Gleichzeitig spielten die Beschäftigten in den Krankenhäusern eine zunehmend bedeutendere Rolle in den Klassenkämpfen der  letzten Jahre, sei es um mehr Personal an diversen Unikliniken oder als VorkämpferInnen in der Lohntarifrunde des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen im letzten Herbst.

Aktuelle Situation

Seit Anfang Februar gehen zwar die Zahlen von Covid-Neuinfizierten zurück. Noch immer sterben aber hunderte Menschen täglich und Grund zu Entwarnung gebt es aufgrund des Zick-Zack-Kurse von Bund und Ländern bei der Pandemie-Bekämpfung und aufgrund neuer Mutationen erste recht nicht. Laut DIVI-Intensivregister (DIVI: Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) sind in den erfassten 1.200 Akut-Krankenhäusern derzeit 22.433 Intensivbetten belegt, lediglich 17 % der Gesamtbetten stehen bundesweit für weitere PatientInnen zur Verfügung. Von den derzeit intensivmedizinisch behandelten COVID-19-PatientInnen (über 5000 Anfang Januar 2021) müssen rund 57 % beatmet werden, mit einer durchschnittlichen Beatmungsdauer von rund zweieinhalb Wochen (Quelle: Neues Deutschland, 12.11.2020). Mit rund 64 % sind die Betten allerdings mit anderen als an COVID-19 Erkrankten belegt, bspw. nach Notfällen oder planbaren Operationen.

Denn anders als im Frühjahr haben viele Kliniken aufgrund finanzieller Gründe den Regelbetrieb noch immer nicht eingeschränkt. Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass diese Zahlen teilweise nicht der Realität entsprechen. So meldete das ARD-Magazin „plusminus“ am 02. Dezember 2020 aufgrund interner Recherchen, dass etliche Krankenhäuser mehr verfügbare Betten gemeldet hatten, als tatsächlich zur Verfügung stehen, um den versprochenen Bonus von bis zu 50.000 Euro pro neu aufgestelltem Intensivbett vom Bund zu bekommen. Allerdings kann ein nicht unerheblicher Teil dieser Betten aufgrund fehlender Fachkräfte nicht eingesetzt werden. Dieser Fehlanreiz seitens des Bundesgesundheitsministers kostete den/die SteuerzahlerIn bisher rund 626 Millionen Euro (Quelle: www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/videos/sendung-vom-02-12-2020-video-102.html).

Zusätzlich erhielten die Kliniken sogenannte Freihaltepauschalen im Zuge von zwei Rettungsschirmen, um finanzielle Anreize für das Freihalten von Intensivbetten durch Verschiebung planbarer und nicht dringend notwendiger Operationen zu setzen. Während die Pauschalen beim ersten Rettungsschirm im Frühjahr 2020 an alle Krankenhäuser ausgezahlt wurden, sollen innerhalb des zweiten nur Kliniken Geld bekommen, die in Gebieten mit hohem Infektionsgeschehen liegen und weitere Bedingungen erfüllen. Die Entscheidung über die Auszahlung liegt bei den jeweiligen Bundesländern. Trotz der beiden Rettungsschirme fordern bereits verschiedene Organisationen, darunter die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) weitere Liquiditätshilfen für das gesamte Jahr 2021 inklusive Streichung der Einhaltung und Dokumentation von Personaluntergrenzen. Auch die Prüfquote des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen soll auf max. 5 % reduziert werden. All dies geht natürlich zu Lasten der Beschäftigten und PatientInnen.

Unterm Strich können diese Ausgleichszahlungen allerdings die Defizite im Krankenhaus nicht wettmachen, die ein auf gewinnträchtigen Behandlungen fußendes System mit sich bringt und besonders durch die Pandemie schonungslos aufgedeckt wurden. Wir kritisieren also nicht die Ausgleichszahlungen als solche, sondern ihre Planlosigkeit und ihren zu geringen Umfang. So wurden sie teils nicht an die Behandlung von CoronapatientInnen geknüpft, teils wurden Einrichtungen geschlossen (Rehakliniken) und ihr Personal in Kurzarbeit geschickt, während die Hotspots mit Überlastung und Einnahmeverlusten zu kämpfen hatten.

Für das Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gab es außer Beifall und warmen Worten wenig für seine aufopferungsvolle Tätigkeit während der Pandemie. Zwar wurde eine Corona-Prämie seitens des Bundes zugesagt, diese aber an sehr viele Bedingungen geknüpft und von vornherein nur für ca. 100.000 der über 440.000 Angestellten in Krankenhäusern vorgesehen. Die Entscheidung, wer nun den Bonus bekommen solle, wurde dabei den Betriebs- und Personalräten sowie MitarbeiterInnenvertretungen (in kirchlichen Einrichtungen, wo Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsgesetz nicht gelten) zugeschoben. Dagegen gab es allerdings teilweise heftigen Widerstand. Für die stationäre und ambulante Pflege wurde bereits im Frühjahr 2020 eine Bonuszahlung beschlossen, diese aber in sehr vielen Fällen nicht an die Beschäftigten weitergegeben.

Ökonomische Entwicklung

Während die Krankenhäuser in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg bis in die Anfänge der 1970er Jahre komplett durch den Staat finanziert wurden (Kameralistik), fand 1972 ein Wechsel zu einer dualen Finanzierung statt. Dabei wurden die Kosten zwischen den Bundesländern und den Krankenkassen aufgeteilt. Während letztere für die laufenden, also Betriebs- und Behandlungskosten, aufkamen, übernahm der Staat die sogenannten Investitionskosten. Allerdings gingen diese Aufwendungen seit Einführung dieses Systems  drastisch zurück, während es gleichzeitig zu einem Personalkostenanstieg für die Krankenkassen, genauer gesagt für die Versicherten, kam. Dies alles bereitete den Boden für die Einführung der sogenannten diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs: diagnosis related groups) 2004, nachdem bereits 2002 eine gesetzlich verordnete Öffnung des Krankenhausbereichs für private Konzerne eingeführt wurde. Dies erlaubte nur noch eine Abrechnung von gleichen Behandlungskosten pro Fall, wohingegen anfallende Kosten für z. B. für Rettungswesen, Verwaltung, Materialbesorgung etc. nicht berechnet werden können. Daraus resultiert eine Auslagerung von Tätigkeiten außerhalb der Pflege mit gleichzeitigem Personalabbau im Bereich der Pflegearbeit. So ermittelte beispielsweise eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahre 2018 einen Mangel von 100.000 Vollzeitstellen allein in der Krankenhauspflege. Durch mögliche Verluste der Kliniken bei überdurchschnittlich hohem Fallaufwand sieht man sich gezwungen, PatientInnen entweder frühzeitig zu entlassen oder profitorientierte Eingriffe wie das Einsetzen künstlicher Gelenke stark gegenüber konventionellen und langwierigen Therapien zu favorisieren. Auch zahlreiche Schließungen von kommunalen Krankenhäusern sowie eine starke Privatisierungswelle waren direkte Folgen des Wechsels hin zu einem profitorientierten Abrechnungssystem.

Darunter haben nicht nur die Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich stark zu leiden. Auch für PatientInnen, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bedeutet dies eine schlechtere Gesundheitsversorgung. Mittlerweile formiert sich schon seit einigen Jahren Widerstand gegen ungenügende Personalbemessungsgrenzen, Fachkräftemangel und schlechte Arbeitsbedingungen. Im Zuge der Corona-Pandemie kamen weitere Probleme wie die nicht ausreichende Versorgung mit Test- und Schutzausrüstung sowie die Aushebelung von erkämpften Arbeitsschutzrechten, als Beispiel sei an dieser Stelle die Erhöhung der maximalen Arbeitszeit angeführt, hinzu. So hat Niedersachsen eine Vorreiterrolle eingenommen und als erstes Bundesland die maximale tägliche Arbeitszeit für Beschäftigte in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen sowie im Rettungsdienst von 10 auf 12 Stunden täglich über den 1.1.2021 hinaus angehoben. Ausgleichsstunden oder besondere Entschädigungszahlungen sind in dieser Allgemeinverfügung zum Arbeitszeitgesetz nicht vorgesehen (Quelle: Neues Deutschland, 12.11.2020).

Die Antwort auf diesen besonders dreisten Vorstoß kann nur in einer Verstärkung des Kampfes für die Abschaffung der Fallpauschalen, eine gesetzlich geregelte Personalbemessung („Der Druck muss raus!“) und die Verstaatlichung der privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und PatientInnenverbände bestehen. Dieser muss aktuell ergänzt werden durch einen Pandemienotplan unter ArbeiterInnen- und NutzerInnenkontrolle für flächendeckende Impfungen, Tests, Infektionskettenrückverfolgungen und Bereitstellung aller Krankenhäuser und Kliniken für die Coronatherapie.

Reaktion der Gewerkschaften und anderer Organisationen

Die Gewerkschaften, allen voran ver.di, haben sich in dieser Situation des Pflegenotstandes meist auf Lobbyismus, wie etwa das Sammeln von Unterschriften oder Starten diverser Petitionen, konzentriert. Kam es tatsächlich mal zu Streikaktionen, blieben diese meist auf einzelne Krankenhäuser wie etwa die Charité in Berlin oder andere Unikliniken beschränkt. Bei der letzten Tarifrunde im öffentlichen Dienst im Herbst 2020 wurde in erster Linie von der Tarifkommission eine Verbesserung der Entlohnung gefordert. Forderungen nach Einhaltung der beschlossenen Personaluntergrenzen wurden dagegen nicht aufgenommen, obwohl vielen Beschäftigten bessere Arbeitsbedingungen wichtiger gewesen wären als eine Anhebung ihrer Löhne. Denn selbst in Krankenhäusern, wo in der Vergangenheit Personaluntergrenzen vereinbart wurden, als Beispiel sei hier wieder die Charité in Berlin genannt, haben die Beschäftigten keinerlei Möglichkeiten, die Einhaltung durchzusetzen. Denn eigentlich müssten bei Unterschreitung der Personaluntergrenzen Betten gesperrt und planbare Operationen verschoben werden. Dies verringert allerdings den Gewinn der profitorientierten Krankenhäuser und wird demzufolge nicht durchgeführt.

Perspektiven für den Kampf

Um dies zu verhindern und die Einhaltung der Personalbemessungsgrenzen durchzusetzen, sind daher dringend Kontrollorgane der Beschäftigten sowie der  PatientInnenorganisationen notwendig. Und statt eines „Häuserkampfs“ in einzelnen Kliniken sollte seitens der Gewerkschaften ein bundesweiter Tarifvertrag mit gesetzlich geregelten Personaluntergrenzen und einer damit einhergehenden Mindestbesetzung gefordert werden. Um dies zu erreichen, müssen innerhalb der Gewerkschaften Streikaktionen bis hin zum politischen Streik als einem wichtigen Kampfmittel der Beschäftigten sowie der gesamten ArbeiterInnenklasse organisiert werden. Dafür sollten zunächst Aktions- und Kontrollkomitees in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen aufgebaut werden und die Beschäftigten sowie die GewerkschaftsaktivistInnen gemeinsam mit PatientInnenorganisationen über notwendige Maßnahmen entscheiden. Ein weiterer notwendiger Schritt wäre die Durchführung einer bundesweiten Aktionskonferenz zur Vernetzung für einen gemeinsamen Kampf und die Unterstützung der #ZeroCovid-Kampagne als ersten Schritt in Richtung eines Pandemiebekämpfungsnotplans.

Allerdings dürfen wir keine Illusionen in die bürgerliche Gewerkschaftsbürokratie hegen, sondern müssen für einen internen Wandel hin zu kämpferischen Gewerkschaften eintreten. Die Vernetzung für kritische Gewerkschaften (VKG) bildet einen ersten Sammelpunkt für die Möglichkeit der Bildung einer klassenkämpferischen, antibürokratischen Basisbewegung in den Gewerkschaften, die diese wieder auf den Pfad des Klassenkampfs statt der Sozialpartnerschaft mit dem Kapital führen und die Bürokratie durch jederzeit abwählbare, der Mitgliedschaft verantwortliche, zum Durchschnittsverdienst ihrer Branche entlohnte FunktionärInnen aus den Reihen der besten AktivistInnen ersetzen kann!

Als Ausgangspunkte für Diskussionen im Zuge einer solchen bundesweiten Aktionskonferenz im Gesundheitsbereich halten wir folgende Forderungen für sinnvoll:

  • Staat und Unternehmen raus aus den Sozialversicherungen! Abschaffung der konkurrierenden Kassen zugunsten einer Einheitsversicherung mit Versicherungspflicht für alle, Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen!
  • Allerdings sollen die Unternehmen ihren Beitrag („Unternehmeranteil“) proportional zu ihren Gewinnen zahlen statt zu ihren Personalkosten!
  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern!
  • Stopp aller Privatisierungen im Gesundheitsbereich! Entschädigungslose Enteignung der Gesundheitskonzerne und Verstaatlichung aller Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime unter Kontrolle der dort Beschäftigten und der Organisationen der PatientInnen, alten Menschen und Behinderten sowie ihrer Angehörigen!
  • Abschaffung der DRGs (Fallpauschalen) – stattdessen: Refinanzierung der realen Kosten für medizinisch sinnvolle Maßnahmen!
  • Breite Kampagne aller DGB-Gewerkschaften – unter Einbezug von Streikmaßnahmen – für Milliardeninvestitionen ins Gesundheitssystem, finanziert durch die Besteuerung der großen Vermögen und Erhöhung der Kapitalsteuern!
  • Sofortige Umsetzung aller bereits durchgesetzten Regelungen zur Personalaufstockung (PPR 2), kontrolliert durch Ausschüsse von Beschäftigten, ihrer Gewerkschaften und PatientInnenorganisationen!
  • Einstellung von gut bezahltem Personal entsprechend dem tatsächlichen Bedarf, ermittelt durch die Beschäftigten selbst! Sofortige Umsetzung der von ver.di, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat eingeforderten neuen Personalbemessung PPR 2 und nötigenfalls ein politischer Streik zur Durchsetzung!
  • Kampf für bessere Bezahlung aller Pflegekräfte in Krankenhäusern und (Alten-)Pflegeeinrichtungen: mind. 4.000 Euro brutto für ausgebildete Pflegekräfte!
  • Einstellung von ausreichend gut bezahlten und geschulten Reinigungskräften! Entsprechende Qualifizierung von vorhandenem Reinigungspersonal, das mit tariflicher Bezahlung bei den medizinischen Einrichtungen eingestellt wird! Sofortige Rücknahme der Auslagerung von Betriebsteilen in Fremdfirmen bzw. Tochtergesellschaften mit tariflichen Substandards!
  • Radikale Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich – vor allem in den Intensivbereichen: Reduzierung der Arbeitszeit auf 6-Stunden-Schichten – bei vollem Lohn- und Personalausgleich und Einhaltung der Ruhezeit von mindestens 10 Stunden! Gegen die Verschlechterung des Arbeitszeitgesetzes, nötigenfalls mittels eines politischen Massenstreiks!
  • Für einen internationalen Notplan gegen die Coronapandemie unter ArbeiterInnenkontrolle, beginnend mit einer Ausweitung der #ZeroCovid-Kampagne und der Einberufung einer internationalen Aktionskonferenz!



USA: Was können wir von „Bidenomics“ erwarten?

Marcus Otono, Infomail 1129, 8. Dezember 2020

Es ist verlockend, einen Blick auf die 50-jährige Karriere des designierten Präsidenten der USA, Joseph Robinette Biden, Jr., in der Politik zu werfen. 48 Jahre agierte er bisher auf nationaler Ebene im Senat und als Vizepräsident. Diese langjährige Bilanz kann uns bei einer aktuellen Einschätzung seiner Wirtschaftspolitik helfen. Und es wäre richtig, wenn man versuchen würde zu beurteilen, wo seine politische und wirtschaftliche Ausrichtung liegt. Wenn uns das Jahr 2020 jedoch irgendetwas gezeigt hat, dann, dass eine rein historische Bewertung, sei es von Parteien oder PolitikerInnen, unter den erdrückenden Bedingungen der anhaltenden und mehrfachen Krisen der Nation nicht ausreicht.

Wie jemand unter den Bedingungen kapitalistischer Stabilität regieren und reagieren wird, im Vergleich z. B. mit der Zeit vor der Großen Rezession von 2008, gilt vielleicht nicht unter dem dreifachen Schlag von COVID-19, einem schweren wirtschaftlichen Abschwung im Zusammenhang mit der Pandemie und einer scharfen Krise der sozialen Gerechtigkeit, die durch den Polizeiterror gegen Minderheiten, insbesondere Schwarze, ausgelöst wurde.

Es ist auch nützlich, sich daran zu erinnern, dass vor der Reihe tiefer wirtschaftlicher Krisen in den 1970er Jahren, die den langen Boom beendeten, als der Neokeynesianismus die vorherrschende Wirtschaftsideologie war, die Vorväter des Neoliberalismus, Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek, als ideologische Außenseiter, wenn nicht gar als Sonderlinge angesehen wurden. Nach der „neoliberalen Revolution“ von Reagan-Thatcher waren es die KeynesianerInnen, die wie die Dinosaurier behandelt wurden. Dies sollte uns daran erinnern, dass tiefe kapitalistische Krisen, in denen alte Methoden einfach nicht funktionieren, zu einem umfassenden Umdenken der IdeologInnen führen, und nicht umgekehrt.

Neoliberalismus

Unter den DemokratInnen war Biden ein früher bekehrter Anhänger des Neoliberalismus. Er wurde ein starker Befürworter ausgeglichener Haushalte und unterstützte Steuersenkungen, die die Sozialausgaben einschränkten. Diese endeten in der Ära, die von Roosevelts New Deal bis zu Johnsons Großer Gesellschaft dauerte. Biden stimmte zusammen mit 36 DemokratInnen für den ersten Haushalt von Ronald Reagan. Wie ein kürzlich erschienenes Buch über Biden zeigt, hatte dies schlimme Folgen für die Menschen, die die Demokratische Partei wählten.

„Die Kürzungen haben unzählige Menschenleben ins Chaos gestürzt: 270.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst verloren ihren Arbeitsplatz, mehr als 400.000 Familien wurden von der Sozialhilfeliste gestrichen und mehr als 1 Million Beschäftigte hatten keinen Anspruch auf erweiterte Arbeitslosenunterstützung.“ (Baranko Marcetik, Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden, Verso, New York 2020, S. 49)

Es ist also keine Übertreibung zu behaupten, dass Biden ein entschiedener Anhänger des kapitalistischen Systems und der MilliardärInnenelite ist, die dieses System kontrolliert. Es ist auch nicht falsch zu behaupten, dass Biden kein Problem damit hat, die Ziele des US-Imperialismus in der Welt mit offener und verdeckter militärischer Macht zu unterstützen, was ihn, politisch gesehen, in den USA zu einem Neokonservativen machen würde.

„Ich habe dafür gestimmt, in den Irak zu gehen, und ich würde dafür stimmen, es wieder zu tun“, sagte Biden im August 2003. Er unterstützte auch den Krieg gegen Afghanistan und trat auch für die Invasion Großbritanniens auf den Malvinas ein. (In: Baranko Marcetik, Joe Biden the hawk, Jacobin Magazine, 08.02.2018)

Alle diese Beobachtungen über Joe Biden sind wahr, aber daraus zu schließen, dass sie die Wirtschaftspolitik unter einer Biden-Präsidentschaft kurz- bis mittelfristig, d. h. bei der Bekämpfung des COVID-19-Virus, der Rezession und während des Aufschwungs, bestimmen werden, wäre eine zu voreilige Schlussfolgerung.

Der Grund dafür, dass die politischen Instinkte von Präsident Biden in seinen ersten Jahren abgestumpft oder relativiert werden könnten, lässt sich auf eine Sache reduzieren. Wenn ein Land vor einer größeren Krise steht, ist die erste Pflicht des bürgerlichen Staates – unabhängig von der aktuellen Doktrin – die Rettung des Systems. Die USA taumeln durch eine von einer Pandemie angeheizte Rezession, die schlimmer ist als die, die uns 2008 getroffen hat. Das bedeutet, dass Biden wie ein Getriebener Ausgaben tätigen muss, um überhaupt eine Chance zu haben, das System zu retten, das am Rande des Abgrunds eines möglichen Zusammenbruchs steht.

Bidens politische Karriere hat indessen trotz aller Ideologien, denen er zeitweise anhängt, eines gezeigt: dass er ein politischer Pragmatiker ist. Pragmatisch gesprochen: Wenn Biden Erfolg haben will, darf er nicht an eine Agenda von Sparmaßnahmen und niedrigen Steuern gebunden sein, in der Hoffnung, dass sie fruchtbar wird, denn das war nie der Fall und wird es auch nicht sein.

Natürlich wird der Erfolg von Konjunkturprogrammen nicht allein von Biden und der Demokratischen Partei abhängen. Die Wahlergebnisse haben gezeigt, dass die RepublikanerInnen in keiner Weise aus dem Regierungsrahmen herausfallen. Sie scheinen tatsächlich Sitze im Repräsentantenhaus gewonnen zu haben, obwohl die DemokratInnen dort immer noch über eine knappe Mehrheit verfügen. Und Biden hat die Präsidentschaft gewonnen, obwohl der Wahlverlierer Trump noch nicht formell nachgegeben hat und mit unseriösen Klagen und regelrechten Raubaktionen versucht, die Ergebnisse zu kippen, und mit Verzögerungstaktiken kämpft. Trump wird wahrscheinlich keinen Erfolg haben, aber da er und die Republikanische Partei die Bundesgerichte mit ihrem Gefolge vollgepackt haben, können sie nicht völlig ausgezählt werden, bis das Wahlkollegium zusammenkommt und den Biden-Sieg offiziell macht.

Dann gibt es da noch den Senat, die antidemokratische Institution, die während ihrer gesamten Existenz ein Fluch für progressive Initiativen war. Seit mindestens 2010, als der republikanische Senator Mitch McConnell Mehrheitsführer dieser Kammer wurde, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, jegliche Gesetzgebung oder Initiativen der Demokratischen Partei in der Exekutive oder Legislative zu behindern, selbst solche, die als „mitte-rechts“ gelten würden. McConnells Obstruktionspolitik diente nur dazu, „Siege“ der Legislative unter den DemokratInnen zu verhindern, und in dieser Eigenschaft kann von ihm erwartet werden, dass er alles einschränkt, was Biden vorbringt, nur weil Biden ein „D“ (Demokrat) hinter seinem Namen trägt.

Dann stellt sich also die Frage, ob die Republikanische Partei den Senat behalten wird. Diesem Ziel ist sie nach den Wahlen nahe. Sollten sie auch nur eine der Stichwahlen zum Senat in Georgia gewinnen, wird McConnell ein Vetorecht über Bidens Wirtschaftsinitiativen und sogar über die Auswahl seines Kabinetts haben. Mit einer Wende zu Gunsten der Demokratischen Partei bei den Wahlen in Georgia wird Biden jedoch eine effektive Mehrheit haben, eine Stimmengleichheit im Senat mit Vizepräsidentin Kamala Harris als ausschlaggebender Stimme.

Damit die Rechnung von McConnell aufgeht, darf freilich kein/e RepublikanerIn, die Disziplin zu brechen und mit der Demokratischen Partei abzustimmen. McConnell hat während seiner Jahre als Mehrheitsführer die republikanische Disziplin bemerkenswert gut eingehalten, aber es gab gelegentlich Ausreißer, vor allem Mitt Romney, Lisa Murkowski und Susan Collins. Mit republikanischen Siegen in Georgia wird McConnell zumindest die Gelegenheit haben, alles, was Biden zu tun versucht, zu bremsen und möglicherweise zu blockieren.

Besserer Neuaufbau

Was wird Präsident Biden zu tun versuchen, und wie stehen die Chancen, dass es ihm gelingen wird, das als Gesetz in Kraft zu setzen? Nun, es heißt „Build Back Better“ (Besserer Neuaufbau; BBB). Das Konzept basiert, grob gesagt, auf der Katastrophenhilfsstrategie der Vereinten Nationen, die 2015 in Sendai, Japan, für die Planung des Wiederaufbaus nach Naturkatastrophen entworfen wurde. Diese Strategie ist gewissermaßen das Gegenteil dessen, was von Naomi Klein als „Katastrophenkapitalismus“ betitelt wurde. Während der Katastrophenkapitalismus natürliche, politische und wirtschaftliche Schocks nutzte, um ein reines und unregulierte „Überleben des Stärkeren“ des Kapitalismus zu durchzusetzen, was als Neoliberalismus bekannt wurde, nutzt das BBB-Konzept die Wiederaufbaubemühungen nach Katastrophen, um auf eine zentralere Planung zu drängen, mit staatlicher Finanzierung, die eine Wirtschaft auf grünere, gerechtere und allgemein eher „linkspopulistische“ Weise wiederaufbaut. Kurz gesagt, bedeutet dies eher eine Rückkehr zur keynesianischen Wirtschaftspolitik, wie sie von den New-Deal-DemokratInnen in den USA und den sozialdemokratischen und Labour-Regierungen in Europa verfolgt wird. Hinzu kommen Elemente der Modern Money Theory (Moderne Geldtheorie; MMT). In Bidens ursprünglichen Vorschlägen ist die Rede davon, über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als 7 Billionen US-Dollar für die Modernisierung der Infrastruktur, „grüne“ Verkehrsinitiativen und andere Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels auszugeben, aber mit zusätzlichen Maßnahmen, um auch die interne Gewerbebasis des US-Kapitalismus wieder aufzubauen. Dies würde im Idealfall für gut bezahlte Arbeitsplätze innerhalb der USA sorgen.

Ironischerweise greift dieser Wiederaufbau der US-Produktionsbasis auch auf unheimliche Weise Donald Trumps Ideen über die Notwendigkeit deren Wiederaufbaus auf, auch wenn sich das „Wie“ dessen, der Protektionismus bis hin zu Handelskriegen, von Trump unterscheidet. Die Bezahlung für diese ehrgeizigen Programme würde durch eine höhere Besteuerung von Unternehmen und Wohlhabenden erfolgen, zusammen mit einer gewissen geldpolitischen Lockerung im MMT-Stil durch die US-Notenbank und natürlich durch „Wachstum“. Das ist immer der Rückgriff auf einen buchhalterischen Trick im Kapitalismus, um Haushaltsdefizite zu verniedlichen. „Wachstum“ soll immer Defizite abdecken, auch wenn niemand weiß, ob es eintritt oder das auch tut.

Die Inspiration mag der Sendai-Plan sein, aber er leiht sich auch viel von Roosevelts ursprünglichem New Deal in seinem Bestreben, die wirtschaftliche Ungleichheit zu verringern und die Infrastruktur wieder aufzubauen, was mit Roosevelts Kriegsanstrengungen in den 1940er Jahren und mit Trumans Kaltem Krieg erst richtig in Gang kam. Diese Fakten sollten uns daran erinnern, dass die nationale Einheit zwischen den Parteien und mit der organisierten ArbeiterInnenklasse nur unter Kriegs- und Halbkriegsbedingungen möglich war. Und sie wurde durch den massiven Anstieg der Profitrate unterstützt, der durch die Zerstörung, Abnutzung und Erneuerung veralteten US-Kapitals verursacht wurde. Ohne dies hätten die Staatsausgaben allein nicht den langen Boom erzeugt. Als sie Ende der sechziger Jahre zurückging, vervielfachten sich die Krisen mit Stagnation und Inflation, und die Ära des New Deal und der Großen Gesellschaft endete. Der junge New Dealer Biden „reifte“ zu einem Fiskalkonservativen heran. Wird er sich nun wieder zu einem New Dealer zurückentwickeln?

Biden gab den Startschuss für diese Lobbyarbeit zum Wiederaufbau der US-Infrastruktur am Montag, den 16. November, durch ein Treffen mit UnternehmenschefInnen, darunter die Vorstandsvorsitzenden von GM, Microsoft, Target, Gap Inc. und den GewerkschaftsführerInnen, allen voran Richard Trumka von der AFL-CIO, aber auch mit den Vorsitzenden von AutomobilarbeiterInnen-, Dienstleistungs-, Nahrungsmittel- und HandelsarbeiterInnen sowie Staats- und Kommunalbedienstetengewerkschaften. Nach diesem Online-Treffen war er von den Aussichten auf eine Zusammenarbeit zwischen diesen beiden grundsätzlich konkurrierenden Interessengruppen positiv überrascht.

Die obersten GewerkschaftsbürokrateInnn werden sich freuen, im Weißen Haus willkommen geheißen und von Biden als LeiterInnen gewichtiger Institutionen anerkannt zu werden, aber die Ergebnisse für ihre Mitglieder dürften dürftig ausfallen. Die Gegenleistung wird darin bestehen, dass diese FührerInnen ihre Macht nutzen werden, um Biden das Regieren zu erleichtern und jeden wirklichen Kampf zurückzuhalten, wenn er darum geht, die Kosten der COVID-Pandemie und der Rezession auf die Massen abzuwälzen, die für ihn gestimmt haben.

COVID besiegen

Die Katastrophe, die den Versuch, das BBB in Kraft zu setzen, ausgelöst hat, ist die Coronavirus-Pandemie und die daraus resultierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schocks, die sie hinterlassen hat. Die Bewältigung eines Winters mit zunehmenden COVID-19-Infektionen, Krankenhausaufenthalten und Todesfällen wird die erste Aufgabe von Joe Biden sein, wenn er im Januar 2021 sein Amt antritt.

Die wahlberechtigte Öffentlichkeit erwartet dies und insbesondere diejenigen, die die Demokratische Partei gewählt haben. Eine jüngste Umfrage von Morning Consult/Politico ergab, dass 69 % der Befragten forderten, die Kontrolle der Ausbreitung des COVID müsse die oberste Priorität der Biden-Regierung darstellen, wobei 66 % die wirtschaftliche Entlastung von der Pandemie und ihren Folgen und 64 % einen allgemeineren wirtschaftlichen Impuls forderten. Hier wird sich die Kontrolle durch den Senat als entscheidend für jeden neuen Wirtschaftsstimulus erweisen.

Aber sie werden auf Widerstand und Sabotage seitens der Mehrheit der RepublikanerInnen im Kongress und in den von ihnen regierten Staaten stoßen. Mitch McConnell hat bereits angedeutet, dass die Republikanische Partei ein weiteres Coronavirus-Konjunkturprogramm nicht für notwendig hält, da sie der Meinung ist, dass sich die Wirtschaft auf dem Weg zurück zur Gesundung befindet. Dies zeigt die Tatsache, dass das 2,2 Billionen Dollar schwere HEROES-Gesetz (Gesetz zu Erholung von Gesundheitswesen und Wirtschaft), das eine Folgemaßnahme zum CARES-Gesetz (Coronahilfs- und Wirtschaftssicherheitsgesetz) darstellt, vor sechs Monaten vom Repräsentantenhaus verabschiedet wurde, aber noch nicht einmal eine Anhörung im Senat erlebte, geschweige denn eine Abstimmung. Dies sagt uns, dass jedes neue Konjunkturpaket, das von einem republikanisch dominierten Senat gebilligt werden soll, wahrscheinlich weniger umfangreich sein wird als das bereits bestehende Paket des Kongresses.

Die UnterstützerInnen des Kapitals, sowohl bei der Demokratischen wie bei der Republikanischen Partei, haben immer die Entwicklung der Wohlhabenden in der Gesellschaft als Indikator für den Zustand der allgemeinen Wirtschaft betrachtet, und in Zeiten kapitalistischer Stabilität kann dies für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ein Zeichen der wirtschaftlichen Erholung sein. In Zeiten extremer wirtschaftlicher Krise, wenn der Populismus rechts und links aufsteigt, ist die Bourgeoisie jedoch auch gespalten. Die Sektion der besitzenden Klasse, die Biden vertritt, sieht die Notwendigkeit einer Ablenkung, die die steigende antikapitalistische Stimmung eindämmt, eine Stimmung, die mit Sicherheit wachsen wird, wenn nichts dagegen unternommen wird, dass während der Pandemie bereits die 11 Millionen Dauerarbeitsplätze verloren gegangen sind, und gegen die Möglichkeit einer massiven Räumungswelle, nachdem der Schutz der MieterInnen durch das CARES-Gesetz am Ende des Jahres ausläuft. Nichts entlarvt den Kapitalismus so sehr wie eine massive Zahl von arbeitslosen Lohnabhängigen und ihren Familien, die ohne Wohnung auf der Straße leben.

Da ist auch die Frage der Zulassung und Verteilung eines Impfstoffs gegen Coronavirus und COVID, wo nach dem klassischen Szenario „gute und schlechte Nachrichten“ verfahren wird. Die gute Nachricht ist natürlich, dass es nicht nur einen, sondern zwei verschiedene Impfstoffe gibt, die in Vorversuchen das Versprechen eines Schutzes gegen das Coronavirus mit einer 95 %igen Effizienzrate gezeigt haben. Die Vorstellung, dass das Ende dieses langen Albtraums von Todesfällen, Krankheiten und wirtschaftlichen Verwerfungen in Sicht ist, ist für die Gesellschaft als Ganzes ungeheuer ermutigend, aber der Prozess und die Infrastruktur für die Verteilung dieses Impfstoffs an die breite Öffentlichkeit ist entmutigend und erfordert eine monatelange Vorlaufzeit. Es ist auch eine Vorlaufzeit, die mit jedem Tag dringlicher, verkürzt wird, an dem Trump und seine UnterstützerInnen, zu denen die gesamte gewählte Republikanische Partei und die Mehrheit ihrer WählerInnen gehören, den Übergang zu einer Biden-Regierung hartnäckig hinausschieben.

Die Entscheidung, welcher Impfstoff verwendet werden soll, die Massenproduktion des gewählten Impfstoffs, die Festlegung der Prioritäten, wer die frühesten Impfungen erhält, die Nachverfolgung der Impfungen, falls mehr als eine erforderlich ist, die Kosten und, wer diese trägt, sowie eine Unzahl anderer Entscheidungen – all dies muss von demjenigen entschieden werden, der 2021 den Amtseid als Präsident ablegt. Angesichts der Tatsache, dass in den USA jeden Tag Tausende von Menschen am SARS-CoV-2-Virus sterben und jede Minute eine neue Infektion auftritt, dass die Krankenhäuser überfordert sind oder kurz davor stehen, überfordert zu werden, tötet jeder Tag der Verzögerung durch politische Spielerei Menschen.

„Bidenomics“ – die fortschrittlichste Wirtschaftspolitik seit dem New Deal?

Einige Medien, insbesondere Newsweek und Fox News, haben behauptet, dass eine Biden-Administration mit Build Back Better die fortschrittlichste Agenda seit Franklin Roosevelts New Deal während der Großen Depression aufgetischt hätte. Kein geringerer reformistischer Schlagzeilenlieferant als Bernie Sanders selbst schloss sich dieser Ansicht über die Politik Bidens an, nachdem die Empfehlungen der Arbeitsgruppe zur Einheit der Demokratischen Partei im Juli veröffentlicht worden waren.

Je nach verwendetem Taktmaß könnte es die erste Verbesserung nach den 40 Jahren Wirtschaftspolitik markieren, die unter Reagan eingeführt und unter Bill Clinton als „Washingtoner Konsens“ gefestigt wurde. Sie reicht jedoch bei weitem nicht an das heran, worauf die „demokratischen SozialistInnen“ wie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez gedrängt haben. Es gibt keine Betragszahlung für alle für Medicare for All (Gesundheitsversorgung für alle), aber es gibt einen Einstiegsplan, der als „öffentliche Option“ bezeichnet wird, eine Entscheidung, die im Affordable Care Act (erschwingliche Versorgung) von 2010 bewusst nicht getroffen wurde. Es gibt keinen einheitlichen Green New Deal, aber viele der Elemente, die den GND ausmachen, sind in Bidens BBB enthalten. Und es ist eine beträchtliche Anhebung des Mindestlohns auf 15 US-Dollar pro Stunde geplant, obwohl dies in Etappen und nicht in einem Rutsch geschehen soll.

Wenn Biden diese linkspopulistische Wunschliste umsetzen könnte, würde er sicherlich den Anspruch erheben, eine transformative Figur in der kapitalistischen Politik zu sein, wie Roosevelt auf der linken oder Reagan auf der rechten Seite. Wie wir oben sagten, ist der BBB das Gegenteil des Katastrophenkapitalismus und wird von der Rechten zweifellos jederzeit als „Katastrophensozialismus“ bezeichnet werden. Doch auch wenn es sich nicht um Sozialismus handelt, wäre die Umsetzung dieser Programme immer noch beinahe ein Wunder unter den gegenwärtigen Bedingungen des kapitalistischen Verfalls und der sinkenden Profitrate eine reine Spekulation. Vor allem die Steuererhöhungen sind schon bei ihrem Beginn tot, wenn die RepublikanerInnen in der Senatsmehrheit bleiben, und das könnte auch dann der Fall sein, wenn die DemokratInnen das ausschlaggebende Mandat gewinnen. Da sie eine kapitalistische politische Partei sind, sind viele demokratische SenatorInnen sehr abgeneigt, Steuern zu erhöhen, selbst bei denen, die sich höhere Steuern am meisten leisten können, den Reichen und den multinationalen Konzernen. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft immer noch versucht, sich von der CoVid-Krise zu erholen, und die Aussichten selbst einer bescheidenen Steuererhöhung für Unternehmen bestenfalls zweifelhaft sind.

Nach anfänglichen Versuchen, einige dieser Vorschläge einzubringen, können wir in Anbetracht von Bidens Geschichte berechnen, wo diese „fortschrittlichste Agenda seit dem New Deal“ enden wird. Trägheit ist eine handfeste Angelegenheit, nicht nur physisch, sondern auch in der Politik. Die Trägheit ist auf der Seite der 40 Jahre „Reaganomics“. Wir können einige Maßnahmen gegen die Pandemiekrise erwarten, selbst von McConnell und der Republikanischen Partei. Aber diese würde nicht annähernd das ausgleichen, was die ArbeiterInnenklasse infolge von den wirtschaftlichen Schocks durch das Virus bereits durchlitten hat und was ihr noch in Kürze bevorstehen würde. Die Arbeit an dem Verteilungsprozess des/der Impfstoffe/s wird vorangehen, zumal damit eine Menge Geld zu verdienen ist, und je schneller er verfügbar ist, desto eher werden alle Entschuldigungen für das Herunterfahren der Wirtschaft beseitigt und die Geschäfte können wie vordem weitergehen. Aber was kommt dann?

Wenn es ernsthafte Reformen mit wirklichen Verbesserungen im Gesundheitswesen, im Lohnniveau, gesellschaftlich aufgewerteter Arbeit für die Arbeitslosen und für jene in unsicheren und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen geben soll, kann dies nicht durch das Warten auf Bidens Instinkte, „die Hand zur anderen Seite auszustrecken“, geschehen. Wie Rosa Luxemburg sagt, sind selbst ernsthafte Reformen nur ein Nebenprodukt der Revolution oder der Furcht vor ebendieser. In den 1930er und 1960er Jahren haben Revolutionen außerhalb der USA und massenhafte Gewerkschafts- und Bürgerrechtskämpfe unsere HerrscherInnen davon „überzeugt“, die Bedrohung durch Sozialausgaben und Arbeitsrechte und -beschaffungsmaßnahmen abzuwenden. Wenn der Druck jedoch nachlässt, versucht die herrschende Klasse, alles zurückzuholen.

Die einzige Hoffnung, einen Kongress und einen Präsidenten mit konservativen Instinkten zu überwinden, liegt darin, ihnen Furcht vor massenhaften und militanten Straßen- und Betriebsaktionen einzuflößen. Eine weitere Waffe stellt das Vorantreiben zum Aufbau einer sozialistischen und ArbeiterInnenpartei, die unabhängig von den DemokratInnen auftritt, dar. Ihre erste Aufgabe wäre die Führung und Organisierung von Kämpfen in den Kommunen und Betrieben. Diese sollten nicht nur gegen wirtschaftliche Entbehrungen, sondern auch gegen Rassismus, Polizeigewalt, Rechte von Frauen, LBGTIAQ-Meschen und der indigenen Bevölkerung geführt werden und die Beendigung der Verfolgung von „illegalen“ MigrantInnen einschließen. Außerdem hat sich in den Wahlen 2020 durch Trump der Welt der undemokratische Charakter des Verfassungs- und Wahlsystems offenbart. All diese Punkte müssen sich in einem Aktionsprogramm für eine neue ArbeiterInnenpartei niederschlagen. Wahlen sind wichtig, um die Ideen des echten Sozialismus zu verbreiten und unseren Fortschritt zu dokumentieren. Aber die Orientierung auf Wahlen darf nicht Sinn und Zweck einer solchen Partei sein.

Selbstredend werden die PolitikerInnen der Demokratischen Partei und die falschen FührerInnen in der ArbeiterInnenbewegung darum betteln aufzuhören und wollen uns belehren, dass wir der Sache schaden würden, wenn wir eine solche Offensive ins Leben rufen. Aber dies muss geschehen, wenn wir irgendetwas Substantielles erreichen wollen. So muss Politik für die Linke gemacht werden. Legislaturperioden und Gesetze erfolgen nur auf den Druck der Straße und bestätigen Errungenschaften. Sie gehen ihnen nicht voraus.

Wenn wir selbst Zugeständnisse gegen alle Widrigkeiten und dank eigener Kraft durchfechten, dann kann ein echter Sozialismus für Millionen wieder erstrebenswert sein, wie dies schon einmal in der Zeit den Industrial Workers of the World (IndustriearbeiterInnen der Welt; IWW) mit dem Präsidentschaftskandidaten Eugene V. Debs und den ursprünglichen sozialistischen und frühen kommunistischen Parteien der Fall war.




Chile: Massenbewegung erzwingt Verfassungskonvent

Chris Clough, Infomail 1125, 10. November 2020

Im vergangenen Jahr haben die Massen in Chile einen heroischen Kampf gegen die herrschende Klasse geführt und sie gezwungen, demokratische und wirtschaftliche Reformen zu gewähren, um die Bewegung zu besänftigen. Ein Jahr später, am 19. Oktober, kehrte das chilenische Volk auf die Straße zurück, um den Eliten zu zeigen, dass die Bewegung weitergeht. Dann, am 25. Oktober, stimmte die Bevölkerung in einem von der Regierung zugestandenen Referendum mit überwältigender Mehrheit für die Neufassung der alten Verfassung durch die Einsetzung eines Verfassungskonvents mit 155 BürgerInnen. Bei einer Wahlbeteiligung von 90 % stimmten fast 80 % für die Abschaffung der alten Verfassung von 1980, die von Chiles brutalem Diktator Augusto Pinochet eingeführt worden war.

2019: Als Chile „aufwachte“

Vor etwas mehr als einem Jahr pries die chilenische herrschende Klasse die Nation als einen Leuchtturm der Stabilität und des Erfolgs an, da sie pro Kopf das reichste Land Südamerikas ist. Aber das war nicht das Chile, das die große Mehrheit der einfachen Menschen erlebte. Chile ist die ungleichste Nation Südamerikas mit mehr als einem Drittel der Menschen, die in Städten leben, die unter extremer Armut leiden.

Ein kleiner Anstieg der U-Bahn-Tarife genügte, um das Pulverfass zu entzünden und das Land 2019 in wochenlangen Unruhen mit Riesendemonstrationen, zunehmenden Streiks und täglichen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften zu überfluten. Chile erlebte einige seiner größten Demonstrationen aller Zeiten, und eine Streikbewegung von Berg- und  HafenarbeiterInnen, LKW- und BusfahrerInnen nötigte die GewerkschaftsführerInnen zu Generalstreiks, die die zuvor unnachgiebige Regierung dazu zwangen, verzweifelt Reformen zur Rettung ihrer Verwaltung anzubieten.

Bevor die Regierung Reformen einräumte, hatte sie versucht, die Bewegung zu unterdrücken und zu besiegen. Sie setzte die Polizei in großer Zahl ein und entfesselte die verhassten nationalen Sicherheitskräfte, die Carabineros, um die DemonstrantInnen zu terrorisieren. Schließlich schickte sie sogar zum ersten Mal seit der Diktatur das Militär auf die Straße. Das Ergebnis waren 30 Tote, Hunderte von Erblindeten und Schwerverletzten und Tausende von Verhafteten, von denen 2.500 sechs Monate später immer noch im Gefängnis sitzen würden.

Selbst diese Repression brachte die Massen nicht zum Schweigen, die Demonstrationen wurden zunehmend militanter. Die Protestierenden setzten einfallsreiche Methoden zur Bekämpfung der militarisierten Bereitschaftspolizei ein, wie z. B. den massenhaften Einsatz von Laserpointern, um den Einsatz von Sturmhelmen, gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern zu verhindern. Noch bedeutsamer war, dass die wachsende Streikwelle und, parallel dazu, die Anfänge einer populären ArbeiterInnendemokratie, die sich in Basisversammlungen zur Koordinierung der Bewegung formierte, die Regierung in Panik versetzten und sie zwangen, zu akzeptieren, dass die Bewegung nicht unterdrückt werden konnte.

Als nächstes bot die rechte Regierung des Milliardärs Sebastián Piñera wichtige Wirtschaftsreformen an, darunter eine Erhöhung der Löhne, der Steuern für Reiche und eine Anhebung der miserabel niedrigen Renten. Doch auch das reichte nicht aus: Der Generalstreik eskalierte und forderte den Sturz der Regierung. Schließlich schlossen sich die herrschende Klasse und die politischen Parteien (einschließlich der wichtigsten Parteien, die behaupten, die ArbeiterInnenklasse zu vertreten, wie Frente Amplio [Breite Front] und die Kommunistische Partei) zusammen und boten einen Ausweg an, indem sie versuchten, die Bewegung auf die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung zur Neuerarbeitung der Verfassung zu beschränken.

Nach diesen Zugeständnissen und nach wochenlanger Repression gingen die Demonstrationen weiter, allerdings in geringerem Umfang. Als die Pandemie zuschlug, verstummte die Bewegung weitgehend. Die herrschende Klasse atmete zweifellos zögerlich auf. Doch diese Atempause war nur von kurzer Dauer, da die Pandemie in die Wirtschaftskrise mündete und gleichzeitig die Ungleichheiten und Unzulänglichkeiten des Gesundheitswesens und des Kapitalismus im Allgemeinen aufdeckte, wodurch sich die Bedingungen, die die anfängliche Rebellion ausgelöst hatten, noch verschärften.

Über die verfassunggebende Versammlung hinaus

In einem Land mit 19 Millionen EinwohnerInnen hat das Coronavirus 18.000 Menschen getötet, darunter über 3.500, die keine medizinische Behandlung erhielten. Daneben hat die Armut ein seit der wirtschaftlichen Depression Anfang der 1980er Jahre nicht mehr gekanntes Niveau erreicht, und rund ein Drittel der Bevölkerung ist arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es überrascht daher nicht, dass Streiks und Proteste, auch von der indigenen Mapuche-Bevölkerung, in den letzten Monaten wieder zugenommen haben. Die Regierung versuchte, diese zu zerschlagen, unterstützt durch repressive Gesetze (z. B. die Mobilisierung des Militärs ohne Verhängung des Kriegsrechts), die sie in den dazwischen liegenden Monaten mit Unterstützung politischer Parteien, darunter Frente Amplio, vorbereitet hatte. Doch dies, einschließlich der vielfach publik gemachten krankenhausreifen „Behandlung“ des 16-jährigen Anthony Araya durch die Polizei, hat das Feuer nur noch weiter angefacht, was zu der massiven Beteiligung an der Demonstration am 19. Oktober führte.

Die Fortführung der Bewegung, sowohl auf den Straßen als auch in den Betrieben, an Schulen und Universitäten, ist unabdingbar, wenn sie eine dauerhafte Veränderung bewirken soll. Der Sieg des Referendums über die Einsetzung eines Verfassungskonvents ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, der die herrschenden Klasse zwingt, ein großes demokratisches Zugeständnis zu machen. Alleine stellt er jedoch eine Sackgasse dar. Der Prozess ist voller Fallstricke und Hindernisse, die seine Wirksamkeit, den Willen des Volkes wirklich zu repräsentieren, dämpfen sollen. Er basiert auf demselben undemokratischen Wahlprozess wie die Parlamentswahlen. Es handelt sich um einen langsamen Prozess (der bereits verschoben wurde), der sich frühestens bis 2022 in die Länge ziehen soll, aber, was noch wichtiger ist, er ist gefesselt von einer Politik, die nur Entscheidungen mit 2/3-Mehrheit zulässt, eine Regel, die seinen Radikalismus abstumpfen wird.

Noch grundlegender ist, dass selbst ein so demokratisches Gremium wie ein verfassungsgebender Konvent oder eine solche Versammlung innerhalb der Grenzen des undemokratischen kapitalistischen Systems existiert. Ein System, das von einer winzigen Gruppe Reicher dominiert wird (die obersten 1 % besitzen 26 % des Reichtums), die durch ihre Ausbeutung der Bevölkerung über den gesamten Besitzstand und die wirtschaftliche Macht der Gesellschaft verfügen und diese genutzt haben, um einen mächtigen Staat aufzubauen, der ihren Interessen dient und ihren Willen durch eine brutale Polizei und militärische Hierarchie durchsetzt.

SozialistInnen sollten sich auf jeden Fall für eine möglichst radikale neue Verfassung einsetzen und für die Anerkennung der Rechte der indigenen Völker, die entschädigungslose Enteignung der Großindustrie, Landbesitzrechte derer, die den Boden bewirtschaften, und die Auflösung der Polizei und ihre Ersetzung durch demokratische Milizen, die aus Werktätigen bestehen, kämpfen. Aber jede Illusion, dass eine Konvention diese Forderungen durchsetzen kann, geschweige denn zu erwarten, dass eine kapitalistische Regierung sie umsetzt, wäre ein tödlicher Fehler.

Jeder Versuch, solch radikale Maßnahmen durchzusetzen, wird von der herrschenden Klasse und ihrem Staat mit Sabotage und schließlich mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die überwältigende Lehre aus den Erfahrungen der 1970er Jahre in Chile. Damals wurde Salvador Allende, ein selbsternannter Marxist, zum Präsidenten des Landes gewählt, und dennoch wurde seine gesamte Verwaltung von der herrschenden Klasse Chiles, unterstützt von ihren imperialistischen HerrInnen im Ausland, angegriffen, gestört und sabotiert. Als es nicht gelang, die Bewegung zu zerschlagen, unterstützten sie einen Putsch unter Führung des brutalen Generals Pinochet (Allendes eigener Verteidigungsminister), der die Revolution in Blut ertränkte.

Die Lehren aus der Vergangenheit dürfen nicht vergessen werden. Der Verfassungskonvent kann eine Plattform bieten, um Ideen, wie das neue Chile aussehen sollte, zu popularisieren, aber der einzige Weg, die notwendigen Veränderungen vorzunehmen, um der Mehrheit der Menschen in Chile ein würdiges Leben zu ermöglichen, ist letztlich eine Revolution. Dazu ist es notwendig, vor den Gefahren zu warnen, die mit dem Vertrauen in den demokratischen guten Willen der herrschenden Klasse verbunden sind. Stattdessen muss unter den Massen eine eigenständige und gegen den Kapitalismus  gerichtete Demokratie aufgebaut werden, wie sie sich während der Proteste im vergangenen Jahr herausgebildet hat.

Diese Demokratie, die sich aus Massenversammlungen der ArbeiterInnenklasse, der Armen und der einfachen SoldatInnen zusammensetzt und in den Arbeitsplätzen, Schulen und Stadtvierteln verwurzelt ist, kann als eigenständiger Machtpol fungieren, der um die Herrschaft kämpft, die Bewegung auf die Werktätigen anderer Länder ausdehnt und die notwendigen Veränderungen herbeiführt, um den Kapitalismus und seine unvermeidlichen Symptome von Armut, Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden.




Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir niemand!

Erfahrungsbericht eines Berliner Corona-Infizierten, Infomail 1121, 11. Oktober 2020

In den letzten Monaten gab es für viele von uns eigentlich nur ein zentrales Thema: die Corona-Pandemie. Die beschleunigende Wirkung auf die ökonomische Krise, die Fragen des Gesundheitsschutzes, die Einschränkung von demokratischen Rechten oder der Zulauf für reaktionäre Corona-LeugnerInnen – die Pandemie ist allgegenwärtig.

Nun kommt langsam die kalte Jahreszeit und die Entwicklung rast mit einem ziemlichen Tempo in Richtung einer zweiten Welle. Auch in Berlin sehen die Zahlen schlecht aus und die rot-rot-grüne Landesregierung führt erneut Einschränkungen des öffentlichen Lebens ein.

Ab 10. Oktober gelten die verschärften Regelungen, die am vergangenen Dienstag beschlossen wurden, vorerst bis 31. Oktober. Sie umfassen Sperrstunden zwischen 23 und 6 Uhr, ein nächtliches Alkoholverkaufsverbot, Kontaktverbote bei Nacht und die Begrenzung von privaten Feiern auf 10 Personen. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens betreffen weiterhin hauptsächlich die Freizeit der Bevölkerung und weniger die Produktion.

In der Stadt stehen zwei der drei Corona-Ampeln mittlerweile auf Rot. Die Fallzahl je 100.000 EinwohnerInnen steht am 10. Oktober bei 56,4 Personen. Damit wird Berlin zum Risikogebiet erklärt. Die Reproduktionszahl R (Zahl der durch eine/n Erkrankte/n in einem bestimmten Zeitraum durchschnittlich Angesteckten) stand am 5. Oktober bei 1,36 und ist um 8. Oktober wieder auf 1,02 gefallen. Nur die Zahl der mit Infizierten belegten Intensivbetten ist mit 153, bei knapp unter 50 Zwangsbeatmungen, noch gering.

… und ich

In dieser Gemengelage habe ich mich leider mit dem Virus infiziert und befinde mich seit einigen Tagen in Quarantäne. So kann man auch mal am eigenen Leib erfahren, wie dieses angeblich so gut vorbereitete Gesundheitssystem praktisch funktioniert. Und ich muss gestehen, Begeisterung fühlt sich anders an. Trotz meiner glücklicherweise recht milden Symptome will sich nicht das beruhigende Gefühl einstellen, dass meine Erkrankung von gut organisierten professionellen Händen behandelt würde. Eigentlich müsste viel eher gesagt werden, dass die Gesundheitsämter (GA), mit denen ich in Kontakt stand, gnadenlos überfordert wirken.

Als ich am 3. Oktober erfuhr, dass ich womöglich infiziert sei, versuchte ich sofort, das GA meines Bezirks Mitte zu erreichen. Dieser Stadtteil weist aktuell auch die höchsten Fallzahlen auf. Am Samstag und Sonntag konnte ich niemanden erreichen, was aus Arbeitsschutzgründen nachvollziehbar ist. Jedoch hätten sie wenigstens eine Art Anrufbeantworter mit allgemeinen Informationen zu Kontaktstellen und Infektionsschutz einschalten können. Stattdessen ertönte dauerhaftes Besetztzeichen. Am Montag versuchte ich es ab 8 Uhr. Nach dem 17. Anruf kam ich auch schon durch und erfuhr, dass ich einen Kontaktbogen ausfüllen solle und dass man sich anschließend bei mir melden würde – noch so eine Sache, die wirklich super wäre, wenn sie mir einfach ein Anrufbeantworter mitgeteilt hätte. Daneben wurde mir die freundliche Information gegeben, dass die Testkapazitäten des Bezirks am Boden seien und sie mich frühestens (!) in 10 Tagen testen können, was im Übrigen nach (!) Ablauf meiner Quarantäne wäre – und das, obwohl ich Symptome der Infektion aufweise. Wenige Stunden später erhielt ich einen Anruf – vom Gesundheitsamt Reinickendorf.

Die erst seit kurzem dort arbeitende Frau bat mich darum, dass ich meine Angaben erst am Ende dieses Gesprächs mache, beispielsweise, dass ich überhaupt nicht in Reinickendorf wohne. Nach knapp 20 Minuten Telefonat bin ich mir weiterhin unsicher, ob meine Daten überhaupt weitergereicht werden, nachdem ihnen auffiel, dass meine Angaben stimmen und ich wirklich nicht in Reinickendorf wohne und das GA daher überhaupt nicht zuständig für mich ist.

Zwischenzeitlich hatte ich mich eigenständig um einen PCR-Test (Polymerasekettenreaktionstest auf Virenbefall; PCR = Polymerase Chain Reaction) bemüht und mir vom Reinickendorfer GA bestätigen lassen, dass es in Ordnung sei, das Haus zu verlassen, um mich testen zu lassen – soweit kümmern sie sich also schon. Zum Briefkasten darf ich aber nicht hingehen, um die ausschließlich postalisch zugeschickte Informationen vom GA zu erhalten – das wäre schließlich fahrlässig.

Danach vergingen vier Tage bis Freitag. Als ich vor 2 Tagen beim GA Mitte anrief, um ihnen mitzuteilen, dass mein Test positiv sei, meinten diese, dass die Infos bei ihnen noch nicht eingetroffen seien und ich bitte warten solle und dass sie sich bei mir melden würden. Es ist schon spannend. Das GA Reinickendorf, das nicht zuständig ist und dessen Unterstützungsleistungen für mich nicht gelten, ruft häufiger an (2 Mal) als „mein“ GA.

Die Botschaft

Die Nachricht, die ich daraus lese, ist folgende: Du musst dich um alles selbst kümmern, ansonsten passiert hier überhaupt nichts. So konnte ich bis heute nicht meine sogenannten Erstkontakte angeben, also Leute, die sich länger als 15 Minuten in weniger als 2 Metern Abstand von mir aufhielten. Ich habe es natürlich eigenständig gemacht, aber in die Statistik, geschweige denn den Aufgabenbereich des Landes Berlin, fallen die Personen somit nicht rein. Außerdem habe ich die angeblich kommenden Kontrollanrufe nicht erhalten. Um den Test musste ich mich eigenständig kümmern. Ob das Gesundheitsamt die Informationen erhalten hat, weiß ich bis heute nicht. Den tragikomischen Witz, dass sie mir das Angebot machten, mich nach abgelaufener Quarantänezeit testen zu lassen, will ich mal außen vorlassen.

Unterm Strich ist die Situation bei den Gesundheitsämtern scheinbar extrem prekär. Die Telefonkapazitäten reichen nicht aus, um die Personen in Quarantäne zu kontaktieren. Die viel zu geringen Testkapazitäten führen nur dazu, dass die, die noch die Kraft haben, sich ohne Hilfe darum zu kümmern, noch einigermaßen durchkommen und zu irgendwelchen Privatpraxen gehen. Dass ich meine Kontakte eigenständig dazu bewegen musste, sich zu isolieren, und sie mir Glauben schenken mussten, dass das nun notwendig sei, halte ich für ein weiteres Problem in Bezug auf die Ausbreitung des Virus.

Sicher ist all dies am wenigsten die Schuld der Beschäftigten, die jetzt die Personallöcher stopfen sollen, die jahrzehntelange neoliberale Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen gerissen haben. Die Verantwortung für die Meldung von möglichen Infektionen, für Tests, … wird faktisch auf die Menschen abgewälzt, deren Gesundheit gefährdet ist. Sie wird „privatisiert“, der „Schutz“ gestaltet sich sozial selektiv. Statt zügiger, kostenloser Testung, medizinischer Beratung und  Unterstützung wird die eigentlich öffentliche Aufgabe auf die potentiell Infizierten abgewälzt. Das betrifft nebenbei auch die Kosten, die bei bei Obdachlosen, KurzarbeiterInnen oder ALG-II-EmpfängerInnen, RentnerInnen oder Studierenden durchaus spürbar sind. Manche werden so vor die Alternative gestellt, an der Gesundheitsvorsorge oder an Lebensmitteln zu „sparen“.

Ich hoffe, dass dieses sich andeutende behördliche Versagen nicht zu einer Verstärkung der Ausbreitung von SARS-CoV-2 führt, auch wenn die Verantwortung, die das Land Berlin (und wohl auch andere Länder) im Zuge des eigenen Versagens den Einzelnen überstülpt, diese Vermutung realistisch erscheinen lässt.

Ich bleibe vorerst zuhause und hoffe, dass Ihr gesund durch die kalte Jahreszeit kommt. Passt auf Euch auf, sonst macht’s ja scheinbar keine/r.




Die Weltgesundheitskrise und ihre Auswirkung in Brasilien

Liga Socialista, Infomail 1108, 24. Juni 2020

Die Gesundheitskrise, die die Welt aufgrund von COVID-19 verwüstet, hat die ganze Zerbrechlichkeit des kapitalistischen Systems offenbart. Die kapitalistischen Mächte und ihr gesamter Mechanismus der Ausbeutung und Anhäufung von Profiten wurden von einer bereits seit 2019 vorhergesehenen großen Wirtschaftskrise heimgesucht und befanden sich inmitten einer tiefen Gesundheitskrise, die in China begann und sich rasch auf alle Länder und Kontinente ausweitete. Das Virus führte zu einer neuen Ordnung, die die Länder dazu veranlasste, Maßnahmen der Isolation und sozialen Distanzierung zu ergreifen, um eine noch größere Zahl von Todesfällen zu verhindern. Durch die Isolation wurde die Wirtschaftskrise vorweggenommen und verschärft, was mehrere Länder dazu veranlasste, noch härtere Maßnahmen gegen ArbeiterInnen zu ergreifen, um die finanziellen Auswirkungen auf die Konten des Großkapitals der Welt zu minimieren.

Lage in Brasilien

In Brasilien ist die Situation nicht anders. Die Pandemie breitet sich rasch aus, und die Zahlen der Fälle und Todesfälle sind erschreckend. Heute, am 20. Juni, übersteigt die Zahl nach offiziellen Angaben 50.000 Tote und eine Million Infizierte, die zu wenig gemeldet werden. Während jedoch andere Länder Isolationsmaßnahmen ergriffen haben, die auf den ersten Blick wirtschaftlichen Interessen zuwiderlaufen, weigert sich in Brasilien die Regierung Bolsonaro, die Schwere der Krankheit anzuerkennen. Als Regierung, die der ideologischen Linie der „Wissenschaftsverweigerung“ folgt, behandelt Bolsonaro die Krankheit als etwas Einfaches und verteidigt die Idee, dass ArbeiterInnen und Kinder sich dem Virus „stellen“ müssen, um die Wirtschaft zu retten. Seit Beginn der Ansteckung in Brasilien hat er die ernste Situation, in der sich das Land und die ganze Welt befinden, vernachlässigt.

Er hat die gleiche Politik wie Donald Trump verfolgt und besteht auf dem Einsatz eines Chloroquin-Medikaments, das bei der Behandlung von COVID-19 mehr Kontroversen hervorruft als Ergebnisse bringt. (Chloroquin wurde v. a. als Standard gegen Malaria eingesetzt. Wegen Resistenzentwicklung der meisten Erreger ist es heute dort jedoch nicht mehr Mittel der 1. Wahl. Anm. d. Red.) Bolsonaro leugnet die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO, er ergreift nicht die geringste Maßnahme zur Kontrolle der Ansteckung und hat darüber hinaus einen Krieg gegen GouverneurInnen und BürgermeisterInnen geführt, die in ihren jeweiligen Provinzen und Gemeinden Isolationsmaßnahmen ergriffen haben.

Das Land befindet sich in einer tiefen kulturell-ideologischen Fehde zwischen AnhängerInnen und GegnerInnen von Bolsonaro. Den Richtlinien des falschen Philosophen Olavo de Carvalho folgend, der von evangelikalen FührerInnen unterstützt wird, mit Teilen, die Theorien der „flachen Erde“ verteidigen, sowie faschistischen Gruppen, haben wir eine Regierung, die die Wissenschaft verleugnet, indem sie systematisch die Mittel für die wissenschaftliche Forschung in Brasilien kürzt. Die Haltung der Regierung gegenüber der Pandemie hat innerhalb von 26 Tagen zwei Gesundheitsminister gestürzt, und zwar aufgrund von Divergenzen in der Politik der Bekämpfung und Kontrolle der Ausbreitung der Krankheit und des Einsatzes von Chloroquin.

Inmitten der Gesundheitskrise unternimmt die brasilianische Regierung nicht die geringste Anstrengung, um eine Politik der Ansteckungsbekämpfung vorzuschlagen. Im Gegenteil, sie besteht ständig darauf, alle Produktions- und Handelslinien wieder zu öffnen, wodurch die ArbeiterInnen noch stärker der Ansteckung durch die Krankheit ausgesetzt werden. Das Gesundheitsministerium hat zur Zeit keine/n MinisterIn. Das Ressort wird von einem Armeegeneral geleitet, der auf Interimsbasis handelt. Das Militär übernimmt zunehmend das Kommando über die Regierung. Während sich die Krankheit rasch ausbreitet, folgt die Regierung Bolsonaro dem kapitalistischen Glaubensbekenntnis durch Wirtschaftsminister Paulo Guedes, indem sie Angriffe auf die ArbeiterInnenrechte durchführt und vertieft und sich weigert, das Grundeinkommen aufrechtzuerhalten, um die Lohnabhängigen zu unterstützen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Dafür benutzt sie die Ausrede, kein Geld zu haben, aber die Regierung hat in den letzten Monaten 3,2 Billionen Reais  = 544 Milliarden Euro) an Bankiers vergeben und damit deutlich gemacht, wen diese Regierung „retten“ will.

Neben der Vernachlässigung der Kontrolle der Ansteckung durch COVID-19 hat der Skandal im Zusammenhang mit der Abholzung des Amazonasgebiets und dem Völkermord an den indigenen Völkern weitere Folgen mit sich gebracht, die die brasilianische Wirtschaft ernsthaft in Mitleidenschaft ziehen. Der Ausschuss des US-Hauses lehnt mit einer Mehrheit der Demokratischen Partei eine Ausweitung der Handelsabkommen mit Brasilien ab. Die Situation könnte sich für das brasilianische Kapital verschlimmern, wenn der Demokrat Joe Biden zum Präsidenten gewählt wird, denn, so der ehemalige Botschafter Rubens Ricupero, „er engagiert sich mehr für die Umweltfrage als Barack Obama“. Das niederländische Parlament lehnte die Ratifizierung des Mercosur-EU-Abkommens ab, weil es mit der Umweltpolitik im Amazonasgebiet und mit der landwirtschaftlichen Konkurrenz nicht einverstanden ist. Brasiliens tiefe Wirtschaftskrise neigt dazu, sich angesichts der schädlichen Politik der Umweltzerstörung und ihrer Folgen für die Außenbeziehungen zu verschlimmern.

Politische Krise, ideologische Eskalation

Inmitten dieser ganzen Gesundheitskrise befindet sich die Regierung Bolsonaro in einer tiefen politischen Krise seit dem Rücktritt eines der Spitzenminister der Regierung, des ehemaligen Richters Sergio Moro, der für die „Geldwaschanlage“-Untersuchungen verantwortlich war, Lula verurteilte und die Wahl Bolsonaros 2018 ermöglichte. Nach seinem Ausscheiden aus dem Ministerium legte Moro den Streit um die Kontrolle der Bundespolizei und Bolsonaros Interessen am Schutz seiner Kinder offen, insbesondere Senator Flávio Bolsonaro, gegen den unter anderem wegen Korruptions- und Geldwäscheverbrechen ermittelt wird.

Moros Weggang und die Veröffentlichung des Videos des Ministertreffens, bei dem die Bundespolizeiaffäre enthüllt wurde, schwächten die Unterstützerbasis für die Regierung und zwangen Bolsonaro, Stimmen durch Verteilung von Millionengeldern an Kongressabgeordnete aus dem so genannten „centron“ (Zentrum) zu sichern; die kleinen rechten Parteien, die sich im Tausch gegen Unterstützung im Kongress verkaufen. Dieses Manöver führte dazu, dass Bolsonaro einen Teil seiner Unterstützung verlor, weil er während des Wahlkampfes sagte, dass er die „alte Politik“, Unterstützung im Kongress zu kaufen, ablehne und niemals praktizieren werde. Das Video des Treffens war ein Schlag für die Regierung, denn es zeigt MinisterInnen, die rassistische Äußerungen von sich geben, explizite Angriffe auf öffentliche Bedienstete, Umweltzerstörung und, vielleicht am kompromittierendsten, die Erklärung des Bildungsministers Abraham Weintraub, der die MinisterInnen des Obersten Gerichtshofs eindeutig angreift und bedroht.

Nach diesen Ereignissen verschärfte eine Gruppe, die sich die „300 BrasilianerInnen“ nennt, die Probleme noch weiter. Mit faschistischem Charakter kampierte die Gruppe in Brasilia zum „Kriegstraining“ und griff den Obersten Gerichtshof maskiert und mit Fackeln an, in deutlicher Anspielung auf die Mitglieder des Ku-Klux-Klan. Alle Forderungen nach Schließung des Obersten Gerichtshofs werden von Bolsonaro klar unterstützt. In den letzten Tagen hat das Gericht die Verletzung des Bankgeheimnisses für die Abgeordneten der Bolsonarobasis genehmigt, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen von Material in ihren Häusern durchgeführt und den Führer der faschistischen Gruppe „300 BrasilianerInnen“ vorläufig festgenommen. Bolsonaro erkannte, dass das Gericht den Druck auf den ideologischen Kern der Regierung erhöht, und drohte erneut mit einer Intervention, einem Staatsstreich, um den Beginn der „Jahre der Führung“ des Militärputsches von 64 nachzustellen.

Die Antwort auf diese Drohungen war die Inhaftierung von Fabricio Queiroz, einem ehemaligen Berater von Flávio Bolsonaro, während der Ermittlungen über Finanzströme im Zusammenhang mit dem Büro von Flávio Bolsonaro, als er noch Mitglied des Staatskongresses von Rio de Janeiro war.

Faschistische Haltungen und Reaktionen

Die Aktionen der „300er-Gruppe“ schockierten einen Teil der brasilianischen Bevölkerung wegen der Ähnlichkeit mit den von faschistischen Gruppen in den USA praktizierten Taten. Mit weißen Masken und Fackeln in den Händen versammelten sie sich vor dem Obersten Gerichtshof und drohten damit, die MinisterInnen des Gerichts anzugreifen. Die Reaktion war schnell. Fans, die mit Fußballvereinen verbunden sind und „Antifa-Club-Fans“ genannt werden, riefen zu Aktionen auf, um sich dem faschistischen Vormarsch entgegenzustellen. Diese Demos wurden ohne Beteiligung linker Gruppierungen oder VertreterInnen der ArbeiterInnenbewegung aufgerufen. Auch wenn sie nicht so groß waren, hatten sie Auswirkungen und störten die Regierung. Es ist interessant, darauf hinzuweisen, dass diese Aktionen zur gleichen Zeit stattfanden, als in den Vereinigten Staaten und in mehreren Ländern die Reaktion auf den Tod von George Floyd angesichts der von der Polizei in Minneapolis begangenen Brutalität Empörung hervorrief.

Die Herausforderungen für die Linke

Die brasilianische Linke erlebt einen Moment der großen Herausforderung. Seit den Bewegungen des Jahres 2013, als eine Welle von Demonstrationen auf die Straßen flutete, hat die Rechte in diesen Bewegungen an Boden gewonnen und linke Fahnen und Parteien wurden abgelehnt. Die Mobilisierung unterstützte die gefährliche Linie „keine Fahne und keine Partei“ mit nationalistischen Reden, die den Gruppen, die sich zum Angriff auf die damalige Rousseff-Regierung der ArbeiterInnenpartei PT organisierten, eine Stimme zu geben begannen. Rechte Gruppen zogen eine Generation junger Menschen an und besetzten den von der Linken in den Bewegungen eröffneten Raum. Es gibt mehrere Analysen, die darauf hindeuten, dass Tausende von Menschen, die noch nie zuvor an politischen Aktionen teilgenommen hatten, sich diesen rechten Gruppen anschlossen und sich mit ihnen identifizierten, und zwar auf der Grundlage eines moralistischen Diskurses, der die Verteidigung der Familie, der Moral und der guten Sitten in den Vordergrund stellte.

In diesem Szenario spielten die evangelikalen Kirchen, die über eine starke parlamentarische Vertretung im Kongress verfügen, zweifellos eine wichtige Rolle. Diese Situation bildete die Grundlage für die Verallgemeinerung von Hassreden bei den Wahlen 2014, als Dilma Rousseff wiedergewählt wurde. Nach dem Wahlprozess hielten die PutschistInnen des rechten Flügels die Hassreden und Vorurteile aufrecht, die schließlich zum Sturz der Regierung und zur Dominanz in der brasilianischen Gesellschaft führten. Dieser politische Diskurs des Hasses hat die Wahlen von 2018 ernsthaft beeinflusst und führt auch heute noch dazu, dass die Linke von den meisten BrasilianerInnen, von der Elite bis zu den ArbeiterInnen, abgelehnt wird.

Bisher hat sich die Linke, vor allem die PT, die die größte Partei der Linken und Hauptvertreterin der ArbeiterInnen ist, nicht an die Spitze der Bewegungen gestellt. In diesem Moment der sozialen Isolation ist die Situation noch schlimmer, denn viele Menschen fürchten sich wegen der Gesundheitsgefahr an Straßenaktionen zu beteiligen.

In diesem Szenario der politischen Krise der Regierung Bolsonaro beginnen sich Aktionen der Rechten gegen Bolsonaro zu entwickeln. Nachdem Meinungsumfragen ergeben hatten, dass die Unterstützungsbasis der Bolsonaro-WählerInnenschaft rund 30 Prozent beträgt, startete der ehemalige „bekehrte“ Bankier Eduardo Moreira in sozialen Netzwerken die Kampagne „Wir sind 70 Prozent“ gegen Bolsonaro.

Eine weitere Aktion gegen Bolsonaro ist das überparteiliche Manifest der Bewegung „Wir sind zusammen“, das rechte und linke Führungspersönlichkeiten aus Kunst, Schriftstellerei, Religion und andere unterzeichnet haben. Das Manifest richtet sich klar gegen die Forderungen von Jair Bolsonaro. Der ehemalige Präsident Lula hat sich jedoch gegen die Unterzeichnung dieses Manifests ausgesprochen. Für ihn ist es nur eine Aktion zum Sturz Bolsonaros und stellt nicht die Verteidigung der Interessen der ArbeiterInnenklasse dar. Lula argumentiert, dass die PT in der Lage sei, selbst gegen Bolsonaro vorzugehen und den ArbeiterInnen einen Ausweg aufzuzeigen. Für Lula ist das, was diese Elite will, der Sturz des Mannes Bolsonaro, aber die Aufrechterhaltung der Regierung Bolsonaro, einer Regierung, die den ArbeiterInnen eine Sparpolitik aufzwingt.

Bisher sehen wir kein Zugehen der PT auf die Beschäftigten, keinen Aufruf zu ihrer Organisierung. Die linken Organisationen und Parteien sind isoliert, aber die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter sind nicht isoliert, weil sie arbeiten oder weil sie nicht in der Lage sind, dies zu tun. Die ArbeiterInnenschaft ist täglich einer Ansteckung ausgesetzt, sie verliert Arbeitsplätze und Rechte, wobei die von der Regierung beschlossenen Maßnahmen die Situation noch verschlimmern.

Die brasilianische Linke ist in einer Situation, in der sie sich innerhalb der Bewegungen nicht durchsetzen kann, sie übernimmt heute nicht die Führungsrolle der ArbeiterInnen in Brasilien. Es handelt sich um eine tiefe Krise, die Raum für die Besetzung durch die extreme Rechte eröffnet hat. Der Diskurs der extremen Rechten, die an der Macht ist, hat die ArbeiterInnenklasse erreicht. Es ist ein reaktionärer, oft sogar faschistischer Diskurs, der den Hass auf Minderheiten, auf Bildung, auf die Künste predigt. Er hat LehrerInnen und Kultur in Feinde der Gesellschaft verwandelt und die Lehre und wissenschaftliche Forschung zerstört. Es gibt keinen Dialog innerhalb der Linken. Die wenigen Versuche, eine Einheitsfront zu bilden, waren sehr kurzlebig und haben die vorgeschlagenen Ziele nicht erreicht. Wie der Philosoph Vladmir Safatle sagte, leidet die brasilianische Linke heute unter einer tiefen Identitätskrise. Es ist notwendig, diese Identität als VertreterIn der ArbeiterInnenklasse zu retten. Was wir seit Jahren erleben, ist eine Linke, die sich nur um die Wahlagenda kümmert, um die möglichen Stimmen und Positionen, die erreicht werden können.

Lula hat Recht, wenn er sagt, dass die PT kein Manifest mit PutschistInnen unterschreiben muss, um Bolsonaro loszuwerden, dass die Partei eine Agenda für die ArbeiterInnen vertreten solle, aber er weist nicht den Weg zum Kampf, zur Mobilisierung und zur Positionierung der PT und des Hauptgewerkschaftsbundes CUT als Hauptinstrumente des proletarischen Kampfes. Einige AnalystInnen weisen darauf hin, dass Lula mit diesem Diskurs versucht, die Basis der Partei neu zu organisieren, um in naher Zukunft wieder eine Führungsrolle zu erlangen, aber auf den alten Bündnissen mit der Rechten aufbauend.

In der Zwischenzeit wurden im Kongress mehrere Anträge auf Amtsenthebung gestellt, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass Rodrigo Maia, der Vorsitzende des Kongresses, diesen Anträgen stattgeben wird. Bolsonaro versucht, sich durch die Unterstützung der Zentrumsparteien, des Militärs und der Polizei zu stärken. Es ist eine schwache Regierung, aber eine, die weiterhin der neoliberalen Agenda folgt. Während wir ArbeiterInnen unter all den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie leiden, greift die Regierung weiterhin unsere Rechte an, und die Linke bewegt sich nicht dazu, Kämpfe zu organisieren.

Mobilisierung nötig

Es ist dringend notwendig, dass die FührerInnen der Linken, vor allem aus der PT und dem Gewerkschaftsverband  CUT, die ArbeiterInnen auffordern und an die Basis gehen und sagen, dass diese Regierung eine Regierung der Zerstörung ist und wir ihr entgegentreten müssen. Wir wissen, dass die Einhaltung von Abstandsregelen und Gesundheitsvorschriften notwendig sind, aber in der gegenwärtigen Situation müssen wir den ArbeiterInnen klarmachen, dass es nicht möglich sein wird, der Krankheit zu begegnen, Bedingungen der Isolation zu haben, menschenwürdige Lebensbedingungen zu garantieren, solange die Regierung Bolsonaro besteht. Nur durch den Sturz dieser gesamten Regierung können wir die Mindestbedingungen haben, um bessere Lebens-, Arbeits- und Gesundheitsbedingungen zu fordern.

Wir müssen der ArbeiterInnenklasse klar und deutlich sagen, dass eine Regierung, die Abermilliarden für die BankerInnen ausgibt und sich weigert, die Hilfe für die ArbeiterInnen zu gewährleisten, sich nicht um die 50.000 Toten durch Corona kümmert, die sich nur um die großen Geschäftsleute und die Rettung der eigenen Familie sorgt, eine solche Regierung kann nicht länger aufrechterhalten werden.

Angesichts dieses Chaos brauchen die linken Parteien eine geschwisterliche Debatte, um eine Einheitsfront Front zum Kampf für die Agenda der ArbeiterInnenklasse aufzubauen, die unmittelbare und Übergangsforderungen enthält. Nur auf diese Weise werden wir eine linke Regierung, eine ArbeiterInnenregierung erkämpfen können, die sich auf die Kampforgane der Klasse stützt, die Interessen der ArbeiterInnen vertritt und mit dem Kapitalismus bricht.




Wer von der Bildungsschere spricht, darf vom Klassenkampf nicht schweigen!

Richard Vries, Teil 2, Infomail 1101, 25. April 2020

Im ersten Teil des Artikels hatten wir die Ursachen des immer weiteren Auseinanderklaffes der Bildungsschere und ihre Auswirkungen auf die betroffenen Menschen dargestellt. Im zweiten Teil wollen wir uns damit beschäftigen, wie wir dieser Misere entgegentreten können.

Schulöffnung?

Die überhastete, unvorbereitete und je nach Bundesland unterschiedliche Öffnung der Schulen läuft nun bundesweit an. Von einer Sicherung elementarer hygienischer Voraussetzungen kann wohl ebenso wenig ausgegangen werden wie von einem „normalen“ Schulbetrieb. Zudem sitzt wohl den meisten SchülerInnen der Notenknüppel fest im Nacken, denn der Schwerpunkt der kommenden 2–3 Monate bis zu den Sommerferien wird wohl darauf liegen, irgendwie Noten für die Abschlusszeugnisse, die restlichen Teile des Abiturs usw. hinzuzaubern – und zwar unter verschärftem Stress.

So übereilt die Öffnung ist, so sehr verdeutlichen die verschiedenen, eigentlich gegensätzlichen „Konzepte“ unterschiedlicher bürgerlicher Institutionen, dass es ein schlüssiges, durchdachtes Konzept, das die Interessen von SchülerInnen, Lehrenden und Eltern angemessen berücksichtigen würde, nicht gibt – und gefragt wurde diese natürlich auch nicht. Sie dürfen, geht es nach den Regierungen in Bund und Land, allenfalls auch ihre Meinung äußern. Den Ton geben andere an, bei den Entscheidungen spielen die Gewerkschaften, SchülerInnen- und Elternvertretungen allenfalls eine Nebenrolle.

Trotzdem lohnt ein Blick in die gegensätzlichen Vorschläge.

Am Ostermontag, den 13. April, legten die Leopoldina-ForscherInnen ihr Konzept vor. Welche Ausrichtung diese grundsätzlich vertreten, zeigen ihre Vorschläge für den Gesundheitsbereich, die sie schon vor der Corona-Krise vertraten: die Bettenzahlen in den Krankenhäusern sollten, ihren damaligen „Erkenntnissen“ zufolge, drastisch reduziert werden. Für die Schulen schlugen sie eine möglichst rasche Öffnung vor. Beginnen sollte sie mit den Grundschulen, zuerst mit den oberen Klassen, da diese für den zukünftigen Wechsel zu weiterführenden Schulen zentral sind. Dann sollten weitere Kinder und Jugendliche einbezogen werden. Prüfungen und Klausuren sollten auf jeden Fall stattfinden.

Der Betrieb wurde jedoch gemäß der vom Robert-Koch-Institut empfohlenen, diesmal endlich etwas „vorsichtigeren“ Version wieder aufgenommen, d. h. der Unterricht soll altersabsteigend wieder anrollen. Für ihren gewagten Vorschlag wurden die Leopoldina-ForscherInnen hingegen übrigens unter anderem auch vom Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (DIE LINKE) kritisiert, der hierdurch vor allem Komplikationen mit der Personal- und Hygieneausstattung kommen sieht.

Doch auch im beschlossenen Modell muss unmittelbar noch jeweils vor Ort eine mittelfristige, praktische Umsetzung geklärt werden – und zwar in Hinsicht darauf, wie größere Infektionsketten durch stets ausreichend vorhandene hygienische Vorkehrungen (Warmwasser, Mundschutz) sowie Separierungen (auch in den Pausen und im öffentlichen Nahverkehr) übergreifend vermieden werden können. Dafür spricht sich „im Prinzip“ sogar die SPD aus. Inwieweit bei alledem kleinere Gruppenaufteilungen verschiedener Jahrgangsstufen (auch auf verschiedene Tageszeiten oder Wochentage) sinnvoll oder aufgrund der aufgezeigten Umstände überhaupt möglich sein werden, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Da praktisch keine zusätzlichen Ressourcen, keine veränderte Infrastruktur, ja überhaupt keine geplante Vorsorge betrieben wird, läuft all das letztlich auf ein gesundheitspolitisches Abenteuer hinaus, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt kritisiert und politisch bekämpft werden muss. Eine mögliche zweite Welle der Ausbreitung der Pandemie wird offenbar bewusst in Kauf genommen.

Die überhastete Schulöffnung wird im Grunde mit zwei Argumenten begründet. Erstens sollen noch Abschlüsse her, damit SchülerInnen versetzt werden, Abschlussnoten für Uni oder Ausbildung erhalten. Dabei könnte auf diese ohne weiteres verzichtet werden, indem allen der Aufstieg in die nächste Klassenstufe gewährt wird, indem alle als bestanden gewertet werden und z. B. der Numerus Clausus an den Unis abgeschafft wird, so dass alle AbgängerInnen studieren können, sofern sie es wollen. Für alle, die eine Lehre aufnehmen wollen, müssen vor allem ausreichend Ausbildungsplätze geschaffen werden – das ist viel dringender als noch ein paar Monate mehr Prüfungsstress und Notenterror!

Zweitens sollen die Betriebe und Unternehmen wieder hochgefahren werden. Das versteht das bürgerliche System als „Normalisierung“: Profitmacherei muss wieder möglich sein, ansonsten werden die Kosten zu hoch. Daher beginnt die „Normalisierung“ auch dort, wo es eigentlich viel gefährlicher ist als z. B. in Parks oder gar bei vergleichsweise ungefährlichen Demonstrationen und Kundgebungen – nämlich in der Arbeitswelt oder an Schulen,frei nach dem Motto: Wenn die Kinder und Jugendlichen wieder zur Schule können, können die Eltern wieder schaffen. Ganz in diesem Sinn sind die eigentlich wahnsinnigen Vorschläge nach Kürzung von Schulferien und nach Streichung von Urlaub durchaus erst zu nehmen.

Haltung der GEW

In den letzten Wochen und Monaten muss an alle Bildungs- und Erziehungseinrichtungen und deren Beteiligte die Frage nach dem konkreten Aussehen einer Wiederaufnahme eines Arbeitsbetriebes gestellt werden.

Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen spricht z. B. in ihren Argumentationen verschiedenste Gruppen an: Das Kultusministerium beispielsweise solle eine derzeit noch sehr ausbaufähige Absprache mit den Personalräten und Gewerkschaften verbessern sowie mittel- und langfristige Strategien entwerfen (Schreiben des GEW-Bezirksvorsitzes an alle Mitglieder vom 07.04.20). Dieser folgt auch die Bundesorganisation, die Mitgestaltung bei der Umsetzung der Schulöffnung „einfordert“, statt diese insgesamt frontal zu bekämpfen.

Darüber hinaus rechnet die Gewerkschaft vor: Für die Schulen und deren Digitalisierung erfordert es demzufolge allein innerhalb der nächsten 5 Jahre 21 Milliarden Euro. Der Digitalpakt mit dem Bund stellt hierfür aber lediglich die bekannten 5 Milliarden Euro zur Verfügung. Aufgrund von Investitionsstaus seien davon allerdings bisher auch nur, wie oben bereits erwähnt, 96 Millionen Euro ausgezahlt worden. Ausreichende (digitale) Ausstattungen und Unterstützungen für Lehrkräfte müssten laut GEW hingegen aber gewährleistet sein.

Mittel- und langfristige Strategien zur Sicherung von Gesundheit und Interessen der Lehrenden wie der SchülerInnen sehen allerdings anders aus. Auch bei anderen, kurzfristigen Fragen bleibt die Gewerkschaft hinter dem Notwendigen zurück. So soll das Personal jedenfalls ein sogenanntes „Krisenkurzarbeitergeld“ oder Soforthilfen für die Soloselbstständigen zur Verfügung gestellt bekommen. Empfohlen wird darüber hinaus der Überstundenabbau, die Beobachtung der Entwicklung der Arbeitszeitregelungen sowie eine Stundenerfassung im Home-Office und in der Notbetreuung. Sowohl für Risikogruppen als auch für Eltern solle bei den Notdiensten zudem eine explizite Rücksichtnahme gelten. Nach der Krise wird von der GEW außerdem unbedingt die zusätzliche Unterstützung für Schulen in benachteiligten Stadtteilen gefordert.

Sozialarbeit für kriselnde Familien müsste dementsprechend zwingend angeboten werden können. Die Träger der Jugendhilfe sollen laut der Gewerkschaft hierfür weiterhin mehr als die geplanten 75 % an Zuschüssen erhalten, nämlich so viel, dass das Personal auch vollständige Fortzahlungen seines Entgelts erhalten könne. Unverzüglich müssten zudem Kindergärten im Notdienst für eine ausreichende Hygieneausstattung ins staatliche Versorgungsnetz aufgenommen werden. Denn körperliche Nähe ist und bleibt bei dieser Arbeit unbestritten unausweichlich.

Langfristig gesehen geht die GEW Sachsen-Anhalt bereits vor der Corona-Krise noch einen Schritt weiter: Sie will schon im Januar diesen Jahres mit einem Bürgerbegehren, in Hinblick auf einen Volksentscheid, einen Personalschlüssel für Lehreinrichtungen im Schulgesetz verankern sowie gleichzeitig die Anzahl von Sonder- und Sozialpädagoginnen sowie von SchulsozialarbeiterInnen erhöhen lassen.

Kurz- und mittelfristig wird von der GEW insgesamt darum gebeten, die Aufgaben für die SchülerInnen möglichst gering zu halten und Notendruck zu vermeiden. Gegenwärtige Überforderungen seien sowieso schon groß genug. Die digitale Spaltung würde weiterhin vertieft. Der Erfolg in der Bildung hänge unbedingt auch mit der Zugehörigkeit zur sozialen Schicht zusammen. Junge Geflüchtete und MigrantInnen würden derzeit insbesondere beim Spracherwerb deutlich weiter abgehängt.

Noch weit hinter der GEW bleibt der konservative „Verband Bildung und Erziehung“, kurz VBE, zurück. Er sorgt sich zwar um die nun entstehende Mehrbelastung für die Lehrkräfte und verbal auch um leistungsschwächere Kinder in der momentanen digitalen Lernumgebung. Der nun laufende Schulbeginn wird das Problem der Diskriminierung freilich nicht überwinden, es wird allenfalls in einer anderen Form auftreten.

Natürlich empfiehlt sich in jedem Fall, zuerst in den „aufgeklärteren“ Abschlussklassen mit genügend gestelltem Mundschutz und ausreichendem Abstand von 1,5 m zu arbeiten. Die GEW fordert außerdem für alle Einrichtungen und deren Personal, die Versorgung und Aufrechterhaltung mit einem flächendeckenden Hygieneangebot zu gewährleisten. Doch was passiert an Schulen, wo dies nicht möglich ist. Folgen wir den Beschlüssen der Bundes- und Landesregierung, wird dort weiter unterrichtet, solange „nichts passiert“, also solange keine nachweisbaren Infektionen auftreten.

Statt ausreichend Schutz zu organisieren, schlagen PolitikerInnen und „Expertinnen“ zahlreiche Methoden zur Datenerfassung vor, die Persönlichkeitsrechte weiter aushebeln sollen. Bei alledem warnt die GEW vor einseitigem Denken. Großkonzerne seien endlich mal richtig zu besteuern, anstatt dass sie ihre Mietzahlungen aussetzen, während nicht einmal Mieterlasse für „NormalbürgerInnen“ vorgesehen seien.

Das hört sich wie so manches von der GEW und ihrer Führung zwar gut an – es greift jedoch in mehrfacher Hinsicht entschieden zu kurz.

Erstens hilft es nichts, sich nur dafür zu beklagen, dass die Maßnahmen der Regierungen „unausgewogen“ oder „einseitig“ wären. Das sind sie natürlich – doch was erwartet eine Gewerkschaft eigentlich von einer Regierung, die wie jede bürgerliche natürlich zuerst dem Interesse des Kapitals verantwortlich ist. Maßnahmen im Interesse der Beschäftigten im Bildungsbereich, der SchülerInnen gerade aus den „unteren“ Gesellschaftsschichten, also aus der ArbeiterInnenklasse und deren Eltern werden nie kampflos, ohne Druck und Mobilisierung, zugestanden.

Zweitens sollte die GEW wie alle DGB-Gewerkschaften daraus den Schluss ziehen, dass es darauf ankommt, gegen die Politik der Regierungen und des Kapitals gemeinsam mit den SchülerInnen, mit Bewegungen wie Fridays for Future oder deren VertreterInnen zu mobilisieren. Wenn die KapitalistInnen und die Regierungen ohne Rücksicht auf unsere Verluste Betriebe und Schulen wieder eröffnen, so müssen wir uns auch unserer Kampfmittel besinnen – also der gewerkschaftlichen Aktion bis hin zum Streik.

Wofür müssen also klassenkämpferische GewerkschafterInnen eintreten?

Anders als der GEW-Führung geht es uns darum, jede sozialpartnerschaftliche Mitverwaltung der Krise abzulehnen. Anders als die Gewerkschaftsführungen lehnen wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) und die Vereinigung Klassenkämpferischer Gewerkschaften (VKG) jede „Solidarität“ mit „unschuldig“ in Not geratenen Unternehmen kategorisch ab. Wir wollen stattdessen unbedingt Großunternehmen, Banken und Finanzinstitutionen entschädigungslos enteignen und unter ArbeiterInnenkontrolle stellen. Sie lediglich zu selbstverständlichen Steuerzahlungen zu bringen, reicht da mittel- und langfristig nicht aus.

Wahre Solidarität stattdessen für die Berliner SchülerInnenproteste gegen die Abhaltung ihrer Abschlussprüfungen vor Ort – und als Schlussfolgerung daraus: bundesweit einheitliche Regelungen zur Wiedereinführung des Unterrichts an den Schulen, kontrolliert von Gewerkschaften, Beschäftigten und Eltern! Nur wenn sie die Voraussetzungen für ausreichend gegeben halten, sollten die Schulen wieder öffnen.

In den nächsten Wochen, Monaten, Jahren geht es um den Aufbau einer gemeinsamen antikapitalistischen und internationalen Antikrisenbewegung gegen die Auswirkungen der Corona-Pandemie und speziell eines sich über den gesamten Globus hinweg vertiefenden Protektionismus. Dafür braucht es wiederum eine internationalistische, kritische und klassenorientierte Verständigung, um gemeinsame Forderungen tiefgreifender zu diskutieren. Denn wir sind eben alle nicht gleichsam betroffen von dieser gigantischen Krise, welche, wie sich gerade jetzt zeigt, einer neoliberalen Vermarktung möglichst aller Lebensbereiche zu Grunde liegt – und damit folglich überall am heftigsten die ArbeiterInnenklasse trifft.

Im Gleichschritt mit ihr wird nun umso mehr vom „mächtigen Staat“ allen gleichermaßen große Eigenverantwortung (bitte nicht zu verwechseln mit wirklicher Solidarität) abverlangt.

Die gegenseitige Hilfe unter den Menschen könnte grundsätzlich viel Zuversicht schaffen. Aber wenn sie nur als Reparaturbetrieb für Versäumnisse, als Begleitmusik zur nächsten Runde privatwirtschaftlicher Ausbeutung herhalten soll, verkommt sie zur Farce.

Wir als klassenkämpferische GewerkschafterInnen fordern also in jedem Fall langfristig realistische, antikapitalistische Pläne und Bedingungen für eine kostenlose und wirkliche Ganztagsbetreuung. So können nicht nur die Kinder und Jugendlichen besser betreut werden. Zugleich kann die Mehrbelastung für die ArbeiterInnenklasse, vorwiegend für die Frauen und gerade auch für Alleinerziehende, nur so wirklich reduziert werden.

Eine akute und durchaus entlastende Erweiterung von Notbetreuungsplätzen, speziell für diese Familiengruppen, muss gleichzeitig aber auch mit ernsthaft anerkennenden Umsetzungen von Forderungen der mehrfach belasteten Belegschaften in den Einrichtungen einhergehen: Schluss also direkt mit befristeten Verträgen und mit Familien nicht zu vereinbarenden Arbeitszeiten und Einkünften. So etwas wird niemals benötigtes, echtes Vertrauen mittels ruhestiftender Entlastungen auf diversen Ebenen aufbauen können. Drohenden weiteren Flexibilisierungen des Arbeitsmarkts, der Abschaffung demokratischer Rechte, den jüngst beschlossene Notverordnungen zum Arbeitszeitgesetz müssen wir entschlossen entgegentreten.

Gleichzeitig dürfen finanzielle Verluste nicht auf die ArbeiterInnen abgewälzt werden, während Gewinne ganz dreist den ProfiteurInnen der kapitalistischen Marktkräfte zufallen. Eine Verstaatlichung von Privatschulen statt ihrer unverhältnismäßigen Subventionierung trotz gleichzeitig fehlendenden Geldes und Personals an unbestritten „brennenderen“ öffentlichen Schulen muss demgegenüber unbedingt in Angriff genommen werden. Massive Investitionen in die öffentliche Bildung sowie erhöhte Personalschlüsselverankerungen im Schulgesetz sind gleichzeitig die nun wirklich Sicherheit stiftenden Investitionen in eine beruhigendere Zukunft – ganz anders als die über 50.000.000.000 Euro, die 2019 in die Aufrüstung und Militarisierung der BRD geflossen sind. Gerade zu solcherlei Angstmechanismen auslösenden „Normalzuständen“ des (deutschen) Imperialismus und der globalen, neoliberalen „Kaputtsparerei“ des Sozialen und der Gesundheit wollen wir nicht zurückkehren!

Genau diese tatsächlichen Auslöser einer derzeitigen Krise müssen viel mehr ins Visier genommen werden. Die imperialistischen USA sind dafür, neben den extrem düsteren Aussichten für unsere allgemeine Datensicherheit (bedenke detailreiche, permanent zuordenbare Datenansammlungen durch Smartphone-Apps à la Südkorea), aktuell wohl noch das traurigste Paradebeispiel. Die ArbeiterInnen des globalen Südens, also allem voran in den Halbkolonien wie Brasilien, Indien und Pakistan, sind es hingegen, die das Ganze schließlich nur noch weiter zurückwerfen wird als nicht zuletzt schon die imperialistische Ausbeutung sowie deren ausgelöste Rückwirkungen durch Klimazerstörung vor Ort.

Vor allem jene Lohnabhängigen sind unterdessen aber überrumpelt, die in diesen Gebieten fortschreitend arbeitslos werden, verelenden und verhungern – ohne überhaupt jemals in eine Corona-Sterbestatistik aufgenommen zu werden, einen angemessenen Abschied zu erleben oder eine gebührende Grabstätte zu erhalten. Und auch hierzulande leben Menschen am Rande ihrer Existenz, hungern und sind somit obendrein auf antikapitalistische Solidarität angewiesen.

Sofort stehen wir demzufolge ein für systematische, internationale MillionärInnen- und MilliardärInnenabgaben sowie für klare Anhebungen der Kapitalsteuern zur Finanzierung eines Krisen-Notprogramms mit hundertprozentigen Lohnfortzahlungen und wirklich menschenwürdigen Mindestsicherungsleistungen. Nicht die ArbeiterInnen sollen, wie unter anderem hierzulande, die Kosten für das sowieso schon viel zu knappe KurzarbeiterInnengeld aus der Arbeitslosenversicherung letzten Endes selbst zahlen, sondern die Unternehmen, welche sich ihrerseits gerade sogar noch ihren Sozialabgabenanteil zu 100 % erstatten lassen, womit letztlich wiederum nur die Beiträge für die ArbeiterInnen steigen oder die eh schon zu schmalen, erhaltenen Gelder gekürzt werden.

Und nicht nur der kraft der ArbeiterInnen geschaffene Mehrwert, wie Marx schon einst sagte, wird hieraus nochmals von den sog. Arbeit„geber“Innen einkassiert. Nein, dieses Establishment verweigert auch, wie wir es mit diesem Artikel abermals aufzeigen konnten, schon seit Jahrzehnten und beständig zu dessen eigenen Gunsten einer Gesellschaft inhärente Fortschritte – im Bildungssektor, im Gesundheitswesen sowie auch noch weit darüber hinaus.

Zwingend ist damit abschließend, zur vereinten Rettung von so vielen Menschenleben wie überhaupt möglich, die finanzielle und logistische Gewährleistung ausreichender, hygienischer Ausstattung für das Personal in all den Einrichtungen des öffentlichen Lebens erforderlich. Dreisten Geschäften mit hygienischer Ausrüstung unterschiedlichster Art zur zwingend notwendigen Versorgung der gesamten Bevölkerung, die sich überhaupt erst durch frühere Fehlplanungen einer internationalen neoliberalen Politik entwickeln konnten, müssen wir kollektiv entgegentreten.

Jegliche Forderungen gelten somit ausnahmslos und ebenso selbstverständlich für den internationalen Boden, denn die kapitalistische, globale Konkurrenz wird in der Zukunft nicht einfach so verschwinden, außer wir vereinigen uns zielgerichtet dazu. Es bedarf demnach schlussendlich dringend einer übergreifenden, internationalen Aktion der Gewerkschaften – auch mithilfe der Anwendung von Streikaktionen – letztlich für Milliardeninvestitionen in die Bildungs- und Gesundheitssysteme!




Britannien: Johnsons Sieg – Corbyns Niederlage und die kommenden Kämpfe

KD Tait, Neue Internationale 244, Februar 2020

Nach einer
solchen Wahlniederlage, wie sie Labour im Dezember 2019 erlitten hat, ist ein
Chaos in der Partei unvermeidlich. In diesem Kampf müssen all diejenigen, die
erkennen, dass Sozialismus und Internationalismus untrennbar miteinander
verbunden sind, sich um eine Strategie gruppieren, die sich aus dem Verständnis
von einer Welt ableitet, die von den Krisen des Kapitalismus erschüttert und
von einem Krieg zwischen imperialistischen Mächten bedroht ist. Wir müssen
erkennen, dass all diejenigen, die das Geschwätz von Blue Labour nachplappern
und von nationaler Kultur oder Identität als Merkmalen der ArbeiterInnenklasse
sprechen, egal ob sie von der stalinistischen Linken oder der Blair-Rechten
kommen, keine SozialistInnen sind: Sie verleumden in der Tat die Idee des
Sozialismus an sich.

Lehre

Die zentrale
Lehre, die von den AnhängerInnen Jeremy Corbyns, die sich selbst als
SozialistInnen verstehen, aus den Erfahrungen der letzten fünf Jahre gezogen
werden muss, ist, dass unsere MachthaberInnen niemals auch nur ein mildes,
reformistisches Programm tolerieren werden, d. h. ein Programm, das einige der
Übel des Kapitalismus anspricht, aber keine Zusage zu einer grundlegenden
Transformation zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft trifft.
Solange die ArbeiterInnenbewegung den Sieg bei den Parlamentswahlen als das
Zentrum ihrer Strategie ansieht, wird sie immer wieder scheitern. Sich zu
verpflichten, nach bürgerlichen Regeln zu spielen und zu versuchen, es allen
außer den reichsten SteuerhinterzieherInnen und Hedgefonds-ParasitInnen recht
zu machen, wird die gesamte herrschende Klasse (und ihre VertreterInnen in den
eigenen Reihen der ArbeiterInnenbewegung) nicht davon abhalten, eine breite
Phalanx zur Verteidigung des Systems zu bilden.

Der
Ausgangspunkt für den Kampf gegen den Kapitalismus mit den Waffen des
Klassenkampfes muss die Ablehnung aller seiner Regeln sein, moralischer und
rechtlicher. Wir sollten über die Reihen von Labour hinaus auf den Geist der
Rebellion schauen, den junge Menschen in Großbritannien und auf der ganzen Welt
gegen die ökologischen und sozialen Plünderungen eines in einer Systemkrise
gefangenen Kapitalismus zeigen. In den Gewerkschaften müssen wir die
bürokratische Zaghaftigkeit abschütteln, die die gewerkschaftsfeindlichen
Gesetze als Entschuldigung für Untätigkeit benutzt. Die große Mehrheit der
unorganisierten ArbeiterInnen muss durch Massenkampagnen und eine
Demokratisierung, die die Macht in die Hände der einfachen Mitgliedschaft legt
und um die Gewerkschaften herum eine massive soziale Bewegung der Jugend, der
Frauen und der rassisch und sozial Unterdrückten schafft, für die
Gewerkschaften rekrutiert werden.

All diese
Organisationen und Bewegungen müssen auf einer kämpferischen Basis
zusammenkommen: dem Klassenkrieg. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass wir fünf
oder zehn Jahre warten müssen, um den britischen Trump von der Macht zu
verdrängen.

Das
Tory-Programm

Brexit wird
nicht das sein, was Johnson ein Goldenes Zeitalter nennt. Seine falschen
Versprechungen und offensichtlichen Lügen werden das Vertrauen untergraben, das
die verblendeten ehemaligen Labour-WählerInnen in ihn setzten. Dies wird die
vermeintliche Legitimität einer Regierung schwächen, die über eine große
parlamentarische Mehrheit verfügt, aber von einer Minderheit der Abstimmenden
ins Amt gewählt wurde. Darüber hinaus können wir ernsthafte Brüche innerhalb
des verfassungsrechtlichen Rahmens des Vereinigten Königreichs erwarten: ein
massives Aufbegehren in Schottland, wo einer Mehrheit, die für Verbleib in der
EU gestimmt hat, nun das Recht verweigert werden soll zu entscheiden, ob sie in
Brexit-Britannien bleiben will; reaktionäre Unruhen durch orangefarbene,
anglikanische FrömmlerInnen (Nordirland), die glauben, durch die Schaffung
einer Zollgrenze in der Irischen See vom Vereinigten Königreich abgeschnitten
worden zu sein.

Wir können zwar
davon ausgehen, dass die Schottische Nationalpartei (SNP), die nordirischen
Ulster-UnionistInnen und die EU-VerhandlungsführerInnen sich zumeist um diese
Fragen auseinandersetzen werden, aber es gibt auch ernsthafte, sogar
grundlegende Spaltungen innerhalb der britischen herrschenden Klasse selbst.
Obwohl die Börse zunächst vor Freude über die Niederlage von Labour aufsprang,
stellen Boris Johnson und die Europäische Forschungsgruppe (ERG) von Jacob
Rees-Mogg immer noch eine Minderheit der herrschenden Klasse dar, die sich aus
parasitären Hedgefonds-MilliardärInnen und MedienmogulInnen zusammensetzt. Ihre
Absprache mit der britischen Unabhängigkeits- und späteren Brexit-Partei von
Nigel Farage und BeraterInnen von Donald Trump und der Alternativen Rechten in
den USA ermöglichte es ihnen, das Brexit-Referendum gegen den Willen der
Mehrheit der EigentümerInnen der großen Banken und Industrien zu gewinnen.
Johnson und die ERG übernahmen die Kontrolle über die Tory-Partei von den alten
Granden und vertrieben sie.

Brexit

Der Austritt
Großbritanniens aus der Europäischen Union und die Aufnahme Großbritanniens in
das Lager von Donald Trump in einer Welt, die zunehmend durch die harte
Konkurrenz zwischen den großen kapitalistischen Blöcken zerrissen wird –
Amerika, China, Europa und Russland – werden Großbritannien in Trumps
Handelskriege mit Europa und dem Rest der Welt verwickeln. Kurzum, für  Johnsons große Mehrheit werden der
wirtschaftliche Schaden von Brexit sowie die nächste Rezession und eine
beispiellose politische Krise der Union in Schottland und Nordirland das Land
bald in seinen Grundfesten erschüttern.

Boris Johnson
und seine Tory-FreundInnen Sajid Javid, Dominic Raab und Priti Patel wollen der
ArbeiterInnenklasse eine „Thatcher“-Kur verpassen. Raab und Patel haben
maßgeblich zu einem Manifest der Neuen Rechten, Britannia Unchained (Britannien
ohne Ketten), beigetragen, das die „Kultur von Rechten (culture of rights)“ ins
Visier nimmt, die Großbritannien in „eine Nation von MüßiggängerInnen“
verwandelt hätte. Boris Johnsons Behauptung, ein Konservativer einer
einheitlichen Nation zu sein, ist nichts anderes als triumphierender Hohn
darüber, dass er alte, ehemalige Labour-WählerInnen zur Stimme für den
reaktionären Brexit, also gegen ihre eigenen Interessen manövriert hat. In
Wirklichkeit leitet er das neoliberalste Kabinett seit 1983, als Thatcher die
„KompromisslerInnen“ aus den eigene Reihen rauswarf. Kein Wunder, dass die
Denkfabrik der freien Marktwirtschaft, das Institute of Economic Affairs,
jubelte, als Johnson seine MinisterInnen zum ersten Mal in einem, wie ein/e
KommentatorIn des „Telegraph“ es nannte, „revolutionären Kampfkabinett“
ankündigte.

Seine
unmittelbaren Aufgaben sind die Aufhebung der „Freizügigkeit“ und der Rechte,
die europäischen ArbeiterInnen aus der EU über Jahrzehnte zugestanden wurden,
und die Vervollständigung der harten Herrschaft der Marktkräfte über die
öffentlichen Dienstleistungen mit einer massiven Neuausrichtung auf
US-Unternehmen. Johnson will die Gewerkschaften, die wie die Eisenbahn-,
Schifffahrt- und TransportarbeiterInnen-Gewerkschaft RMT immer noch Kampfgeist
zeigen, mit noch brutaleren Anti-Streik-Gesetzen fesseln. Wenn er die
vergötterte Thatcher imitiert, müssen auch wir die Lehren aus den Kämpfen
dieser Periode ziehen. Das war die Zeit, als unsere Bewegung, obwohl sie einst
13 Millionen Gewerkschaftsmitglieder und 317.000 Shop Stewards hatte und 85
Prozent aller Beschäftigten durch kollektive Tarifvereinbarungen abgesichert
waren, enorme Errungenschaften verloren hat. Es war auch die Zeit, als der
Aufstieg der Labour-Linken unter der Führung von Tony Benn noch in vollem Gange
war.

In den ersten
vier Jahren von Thatchers Herrschaft wurde eine Gelegenheit nach der anderen
vertan, sie und ihre Regierung in einen Haufen Schrott zu verwandeln und eine
ArbeiterInnenregierung an die Macht zu bringen. Bis 1987 erlaubte es die
chronische politische Schwäche, bekräftigt durch tatsächlichen Verrat, die
Unfähigkeit oder den Unwillen der Gewerkschaftsführungen, die enorme
industrielle Kraft der Bewegung für politische Zwecke zu nutzen, den Tories,
die Lohnabhängigen Branche für Branche zu demontieren: StahlarbeiterInnen,
AutomobilarbeiterInnen, HafenarbeiterInnen, Bergleute, Krankenpflegekräfte und
DruckerInnen.

Die wichtigsten
Spitzen von Johnsons Angriff werden mit Brexit selbst und mit dem
„fantastischen Handelsabkommen“ zusammenhängen, das er mit seinem großen Freund
Donald Trump abzuschließen versuchen wird. Die „Wiedererlangung der Kontrolle
über unsere Grenzen“ bedeutet ein viel strengeres Einwanderungssystem, das im
britischen Recht verankert ist. Die Einstellung von 20.000 zusätzlichen
PolizeibeamtInnen, die mehr rassistische Anhalte- und Durchsuchungsbefugnisse
haben, richtet sich insbesondere gegen schwarze Jugendliche und wird die
rassistische Unterdrückung verschärfen.

Der Schutz der
ArbeiterInnenrechte, den Johnson versprochen hatte, um die Labour-Abgeordneten
dazu zu bewegen, für sein ursprüngliches Rückzugsgesetz zu stimmen, soll selbst
zurückgezogen werden. Ebenso ist das geizige Versprechen, den nationalen
existenzsichernden Lohn innerhalb von fünf Jahren auf 10,50 Pfund pro Stunde zu
erhöhen, daran geknüpft, „dass es die wirtschaftlichen Bedingungen erlauben“.
In der Tat werden diejenigen, die leichtgläubig genug sind, um den
Versprechungen zu vertrauen, dass die Sparmaßnahmen enden werden, bald das Gegenteil
feststellen, da die wirtschaftliche Verwerfung von Brexit Fuß fasst, Automobil-
und Luftfahrtfirmen auf den Kontinent ziehen und die bevorstehende Weltkrise
die Spannungen bei den Handelsabkommen verstärkt.

Nicht zuletzt
wird es Angriffe auf die Palästina-Solidarität geben. Ein neuer Gesetzentwurf
würde öffentliche Einrichtungen, einschließlich Stadträten und Universitäten,
daran hindern, Boykotte oder Sanktionen gegen das Ausland und diejenigen, die
mit ihm Handel treiben, zu erklären. Dies ist zentral gegen die Boykott-,
Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) gerichtet.

Eine
Kampfstrategie

Die
AktivistInnen und die jungen Menschen, die von Corbyn 2015 und durch eine Reihe
progressiver Motive mobilisiert wurden, wobei der Klimawandel im Vordergrund
steht, können die Führung im Widerstand gegen Johnson übernehmen. Aber um
effektiv zu sein, müssen sie an einem neuen Plan arbeiten, der über Wahlkampf
und kultische Hingabe selbst an einen linken Vorsitzenden hinausgeht.
Stattdessen brauchen wir eine Strategie, ein Aktionsprogramm, um die Reihe
miteinander verbundener Krisen anzugehen, mit denen die ArbeiterInnenbewegung
und alle fortschrittlichen Kräfte im Land konfrontiert sind.

  • Brexit: Es geht darum, sich jeder reaktionären Maßnahme, die für seine Umsetzung notwendig ist, und jedem Element eines Handelsabkommens mit Trump zu widersetzen. Unser Ziel darf nicht die Rückkehr zu einer neoliberalen Festung Europa sein, sondern muss darin bestehen, ein mächtiges Bündnis mit den militanten ArbeiterInnen und der Jugend dort wieder aufzubauen und es gemeinsam mit ihnen durch ein sozialistisches Europa zu ersetzen.
  • Der Klimawandel, der immer mehr Wüstenbildung, extreme Wetterereignisse und das Aussterben von Arten mit sich bringen und unumkehrbar wird, wenn nicht im nächsten Jahrzehnt grundlegende Veränderungen in Produktion und Konsum durchgesetzt werden.
  • Sparmaßnahmen, der erbarmungslose Sozialabbau und die Privatisierung der sozialen Versorgung im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, in der Altenpflege, bei den Arbeitslosen und Wohnungslosen.
  • Die bevorstehende Rezession, die nicht nur zyklische Arbeitslosigkeit, sondern auch die massenhafte Verdrängung von Arbeitskräften durch die Anwendung der Künstlichen Intelligenz im Dienstleistungssektor mit sich bringen wird.
  • Die Not der Flüchtlinge aus den Regionen und Ländern, die von den Stellvertreterkriegen der NATO und Russlands betroffen sind und durch die ersten Auswirkungen des Klimawandels vertrieben werden, was zur Verarmung beiträgt, sowie die diktatorischen Regime und reaktionären sozialen Kräfte, die sie hervorbringen.
  • Rassistische DemagogInnen an der Macht in den imperialistischen Kerngebieten und FaschistInnen auf den Straßen, die gegen MigrantInnen vorgehen, Mauern und Internierungslager bauen und mit Massendeportationen drohen.
  • Globales wirtschaftliches Chaos und die Gefahr eines Krieges, wenn die rivalisierenden Machtblöcke in Handelskriegen, neuen Kalten Kriegen und regionalen Kriegen aufeinanderprallen.

All diese
Herausforderungen ergeben sich aus einem System, das die grundlegendsten
Bedürfnisse der Menschheit nicht befriedigen kann, weil es einer winzigen
parasitären Klasse gehört und von ihr kontrolliert wird, die durch mörderische
Konkurrenz in Richtung einer barbarischen Zerstörung der menschlichen
Zivilisation getrieben wird. Sich mit einer dieser Herausforderungen
auseinanderzusetzen, bedeutet, dass diejenigen, die alle materiellen und
kulturellen Bedürfnisse des menschlichen Lebens produzieren, die ArbeiterInnen,
Bauern und Bäuerinnen der Welt, in den kommenden Monaten und Jahren
antikapitalistische Lösungen, kurz gesagt, eine sozialisierte Wirtschaft, die
geplant ist, um diese Herausforderungen zu bewältigen und zu überwinden,
annehmen müssen.

In
Großbritannien bedeutet dies, dass die 70 Prozent der Industrien und
Dienstleistungen, die sich derzeit im Besitz von 10 Prozent der Bevölkerung
befinden, dieser entrissen werden, in kollektives, soziales Eigentum und
Management überführt und mobilisiert werden müssen, um diesen Gefahren zu begegnen.
Der Grund dafür ist einfach: Man kann nicht lenken oder kontrollieren, was man
nicht besitzt.

Die erste
Aufgabe besteht darin, den Kampf zu intensivieren, um die prokapitalistischen
Elemente aus der Labour Party zu vertreiben und sie in eine Waffe für den
Klassenkampf und nicht für Klassenkompromisse zu verwandeln. Das bedeutet: eine
Partei, deren Taktik auf die direkte Aktion und Massenmobilisierung der
ArbeiterInnenklasse, der Jugend und der sozial Unterdrückten ausgerichtet ist,
deren Ziel es ist, das Regime der Bosse hinwegzufegen und eine
ArbeiterInnenregierung zu errichten, die den demokratischen Organen des
proletarischen Klassenkampfes gegenüber rechenschaftspflichtig und daher in der
Lage ist, den Weg zum Sozialismus zu öffnen, in Großbritannien, Europa und
weltweit.